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VIII

»Ich rate dir, Loddfafnir, den Rat befolge,
Du hast Nutzen, nimmst du ihn an:
Wird Schaden dir kund, erkenn ihn als Schaden,
Gewähre nicht Frieden dem Feind.«

Edda (Havamal).

 

»Ich bediene mich aller Waffen gegen meine Feinde, wie das Stachelschwein, das sich aufsträubt und mit all seinen Spitzen sich verteidigt. Ich behaupte nicht, daß die meinigen gut sind, aber man muß von seinen Kräften Gebrauch machen, wie sie auch sind, und seinen Gegnern so gut gezielte Hiebe versetzen, wie man nur kann.«

Friedrich II.

 

Rheinland und Pfalz,
November 1923 – März 1924.

Vom Sauerland war der Troßbub hergeritten, das Aggertal hinab, mit sechs Handpferden am Halfter, aus Frau Ellens Stall. Hatte in Siegburg Schmitz IX getroffen; der sollte ihn weiterführen über die Sieg ins Siebengebirge.

Aber sie fanden Gerhard Scholz viel eher, als sie gedacht, am frühen Nachmittag schon, vor Oberpleis. Da saß er am Wegrand auf einer alten Steinbank, rings um ihn Bauern und eine Handvoll Bonner Studenten. Auch Lili war bei ihm, in Schwesterntracht, wie in Oberschlesien – man würde sie brauchen am nächsten Tag.

Vor ihnen lagen die Banden der Sonderbündler, die sich jetzt ›Rheintruppen‹ nannten. Strömten heran durch die Täler, herunter von der Löwenburg, vom Petersberg, Ölberg, von allen sieben Bergen. Auch von Honnef her, hinein in den Stadtwald. Zweitausend Mann und mehr, wohlbewaffnet. Gerhard kannte ihren Plan: das Siegerland sollten sie besetzen, dann das Sauerland; sollten rechtsrheinisch nordwärts vorgehn, die Verbindung herstellen mit den Banden am Niederrhein. Er war entschlossen, Widerstand zu leisten; jetzt durfte er's wagen, gewiß, daß Berlin hinter ihm stand. Dann auch – er hatte nun Mittel – Franken, Dollarscheine, Pfundnoten. Frau Ellen Styssen hatte weit ihr Herz geöffnet: vorgestern hatte ihm Paul Hornemann ihren Scheck übergeben, wie ihm heute der Troßbub die Pferde bringen sollte, die er so dringend gebrauchte.

Noch einer hatte geholfen, von dem er nie das geglaubt hätte – Herr Lamberts. Seine Scheine brannten ihm in den Fingern – was nutzte es, er mußte sie dennoch nehmen.

– Eggeling hatte ihn vom Bahnhof geholt, als er zurückkam nach Düsseldorf. Herr Lamberts wolle ihn sprechen, sehr wichtig sei es; im Wartesaal säße er.

»Sehr erfreut, wirklich sehr erfreut«, grüßte Lamberts. Wie ein Wasserfall kamen seine Worte, sprunghaft und überhastet. »Also gleich zur Sache – ich hab mir's überlegt heutnacht, bin zu dem Entschluß gekommen – Natürlich ist's peinlich für mich, grade Ihnen gegenüber –«

Er sprach von Käte – wie tüchtig sie sei, wie dankbar er ihr sein müsse. Daß er nie ohne ihre Hilfe –

Herbert Eggeling sah, wie Gerhard litt. »Schon gut«, unterbrach er. »Machen Sie's kurz!«

Lamberts schnaufte. Er habe gehört, was der Herr Oberleutnant hier mache am Rhein – erst beim Ruhreinbruch und nun gegen die Separatisten. Nein, nicht von Käte. Seit zwei Tagen erst wisse er Bescheid, von einem Geschäftsfreunde, der sehr gute Beziehungen habe in Berlin.

Er wolle sich nicht besser machen; er sei eben Geschäftsmann, da dürfe man nicht viel fragen. Von Vaterlandsliebe könne man nicht leben – und nach alledem, was er im Kriege durchgemacht –

»Lassen Sie doch den Krieg«, sagte Herbert, »der ist aus seit fünf Jahren.«

Ganz recht, aus sei er, und darum müsse man sich auf den Boden der Tatsachen stellen. Tatsache aber sei, daß diese Separatisten ein elendes Geschmeiß seien. Er sei in Düren dabei gewesen, als es dort losging – lauter Kaczmareks hätten da die Sache geschoben, polackische Kumpels von der Ruhr. Und wie sie in Düsseldorf gehaust hätten – es sei ja furchtbar gewesen mit dem alten Herrn Scholz! Ja, und ob der Kranz, den er gesandt habe, auch anständig gewesen sei? Er habe in der Aufregung nicht recht Zeit gehabt –

»Er war sehr schön und sehr groß«, sagte Gerhard. »Ich danke Ihnen.«

»O bitte«, grunzte Herr Lamberts. »Also hören Sie, Herr Scholz: ich möchte etwas beitragen zur Kostenrechnung.«

»Kostenrechnung?« fragte Gerhard.

Lamberts nickte, nun hatte er endlich Boden. »Ganz recht! Ihr Kampf kostet Geld, und dies Geld müssen Sie geheim und mühsam auftreiben. Ich möchte beitragen. Und damit Sie sehn, daß ich's ehrlich meine, will ich Ihnen offen sagen, warum. Wenn sich das Drecksgesindel von Separatisten wirklich durchsetzen sollte – dann werden sie meine Geschäfte machen wollen. Das ist in meinen Augen unlauterer Wettbewerb! Mein Beweggrund mag Ihnen vielleicht nicht sehr edel vorkommen, aber glauben Sie mir, er ist kaufmännisch durchdacht.« Er zog einen dicken Briefumschlag aus der Tasche, reichte ihn hinüber. »Dollarscheine – damit kommt man am weitesten heute.«

Gerhard nahm den Umschlag, betrachtete die großen, braunen Siegel – Hanau, Lamberts & Cie.

»Ich nehme Ihr Geld«, sagte er. »Zu besserm Zweck haben Sie nie etwas ausgegeben. Wünschen Sie Quittung?«

Herr Lamberts wehrte ab: »Um gotteswillen! Nichts Schriftliches, nur nichts Schriftliches!«

* * *

Fritz Hemmerling war abgesprungen, führte die Pferde vor, eins nach dem andern.

»Donnerwetter«, rief Gerhard bewundernd, »sind das Gäule!«

»Gäule?« sagte der Troßbub vorwurfsvoll. »Engel sind es! Wenn man drauf sitzt, glaubt man, daß sie Flügel hätten.«

»Die Rotschimmelstute ist für mich«, entschied Lili.

»Für dich?« lachte Gerhard. »Seit wann reiten Krankenschwestern?«

Gerhard nahm die Karte wieder auf, legte sie über die Steinbank. Brinken erläuterte, bleich noch wie Rahmkäse, das blaue Mensurmützchen über den Kopfverband geklemmt. Da sei der Petersberg, hier der Drachenfels, dort im Tale liege Kloster Heisterbach –

Ein Bauer beugte sich über die Karte. Pechschwarz waren Haare und Bart, tiefschwarz die stechenden Augen. Dunkel die Haut, fast olivenfarben.

»Wo kommt Ihr her?« fragte ihn Gerhard.

Der Bauer suchte mit dem Finger herum. »Dorther!« sagte er endlich. Zeigte auf ein Dorf im Westerwald. Westerwald – dachte Gerhard, hatten da nicht spanische Reiter gehaust, sechs Jahre lang, im Dreißigjährigen Krieg?

»Da kommen sie!« rief der Troßbub. »Döres Schmitz und seine Leute.«

Sie zogen über die Landstraße in festem Schritt, vierzehn Mann, Döres an der Spitze. Kräftige Gesellen mit riesigen Spitzhüten, Samthosen, die über den Stiefeln weit wie Röcke waren. Offene Jacken, ausgeschnittene Westen, einige trugen Talerketten darüber. Alle aber hatten im Knopfloch kleine rote Schleifen, schwangen in der Hand schwere Knotenstöcke. Döres sah aus wie sie, nur die rote Knopflochschleife fehlte.

»Halt!« brüllte er. »Melde gehorsamst: Kompanie Schmitz zur Stelle.«

Gerhard lachte. »Na, Döres, dir kommt der Karneval auch nie aus den Knochen!«

»Karneval?« antwortete er. »Mer han seit zehn Jahren keine mehr jehabt. Und dat is jar kein Fastnacht, dat sind Hamburger Zimmerleute. Ich han se in Düsseldorf aufjetriewe, im Jasthaus zur Heimat. Se han kien Arbeit und möchten sich jern wat verdienen. Da han ich se anjeworbe – dat sin brave Lück, bloß en bißche rot. Aber jrad darum wollte se jern mitmache, se sage, dä Oberbefehlshaber von die Separatiste sei ene erausjeschmissene Kommunist. Ene Verräter sei er – dem möchte se et jern ankreide.«

»Das stimmt«, sagte Gerhard. »Leitner heißt der Schuft. – Und wie kommst du zu der Zimmermannskluft?«

»Einer war krank«, berichtete Schmitz IX, »dä konnt nich mit. Da han ich mich dem sein Kleidasch ausjeliehe.«

»Wie seid ihr hergekommen?« erkundigte sich Gerhard.

