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XV

»Was du auch tun magst, um reiner, reifer, freier zu werden – du tust es für dein Volk!«

H. v. Treitschke.

 

»Abscheulich ist es, wenn Staaten der Dankbarkeit ermangeln. Der Soldat, der dem Gemeinwohl Gesundheit, Kraft und Leben opfert, hat ein Recht auf Erkenntlichkeit von seiten derjenigen, für die er alles eingesetzt hat.«

Friedrich II. (Polit. Testament)

 

Bad Eilsen, Brioni, Berlin 1929

So weich war das Bett – wie konnte man da nur schlafen? Und das Kissen unter dem Kopf und die Daunendecke –

Immer wieder streckte er sich aus; es ging nicht. Er richtete sich auf, knipste die Nachtlampe an. Hohl schrie es da draußen, klagend – dazwischen ein Wehen, wie von Tüchern im Wind. Er stieg aus dem Bett, ging durchs Zimmer; auf einem schweren Teppich schritt er – wie sich das anfühlte an den nackten Füßen! Er zog die Balkontür auf, blickte hinaus.

Draußen tröpfelte ein dünner Regen. Ihn fror nicht, mild und zärtlich schien ihm die Aprilnacht. Mächtige Bäume im Dunkel – daher kamen die Schreie. Nun flog es vorbei – große Vögel.

Dann fiel ihm ein: das hatte er in Rußland gehört, dieses schwere Flügelschlagen, diesen klagenden Ruf – in den Wäldern und Sümpfen am Pripet. Schleiereulen –

Er trat zurück, sah sich um im Zimmer. Ein Schreibtisch – da mochte er sich hinsetzen; schlafen würde er doch nicht. Sein Blick fiel auf den Spiegel – er sah hinein: kein Anstaltshemd, ein Schlafanzug war das, gelbe Seide. Paul hatte ihm den gegeben, als er ihn zubett brachte. Paul –

Ja, der hatte ihm auch das Wasserglas hingestellt, ein Glasröhrchen daneben gelegt. Er nahm ein Plätzchen heraus – dann also konnte man schlafen, wenn man das schluckte? Er zerkaute es, spülte Wasser nach, ging wieder zubett.

Eigentlich ist's schade, dachte er. Warum schlafen? Man sollte das auskosten – dies Bett, dies Zimmer und die Nacht da draußen. Den Frühlingsregen und die Bäume und die großen Vögel.

Doch war er müde. So viel war geschehn an diesem Tage.

Erst nichts, bis Mittag nichts – ein Morgen wie alle im Gefängnis. Dann kam der Schließer, der brachte ihm seine Pappschachtel – diese alte schmutzige Schachtel, die sie ihm im Zuchthaus zu Münster gegeben hatten, um seine Habseligkeiten nach Essen zu bringen. Packen solle er.

Gerhard sah auf – ob er verschickt würde. Und wohin.

Davon wisse er nichts, sagte der Schließer. Er solle sich eilen. Überflüssiges zurücklassen.

Er packte. Was war denn überflüssig? Nichts – oder alles. Er packte, wartete. Das Bücken tat ihm weh – Rheuma, damit mußte er sich schon abfinden, Andenken an feuchte Zellenwände im Zuchthaus.

Nach vier Uhr erst wurde er zur Kanzlei geholt. Man untersuchte die Sachen, gab ihm eine Schnur, sie zusammenzubinden. »Rechtsanwalt ten Brinken wird Sie in Empfang nehmen«, sagte der Beamte. Er stand auf, öffnete die Tür. »Bitte, Herr Doktor.«

Sieh doch, Hans ten Brinken, das Studentchen! Kaum verändert sah er aus, jung und frisch, wie damals im Ruhrkampf. Er kam herein, drückte ihm beide Hände, redete auf ihn ein. Nur abgerissene Worte verstand Gerhard: – gleich mitkommen – der Professor lasse vielmals grüßen – bitte um Entschuldigung – Grippe –

»Wer denn?« fragte Gerhard.

Aber er erinnere sich doch gewiß, sagte Brinken. Professor Dr. Grimm, sein Verteidiger – mit dem arbeite er nun zusammen. Es sei gelungen, endlich – lange genug habe man ja der Regierung zugesetzt. Einstweilen nur Strafaufschub – aber aus dem Urlaub würde ein endgiltiger Abschied aus dem Gefängnis werden, das sei sicher.

Er zeichnete einige Papiere; auch Gerhard mußte ein paarmal seine Unterschrift geben. Dann waren sie draußen, gingen durch die Gänge und die Treppen hinab.

Die Straße – ein Auto stand da. Paul Hornemann sprang auf ihn zu, sprach nichts, griff ihn mit beiden Armen, half ihm in den Wagen. Setzte sich neben ihn ans Steuer. Ein Wachtmeister lief durch das Tor mit der Pappschachtel; Brinken nahm sie ihm ab, warf sie ins Auto, gab dem Mann ein Trinkgeld. Rief, winkte, als Paul Gas gab.

Sie fuhren durch die Stadt – wie gut war die Luft! Dann dämmerte es, dann wurde es dunkel. Durch Städte und Dörfer, durch Wälder und weite Wiesen. Stunden, Stunden –

Kein Wort sprach er auf dieser Fahrt, atmete nur, schaute nur hinaus auf die Landstraße. Manchmal sah Paul hinüber zu ihm, manchmal auch ließ er die rechte Hand vom Steuer, drückte seinen Arm. Und zuweilen, in langen Pausen, sagte er seinen Namen, sagte: ›Gerhard‹ –

Spät kamen sie an. Fuhren durch einen Park, hielten vor einem großen, weißen Gebäude.

»Wo sind wir?« fragte Gerhard.

Paul Hornemann hupte. »Bad Eilsen – das ist der Fürstenhof. Du wirst schon sehn.«

Eilsen – wo das nur sein mochte?

Eine große Halle, Spiegel, Sessel, alte Bilder. Pförtner in blauer Liwrei, Pagen in roter. Schwarzbefrackte Kellner, braune Hausburschen mit grünen Schürzen. Vorne ein Saal – Tanzmusik tönte heraus. Die Doppeltür stand weit offen – Herrn, Frauen in Abendkleidern –

Ein kleiner Herr mit schwarzem Schnurrbart kam auf sie zu, begrüßte sie.

»Grüßgott, Herr Direktor«, sagte Paul, »erhielten Sie mein Telegramm?«

Der Herr im Smoking nickte. »Alles besorgt!«

Gerhard schaute in den Saal – in der Mitte ordnete sich ein Tanz. Junge Burschen mit Pelzmützen und weißen Jacken, Mädel mit riesigen schwarzen Hauben und weitabstehenden knallroten Röcken faßten die Hände, wirbelten herum, juchzten dazu. »Was ist das?« fragte er leise.

Der Hoteldirektor lächelte. »Das? Unser Schaumburger Bauerntanz, der achttourige – die Runde führt den schönen Namen ›Maike, wud du noch nich up un melken dine Kau?‹. Die fürstlichen Herrschaften sind hier, ihnen zu Ehren tanzt das Jungvolk den Trachtentanz. Hören Sie nur.«

Die Burschen und Dirnen sangen:

»Säben Ellen Bottermelk,
Achte Ellen Klümpe,
Habet we keene Schauhe mehr,
Danzet we in Strümpe.«

»Wollen die Herrn eintreten?« fragte der Oberkellner.