»Zu Fuß«, erwiderte er, »et jing schlecht auf der Eisenbahn mit die janze Jesellschaft. Dat war aufjefalle. Un mit die Verflejung war et auch man so, die Jüngkes han rein jarnix und mich wollt die Stina auch nich viel mitjewe, die is jeizig jeworde, seit se ne Multibillionär is.«

»Als Waffen habt ihr Knotenstöcke? fragte Gerhard.

»Sagen Se nix jejen die Stock, Herr Oberleutnant«, antwortete Döres, »wo die hinschlage, da huppt kene Floh mehr. Mer han aber auch sonst noch wat, jeder einzelne. Ich han mich doch allmählich so en klein Arsenälche zujelegt in Himmeljeist, dat is mich jetz jut zustatte jekomme. In sone Zimmermannsbuxetäsch da jeht wat erein: Pistole, Handjranate, Hirschfänger, auch en halb Dutzend Jewehre hammer, mer brauche se bloß zusammenzusetze.«

»Dann tut das schleunigst«, rief Gerhard.

Döres bellte: »Waffen herausnehmen! Alles nachsehn! Gewehre schußfertig machen!«

Gerhard zeigte auf die Karte. »Du marschierst mit deinen Kerlen hier die Straße hinunter, zum Himberg. Du triffst da Bauern und Selbstschutz. Sieh zu, daß ihr gute Kameradschaft haltet.«

Schmitz IX folgte seinem Finger. »Da erunter, jut! – Wat? Wie heißt der Berg da? Hupperich? Wird der auch jehalte, Herr Oberleutnant?«

Gerhard nickte. »Stellung von da bis zum Himberg dort erwarten wir den graden Angriff von Honnef aus.«

»Wenn Se mich ene jroße Jefalle tun wolle«, bat Döres, »dann lasse se mich zum Hupperich! Das' mich sone sympathische Name! Wenn ich dat mein Stina erzähl, lacht se sich kapott.«

»Also gut«, sagte Gerhard, »marschier du zum Hupperich. Meld dich dort beim Selbstschutzführer.« Er wandte sich an Hemmerling. »Bring die Pferde her, Troßbub. Für dich eins, eins für mich. Den Rotschimmel für unsre Krankenschwester. Dann Meldereiter! Du nimmst den Rapphengst, Brinken – du kannst ja reiten, weißt auch gut in der Gegend Bescheid. Wer noch von den Herrn Studenten?«

Aber es stellte sich heraus, daß nur einer von ihnen reiten konnte und zugleich das Gelände kannte; der Troßbub ließ ihn aufsteigen.

»Noch zwei Pferde frei!« rief Gerhard.

Ein Bauernknecht trat vor. »Woher?« fragte Gerhard.

»Ägidienberg.«

»Gedient?«

»Königshusaren – Bonn.«

»Steig auf!« befahl er. »Wer ist der letzte Reitersmann?«

Ein lebfrischer Zimmergesell trat heran. »Ich!« rief er.

»Sie?« sagte Gerhard. »Ich denke, ihr seid alle Hamburger?«

Schmitz IX schüttelte den Kopf. »Nee, die heißen nur Hamburger Zimmerleut, weil die Zunft aus Hamburg stammt, jlaub ich. Aber die sind überall her.«

»Ich bin aus Königswinter«, sagte der Zimmergesell, »kenn jeden Baum hier herum.«

»Aber Sie verstehn doch nichts von Pferden, Mann!« rief Gerhard. »Haben nicht gedient, lagen noch in den Windeln zur Kriegszeit.«

»Reiten kann ich doch«, sagte der Zimmermann, »ein Jahr lang war ich beim Zirkus, hab da Cowboy gespielt.«

»In den Sattel!« rief er. »Zeig, was du kannst!«

Wüst sah der Kerl aus auf dem hellen Schecken, aber reiten konnte er, das war schon wahr.

Döres sah ihm bewundernd zu. »Wenn ich doch auch ene Kaubeu wär!«

* * *

Am andern Morgen begann es, eh noch die Sonne hoch war. Von Honnef aus zogen die Rheintruppen heran, die Landstraße hinauf, die nach Ägidienberg führt. Aber sie teilten sich vorher, ein Teil schwenkte plötzlich links ab, marschierte durch den Stadtwald auf Hövel zu, während der andre durch immer neuen Zuzug verstärkt weiterzog.

Vor dem Dämmern schon war Gerhard im Sattel, hatte bis Siegburg hin die Stellungen abgeritten. Langsam ritt er zurück; feucht und kühl war der Novembermorgen, graubedeckt der Himmel. Er empfing den Bericht der Streifwachen, die er längs der Straße aufgestellt hatte und nach Süden ausschwärmen ließ – hier war alles ruhig. So entschloß er sich, den Oberpleiser Selbstschutz mitzunehmen; jeden Mann würde er brauchen können.

Vor ihm ritt Hans ten Brinken; der Hengst tänzelte unter dem Druck seiner Schenkel. Die Mensurmütze war ein wenig verrutscht, der weiße Verband schaute heraus. Der Student schwang einen dünnen Zweig in der Hand, schlug Lufthiebe damit. Sang dazu.

»Der letzte Kuß, der letzte Schmiß,
Die schmeckten beide bittersüß.
Die Klinge sprang beim letzten Gang –
Singsang und Klingklang!
Es sang ein Bursch hinaus in die Welt,
Singsang und Klingklang,
Es sang ein Bursch hinaus.«

Hell klang seine Stimme und jugendfrisch, etwas wehmütig doch.

Aus einem Waldpfad tauchte ein Reiter auf, stand vor ihnen, wie aus dem Boden gewachsen – der Zimmergesell.

»Nanu«, rief Gerhard, »wo kommen Sie denn her?«

Der Zimmermann berichtete von der Teilung der Sonderbundstruppen, der linke Flügel sei nordwestlich durch den Wald gezogen. Sie hätten einigemal auf ihn geschossen, aber bei dem schlechten Licht nur ein paar Bäume getroffen. Dann sei er die Landstraße hinauf geritten; von einem Posten habe er erfahren, daß der Herr General nach Siegburg sei und denselben Weg zurückkommen werde.

»Der Herr General bin ich vermutlich?« lachte Gerhard.

»Sie haben doch den Befehl«, sagte der Zimmergesell. »Alle nennen Sie so – was soll man sonst sagen?«

Gerhard antwortete nicht – im Galopp preschte Fritz Hemmerling die Straße herunter. Schlimme Kunde brachte er: die Banden waren überraschend schnell durch den Stadtwald gezogen, dann am Nordrande herausgebrochen; hatten Dorf Hövel genommen und gründlich ausgeplündert, die Posten überrumpelt und als Geiseln mitgeführt. Weiber und Kinder waren geflüchtet. Dann waren die Truppen rechts abgeschwenkt in die Dörfer Ägidienberg und Himberg, um so in den Rücken der Himberger Linie zu gelangen.

Gerhard jagte den Zimmergesell zurück durch den Wald; er sollte von der Himberger Stellung mitnehmen, was nur entbehrlich war, dann von Osten her den, Feind fassen. Den Troßbuben sandte er die Landstraße hinunter; alle Posten sollte er benachrichtigen, soviel Mann, wie nur möglich sei, gegen Hövel schicken. Dann teilte er seinen Haufen, hieß Brinken mit dreißig Bauern im Bogen vorgehen, während er selber mit dem Rest die Straße hinaufmarschierte.

Er war zuerst heran. Aber er konnte nicht weiter – vor dem Eingang zum Dorf hatten die Sonderbündler die Geiseln aufgestellt, sieben, acht Männer, dann Frauen und Kinder. Mit hoch aufgereckten Armen standen sie mitten auf der Landstraße. Gerhard ließ seine Leute Stellung nehmen, zu beiden Seiten von Baum zu Baum vorgehn. Er brauchte nicht lange zu warten: von Süden her kam Brinken, eröffnete sofort das Feuer. Den Augenblick der ersten Verwirrung benutzte Gerhard, rief den Geiseln zu, daß sie sich zu Boden werfen sollten, griff an. Die Rheintruppen schossen, auf die Geiseln zunächst – da fielen die ersten Toten.

Schnell erholten sich die Sonderbündler, sammelten sich, zogen sich ein wenig zurück, leisteten nun heftigen Widerstand. Sie merkten sehr bald, in wie großer Überzahl sie waren, da stieg ihr Mut.

Aber er sank schnell, als von Ägidienberg her Flüchtige ins Dorf rannten, auf dem Fuße gefolgt von Bauern und Studenten. Von drei Seiten gefaßt stoben sie davon, rannten wie Hasen den Weg zurück, den sie gekommen waren, am Markhövelberg vorbei in den Stadtwald.

Indessen rückte der rechte Flügel der Sonderbündler gegen die Himberger Stellung vor, in ausgeschwärmten Schützenlinien. Döres lag mit seinen Zimmerleuten am Abhang des Hupperich, schaute eifrig durch einen Feldstecher.

»Willste mal durchkucke?« fragte er seinen Nachbar. »Da komme se, die Drecksfinke! – Nee, en bisken drehn mußte, so! Dat is ä fein Jlas, dat han ich mich mal bei Rija besorjt; et hat früher enem englischen Oberst jehört, dä hat et mich erst abjelasse, als er schon verstorbe war.«

Er hob den Karabiner, zielte gut, schoß. Schaute wieder durch sein Glas, nickte.

Sang dann:

»Schrumm, als widder en Fliej kapott,
Schrumm, als widder een dot!«

Wieder riß er den Stutzen an die Backe – er trug nicht umsonst die Schützenschnüre im Regiment Schmitz.

Nur diesen einen Angriff machten die Sonderbündler; dann hatten sie genug – zu heiß wurden sie empfangen. Quer über die Landstraße knallte es und herunter von beiden Hügeln, vom Himberg und vom Hupperich. Nicht zehn Minuten dauerte das Gefecht; nicht einen Toten verloren die Vaterländischen an dieser Stelle.

»Se jehn laufe«, schrie Döres, »los dafür!«

Er sprang auf, jagte den Fliehenden nach, hinter ihm die Bauern und Zimmergesellen. Am Waldrand überholte er ein paar, schlug einen mit dem Kolben nieder, bekam dann selber einen furchtbaren Schlag auf die Schulter, daß dem gelähmten Arm der Karabiner entfiel. Er sah sich plötzlich umringt von vier, fünf Kerlen, trat einem vor den Bauch, wehrte mit dem linken Arm einen flachen Säbelhieb ab. Einer riß die Pistole heraus, taumelte zugleich – schwer traf seinen Kopf ein Knotenstock.

Döres wandte sich – hoch aus dem Sattel teilte der Zimmergesell seine Hiebe aus. Der schaffte ihm Luft, jagte die Kerle in den Wald.

»Dank schön, Kaubeu«, jappte Schmitz IX, »dat haste janz jut jemacht.« Er rieb seinen Arm, fuhr fort: »Bloß – wenn mer widder in Düsseldorf sind und du jelejentlich mein Stina treffen sollst – dat du nur nix sagst! Ich han ihr nämlich heilig verspreche müsse, dat ich mich unter jar keine Umstand in en Handjemäng bejeben wollt.«

Plötzlich stand Lili neben ihm, den Revolver in der Hand. Sie hielt ihm die Waffe hin, flüsterte hastig: »Nehmen Sie!«

Er zögerte, da wiederholte sie: »Fragen Sie nicht – nehmen Sie!« Ihre Stimme bebte, heftig ging ihr Atem. Er nahm den Revolver, sicherte ihn, steckte ihn ein.

Sie griff seinen Arm. »Sie bluten – kommen Sie.«

Er wehrte sie ab. »Is nur ene Kratzer, Fräulein.«

»Einerlei«, rief sie, »darf nicht verdrecken.«

Sie zog ihn mit sich fort, starrte hinauf in die Wolken. Keinen Blick warf sie auf den Sonderbündler, der am Boden stöhnte.

* * *

Genug war zu tun in dem Bauernhof, in dem die Verwundeten lagen. Lili arbeitete da mit zwei Medizinstudenten. Nachmittags kamen auch ein paar Ärzte.

Der Westerwälder Bauer saß auf der Schwelle, hielt auf den Knien ein französisches Gewehr.

»Erbeutet?« erkundigte sich Gerhard. Der Bauer nickte.

»Keine verwundeten Feinde?« fragte er weiter. Der Bauer sah ihn an, schüttelte den Kopf. Gerhard forschte nicht nach, wußte gut, was das bedeutete: erschlagen hatten die Bauern jeden, der am Boden lag. Er schickte Streifwachen aus, ließ die Toten sammeln, einscharren hinter dem Friedhof.

Döres kam an, ein kleines Mädchen auf dem Arm, neben ihm lief die Mutter – beide hatten Säbelwunden. »Im Keller han ich se jefunde – ich könnt se erst jarnich beruhije; die jlaubte, ich sei auch sone Separatist.« Er übergab seine Schützlinge einem Studenten, fuhr dann fort: »Das Dorf müsse Se sich ankucke, Herr Oberleutnant. Die Kerls han jehaust! Alle Fenster kapott, alle Türen. Das Vieh im Stall totjemacht, alles jestohle, Uhre, Fahrräder, Werkzeug, wat et nur jibt. Jüngke, wenn die doch auch en Dorf hätte, wat ihne jehöre tät!«

Er unterbrach sich, blickte auf Lili, die nah bei der Tür mit einem Arzte sprach. Er griff in die Tasche, zog den Revolver heraus. »Da, Herr Oberleutnant, dä jehört dem Fräulein. Se hat en mich aufjedrängt, Se könne se selber fragen. Ich mag en nich behalte, sons sage Se widder, dat ich en mich besorjt hätt. De Stina sagt, dat dat jejen mein Ehr jing, ich han ihr verspreche müsse, dat ich et janz jewiß un wahrhaftig nich mehr tun wollt – un ich bin ene Mann, der sein Wort hält im alljemeine!«

Gerhard lachte. »Und wenn die Sonderbündler nun wirklich ein eignes Dorf hätten – was dann?«

»Dat is erobere«, sagte Döres, »dat is nich besorje! – Könne Se mich wat Jeld jebe, Herr Oberleutnant, ich brauch wat für mein Kompanie, und Se han ja befohle, dat mer nich requiriere dürfe.«

Gerhard gab ihm. Er betrachtete die Mauserpistole – ungebraucht war sie, alle zehn Schüsse im Rahmen.

Lili trat zu ihm. »Warum gabst du ihm die Waffe?« fragte er.

Sie zögerte. »Weil – weil – Ich will's dir sagen, Gerhard. Einer lag am Boden – leicht verwundet nur, Döres hatte ihn niedergeschlagen. Eh ich's selbst nur wußte, hatt ich das Ding in den Fingern. Es war – wie früher. Ich besann mich, eh's zu spät war. Ich dachte –«

»Was denn?« forschte er.

»Aber ich will nicht dran denken«, rief sie, »will nicht. Vergessen will ich die ganze Zeit.«

»Was willst du vergessen?« fragte er. »Daß du einmal die Waffen führtest und ein Landsknecht warst?«

»Ja – das auch«, erwiderte sie. »Noch mehr das andre.«

»Welches andre?« forschte er.

Sie sah ihn an, sehr groß waren ihre Augen. »Das weißt du doch, Gerhard. Wie ein Alp ist's, ich begreif heute nicht, wie das möglich war. Aber es war doch so. Bis ich – bis du da warst. Alles will ich vergessen – mein Land und all die Zeit. Den Brei aus Blut und Schlamm und Kot, durch den ich stapfte bis über die Schuh. Die Menschen, die nach mir griffen – Tiere. Und alles umsonst und für nichts! Vergessen will ich's, hab's auch fast vergessen – es ist, als ob ich's mal in einem Buch gelesen hätte. Heut aber – als der Schmitz sich herumschlug mit den Banditen, als der Zimmergesell auf dem Schecken heranjagte – da war alles wieder da. Heraus war ich, weiß selber nicht wie, war mitten drin, die Waffe in der Hand – die schrie nach dem Feind.«

Sie brach ab; senkte die Augen, sehr weich wurde ihre Stimme. »Dann dacht ich: wenn ich's tu, dann ist's aus mit dir und mir. Dann schickst du mich weg. Und ich mußt es doch tun – entsetzlich war's! Daß es der Schmitz war, das allein rettete mich – für dich stand er da. Ich zwang ihn, die Waffe mir abzunehmen, zog ihn mit mir fort. So war es, Gerhard, nun weißt du's.«

Er hielt ihr den Revolver hin. »Da, nimm«, sagte er.

»Muß ich?« flüsterte sie.

Er nickte. »Wenn ich dir's sage, sollst du ihn gebrauchen, sonst nicht.« Sie nahm die Waffe. Beugte sich über seine Hand, küßte sie. Ging zurück zu ihren Kranken.

Er sah ihr nach – sehr wirr waren seine Gedanken.

* * *

Gegen fünf Uhr schickten die Sonderbündler einen Unterhändler, zwei Studenten brachten ihn an; er verlangte freien Durchzug ins Siegerland.

Gerhard lehnte ab. »Bestellen Sie Ihrem Räuberhauptmann, daß er eher zum Mond kommt als hier durch.«

»Mich schickt die Regierung der Rheinischen Republik«, begann der Mann, »ich verlange –«

Einer schrie: »Schweig, du Hund! Jauche sollt' man dir ins Maul schütten!«

Gerhard wandte sich um, sah den Westerwälder Bauern, der vor Erregung bebte, mit beiden Händen seine Flinte umkrampfte. Jauche ins Maul – Schwedentrank – das hatte sein spanischer Urahn hier vor dreihundert Jahren geübt! War's noch nicht vergessen, lag's dem wilden Waldbauer immer noch im Blut?

»Sie haben Glück«, rief er dem Unterhändler zu, »daß ich die weiße Fahne achte, selbst in der Hand von Verrätern. Aber ich will keine zweite mehr sehn.«

Er ließ ihn zurückbringen mit starkem Geleit – Studenten und Zimmerleute.

Wie ein Ameisenhaufen wurde es am Abend. Aus allen Dörfern kamen die Männer mit Pistolen und Säbeln, mit Äxten, Sensen und Forken. Nicht vierhundert hatte er am Morgen, jetzt waren Tausende da.

Er ließ den Wald säubern, befahl, daß man ihm Gefangene bringen sollte. Aber man brachte keine – nur Tote habe man gefunden. Er zuckte die Achseln. Das war nicht wie in München – nicht Soldaten hatte er unter sich, sondern Bauern. Heißblütige, hartschädlige Bauern – nur, wenn sie das wollten, gehorchten sie.