Paul Hornemann schüttelte den Kopf. »Heute lieber nicht. Essen wollen wir.«

Der Herr Direktor nickte, geleitete sie zum Fahrstuhl. »Ich habe mir erlaubt, in Ihrem Wohnzimmer ein leichtes Nachtmahl richten zu lassen.«

Ein kleiner rotbäckiger Page trug die Pappschachtel, setzte sie vorsichtig hin, als ob sie Juwelen halte. Er drückte auf den Knopf, schloß die Fahrstuhltür. Wie komisch, so in die Höhe zu schweben, dachte Gerhard.

Sie saßen an einem kleinen Tisch; sieben große Catleyas standen in dem Glas. »Ergebene Empfehlung vom Herrn Kurdirektor«, bestellte der Kellner.

Paul nickte. »Was gibt's zu essen?«

»Eine Tasse Fleischbrühe«, berichtete der Kellner, »dann Forellen – der Herr Hoteldirektor gibt sich die Ehre. Er hat sie heutabend aus der Aue gefischt. Dann Arti –«

»Also los«, unterbrach ihn Paul, »wir haben Hunger.«

Sie aßen, tranken, stießen an. Sie sprachen nur wenig; Paul erzählte von seiner Frau –

Gerhard sagte: »Möchte sie bald sehn. – Kann ich bei dir arbeiten?«

»Das sieht dir ähnlich«, rief Paul, »gleich hinein in die Arbeit, morgen früh schon, was? Erst erholen – darum hab ich dich hergebracht nach Bad Eilsen. Mußt wieder lernen frei zu sein! Krank bist du, mußt gesund werden.«

»Wie ein Pastor redst du«, meinte Gerhard.

Der Freund lachte. »Weißt du: ich plärre es Schwester Pia nach; genau so hat sie mir's vorgebetet. Aber recht hat sie!«

Er brachte ihn hinüber in sein Zimmer. »Schlaf dich aus, Gerhard«, sagte er. »Ich muß früh weg, habe eine Sitzung in Dortmund. Aber ein Andrer wird für dich sorgen.«

Gerhard sah ihn an; Paul lachte nur: »Wirst schon sehn.«

Er wartete, bis der Freund ausgezogen war, hängte seinen Anzug hinaus, stellte die Stiefel vor die Tür. Blieb, bis er im Bett lag, strich ihm die Decke zurecht.

* * *

Das Schlafmittel wirkte; sehr lange schlief Gerhard.

Er wachte auf, sprang aus dem Bett – jetzt muß man den Schmutzkübel an die Tür stellen. Er blickte umher, besann sich – nein, er war nicht mehr in der Zelle. Aber zur Tür mußte er doch – Anzug, Stiefel. Er griff die Klinke: das ging auf, wie er's wollte, frei konnte er da hinaus und herein.

Leise machte er auf, da hing der Anzug. Noch eine Tür – wo waren denn die Schuhe? Ein sehr breiter Flur, Spiegel und Bilder an den Wänden, Sessel, Sofas, Tisch – blumengefüllte Vasen. Da hob sich ein Mann aus einem Sessel, trat heran, in der linken Hand seine Stiefel. Stand stramm vor ihm: »Morje, Herr Oberleutnant.«

»Döres?« sagte Gerhard. »Du hier?«

»Befehl, Herr Oberleutnant!« schnarrte Döres. Er setzte die Stiefel ins Zimmer, schrie dann laut: »Engel, Engelche! Eranjeschwebt, holder Engel!«

Ein dralles Mädchen lief her, schwarzbeblust und rotgerockt. Sie half ihm, einen großen, neuen Koffer ins Zimmer zu tragen. »Hier auf dat Bänkske«, befahl Döres, »so is et recht! Nu kannste widder jehn, Engelche.«

Er schloß den Koffer auf, klappte den Deckel zurück. »Das' merkwürdig«, sagte er, »hier heiße die Weiter Engel.«

»Wenn du sie so nennst«, lachte Gerhard.

Döres packte aus. »O nee, Herr Oberleutnant, die heiße wirklich so! Ich han doch dä janze Vormittag da aufm Jang erumjesesse, da han ich Freundschaft jeschlosse mit dat Stubemädche. Die heißt Engel mit Vorname! In de erste Etasch is auch ein, die Engel heißt, un in de Küch sin zwei. Das' so Mod hier in dat Ländche, jrad wie die viele rote Röck – vier hat dat Engelche übereinander – un Sonntag siebe und wenn se Hochzeit macht, sin et siebzehn. Aber Botze sin nich drunter – das' noch ene Trost!«

Sorgsam legte er die Sachen in die Schränke und Kommoden. »Das' en janz neu Ausstattung für en neu Lebe, Herr Oberleutnant! Jestern, als de Hornemanns jehört han, dat Sie erauskomme, hantse jleich bei mich anjerufe. Mer han uns in Düsseldorf verabredet, un mer drei sin einkaufe jejange, die Frau Hornemann, mein Stina un ich. Dann hammer zu Mittag jejesse un mein Stina hat jemeint, jetz könnt ich ruhig widder en Dröppche trinke – ach, dat wissense noch jarnich? Als mer nämlich auf'm Kirchhof Ihre werte Herr Papa in de ewije Ruh jebracht habe, ich un dä Brinken, da hat dat Studentche en Jelübde jetan, für en janz halb Jahr dat Trinke sein zu lasse. Und ich han leichtsinnijerweis mitjeschwore und jleich für so lang, bis dat Sie widder erauskäme aus'm Kaschott. Dat könnese mich jlaube, Herr Oberleutnant, das' mich fies schwer jefalle – un darum han ich auch jetz en Extrafreud. Also da han ich für die Frau Hornemann un mein Stina jemeint: ›Trinkt euch ruhig ä Jläske Bier, ihr zwei! Wat mich betrifft – wann ich solang jewart han, kann ich et auch noch ene Tag länger aushalte. Dat erste Schlückske, dat durch mein Kehl rinnt, dat muß ich mit minge Oberleutnant jemeinschaftlich pitsche.«

Er unterbrach sich. »Marjajosep! Da red ich, und Sie han noch nich –« Er riß die Tür auf. »Engel! Engelche! Wat denkst de dich denn, dat de dem Oberleutnant noch kein Frühstück jebracht has? Jleich fliegst in die Küch zu die andere Engelches, un ä bißke flück.«

* * *

Döres tat ihm wohl in dieser ersten Zeit der Freiheit; keinen Bessern hätte Paul ihm aussuchen können. Zwanzigmal am Tag mußte Gerhard über ihn lachen; immer neue Einfälle hatte er.

Jeden Morgen brachte er ihn hinüber ins Badhaus, strahlte, wenn Gerhard ins Schlammbad gesteckt wurde. »Nur schön heiß«, mahnte er den Wärter, »dat dat Reißen bald verdünst aus die Knochen.« Er schnupperte mit den Nasenflügeln. »Dat Schwefelszeug stinkt schlimmer als unse Mistepuhl in Himmeljeist – das' bestimmt jesund, Herr Oberleutnant.«

Eines Morgens zog er sich mit aus. »Hast du auch Rheuma?« fragte Gerhard.

»O nee«, sagte Döres, »aber ich han der Fotojraf herbestellt. Dat müssese mich schon erlaube, dat mer zwei uns aufnehme lasse, jrad wie mer eraussteije aus dä Teufelsdreck. Dat Bildche bring ich mein Stina mit, dat se sieht, dat mer hier nur unsrer Jesundheit lebe un nix Unrechtes anstelle.«

Er tat doch Unrechtes; Gerhard ertappte ihn mit dem Stubenmädchen. »Döres, Döres«, lachte er, »wie willst du das vor deiner Stina verantworten?«

»Sagense bloß der nix davon«, bat er, »die hat mich schon lang im Verdacht, dat ich ene Ehebrächer wär. Dat is eben en Badereis von uns zwei – un da kann et vorkomme, dat mer Bekanntschafte macht. Ich han mich schon überlejt, wat ich der Stina sage soll, wenn se mich fräjt, ob ich ihr auch treu jebliebe sei. Dann mach ich ä janz schlau Jesicht und sag: ›Nachjelaufe sintse mich wohl, die Weiber, aber ich kann dich schwöre, dat ich mit keine wat jehabt han – bloß mit die liebe Engelches!‹ Dann lacht se un jibt mich ene Butz – un ich han doch de reine Wahrheit jesagt.«

Gerhard lief durch den Kurpark, strich umher in den Wäldern. Er speiste allein, kannte keinen der Gäste. Wurde dennoch verwöhnt im Hotel – das war wohl Paul Hornemanns Einfluß. Der Hoteldirektor stellte ihm seine Angelruten zur Verfügung, der Kurdirektor Golfstöcke, der Badhausdirektor Tennisschläger, der Arzt sein Auto. Der Verwalter des fürstlichen Krongutes ließ anfragen, ob er reiten wolle oder fahren. Er lehnte alles ab – später vielleicht. Nur in dem kleinen Jagdwagen fuhr er manchmal umher.

Für einen Tag kam Paul. Er war lieb und gut, genau wie früher war er. Und doch ganz anders. Immer wieder wurde er an den Fernsprecher gerufen, oder er mußte dringende Depeschen beantworten. Oder ein Hotelgast ließ sich melden – nur für Minuten möchte er ihn sprechen. Gerhard merkte gut, daß er was bedeutete in der Industrie und daß er mit Leib und Seele dabei war. »Du hast wohl viel zu tun?« fragte er.

»Den ganzen Tag und die halbe Nacht«, sagte Paul, »das ist kein Vergnügen heute, Zechen und Hütten zu haben. Ellen schimpft und ich auch – aber was nützt's?«

Auch Herbert Eggeling besuchte ihn von Berlin aus, überschlug einen Zug auf dem Wege zum Haag. Da sei eine große Versteigerung alter Gemälde; wenn er Glück habe, könne er etwas für sein Museum erwerben. Nichts erstklassiges freilich, dafür habe der Staat kein Geld; einen Momper vielleicht oder einen Valkenburgh – die seien noch billig, solange sie nicht von einem Händler oder Kunstgelehrten neu entdeckt würden. Gerhard nickte – nie im Leben hatte er die Namen gehört. »Dann bist du jetzt im Staatsdienst?« fragte er.

»Museumsdirektor«, sagte Eggeling, »wußtest du das nicht? Ist schnell genug gegangen, Glück hab ich gehabt.«

Gerhard nickte. »Und Paulchen Hornemann, was? Der wird dir wohl geholfen haben.«

Herbert lachte. »Der? Dann würd ich in langen Jahren noch keine Stellung haben. Das Museum ist preußisch, und Preußen ist rot, und also mußte ich den andern Weg gehn. Wie du mich da siehst, bin ich eingeschriebenes Mitglied der sozialdemokratischen Partei, habe so den Befähigungsnachweis erbracht. Wenn Paris dem vierten König Heinrich eine Messe wert war, dann durfte mich mein Museum auch ein Parteibüchel kosten! Überzeugung wird nicht verlangt, und bei alten Bildern gibt's gottseidank keine Politik.«

* * *

Noch einen Bekannten traf Gerhard im Fürstenhof, Herrn Lamberts. Er war an dem Morgen angekommen, als Paul da war, versuchte sich an ihn heranzupirschen. Am nächsten Tag machte er Gerhard seine Aufwartung, klopfte an, stand gleich darauf mitten im Zimmer. Das solle keiner sagen, daß er seine alten Freunde verleugne – er verdamme keinen. Nun sei's aus mit dem Gefängnis, da beglückwünsche er ihn, trete zu ihm, wie Mann zu Mann. Und ob nicht der Herr Oberleutnant heutabend eine Flasche Goulet mit ihm trinken wolle.

Er – nun er könne nicht klagen. Die Geschäfte seien zwar schlecht, aber er könne abwarten. Immerhin: die führenden Leute der Wirtschaft müßten enge Fühlung nehmen, das sei notwendig. Herr Hornemann käme ja gewiß wieder her – er wäre sehr dankbar, wenn Gerhard ihn vorstellen würde.

Gewiß, es sei eine schwere Zeit, und es würde noch schlimmer kommen. Aber schließlich: er habe festes Vertrauen zur Regierung und zu Hindenburg –

Das habe er auch dem Herrn Oberleutnant zu danken, daß er damals gleich für Hindenburg eingetreten sei. Zuerst habe er ja manche Bedenken gehabt – aber Gerhard habe eben doch die rechte Witterung gehabt. Hindenburg – wie der Mann sich entwickelt habe – kaum für möglich hätte man das gehalten! Heute sei er gradezu das Ideal eines Präsidenten. Nach außen hin der große Name, das Symbol gediegener Überlieferung, nach innen das Musterbild eines treuen Dieners der demokratischen Verfassung. Pflichtbewußtsein!

Was der Herr Oberleutnant denn hier mache in Eilsen – nur Schlammbäder nehmen? Ob er nicht mit ihm zur Jagd kommen wolle. Er griff in die Tasche, zog ein Foto heraus: Lamberts unter einem Baum stehend mit zwei Jagdhütern. Die hielten eine Stange, daran hingen dreißig Fasanen; auch an dem Baum hingen von allen Ästen Fasanen herab.

»Nettes Bildchen, was?« sagte er. »Weihnachtsbaum auf meinem Jagdland. Wissen Sie, wieviel Fasanen wir da geschossen haben, letzten Herbst und Winter? Über siebentausend Stück. Ich allein hab tausendeinhundertachtunddreißig heruntergeknallt!«

Scheußlich, dachte Gerhard, scheußlich!

Ja, und hier habe er letztes Jahr einen Fürstlich Schaumburgischen Achtzehnender geschossen; dies Jahr wolle er sich einen Zwanzigender leisten. Das koste ja was: tausend Mark für den Hirsch und zweihundert für jedes Ende. Ein tüchtiges Trinkgeld für den Förster komme auch noch hinzu – unter fünf Millchen sei das nicht zu machen. Aber dafür habe man dann auch die Haken in goldene Eichblätter gefaßt im Schlips prangen und in der Diele die Trophäe! Dann wolle er noch ein paar Keiler mitnehmen im Springer Saugarten – ja, und er wolle mal sehn, ob er's nicht doch durchsetzen könne, da einen Wisent zu bekommen, oder wenigstens einen Bison. Da käm's ihm aufs Schußgeld nicht an.

Gerhard starrte ihn an. »Aber – aber die sind ja im Gatter!«

Was das wohl schade? meinte Herr Lamberts. Er sei ein Freund des Fortschritts, kümmere sich nicht um verstaubte Jagdregeln aus überlebten Zeiten. Ein modern denkender Mensch sei er, pfeife auf Weidmannsbrauch.

Gerhard schellte heftig, als er glücklich draußen war, schickte das Stubenmädchen nach Döres.

»Hast du den Mann gesehn, der bei mir war?« fragte er.