Fünfzehn Kilometer lang streckte sich nun seine Linie, von den Rheinhöhen bis weit ins Land hinein. Überall lagen starke Posten, Feldwachen dazwischen. Auf Leiterwagen und Heukarren fuhren die Weiber Lebensmittel heran.

Um Mitternacht kamen die Bauernführer zu ihm – sie wollten Honnef nehmen, die Rheintruppen herausjagen, jeden Mann erschlagen. Er sagte zu, rüstete alles für den Angriff zum frühen Morgen. Seine Meldereiter jagten über die Straßen.

Sechstausend Mann hatte er nun – fast ein Heer war es. Seine Augen leuchteten.

– Sie zogen vor Honnef.

Aber sie kamen nicht hinein, kein Schuß fiel mehr am nächsten Tage. In der Nacht hatten die Franzosen die Sonderbundstruppen rheinaufwärts geschafft, in Lastkähnen und Sonderzügen. Dafür lagen drei kriegsstarke Regimenter in der Stadt, Franzosen und Marokkaner.

Er zerbiß die Lippen. War's nicht immer wieder dasselbe? Man brachte Männer zusammen, prächtige Männer, die ihr Leben gern wagten für die Heimat. Ein Heer fast –

Und dann, plötzlich, wuchs übernacht eine Mauer. Unübersteigbar, unermeßlich hoch, hart wie Sternensteine. Und man stand davor, rieb sich die Augen, glaubte es nicht.

Mußte es doch glauben. Mußte sagen: geht nachhause, Leute!

* * *

Im Dom zu Speyer stand sie, vor dem Königschor. Schrak auf, als sie ihren Namen rufen hörte: ›Lili!‹

Sie wandte sich um – Paul Hornemann kam auf sie zu, lachend und strahlend, streckte ihr beide Hände entgegen: »Das nenn ich Glück! Seit einer halben Stunde bin ich –«

»Kein Wort«, flüsterte sie. »Siehst du nicht, daß da Leute sind? Ich geh voraus, du folgst mir auf dreißig Schritt. Frag nicht! Später –«

Sie ließ ihn stehn, stieg die Stufen zum Chor hinauf. An den Kaisergräbern entlang und wieder zurück durch die Vorhalle, wo die Standbilder stehn. Dann hinaus aus dem Dom. Durch die Anlagen am Domnapf vorbei und am Heidentürmchen. Kalt war der Januarmorgen.

Hinter dem Stadtturm bog sie ein, kreuzte die Straße. Ehe sie ins Haus trat, blickte sie sich um; grade kam Hornemann um die Ecke. Leicht nickte sie ihm zu.

Sie stieß die Tür auf, wartete im Hausflur auf ihn. Nahm ihn beim Arm, führte ihn die Treppe hinauf, öffnete. Blau von Rauch war der Raum.

»Besuch!« rief sie. »Paul Hornemann!«

Gerhard sprang auf. »Du – in Speyer?!«

Hornemann lachte. »Nicht zu leugnen.« Er gab Gerhard die Hand, auch den beiden andern. Die nannten ihre Namen, Wiesmann, Hellinger –

»Hellinger?« rief er. »Vom Oberland, was? Kennen uns schon, vom Annaberg her.«

Gerhard fragte: »Willst du mir erklären, wieso du –«

»Gern«, unterbrach ihn Paul. »Zunächst – ich hab mich verlobt. Zu Weihnachten. Heimlich einstweilen – darum schrieb ich auch nicht, Ellen will das Trauerjahr abwarten. Wir müssen Rücksichten nehmen –«

»Rücksichten nehmen«, rief Gerhard, »und du Esel kommst hierher?! In ganz Europa hättest du dir keine geeignetere Stadt dazu aussuchen können! – Woher weißt du denn, daß wir hier sind?«

»Nette Begrüßung«, maulte Paul. »Scheint ja, daß ich sehr willkommen hier bin – so wie die Sau in der Synagoge! – Wir trafen deine Schwester in Düsseldorf; sie sagte uns, daß du in der Pfalz seist, in Kaiserslautern oder in Speyer. Du habest was vor – Näheres wisse sie nicht.«

»Und da bekamst du Sehnsucht!« lachte Lili.

»Offen gestanden – ja«, antwortete er. »Also fuhr ich her, dachte mir, daß ich euch schon auftreiben würde. Vom Bahnhof ging ich gleich in den Dom – Ellen sagte mir, daß ich das nicht versäumen dürfe. Man muß was tun für seine Bildung. Meine Nase – das erste Wesen, das ich sah, war Lili. Da hast du meinen Bericht, Gerhard, nun sag, was los ist – ich bin ein bißchen heraus seit zwei Monaten.«

»Wirst schnell genug wieder drin sein«, rief Gerhard. »Erzähl ihm doch, Hellinger, wie's hier ausschaut.«

»Was ist da groß zu erzählen«, sagte der Oberländer. »Dies ist die Autonome Pfalz mit ihrer Hauptstadt Speyer, in welcher herrscht der Herr Präsident Heinz-Orbis, ein lieber Mann mit roten Haaren und rotem Bart. Seine Minister –«

»Sind oftmals vorbestrafte Lumpen«, fiel Hornemann ein, »die durch Erpressungen, Raub und Diebstahl sich gründlich die Taschen füllen. Ihr tut ja grade, als ob ich von nichts eine Ahnung hätte!«

»Erstaunliche Kenntnisse für einen Mann, der vom Reiche kommt!« rief Wiesmann. »Ich höhne garnicht – sonst weiß kein Deutscher außerhalb der Pfalz, wie's hier zugeht.«

»Dann laßt's euch von mir erzählen«, lachte Paul. »An Ministern sind vorhanden: der Friseur Pfaffmann, der Rennfahrer Meyer, der Zuchthäusler Novak und der Herr Monderkott, der ein paar hübsche kleine Püffchen sein eigen nennt, in denen er deutsche Mädchen an Nigger und Tonkinesen verschachert. Beschützt aber werden sie von dem Oberstkommandierenden, dem General de Metz, der alle Separatistentruppen, die am Rhein zurzeit nicht benötigt werden, auf die Pfalz losgelassen hat. Alle Beamten sind ausgewiesen und durch sonderbündlerische Gauner ersetzt, die Gefängnisse sind zum Bersten voll mit jämmerlich zerprügelten Bürgern und Arbeitern. In Kaiserslautern haben –«

»Danke«, unterbrach ihn Wiesmann, »wir haben von alledem den Schädel so voll, daß wir's nicht mehr hören können. Wo haben Sie nur die Weisheit her?«

Paul Hornemann antwortete: »Das will ich euch sagen: ich fuhr in der Regiebahn mit einem amerikanischen Zeitungsmann – der hat mir's erzählt.«

Hellinger nickte. »Geddie heißt er. Der hockt jeden Abend beim Präsidenten im Wittelsbacher Hof –«

»Dann hab ich ja wohl mein Examen bestanden«, meinte Paul. »Nun sagt mir, wozu ihr mich gebrauchen könnt.«

»Wir haben einen Theaterverein aufgetan«, sagte Lili, »aber die Rollen sind schon alle besetzt.«

»Was spielt ihr denn?« fragte Paul.

»Immer dasselbe«, sagte Gerhard, »Wilhelm Tell, frei nach Schiller. Wir haben's schon in München geübt – haben dort im Bürgerbräu die große Rütliszene aufgeführt. Aber wir sind schmählich reingefallen – die ganze Welt hat uns ausgelacht, als wir ›Einigkeit‹ brüllten! – Da haben wir gelernt. Wir verzichten heute aufs Publikum; wer hinkommt, tut's auf eigne Gefahr. Gespielt wird die Küßnachtszene in verbesserter Auflage. An Rollen sind vorhanden ein zotenreißender Klampfenzupfer, zwei Reisende in Strumpfwaren, ein stiller Gast, eine Schnellmalerin und drei fröhliche Zecher. Statt eines Geßler sind vier da, und für jeden ein Teil.«

Paul überlegte. »In hohler Gasse also. Das ist –«

»Meuchelmord«, sagte Gerhard Scholz. »Ganz recht, so werden sie's sicher in Paris nennen. Und vermutlich – in Berlin auch. Nur für Schuljungen noch ist Wilhelm Tell ein Befreier und Held.«

»Dank schön«, murrte Hornemann. »Eine Schande, wie man hier behandelt wird! Da kriecht man heraus von seinem warmen Ofen – Ofen? Prachtvoller Marmorkamin in herrlichem Schloß, wo man alles hat, was das Herz erfreut – fährt mit falschem Paß in versautem Wagen in dies Lauseloch, friert sich die Nase blau, bietet sich an zu neuen Heldentaten, als ob man von dem Geschäft nicht seit zehn Jahren nun gründlich genug habe – und das ist der Dank: ausgelacht wird man!«

»Was meinst du, Scholz«, rief der Oberländer, »wollen wir ihm gestatten, dabei zu sein? Seine Haut zu Markte zu tragen, mit dem großen Glück rechnen zu dürfen, einen Schuß ins Gedärm zu kriegen oder zwanzig Jahre Zuchthaus?«

Gerhard nickte. »Wenn er sich so drängelt, was können wir schon machen? Also gut, Paul, du darfst Tell V spielen – hast du eine Armbrust?«

»Zwei«, rief Hornemann, »und zehn Bolzen für jede.«

»Dann geh mit Wiesmann auf seine Bude«, bestimmte Gerhard. »Schlaf dich aus. Heutabend wirst du mehr hören.«

»Ich muß noch zum Dom«, sagte Paul, »hab noch nichts gesehn, bin gleich Lili nachgelaufen. Ich muß Ellen erzählen, was es da Schönes gibt.«

Gerhard schüttelte den Kopf. »Das fehlte noch – hier ist jeder Fremde auffällig. Du kommst nicht heraus aus dem Haus, eh es nicht dunkel ist.«

»So erzählt mir wenigstens«, forderte Paul.