Döres besann sich. »Dä jroße, dicke? Dä Herr Lamberts aus Düsseldorf?«

Gerhard nickte. »Grade den – du mußt ihn mir vom Halse halten! Verstanden?«

»Befehl, Herr Oberleutnant!« sagte Döres. »Ich kann em auch nich leide. Dä is janz rösig op ming Engelche un wollt em jestern an de Mämme erumfummele. Päng – hatse dem Nötelefönes eine jetuppt! Dä kenne se all hier, dä Lamberts – dat is en jroße Jäger, dä!«

»Ein Jäger, der?« rief Gerhard. »Pfui Teufel! Die Sauen, weißt du, die so zahm sind, daß sie uns neulich um unsern Wagen herumliefen, die will er schießen. Und einen Hirsch im Schaumburger Wald, der aus der Hand frißt – den werden sie ihm noch an einen Baum anbinden müssen. Einen Büffel möcht er auch haben – na, da wird er sich ja schneiden, da nützt ihm all sein Geld nichts!«

»Wat?« fragte Döres. »Meinense sone Wison, oder wie die jroße Ochse heiße, die mer uns im Springer Forst anjekuckt habe? Wat will dä Lamberts denn dafür ausjäbe?«

»Wenn er für einen Zwanzigender schon fünftausend zahlt, wird ihm ein Wisent wohl das Doppelte wert sein«, meinte Gerhard. »Aber diesmal wird er kein Glück haben.«

»Dat weiß mer noch nich«, sagte Döres nachdenklich. Er überlegte, fügte dann hinzu: »Ich hätt en jroße Bitt, Herr Oberleutnant! Minge Engel hat heut Ausjang – könnt ich wohl dat Schäsewägelche ä bißke habe?«

Gerhard nickte.

Als er an diesem Abend sein Zimmer aufsuchte, hörte er Stimmen auf dem Flur: Lamberts und Döres. Sie saßen auf dem Sofa, kehrten ihm den Rücken zu.

Döres sagte: »Dann wör dat also in Ordnung, Herr Lamberts: morje in alle Früh fahre mer los. Aber nu noch wat! Dat mer die Jeschicht für Sie erreicht han, dat habe mer nur unsre jeheime Femeverbindungen zu verdanke, dä Herr Oberleutnant un ich. Dat darf nu kein Minsch wisse un darum is et notwendig, dat Sie sich fernhalte von minge Oberleutnant. Se dürfe em ehrerbietig jrüße, aber nich anspreche – dat müsse Se mich verspreche.«

Gerhard ging in sein Zimmer – was hatte der verdammte Döres Schmitz da wieder ausgeheckt?

Am andern Morgen war Döres nicht zu finden; erst am Nachmittag tauchte er wieder auf. Gerhard stellte ihn gleich zur Rede. Was ihm denn einfalle, dem Lamberts von Femeverbindungen was vorzuschwindeln?

Döres riß die Augen weit auf. »Da sintse bitter im Unrecht – nehmense mich dat nich übel, Herr Oberleutnant. Durch dat Femezeug hammer ja allerhand Verdrießlichkeite jehatt – besonders Sie – da muß mer also auch et Jute eraushole. Wissense denn jarnich, warum minge Engel un die andere Engelches un all die Weiter hier so hinter mich her sind? Dat is doch nur wejen die Femejeschichte – die wisse janz jut, wer Sie sind, die lese auch Zeitunge. Mich hantse natürlich auch im Verdacht – dat kommt dene schrecklich intressant für, da kammer ihne jarnich jenug von vorerzähle. Un auf dä Lamberts wirkt dat jenau so, dat könne Sie mich jlaube. – Seine Ochs hat er heut jeschosse und sein Jeld hat er bezahlt – morje kriegt er dat Fell un dä dicke Kopp.«

»Bist du verrückt geworden?« rief Gerhard. »Lamberts hat einen Wisent geschossen?«

Döres nickte. »Jewiß dat – un ich han et arrangschiert. Bloß dat et keine Wisent war, sondern ene amerikanische – Bison sagt dä Tierwärter dafür – dä hat noch ene dickere Kopp und wör darum dem Lamberts noch lieber. Dä kömp nu ausjestoppt in Kaiserswerth in sein Filla vor em Kamin – da kann er sein Freund Jeschichte erzähle, wie er mit enem Fememann auf dä Büffelejagd jewesen wör.«

»Schwatz doch nicht solchen Unsinn«, sagte Gerhard.

»Das' jar keine Unsinn, das' reine Wahrheit«, antwortete Döres Schmitz. »Also so war dat: wie wir zwei neulich in dem Springer Wäldche ware un bei die Fütterung zujekuckt habe, da hat mich dä Wärter erzählt, dat dä eine Ochs – jrad dä mit dä dickste Kopp, dä hinten beim Zaun lag un nix fresse wollt – dat dä krank wör. Dä hätt dat Lütütü im Hirnkaste un Zahnping im Furztrichter un allerhand noch! Dä würd kapottjehn, hatt dä Wärter jesagt, dat würd kein acht Tag mehr daure. Dat is mich nu einjefalle, wie Sie mich von dem Lamberts erzählt habe. Da bin ich also mit meim Engelche hinjefahre un han mit dem Wärter jesproche, un dä Mann hat mich zu dem Forstmeister jebracht. Dä hatt auch jemeint, ich wör wohl verrückt jeworde, aber ich han em jesagt: ›Jeld lacht!‹ un et war ä jut Werk vor Jott un de Minsche, dä arme Ochs von sein Todesquale zu erlöse, un et war sein heilije Pflicht als Beamter, für dä Staat möjlichst viel Jeld erauszuhole. Da hammer uns jeeinijt un ich han dem Lamberts Bescheid jesagt. Un heut morje simmer losjefahre.

»Dä Lamberts hatt sich fein zurechtjemacht. Ene jroße Hut un zwei Patronejürtel un ene Drilling – wie ene richtije Büffelejäger sah dä aus. Wie mer ankomme, hat uns dä Wärter in Empfang jenomme un noch ene andre Mann, beide mit Jewehre. Da simmer also erein in dä Busch un überall erum. Dä Wärter hat jesagt, dat dä Bison, den mer krieje sollte, ene freie Büffel wör un ene Landplag för de janze Jejend. Un darum hattense in der Nacht ein janz Stück von dem Holzzaun wejjeräumt, damit dä Lamberts nix merke tat. Also mer laufe durch dä Wald fast zwei Stunden lang – auf einmal reißt dä Wärter dä Herr Lamberts hinter ene Baum un schreit: ›Pßt – da ist er, der Schrecken der Wälder!‹ Ich kuck hin – da lag dä Ochs bei enem Busch; mer konnt em janz deutlich sehn. Bewejt hat er sich nich viel; ich jlaub, dä wör schon dreiviertelsdot. Ich dacht, dat muß flück jehn, sons is dä noch janz kapott. ›Schießense!‹ ruf ich. ›Dä wilde Ochs macht ene Anjriff auf uns – da simmer all verlore! Wenn dä zu trampele anfängt, is et aus mit unsre Schönheit! Schießense, schießense!‹

»Da knallt dä Lamberts, jleich dreimal hintereinander; dä Wärter un seine Freund schosse mit. Dä Büffel aber is wahrhaftijenjotts aufjesprunge un hat schrecklich jebrüllt. Da hammer erst jewart, bis er widder umjefalle is, han frisch jelade un sin langsam eranjeschliche. ›Dä sieht noch immer jefährlich aus‹, sag ich, ›jivvem der Fangschuß!‹ Da hatt dä Lamberts noch drei Schuß abjefeuert. Wie mer dat Unjeheuer nu jlücklich besiejt han, hammer dä Lamberts fotojrafiere müsse. Einmal mit dä rechte Fuß auf dä Büffelekopp, einmal sitzend auf dem Bison seine Bauch – un immer dat Jewehr in de Häng; dat werde nette Bildche werde. Mer han em bejlückwünscht un die Hand jeschüttelt. Un dann hammer dat Jagdfrühstück einjenomme; dat hatt ich im Hotel bestellt, auf em Herr Lamberts sein Rechnung!