»Mit Vergnügen«, sagte Hellinger. »Wir haben in unsrer alten Reichs- und Römerstadt eine hochberühmte Sammlung von deutschen Kaisern, auch ein paar Kaiserinnen sind dabei. Leider sind sie ein bißchen durcheinander gekommen. Wenn nämlich die Franzosen bei uns zu Besuch sind, brennen sie mit Vorliebe den Dom herunter, reißen die Gräber auf und spielen Kegel mit Kaiserschädeln und Königsknochen – das haben sie schon zweimal gemacht, vor zweihundertvierzig und wieder vor hundertdreißig Jahren. Ihnen macht's Spaß und uns ärgert's – also ist alles in bester Ordnung, denken die Franzosen. Und so kommt's, daß der Rudolf von Habsburg die Schlüsselbeinchen von der Kaiserin Beatrix hat, daß Kaiser Heinrich IV. und seine Gemahlin Bertha wie Kraut und Rüben durcheinander liegen – so gut sollen sie sich bei Lebzeiten nie vertragen haben. Die übrigen Heinriche aber, die Konrad und Adolf und Philipp und Albrecht haben sich in ihren Grüften zu sieben Portionen Leipziger Allerlei zusammengetan. Ist aber noch Platz da! Kaiser sind aus der Mode gekommen, heut sitzen Präsidentchen auf hohen Stühlchen – da mag auch in der Kaisergruft –«

»Danke!« unterbrach ihn Paul. »Euer Witz, finde ich, ist ein bißchen wüst; riecht nach Leichen und Knochen!«

Gerhard legte ihm die Hand auf die Schulter. »Unser Witz ist, wie er sein muß, bitter und gallig. Was wir zu tun haben, ist so, wie's im Kriege war, wenn wir einen Verräter an die Wand stellen mußten. Wir tun's ja – aber kein Mensch darf uns auslachen, wenn wir uns übergeben hinterdrein.«

* * *

An diesem Abend gelang es; Jung und Rub brachten ihre Leute glücklich über den Rhein. Nachts zuvor hatten sie im Dunkel das Ziel verfehlt, waren statt am andern Ufer auf einer Insel gelandet. Sprangen übers Eis von Scholle zu Scholle, brachen ein, arbeiteten sich mühsam weiter über den hochgehenden Strom. Wateten durch eiskalte Sümpfe, fanden sich schließlich zurecht – viel zu spät. Denn um zehn Uhr war Polizeistunde in Speyer, streng durchgeführt von den französischen Herrn. Da saß niemand mehr beim Wein, auch der Herr Präsident nicht mit seinen Ministern. Ob er auch Herr war über die Autonome Republik Pfalz, mußte er doch dem letzten französischen Unteroffizier gehorchen, da gab's kein Aufmucken.

Im Domgarten traf man sich. Jeder wußte, was er zu tun hatte, alle Posten waren ausgestellt, um den Rückzug zu sichern, bis hin zum Rhein.

Heinz-Orbis tafelte im Herrenzimmer des Wittelsbacher Hofs, mit französischen Offizieren und seinen Kumpanen, Fußheller, Schmitz-Epper und Sand. Auch Geddie saß bei ihnen, der amerikanische Berichterstatter.

Noch einer saß dabei, den sie Dr. Weiß anredeten. Das war ein lustiger Gesell, der sang und spielte die Klampfen. Und Zoten reißen konnte er, daß der rothaarige Präsident vor lauter Wonne grunzte. Seit einer Woche schon gehörte er zur Tafelrunde und war gern gesehn – ihm kam's nicht drauf an, einen auszugeben.

Freilich, Weiß hieß er nur auf seinem Paß und den Doktor sollte er erst noch machen. Aus Heidelberg kam er, war ein Student.

Weit auf standen die Türen zum Kutscherzimmer. Da hockte zwischen den Bürgern ein stiller Gast, der eifrig die Zeitung las, zuweilen drüberweg sah, die Stummelpfeife zwischen den Zähnen. Wieviel Freunde saßen schon an den Tischen im Herrnzimmer? Der stille Gast zählte: da waren zwei Reisende vorn beim Fenster, die sehr laut über Strumpfwaren sprachen. Und am Nachbartisch drei fröhliche Zecher – schon wieder bestellten sie eine neue Flasche. Das sind fünf, dachte der stille Gast; er noch und ›Dr. Weiß‹ – also sieben bisher. Er sah auf die Uhr – Viertel vor neun – dreiviertel Stunden noch, das schien ewige Zeit.

Eine Dame kam herein, geschminkt und gepudert. Sie schlenderte durch das Speisezimmer, suchte herum, trat dann zu dem Tisch, wo die drei Zecher saßen. Fragte recht laut, ob sie Platz nehmen dürfe.

»Netter Braten«, sagte der Präsident, »wer ist sie?«

Sein Minister Schmitz-Epper schüttelte den Kopf. »Weiß nicht – von hier ist sie nicht. Sind überhaupt viele Gesichter da, die man nicht kennt. Wir sollten aufbrechen.«

Der Präsident lachte ihn aus.

Die Dame legte Hut und Mantel ab, setzte sich zu den Zechern. Sie zog einen Block heraus, zeichnete die Herrn; die betrachteten die Blätter, lobten sie mit schallendem Gelächter, fragten, ob sie sie behalten dürften? Die Künstlerin nickte, da schenkten sie ihr ein Glas Wein ein, reichten ihr die Speisekarte. Was sie nur wolle, möge sie bestellen.

Sie drehte ihren Stuhl, zeichnete nun den Amerikaner, dann zwei der französischen Offiziere. Ging hinüber zum Präsidententisch, reichte den Herrn die Blätter.

Ähnlich, sehr ähnlich! Und Geddie bat sie, Heinz-Orbis zu zeichnen; für seine Zeitung möchte er ihn haben.

Wer sie denn sei, fragte der Präsident, und wie sie heiße?

Lili Ignota heiße sie. Von morgen ab trete sie im Kabarett auf, und die Herrn möchten doch alle hinkommen.

»Hab ich's nicht gesagt?« lachte der Rothaarige. »Tingeltangel – daher der Künstlername! Können Sie auch tanzen, Fräulein?«

Nein, tanzen könne sie nicht. Schnellmalerin sei sie, singen könne sie – und dann stelle sie noch lebende Bilder.

»Nackt?« fragte der Präsident.

Nein, nackt grade nicht, oder nur, soweit die Polizei das erlaube. Künstlerischer sei es natürlich nackt, da habe der Herr schon recht – sie habe gleich gemerkt, daß er etwas verstehe von Kunst.

Der stille Gast sah, wie Schmitz-Epper aufstand vom Präsidententisch, mißtrauisch nach zwei Gästen hinschielte, die sich eben im Kutscherzimmer niederließen. Wie er durch den Saal ging, zum Schanktisch trat, sich nach den beiden erkundigte. Aber der Zapfer schüttelte den Kopf, nein, er kenne sie auch nicht, die seien zum erstenmal hier.

Der stille Gast erhob sich, folgte dem Gehilfen des Präsidenten hinaus. Sah, wie dieser in die Fernsprechzelle trat; blieb stehn und lauschte. Hörte, daß Schmitz-Epper einen Herrn Lilienthal verlangte, dann mit ihm sprach. Er habe ein unruhiges Gefühl – es seien viele unbekannte Leute da. Nach den Warnungen, die man in den letzten Tagen bekommen habe, müsse man vorsichtig sein. Lilienthal möge doch gleich kommen – nein, nicht in die Gaststube, er wolle erst mit ihm oben auf seinem Zimmer sprechen.

Was sollte das? Der stille Gast ging zurück ins Kutscherzimmer, setzte sich wieder an seinen Tisch, stopfte seine Pfeife. Wer war dieser Lilienthal? Er bestellte einen neuen Schoppen, fragte die Kellnerin, ob sie den Herrn kenne?

»Ich bin nämlich mit ihm verabredet«, erklärte er, »aber ich weiß nicht, wie er aussieht.«

Die Kellnerin sah ihn mißbilligend an; es schien ihm, als ob auch die Bürger an seinem Tisch ein wenig abrückten. Herr Lilienthal sei heute noch nicht dagewesen, sagte sie. Stellte ihm seinen Wein hin, drehte ihm den Rücken. Aus der war nichts herauszuholen. Da wandte er sich an die andern, erfand eine Geschichte: in der Bahn habe ein Mitreisender ihm einen Brief anvertraut, ihn gebeten, den dem Herrn Lilienthal zu übergeben. Aber persönlich, nur ja persönlich –«

»Dann kennen Sie ihn nicht?« fragte einer der Herrn.

»Hab ihn nie gesehn«, antwortete der stille Gast.

»Lassen Sie sich nicht mit ihm ein!« riet der Herr.