»Dann simmer zum Forsthaus jejange un han bezahlt. Auch dä Tierwärter hat schön verdient – un wat für mich dabei abjefalle is, will ich Ihne jarnich erst verrate. Das' sicher: mein Stina kriejt dä Schlag, wenn die sieht, wat ich ihr alles von mein Badereis mitbring. Un dat lecker Engelche hier, dat wird mit de Flüjelches schlage, wennse widder Ausjang hat. Da jehn mer durch dä Wald spaziere nach Bückeburg un ich sag: ›Kuck dich emal die Schaufenster an. Un wat dich jefällt, dat kaufste dich. Da wird se Äujelches mache un bejreife, wozu sone alte kranke Ochs jut is, wenn dä bloß ene jescheite Minsch, wie ich, in de Fingere kriejt!

»So, nu bin ich fertig, hoffentlich sintse nu zufriede mit mich. Am liebste möcht ich Ihne ja auch noch jet schenke, wenn Se et bloß annehme täte.«

»Na gut, ich bin zufrieden«, sagte Gerhard. »Schenken? Heutabend wollen wir in die Jägerstube gehn, ein Glas Bier trinken – und du bezahlst!«

Döres Schmitz strahlte. »Befehl, Herr Oberleutnant!«

* * *

Auf und ab lief Gerhard auf dem Bahnsteig zu Bückeburg; eben war Paul Hornemann mit dem Zug nach Westen gefahren, hatte auch Döres mitgenommen. Kein Träger zu sehn, verlassen stand sein Handgepäck in der Sonne. Nur ein paar Bäuerinnen saßen auf ihren Körben, ein einsamer Herr wandelte umher. Gerhard blieb vor dem Reclam-Automaten stehn betrachtete die Bücher, wollte eins herausziehn. Aber er hatte nicht genug Zehner – der Herr kam heran, wechselte ihm. Half ihm auch, als der Zug einlief, hob ihm ein Köfferchen hinauf, trug ihm seine Handtasche nach.

Gerhard saß allein in seinem Abteil, schaute hinaus auf die Felder – wie warm schien die junge Maisonne! Drei Wochen war er in Eilsen gewesen – wie ein Traum war das. Er atmete tief, hob die Brust – herrlich war dieser deutsche Frühling. Und keine Schmerzen mehr, schon fast gesund war er.

Nun sollte er an die Adria fahren, Seebäder nehmen in Brioni. Sie hatten es eben so bestimmt, Paul und Ellen, auch Schwester Pia. Er hatte sich nur schwach gewehrt, hatte nur einmal das Wort dazwischengerufen: Arbeit. Die drei hatten nichts davon wissen wollen: erst müsse er wieder der Alte sein.

Kurz vor Hannover trat der fremde Herr in sein Abteil, hob ihm sein Handgepäck aus dem Netz. »Umsteigen, Herr Oberleutnant; der Zug nach München steht auf der andern Seite. Sie müssen sich beeilen, haben nur vier Minuten Zeit.«

Gerhard sah den Fremden erstaunt an. »Danke schön – darf ich fragen –?«

Der Herr murmelte einen Namen. »Ich bin Kriminalkommissar – vom Berliner Polizeipräsidium. Sie können meinen Ausweis sehn, wenn Sie wünschen.«

Ein kalter Reif schnürte sich um Gerhards Herz. Wieder also, schon wieder? »Kriminalkommissar? Und Sie kommen, um mich –«

Der Beamte lächelte. »Nein, nein! Ich habe nur den Auftrag, ein paar Fragen an Sie zu richten.«

»Bitte«, murmelte Gerhard.

Der Herr stellte das Handgepäck vor die Tür. »Sie fahren nach Italien, Herr Scholz, wenn ich recht unterrichtet bin – wollen sich da weiter erholen. Die Kur in Eilsen ist Ihnen gut bekommen?«

»Danke, sehr gut«, antwortete Gerhard.

Der Beamte nickte. »Das freut mich aufrichtig. Und jetzt wollen Sie nach Brioni, dort in der Adria baden – ich wünsche Ihnen von Herzen beste Erholung. Immerhin – das ist Ausland, und Sie sind nur beurlaubt. Wie lange glauben Sie, daß Sie dort bleiben werden?«

»Ich weiß nicht«, sagte Gerhard, »drei Wochen vielleicht.«

»Nehmen Sie sich Zeit«, sagte der Herr. »Sagen wir fünf Wochen, sechs, sieben Wochen. Es ist ja nur eine Formsache – Sie wissen, wie bürokratisch alles bei uns ist und wie jeder sich drückt vor der kleinsten Verantwortung. Wir möchten eine gewisse Sicherheit – wollen Sie versprechen, bis dahin zurückzusein in Deutschland? Sich bei mir zu melden?«

»Gewiß«, sagte Gerhard.

Der Beamte zog eine Besuchskarte aus seiner Brieftasche, reichte sie ihm. »Zimmer dreiundsechzig –« Er streckte ihm die Hand hin. »Nochmals: es ist nur eine Formsache! Wollen Sie mir Ihr Wort geben, daß Sie heute in sieben Wochen in Berlin sind? Ihr Ehrenwort als preußischer Offizier?«

Gerhard nickte, drückte ihm die Hand.

»Ich danke Ihnen, Herr Oberleutnant«, sagte der Herr.

Er half ihm die Sachen hinübertragen zum Münchner Zug, belegte ihm einen Fensterplatz. Stieg wieder aus, sagte: »Dort ist der Speisewagen. Recht glückliche Fahrt!«

Er zog den Hut, grüßte freundlich, als der Zug hinausfuhr aus der Halle.

Gerhard winkte zurück, setzte sich dann, lächelte still vor sich hin. Ein frohes Empfinden faßte sein Herz – der Mann hatte sein Wort verlangt und sonst nichts. Sein Offiziersehrenwort – das galt also wieder etwas in Deutschland?!

* * *

Dichte Steineichenwälder, untermischt mit Erdbeerbäumen und Lorbeer. Zweimannshoch die blühende Heide, saftgrüner Mausdorn, blaurote Zistrosen, weiße Myrten und gelber Besenginster – wie riesige Goldklumpen leuchtete der in der Sonne. An den freien Stellen der Boden bedeckt mit leuchtendroten Alpenveilchen. Zwischen den Wäldern weite Wiesen, vereinzelte Strandföhren darauf; viele bunte Flecke auf dem Grün, blaue von Salbei, lila von Thymian, leuchtend weiße von Klee, von Gänseblümchen und Margareten. Am Wegrande kleine Orchideen. Eidechsen spielten auf den Steinen, Hasen machten Männchen, saßen wie graue Zwerge, hoppelten übers Gras. Schneeweiße Damwildrudel ästen auf den Waldschneisen, Mufflons kletterten in den Felsen. Überall liefen Fasanen herum, flogen auf in vollen Trauben. Buntspechte pochten an den Bäumen; Schwarzdrosseln, Finken, Goldhähnchen, Zaunkönige sangen. Sehr schön war diese Insel.

Wenn er zurückging, dem Hotel sich näherte, sah es anders aus. Da war die Affenschlucht, voll von Mantelpavianen und Meerkatzen, waren die Bärengruben, die Zwinger der Jagdhunde. Agaven und Palmen, Zedern und Zypressen – lauter künstliches Zeug, dachte Gerhard.

Große Welt war da und buntes Leben. Als er ankam, ging grade das Tenniswettspiel zu Ende, er sah noch die letzten Kämpfe. Immer wieder Meisterschaften: Golf, Taubenschießen, Polo. Gerhard schaute zu, neugierig erst, bald doch gelangweilt. Etwas stimmte da nicht, er wußte nicht was. Übersteigert schien ihm das alles, gewollt und gemacht – künstlich. Nicht um des Spieles willen spielten diese Menschen – nur um zu gewinnen, schwitzten sie, nur um der Preise willen. Und wie lächerlich waren diese Preise! Plaketten, Statuetten, Becher jeder Art, Bronze, Silber, Gold – alles von trostloser Geschmacklosigkeit. Das nahm man dann nachhause, stellte es auf, sammelte zu Dutzenden solche Scheusäligkeiten. Damit verglichen mochten Herrn Lamberts Zwanzigendergeweihe und Büffelköpfe noch als große Zierde gelten – schmücke dein Heim!

Niemand kümmerte sich um ihn, niemand wußte, wer er war. Er verschwand – ein gewisser Herr Scholz, tauchte tief unter in dieser Fülle alter Namen. Da waren Fürsten und Earls, Prinzen und Marquis – kaum zählten die Grafen und Barone. Auch die Rothschilds waren da, die Oppenheims und Kahns – das hatte Klang! Und alle mit ihren Damen, mit Zofen und Dienern, mit Reitknechten und Pferden –

Gerhard lächelte. Vor – ja vor vier Wochen erst! – war der Schließer Brockes der vornehmste Mensch, den er kannte. Dann sprach er täglich mit dem Kalfaktor, der ihm das Essen in die Zelle schob, berufsmäßiger Ladendieb war der. In der Freistunde, wenn man im Hofe im Kreise herumlief, hatte er noch einige Bekannte, mit denen er gelegentlich ein paar Worte wechselte: einen Messerstecher, einen Brandstifter, einen galizischen Taschendieb. Hier aber fragte ihn Prinz Hohenlohe, ob er nicht Bridge spiele, und die schöne Fürstin Windischgrätz wollte wissen, warum er sich nie beim Tanzen sehn lasse. So im Vorbeigehn, im Fahrstuhl oder in der Halle. Man kannte sich nicht, stand so auf Kopfnicken und Anlächeln.

Er badete allein, draußen in den Klippen. Er lief herum, ritt auch, fand immer neue, halbverfallene Wege.

Er war hinausgefahren am Abend mit dem Segelboot. Manche kleinen Eilande lagen herum um die Insel; der Fischer landete auf San Marco; einige Meter hoch mußte Gerhard hinaufklettern in den zerklüfteten Klippen. Kein Baum war da oben, kein Strauch – aber Hunderttausende von Narzissen. Wie das leuchtete in der Abendsonne!

Tiefblau ringsum das Meer, still, spiegelglatt, kein leiser Hauch. Nur ein Duft stieg auf, süß, schwül, betäubend – Narzissen.

Ob er nicht pflücken wolle, fragte der Fischer.

Gerhard sah ihn an. Ja, das war wohl so: wenn Gäste hierherkamen, pflückten sie Narzissen. Hände voll, Arme voll, Körbe voll.

Er streckte die Hand aus. Blumen brechen – er? Für wen nur, für wen?

Wenn Lili da wäre, sie würde pflücken. Dann würde es sein wie in Schlesien, am Waldrand von Ujest. Lili und er, ganz allein. Leise Stimmen fernab, Döres und der Troßbub – die hielten gute Wacht. Auf ihrem Schoß ruhte sein Kopf; ringsum brach sie die Blumen, soweit sie reichen mochte, ein Kränzlein wand sie –

Brahms klang es um ihn, wie damals – »ich ruhe still – im hohen, grünen Gras –«

Die Musik wob – wer sang denn nur, wer? Sang: – ›mir ist, als ob ich längst gestorben bin –‹

Keine Blume brach er. Nicht eine kleinste der süßen Narzissen.

Er fuhr zurück, stieg aus an der Mole. Blieb stehn am Tanzplatz, betrachtete das bunte Bild. Pinien, Palmen, Tamarisken. Wicken rankten sich an den Stämmen hinauf, Waldreben und Kletterrosen. In allen Farben die Lichtbirnen, fantastisch schillernd in dem silbernen Glanze des Vollmonds. Im Smoking die Herrn, tief ausgeschnitten die Damen. Jazz natürlich – die Paare schoben herum. An den Tischen ringsum saßen sie, tranken Cocktails, Highballs, Champagner. Sprachen von dem, wovon sie immer sprachen, vom Golf, vom Tennis und vom Polo. Sehr sachverständig unterhielt der glatzige Herzog von Tecklenburg den jungen Herrn Krotoschiner über ungarische Ponies; zwei Tische weiter spielte der kegelkugelköpfige Rittmeister Schiffer, Hauptkerl beim Polo wie bei Weibern, mit der Fürstin von Chiarapietra ein Kinderspiel – Reibekniechen und Schwitzhändchen – erste vorbereitende Handlung. Dem hübschen Gemahl war das recht – gut, wenn sie versorgt war; er graste da drüben auf besserer Weide, bei der rassigen, blonden Eintänzerin.

Gerhard ging, an dem Kirchlein vorbei, in die tiefen Steinbrüche hinter dem Tanzplatz. Sein Blick fiel auf die große Marmorplatte, die im Fels eingelassen war – Denkmal des Professors Robert Koch. Das war der, der die Insel von der Malaria befreit hatte; so war er der Schöpfer dieses ganzen Zaubers. Ohne ihn Mücken und Macchia –

Nachtigallen sangen in Lorbeerbüschen. Trillerten, schluchzten, weinten und jubelten – lobsangen der herrlichen Nacht. Und die Menschen saßen am Tanzplatz, zoteten, soffen Whisky, lauschten den quietschenden Saxofons –

Niemand war hier, kein Liebespaar, kein einsamer Träumer. Wer von all den Leuten wußte von der Nachtigallenschlucht? Wer von der Narzisseninsel draußen im Meer?

Gerhard wandelte durch die süße Nacht. Über die Golfwiesen ging er; goldgrün leuchtete die eine – weiß wie frischer Schnee die andre, bedeckt mit Millionen kleiner Maßliebchen. Er zog den Fuß zurück, lächelte still: seine Schwester würde nicht über die Wiese gehn. Käte nicht, die Blumen so liebte, immer Blumen hatte in allen Zimmern –

Am Waldrand ging er. Große Fledermäuse flatterten herum, aus den Steineichen scholl der Klageruf der Käuzchen.

Er ging zum Meer, wieder zurück dann, an den Stallungen vorbei. Da saß einer auf der Böschung – Reithosen und hohe Stiefel, englische Mütze, die kurze Pfeife zwischen den Zähnen. Gerhard grüßte, der Mann dankte nicht.

Er ging vorüber – dann fiel ihm ein: dies Gesicht kannte er doch?

Er kehrte um – der Mann zog die Mütze tiefer in die Stirn. Aber Gerhard trat dicht zu ihm, betrachtete ihn.