Der stille Gast machte ein verwundertes Gesicht. »Warum denn nicht? Ist's nicht ein braver deutscher Mann?«

Der Herr bog sich zu ihm herüber, flüsterte: »Der? Ein Spitzel ist er, Haupt der separatistischen Polizei im Dienst der Franzosen. Der Hund hat schon manchen ehrlichen Kerl ins Gefängnis gebracht.«

»Leise, umgotteswillen!« flüsterte der andre Herr. »Wenn das jemand hört!«

»Prosit!« brummte der stille Gast. Was sollte er nur machen? Draußen führte Jung den Befehl, alle Seitenstraßen waren mit Posten abgedeckt. Wenn er ihm nur Nachricht geben könnte!

Aber er durfte seinen Platz nicht verlassen. Er seufzte, starrte hinüber zum Schanktisch – ja, dort links war der Lichtschalter.

Am Präsidententisch herrschte fröhliche Laune. Dr. Weiß griff in die Saiten, sang den Offizieren ein französisches Lied. Dann wandte er sich an die Zeichnerin. »Wie wär's, Fräulein Ignota, Mademoiselle l'Inconnue, holde Unbekannte, wie wär's, wenn wir zusammen eine Kabarettnummer aufmachten? Pfälzisches Duo – erstes Künstlerpaar aus der neuen und freien Republik. Hier fangen wir an unter der hohen Gönnerschaft der Pfälzer Regierung; die Herrn Leutnants geben uns Empfehlungen nach Paris, Mister Geddie nach Amerika – so reisen wir durch die ganze Welt. Sie zeichnen, ich spiele, und wir beide singen dazu. Nachher stellen wir lebende Bilder – ein bißchen tanzen müssen Sie auch noch lernen. Wie wär's mit dem Tanz der Salome? Erst mit Schleiern, dann mit dem Haupt des Johannes!«

»Wo sollen wir das wohl hernehmen?« fragte Lili.

»Ich bau's schon zusammen«, erwiderte Dr. Weiß. »Sehr naturgetreu, glaubenswütig und angstverzerrt –«

»Und bleich und blutig und rothaarig«, rief sie, »daß es alle Leute gruselt, die's sehn.«

»Schwarzhaarig war der Täufer«, verbesserte Dr. Weiß.

Sie nickte eifrig. »Ja, ganz recht, schwarzes Haar hatte er. Ich hab ihn verwechselt mit dem andern Johannes, dem Jünger Jesu.«

Der Amerikaner lachte. »Sie haben ja viel in der Religionsstunde gelernt, Fräulein! Hellblond war der Apostel.«

Sie blickte auf von ihrer Zeichnung, sah ihn an mit großen, harmlosen Augen. »Wirklich? Aber einer von den Jüngern war doch rothaarig und rotbärtig, nicht?«

Dr. Weiß sagte: »Das war der Judas. Der Verräter.«

Der stille Gast starrte hinüber, sah die betretene Stille am Präsidententisch. Ob es Zufall war? Fast schien ihm, als ob sie's verabredet hätten, vorher überlegt. Den beiden war's zuzutrauen, Lili und dem Studenten! Er sah auf die Uhr, dann auf die Eingangstür – immer noch nicht so weit? Nun mußten sie doch bald kommen –

Aber auch der andre konnte kommen, der Herr Lilienthal mit einem Trupp seiner Grün-weiß-roten und französischen Gendarmen.

Immer noch schwiegen sie am Präsidententisch; nur Geddie lachte. Die Schnellmalerin zeichnete, als ob sie das alles nicht verstanden habe; hastig leerte der Präsident sein Glas.

›Trink du nur‹, dachte der stille Gast, ›wirst bald ausgetrunken haben!‹

Der Student griff ein paar Akkorde auf seiner Klampfen; Lili sang, hell klangen die Worte durch den Saal:

»Wir zogen in das Feld,
Da hätt'n wir weder Säck'l noch Geld.
Strampedemi,
A Lei mi presento, all' Vostra Signori'!«

»Was ist denn das für ein Zeug?« brummte der Präsident.

Die Zeichnerin blickte auf. »Ein Landsknechtlied«, sagte sie gleichmütig. »Der fromme Hauptmann kommt mit seinen Haufen in eine fremde Stadt, stellt sich den Herrn vom Hohen Rate vor.«

Der Doktor Weiß stimmte mit ein:

»Wir kamen vor Siebentod,
Da hätt'n wir weder Wein noch Brot.
Strampedemi,
A Lei mi presento, all' Vostra Signori'!«

Sie machte eine leichte Verbeugung vor Heinz-Orbis, als ob sie ihm sich und ihre Leute vorstellen wolle.

»Wo liegt denn Siebentod?« fragte der Amerikaner.

»Weiß nicht«, antwortete Dr. Weiß. »Wird wohl eine Stadt gewesen sein, wo die Landsknechte den Hohen Rat hinmachten – sieben Mann, weil ihnen deren Nasen nicht paßten.«

Wieder sangen die zwei:

»Wir kamen vor Friaul,
Da hätten wir allesamt groß Maul!
Strampedemi,
A Lei mi presento, all' Vostra Signori'!«

Der stille Gast blickte ins Herrnzimmer, biß die Lippen zusammen. ›Donnerwetter‹, dachte er, ›wenn das nur gut geht! Groß Maul haben die zwei, das ist sicher.‹ – Das Lied hatten sie im Kriege gesungen und im Freikorpslager – er sah, wie die Augen der Strumpfreisenden und der Zecher aufleuchteten. Lili sang:

»Wir kamen in die Pfalz,
Zum rot' Hahn in die Balz.
Da hätt'n wir Pirsch viel, Jagd gut,
Über die Schuh in Blut.
Strampedemi,
A Lei mi presento, all' Vostra Signori'!«

»Was – was soll das?« stotterte der Herr der Pfalz.

Lili sah lächelnd auf, gab ihre Zeichnung dem Amerikaner; der grinste übers ganze Gesicht. Reichte das Blatt hinüber. »Bitte Ihre Unterschrift, Herr Präsident!«

Aber der Gewaltige war schlecht gelaunt, wenig zufrieden mit der Zeichnung. »Das ist ja ein Zerrbild – so schau ich doch nicht aus!«

»Unterschreiben Sie immerhin«, bat der Zeitungsmann. »Das Fräulein wird Sie noch einmal zeichnen – ähnlich, daß Sie's einrahmen können. Bitte – hier ist mein Bleistift!«

Da unterschrieb der Herr Präsident: Franz Josef Heinz aus Orbis.

Ehe Geddie noch zufassen konnte, war Dr. Weiß aufgesprungen, hatte die Zeichnung ergriffen. Sehr verändert klang seine Stimme, hart und schneidend: »Das Blatt ist für mich. Ein Andenken an diesen Tag, diese Stunde und Minute – an den neunten Januar neun Uhr dreißig!«

Die hintere Tür öffnete sich, fünf Herrn kamen vom Flur ins Herrnzimmer. Sie boten guten Abend, verbeugten sich höflich. Der stille Gast sah, wie sich am Fenster die beiden Strumpfreisenden erhoben, gleich darauf die drei Zecher, wie sie in die Tasche griffen. Sah, wie Dr. Weiß auf den Präsidenten wies, wie einer der neuen Gäste mit dem Taschentuch über die Stirne fuhr. Das war das Zeichen – das bedeutete: ›Wir haben das Ziel erkannt!‹ Und er hörte die helle Stimme des Studenten: »Hände hoch – es gilt nur den Separatisten!«

Da wandte sich der stille Gast zurück. Sprang auf, riß den Revolver heraus, wiederholte den Ruf: »Hände hoch – es gilt nur den Separatisten!« Er deckte das Kutscherzimmer.

Keiner muckste, keiner schrie – alle rissen die Hände hoch. Nun hörte man Geddies Stimme: »Ich bin Zeitungsmann! Bin Amerikaner!«

»Freut mich, Sie wiederzusehn«, rief Paul Hornemann. »Bleiben Sie nur hübsch stehn – keiner tut Ihnen was.«

Dann krachten die Schüsse. Dann lagen sie am Boden, Heinz-Orbis und seine Kumpane.

Wieder scholl eine Stimme. »Untersucht sie. Seht zu, ob sie politische Papiere bei sich tragen.«

Der stille Gast ärgerte sich, daß er sich nicht umdrehn durfte. Er nahm mit der linken die Pfeife vom Tisch – gottseidank, sie brannte noch. »Tut mir leid«, sagte er zu den Herrn an seinem Tisch, »daß ich Sie belästigen muß. Geht leider nicht anders.« Er sah eine Zigarre auf dem Aschbecher liegen, hob sie auf, steckte sie dem einen Herrn in den Mund. »Sie können ruhig rauchen!«

Gehorsam tat der Herr einen Zug; verzog dabei das Gesicht.

»Schmeckt wohl nicht?« fragte der stille Gast, nahm ihm die Zigarre wieder aus den Lippen.

»Nicht besonders«, murmelte der Herr. »Außerdem ist's garnicht meine – ich bin Nichtraucher.«

Wieder krachten ein paar Schüsse, schnell hintereinander – drei – fünf – sechs! Wo kamen die her? Wie von der Straße klang es. Oder war es im Hausflur? – Der Lilienthal?

Aber er durfte sich nicht umsehn; mußte das Kutscherzimmer in Schach halten –

Aus dem Herrnzimmer klang es: »Nichts in den Taschen – kein Fetzchen Papier!«

Dr. Weiß hielt die Abschiedsrede. Man ziehe nun ab, einer nach dem andern. Aber er rate den Gästen, noch ein Viertelstündchen so stehn zu bleiben mit hochgereckten Armen – vielleicht werde man wiederkommen!