»Du?« rief er, »Du – Peter Lannwitz?«

»Kovacs heiß ich«, kam die Antwort, »Kovacs Peti. Aber ich kann nicht leugnen, daß mich die Leute einmal Peter von Lannwitz nannten. Ich hab dich oft gesehn, wenn du ausrittest, hoffte, daß du mich nicht erkennen würdest. Wenn du willst, setz dich her. Eine Bedingung nur.«

»Welche?« fragte Gerhard.

»Daß du keine Mitteilung machst«, antwortete Lannwitz. »Meinen früheren Freunden nicht und meinen Verwandten erst recht nicht. Sie würden mir schreiben, würden Fragen stellen, und ich würde doch nicht antworten. Vor allem: Hornemann nicht.«

Gerhard setzte sich zu ihm auf den Rasen. »Paul Hornemann nicht? Was hat der dir getan?«

Lannwitz sog an seiner Pfeife. »Er hat mich auskundschaften lassen, vor einem Jahr etwa. Auf dem Gestüt in Ungarn. Einen Budapester Anwalt schickte er und seinen ungarischen Vertreter, einen Ingenieur. Ganz nette Leute – es tat mir leid, daß ich sie rausschmeißen mußte. Ich will nicht zurück, ich bin fertig. Ich will nichts sehn und nichts hören; man soll mich in Ruhe lassen.«

Gerhard nickte. »Willst du auch nicht erzählen, Peter? Wie dir's erging?«

Der Rittmeister hob die Schultern. »Warum nicht – ist schnell geschehn. Sie nahmen mich gut auf in der Puszta; gastfrei sind sie, die hétszilvafás nemes – diese Landedelleute, die sieben Zwetschgenbäume ihr eigen nennen. Ich hätte mein Leben lang mich da durchschmarotzen können. Sie sahn auch bald, daß ich was verstand von Pferden; als ich dazu noch ganz nett magyarisch schwatzte, wollten sie mich einstellen ins Heer. Unsre Gesandtschaft bekam Wind davon – da hat's Berlin verhindert. Es wär auch wirklich nicht gut gegangen – sieben Steckbriefe seit sieben Jahren nun, siebenmal Schwierigkeiten mit sieben Mächten – das war ein bißchen zuviel. Na – und seither verdien ich mein Brot im Stall.«

»Was machst du denn hier?« fragte Gerhard.

»Reitknecht bin ich«, erwiderte Lannwitz, »wenn du willst – Stallmeister. Ich bin mit den ungarischen Ponies hier – vierunddreißig Tiere stehn bei mir im Futter.«

»Ich denke, die gehören dem Herzog von Tecklenburg?« sagte Gerhard.

Lannwitz lachte. »Dem? Seine Hoheit sind beim ungarischen Poloklub angestellt, grad wie ich. Er prangt als schöner Name auf der Spieltafel, trabt hinterher und schlägt Lufthiebe mit seinem Polohammer. Zureiten – dazu bin ich da. Geschäftchen macht er: früher verkauften Pferdejuden an fürstliche Herrschaften, heute sind's Herzöge, die reichen Juden und Stehchristen Gäule anhängen. Das ist alles ganz in der Ordnung.« Er zog seine Zigarettendose heraus, bot Gerhard an. »Hunnia – billigste ungarische Sorte.«

Gerhard brannte die Zigarette an. »Aber warum haust du hier bei den Pferden, Freiherr Peter von Lannwitz? Wenn die andern Berufsspieler frei im Hotel wohnen mit Kebse und Kind und Köter – weshalb spielst du nicht mit? Warum versteckst du dich im Stall?«

»Weil ich's so will«, erwiderte Lannwitz, »dann auch, weil ich nicht dazu passe. Die Engländer – sind eben Engländer: nur mit ihnen sprechen zu dürfen, gilt den Gästen da drüben schon als hohe Ehre. Und der Prager Rittmeister ist dreimal das Geld wert, das er der Insel kostet. Er spielt den Clown, unterhält die Leute; die Gesellschaft, in der er sitzt, schwimmt in Champagner – da wird verdient! Alles in Ordnung, alles ganz gut, wie es ist.« Er klopfte seine Pfeife aus, zog den Tabaksbeutel heraus, stopfte sorgfältig. »Alles in bester Ordnung«, wiederholte er. »Ich hab's versucht, als wir im vergangnen Jahre hier waren. Nein danke, die sind nichts für mich, die Herrschaften da drüben. Wie froh sie sind, daß sie Balljungen Caddies nennen dürfen und Löcher Holes! Wie ehrerbietig sie ihre Golfstöcke betrachten, wenn sie die herrlichen Worte kennen: Putter, Driver und Brassie, Mashie, Spoon und Niblick! Und wenn sie erst – so, als ob's garnichts wäre – von Dormie und Stymie schwätzen können und beim Polo vom Chucker, dann fühlen sie tief ihre Gottähnlichkeit. Alles sehr schön, alles in Ordnung – nur paßt's nicht für mich. Ich hab meine Pfeife, hab meine Pferde – das ist genug. Ich arbeite die Poloponies – wenn sie fertig sind, mag sie der Herzog verschachern.«

Gerhard sagte: »Ich bade in Val Madonna, so gegen elf Uhr. Willst du mitkommen?«

Der Rittmeister schüttelte den Kopf.

»Ich reite in der Früh«, sagte Gerhard, »oder nachmittags – wie du willst. Wollen wir zusammen hinaus?«

Lannwitz schwieg eine Weile. Dann sagte er leise: »Nein. Wenn's dir recht ist, möchte ich dich lieber nicht wiedersehn.«

Gerhard sah ihn an, fragte: »Und warum nicht, Peter?«

Lannwitz sagte: »Ich würde – jetzt möcht ich's schon tun! – würde dich nach ihr fragen, nach deiner Schwester. Und ich will nichts wissen, nichts. Von ihr nichts und von Deutschland nichts – das ist alles tot, was ich liebte. Tot und verscharrt – und ich will es nicht ausgraben.«

Er stand auf, ging mit raschen Schritten zum Stallgebäude.

»Lebwohl, Gerhard Scholz!« rief er zurück.

* * *

Früh um sieben saß die Marchioness of Linlithgow in der Halle dicht beim Fahrstuhl; klebte Marken auf ihre Briefe. Gerhard sah sie, als er ausstieg, grüßte, ging rasch vorbei.

Die Schottin rief ihn zurück. Rotblond war sie, blauäugig. Groß und schlank – vollbusig doch. Sinnlich die Lippen, hart und entschlossen das starke Kinn.

Sie hielt ihm einen Brief hin. »Wissen Sie, was ich da geschrieben habe – meiner guten Freundin? Über Sie –«

Gerhard zuckte die Achseln.