Der stille Gast warf einen raschen Blick zurück. Nach hinten hinaus gingen die fünf Mann – mit ihnen Lili, auch die Strumpfreisenden und die Zecher. Einer blieb an der Tür stehn, deckte mit der Pistole den Speisesaal.

Dann kam Dr. Weiß vorbei, rief ihm zu, daß er gleich zurück sei. Ging durchs Kutscherzimmer. Er hörte ihn die Treppe hinaufgehn.

»Sie können sich unterhalten«, sagte der stille Gast.

Aber niemand unterhielt sich, alle standen wie Salzsäulen, die Hände hoch aufgereckt. Der stille Gast füllte die Gläser seiner Nachbarn, führte sie ihnen zum Munde.

»Na, sehn Sie, das Trinken geht noch«, sagte er. Dann fiel ihm der Befehl ein, daß jeder seine Zeche bezahlen sollte. »Donnerwetter, das hab ich vergessen!« murmelte er, griff in die Tasche, zog einen Schein heraus.

»Für die Kellnerin – der Rest als Trinkgeld. Sie muß doch was haben für ihren Schreck.«

Der eine Herr nickte, fragte dann: »Und der Brief für Herrn Lilienthal?«

»Schade«, meinte der stille Gast, »den Mann hätte ich gern persönlich gesprochen.«

»Wenn die Pfalz wieder frei ist«, flüsterte der andre, »wenn Sie je wieder nach Speyer kommen, dann müssen Sie mein Gast sein.«

Dr. Weiß kam zurück, in Mantel und Hut, einen Handkoffer in der Hand. Ging ins Speisezimmer, nahm seine Laute auf, gab sie an der Tür dem letzten der Zecher, faßte ihn unter den Arm, ging hinaus mit ihm.

»Danke schön«, sagte der stille Gast zu seinem Nachbar, »hoffentlich wird's bald so weit sein.« Er nahm Hut und Windjacke vom Haken, ging zum Schanktisch, die Pfeife im Mund, die Pistole hoch in der Hand.

»Max Emanuel!« schrie draußen eine Stimme. Das war das Losungswort. Da warf er den Zentrallichtschalter herunter.

Er sicherte die Pistole, steckte sie in die Tasche – nun war sie nutzlos im Dunkeln. Er fand leicht den Weg, stand draußen auf der Straße; zwei Kameraden warteten auf ihn.

Ein Mann lag auf dem Pflaster, wimmerte: »Au secours! Au secours!« Blutlachen um ihn herum.

»Wer ist das?« fragte er.

Aber die beiden wußten es nicht, hatten in Nebenstraßen Posten gestanden. Das ist der Lilienthal, dachte er.

Sie zogen ab, kamen durch den Domgarten, nahmen den Weg zum Rhein über die verschneiten Wiesen, dann durch Riedwald und Röhricht. Fern auf der Landstraße jagten Automobile vorbei – strichen mit Scheinwerfern die Gegend ab. Franzosen, dachte er, Gendarmen –

Eine Stunde Marsch bis zum Rhein. Der Nachen war eben abgestoßen, sie sahn ihn mit den Eisschollen kämpfen. So mußten sie warten – endlose Zeit.

Bitter kalt war die Nacht, sehr dunkel. Sie machten Dauerlauf durch die Schneewehen, dann Freiübungen; von Mund zu Mund ging die Pfeife. Man hätte Schnaps mitnehmen sollen! dachte der stille Gast.

Endlich kam der Kahn mit den Fergen. Die drei nahmen Stangen und Riemen, lotsten sich durch den Strom – schweißbedeckt landeten sie am rechten Ufer. Stiegen den Damm hinauf – hinein in das einsame Wirtshaus zum Herrnteich. Ein kleiner Trupp hockte noch in der Gaststube, wartete auf sie; einer der Strumpfreisenden war dabei.

»Wo ist Jung?« fragte der stille Gast.

Edgar Jung – das wisse er nicht? Halsschuß – die Zeichnerin habe ihn verbunden. Aber die Kugel stecke im Schädel, müsse bald herausgeholt werden – sie habe ihn im Auto nach Heidelberg gebracht.

»Wer traf ihn?« fragte er.

Ein Polizeiagent – derselbe, der auch die beiden andern erschossen habe, Hellinger und Wiesmann –

Die – die auch?

Der stille Gast nahm die Pfeife aus den Zähnen, zerbrach sie, warf die Stücke auf den Boden. Lilienthal also, dieser Lilienthal –

Wieder zwei, dachte er, bestes deutsches Blut! Für die Freiheit vergossen, für das Vaterland –

Wer wird's ihnen danken?!

Er führte seinen Trupp aus dem Wirtshaus – hinaus auf die verschneite Landstraße. Richtung Schwetzingen –

»Ohne Tritt marsch!« befahl er.

* * *

»Wir müssen zu Ende kommen«, sagte Herr Deil. Er warf einen Blick durchs Fenster. »Die Leute stehn auf der Straße, schrein nach der Zeitung. Das ist Ihre Mache, Herr Gießler.«

Eine Stunde schon saßen sie im Verlagszimmer der Pirmasenser Zeitung, konnten sich nicht einigen.

Der Bankbeamte antwortete: »Wenn Sie es Mache nennen wollen – bitte! Natürlich hab ich's veranlaßt. Aber Sie kennen unsre Pfalz, Herr Deil. Unsre Landsleute lassen sich nichts einreden, tun nur das, was sie selber wollen. Ich habe ausgesprengt, daß trotz des Verbots die neue Nummer erscheinen wird. Das betrachtet man als eine mutige Auflehnung gegen Schwab, den separatistischen Machthaber unsrer guten Stadt Pirmasens.«

»Sie werden zugeben«, sagte der Zeitungsverleger Deil, »daß Sie damit einen Druck auf mich ausüben!«

»Das stimmt«, nickte Dr. Anstett. »Auch im Namen der Herrn Wiese, Rupprecht und Jansen kann ich Ihnen sagen, daß das unsre Absicht ist. Wir benötigen einen kräftigen Anstoß für das Volk.«

»Übrigens brauchten Sie ja nur dem Schwab die zehntausend Goldmark Strafe zu zahlen«, bemerkte Gießler bissig, »dann zögert er keinen Augenblick, das Erscheinen Ihrer Zeitung zu erlauben.«

»Jedes Kind in Pirmasens weiß, daß ich den Separatisten keinen Pfennig zahle«, rief der Verleger, »das hieße ja, sich ihrer Willkürherrschaft beugen! Doch scheint mir's, daß wir uns über die Folgen klar werden müssen. Vielleicht haben Sie die Güte, sich zu äußern, Herr – verzeihn Sie, ich habe den Namen nicht verstanden. Sie sind der einzige, der nicht aus der Pfalz ist, sollen auch, wie die Herrn sagten, in dieser Art von Unternehmen so etwas wie ein Sachverständiger sein.«

»Der Name ist gleichgiltig«, sagte Gerhard Scholz, »übrigens wurde Ihnen ohnehin ein falscher genannt. Sachverständig bin ich gewiß, auch über die wahrscheinlichen Folgen. Wenn wir die separatistischen Banden aus der Stadt jagen, kostet das viel Blutvergießen. Das Gesindel ist gut bewaffnet, rechnet mit der Hilfe der Franzosen, kennt die Erbitterung der Bevölkerung und weiß also, was es zu erwarten hat. Es weiß auch, daß die Haussuchungen der Franzosen keinen rostigen Säbel, keine Jagdflinte mehr in der Stadt gelassen haben. Die paar Waffen, die ich einschmuggeln konnte, werden helfen, genügen aber nicht entfernt. Sie mögen also mit drei, vier Dutzend Toten und Verwundeten rechnen. Dazu werden die Franzosen der Stadt unerträgliche Schätzungen auferlegen, werden viele Bürger ins Zuchthaus werfen. Sie auch, meine Herrn, jeden von uns, den sie fassen. Herr Deil hat recht: über das alles müssen Sie sich klar sein – Ihre Freiheit setzen Sie aufs Spiel, wie Ihr Leben.«

»Ich wag's«, rief Dr. Anstett.

»Sie rechnen mit Zuchthaus und Brandschatzungen, Verwundeten und Toten, wie unsereins mit Arbeitslöhnen und Anzeigenpreisen«, sagte der Zeitungsbesitzer. »Das ist nicht grade sehr ermutigend.«

Gerhard Scholz zog die Lippen hoch. »Jeder hat sein Geschäft. Und mein Beruf, mein –« Er stockte, lachte hart. Ja, was war er denn? Nichts, was bürgerlich zu werten war – Verschwörer, Spion, stellenloser Landsknecht! »Mein Beruf –« wiederholte er, »ich bin, in dieser Zeit, ein Deutscher, sonst nichts. Aber ich will Ihnen auch die andre Seite zeigen. Sie wissen, daß Lord Clive, der englische Generalkonsul, im Auftrage seiner Regierung die Pfalz bereist – die Blutnacht von Speyer hat London die Augen geöffnet. Die Franzosen tun alles, ihm Sand in die Augen zu streuen, aber diesmal haben wir gesiegt. In jeder Stadt, in jedem letzten Dorf empfängt der Lord die Abordnungen, leiht allen Klagen sein Ohr. Ich kenne den Vorbericht, den er der englischen Kommission nach Köln sandte: er schildert das Leiden dieses Landes, die maßlose Unterdrückung durch General de Metz und seine Henkersknechte. Noch ein einziger Ausbruch des Volkes trotz blutigster Opfer – und das Treiben der Franzosen hat ein Ende. Ohne Paris aber verschwinden die Separatisten von selber.«

Herr Deil antwortete nicht. Er nahm das Hörrohr, verlangte das Bezirksamt. »Wer dort?« fragte er. »Wer? – Ich kenne keine Autonome Regierung der Pfalz. Ich habe nur dem Separatisten Schwab etwas zu sagen. – Wie? Halten Sie das, wie Sie wollen! – Hier ist der Besitzer der Pirmasenser Zeitung – ich werde Ihre sogenannte Strafe nicht bezahlen. Ich pfeife auf Ihr Verbot – meine Zeitung wird erscheinen.«

Gerhard erhob sich. »Wie lange wird's dauern, Herr Deil?«

Der Zeitungsverleger antwortete: »Alles ist vorbereitet – zwei Stunden.«

Gerhard nickte. »Gut. Solange werden wir die Menge auf der Straße halten. Meine Herrn, wir haben keine Zeit zu verlieren. Um sieben Uhr – vor dem Bezirksamt!«

* * *

Alles geschah, wie es geplant war – bis auf die Zeit. Aber das war das Seltsame, daß es dennoch garnicht nach dem Plan geschah, daß alles wie aus sich selber herauswuchs.

So hatten sie gerechnet: Schwab, der Bezirkskommissar, würde ein paar seiner Leute zur Zeitung schicken; Herr Deil sollte mit ihnen unterhandeln, sie so lange festhalten, bis die ersten Blätter aus der Presse kamen.

Einen Leutnant mit drei Mann sandte der Bezirkskommissar, aber sie kamen nicht bis zur Zeitung. Schon auf der Straße nahm die Menge eine so drohende Haltung an, daß sie zögerten und sich unter dem Schutz französischer Gendarmen wieder zurückzogen. Inzwischen arbeiteten mit Hochdruck Setzer und Drucker, aufgepeitscht von gellenden Schreien der Straße, die die Zeitung verlangte – über eine Stunde früher flatterten die ersten Blätter durch die Fenster.

Die Massen waren zufrieden, ob auch kein Aufruf, kein aufreizendes Wort in der Zeitung stand. Daß ein Mann es wagte, dem Machtgebot der Franzosenknechte zu trotzen – das allein genügte! Wie Fahnen schwenkten sie die Blätter in der Luft, zogen damit durch die Gassen. Und eh sie es wußten, waren sie vor dem Bezirksamt.

Verrammelt die Tür und die untern Fenster. In den obern Stockwerken lagen die Banden, antworteten mit unflätigen Schimpfworten auf die Flüche der Menge. Sie drohten einander: oben Flinten, Pistolen, Maschinengewehre, auf der Straße Zeitungen und ein paar Stöcke. Aber so verbittert, so blindwütig war dies Volk, daß es mit solchen Waffen gegen die Mauern rannte.

Schwab ließ feuern; man brauchte nicht zu zielen, so dicht stand das Volk.

So fing es an. Die Menge schrie, stob zurück, ließ Tote und Verwundete auf dem Pflaster – dazwischen lagen, zerrissen und zerknittert, die Zeitungen.

Stille dann, Spannung, Erwartung. Und in diese Stille hinein, in die Leere vor dem Bezirksamt schritt ein Mann. Eine Rotkreuzbinde trug er am Arm, winkte hinauf mit dem Taschentuch. Kniete nieder bei dem ersten Verwundeten richtete ihn auf, verband ihn. Jeder in Pirmasens kannte den Arzt – Dr. Anstett.

Einer hob die Flinte oben im Fenster. Zielte lange, schoß, traf gut. Der Arzt ließ den Verwundeten fallen, streckte beide Arme aus, brach zusammen in schwerem Fall.

Da brüllte die Menge. Und, im selben Augenblick fast, begann eine Glocke zu läuten. Leise erst, furchtsam und unsicher. Eine zweite fiel ein, dumpf und schwer, mächtig dröhnend – von allen Kirchtürmen heulten die eisernen Hunde über die Hügel der Stadt: Sturm, Sturm! Dann jagte die Feuerwehr heran; hell schmetterten ihre Hörner in das Johlen der Menge, in das grollende Dröhnen der Glocken.

Jetzt erst bekamen sie das Unternehmen in die Hand, Gerhard Scholz und die Seinen. Hinter der Feuerwehr brachen sie vor, gefolgt von der Menge. Und während die Schläuche sich auf das Gebäude richteten, besetzten sie die Häuser gegenüber, hielten von dort aus das Bezirksamt unter Feuer. Die Spritzen arbeiteten gut, vertrieben die Banden aus dem ersten Stock, jagten sie hinauf in den zweiten – zu schwach freilich, dort etwas auszurichten. Wieder raste die Menge gegen die Tür, wieder wurde sie verjagt mit Schüssen und Handgranaten.

Einer brachte Meldung: »Der französische Delegierte hat in Lastautos von Zweibrücken Truppen herschaffen lassen, Infanterie und Marokkaner.«

»Wo stehn sie?« fragte Gerhard.

»Am Bahnhof«, kam die Antwort, »kaum vierhundert Meter von hier.«

»Wir wollen ihnen die Aussicht verderben«, rief Gerhard. »Wer nicht mitspielt, braucht auch nicht zuzusehn.«

Er sprach mit der elektrischen Zentrale; zwei Minuten später lag die Stadt in Finsternis. Da kam der Befehl der Franzosen, die Feuerwehr solle sofort abrücken; sonst würden die Truppen eingreifen. Man mußte sich fügen.

»Sie glauben immer noch, daß die Kerle da drüben mit uns fertig werden«, sagte Gerhard. »Sie werden sich irren.«

Er schickte seine Leute hinunter; sie sollten auf die Menge einwirken, daß sie zugleich mit der Feuerwehr zurückgehe; nur ein paar Häuser weit. Das Volk begriff; so wurde für kurze Zeit die Straße frei.

Man hörte Lachen von drüben, höhnische Rufe und vereinzelte Schüsse hinter der abziehenden Feuerwehr – die Sonderbündler verstanden gut, daß das der Franzosen Spiel sei, rechneten nun sicher mit ihrer Entsetzung.

»Alles bereit?« fragte Gerhard. Gießler nickte. »Dann los! Sie übernehmen die Straße – ich das Bezirksamt; Jansen, Rupprecht und die andern halten die Fenster in Atem.«

Kleine Scheinwerfer bestrichen das Bezirksamt, heftiger knatterte das Feuer aus den Häusern, beschäftigte vollauf die Verteidiger. Quer über die Straße aber brach ein seltsamer Hauf. Eimer trugen sie und Milchkannen mit Benzin gefüllt; Wiese und Müller rollten ein mächtiges Teerfaß. Holz schleppten andre, Papierballen und Stroh, brachten Gummi und Kappensteife. Schmiedehämmer krachten gegen das Tor, Äxte und Brecheisen –

Dann waren sie drinnen. Gerhard stand vor der Treppe, die Pistole in der Hand, hinderte jeden, der hinaufsteigen wollte. »Diese Nacht hat Blut genug gekostet. Jetzt haben wir die Ratzen in der Falle.«

Hoch schichteten sie den Scheiterhaufen, tränkten ihn gut, warfen eine Handgranate hinein: da stieg die Feuersäule. Schwelte, rauchte, flammte, fraß sich hinauf.

Immer noch schössen die Sonderbündler, warfen eine Granate nach der andern die Treppe hinunter. Aber der Rauch biß ihnen in die Augen, drang ihnen in Mund und Nase, daß sie nicht mehr zu sehn, kaum mehr zu atmen vermochten. Schwächer wurde ihr Feuer.

Da erschien eine weiße Fahne am Fenster. Da schrien sie, bettelten um Gnade.

Eine lange Leiter lehnte sich draußen an die Mauer; junge Burschen stiegen hinauf, brachen in die Fenster. Ein Schreien scholl von oben, jämmerliches Heulen. Dann fiel, vom vierten Stock heruntergeworfen, eine Leiche durchs Treppenhaus. Ein paar Arbeiter erkannten sie, schrien in heißer Wut: »Der Schwab! Das ist der Schwab!« Mitten ins Feuer warfen sie die Leiche. Und sie sprangen die brennende Treppe hinauf, mehr, immer mehr.

Gießler erschien in der Tür. »Meine Leute können die Menge nicht halten. Die Leitern brechen fast – alles steigt hinauf. Sie werden die da droben totschlagen, jeden einzelnen!«

Gerhard nickte, wies mit der Schulter auf die Treppe, auf der sich die Menschen drängten. »Nichts kann die Lumpen mehr retten. Und wenn ich's könnte – ich tät's nicht. Die Hunde haben ihr Schicksal verdient.«

Er faßte den Freund unter den Arm, trat mit ihm hinaus auf die Straße. »Kommen Sie, Gießler.«

Sie gingen durch die Februarnacht, blieben stehn an der nächsten Ecke, sahn noch einmal zurück. »Viel Blut auf der Straße«, murmelte Gerhard, »viel Blut. Was tut's? Dort verbrennt die Autonome Republik der Pfalz.«

 


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