»Wird Ihnen höchst gleichgiltig sein, was?« rief sie. »Sie sollen's doch hören. Daß ich einem Mann nachlaufe, einem Deutschen, einem, der auf den schönen Namen Scholz hört! Daß ich mich lächerlich mache, daß ich mich ihm aufdränge like a brazen hussy – verstehn Sie, was das heißt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein?« fuhr sie fort. »Ist auch besser so. Das hab ich ihr geschrieben und noch mehr. Daß dieser Mann, dieser Herr Scholz, mich nicht anschaut – daß er mich behandelt wie Dreck. Wissen Sie, wer mein Vater war? Der Herzog von Sutherland – es gibt nichts Besseres in Schottland. Und Sie, Herr Scholz – sagen Sie doch, wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Was treiben Sie? Kein Mensch kennt Sie, kein Mensch weiß –« Sie unterbrach sich. »Sprechen Sie, tun Sie doch etwas! Helfen Sie mir wenigstens aufkleben.«

Sie schob ihm Marken hin; Gerhard sah die Briefe an. »Es sind schon genug drauf. Ein Brief kostet nur –«

Sie lachte. »Kleben Sie! Alles durcheinander, wo nur Platz ist. So hübsch sind die Marken; jeder freut sich, wenn er so einen Brief bekommt. Was habt ihr denn? Die Köpfe eurer Präsidenten, Ebert, Hindenburg – wer ist häßlicher von den beiden? Und jämmerlichste Ausführung – oje!«

»Ich bin Deutscher«, sagte Gerhard, »ich will nicht hören –«

»Töt!« machte sie. »Deutscher – und darum ist alles schön im Vaterland, was? Da – schaun Sie, wie's Mussolini macht. Immer neue Ausgaben: Herzog Ferruccio – der alte Heide Vergil – der Heilige Antonius. Und Kaiser Augustus und Julius Cäsar und die römische Wölfin. Sehr gescheit ist der Duce, der weiß, warum er so hübsche Marken in die Welt schickt. Eine Närrin, wie ich, klebt das zehnfache Porto auf, und jeder, der die Bildchen sieht, bekommt Lust, nach Italien zu reisen!« Sie rief den Pagen, gab ihm die Briefe. Stand auf, nahm ihre Reitgerte. »Sie wollen ausreiten, Herr Scholz – ich bin auch in Hosen, wie Sie sehn. Darf ich mit? Oder soll ich hinterher als Ihr Groom?«

»Bitte«, sagte Gerhard.

Sie gingen hinaus. Die Marquise äffte ihm nach: »Bit – te – kälter konnten Sie das wohl nicht sagen? – Wissen Sie, daß Sie seit acht Tagen schon meine Pferde reiten?«

»Ihre Pferde?« fragte er. »Ich dachte, es seien Brionipferde – jedenfalls habe ich im Stall regelmäßig –«

Sie unterbrach ihn. »– bestellt, bezahlt und Trinkgeld gegeben, nicht wahr? Immerhin hätten Sie merken sollen, daß Sie nicht auf Mietgäulen sitzen.«

Gerhard schwang sich in den Sattel. Schweigend ritten sie nebeneinander.

* * *

Oder er lag auf dem Felsen bei Punta Lastra, sehr geschützt von den Ginsterbüschen. Sprang ins Meer, schwamm herum, lag wieder in der Sonne, träumte vor sich hin. Heut hatte er sie genarrt – mochte die Schottin ihn an der Salsabucht suchen, oder im Val di Lago –

Seltsam war das. In der Haft, in der engen, stickigen Zelle, hatten ihn schwüle Träume gequält. Nackte Brüste und Hüften, blühendes Fleisch glutäugiger Weiber. Er wälzte sich herum, wachte auf, gebadet in Schweiß, schrie –

Dann aber, seit er draußen war, war das anders. Sehr wunschlos war er, gleichgiltig ließen ihn die Frauen. Das war schon in Eilsen so – er schrieb es den glühheißen Schlammbädern zu. Matt machte das und schlaff; todmüde sank er ins Bett, schlief durch, bis Döres vor ihm stand, bis ihm, rotbackig und rotröckig, der Engel das Frühstück ans Bett brachte. Und so war es hier. Er ritt, schwamm, lag nackt in der Sonne, stundenlang. Schlief sehr fest in der Nacht, regungslos; wachte auf, wie er eingeschlafen war, kein kleinstes Fältchen zeigte die Decke. Er träumte kaum, fern nur und verschwommen. Träumte von Lili – wie sie bei ihm saß auf der stillen Bank im Malkastengarten; wie sie neben ihm schritt durch die Schneefelder in der Winternacht von Speyer, wie –

Einmal auch von Käte. Wie sie mit ihm im Auto fuhr, nach der Leichenfeier in Krefeld, stumm seine Hand hielt –

Ruhig waren seine Tage, still diese weichen Nächte. Er träumte kaum – aber dies ganze Leben hier schien ihm ein Traum. Er kannte dies Empfinden, hatte es durchgelebt ein paarmal schon, nach schwerer Verwundung: dieses köstliche, langsame Wiedergesunden. Fast fürchtete er sich vor dem Tag des Erwachens – was dann?

Er schüttelte den Kopf, scheuchte die Gedanken. Lebte wie die Pflanze, traumhaft, unbewußt, sog junge Kraft aus allem ringsum, aus dem wogenden Meer und des Himmels Blau. Aus den Wäldern und Wiesen, aus den weißen Hirschen und Nachtigallen, aus all den bunten Blumen.

Die Marchioness of Linlithgow? Was ging ihn Jane Linlithgow an?!

Einmal fragte er: »Was wollen Sie von mir?«

Sie saßen auf den Steinresten der Römischen Villa, blickten über die schmale Bucht und den Neptunstempel an der andern Seite. Weißblühender Steinlorbeer wuchs ihnen zuhäupten.

Sie wiegte langsam den Kopf, hin und zurück.

Sagte dann: »Hoots mon! Wie hochmütig Sie sind!«

Er verstand sie nicht. »Hochmütig?« fragte er. »Ich?«

Sie antwortete: »Was ich von Ihnen will – das fragen Sie?«

»Verzeihung«, murmelte er. Brach einen Zweig ab, spielte damit herum. Sah ein Marienkäferchen auf dem Blatt, nahm es auf die Hand. Hauchte es an, bis es wegflog.

* * *

Am letzten Tage ritt er mit ihr; am Nachmittag badete er mit ihr. Und am Abend saß er, zum erstenmal, an einem Tisch beim Tanzplatz.

Sie stieß mit ihm an. »Auf Wiedersehn also! Ich fühle ganz gut, was das bedeutet, wenn Sie höflich sind: Sie wollen fort. Ist's nicht so?«

Er nickte. »Mit dem Schiff um Mitternacht.«

»Warum«, flüsterte sie, »warum? Haben Sie genug von – von der Insel?«

Er lachte. »Nein. Die Insel hat genug von mir.« Er nahm einen Brief heraus, reichte ihn ihr. »Das fand ich heut früh in meinem Fach – von der Hotelleitung.«

Sie las: »– – Einzelheiten über Ihr Vorleben in Erfahrung gebracht. Ohne uns anmaßen zu wollen, darüber ein Urteil zu fällen, halten wir es doch, um mögliche unliebsame Vorkommnisse zu vermeiden, mit Rücksicht auf unsre Gäste für geboten, Sie zu bitten, unauffällig die Insel zu verlassen. Sie wollen daher noch im Laufe des heutigen Tages –«

Sie hob den Kopf, sah ihn an. »Das«, begann sie, »das –«

Er half ihr. »Ja, das ist klar genug, nicht wahr? Gauner und Hochstapler muß –«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Sie haben immer bezahlt! Ich weiß das, habe mich natürlich über Sie erkundigt, wo ich nur konnte. Auch bei der Direktion. Und bis vor ein paar Tagen wußte noch kein Mensch ein Sterbenswort über Sie. – Nein, das ist ganz was andres. Wollen Sie mir's sagen?«

»Nein«, sagte er.

»Gut. Darf ich diesen Brief behalten?« fragte sie.

Er nickte.

»Danke«, sagte sie. »Die Direktion weiß es – und also werde ich es wissen. Und ich werde Sie schon finden.« Sie steckte den Brief in die Handtasche; ihr Blick fiel auf ein paar Fotos – sie nahm sie heraus, legte sie auf den Tisch. »Graf Otto Salm gab sie mir, er hat mich neulich im Salugabad geknipst. Das da ist sehr hübsch, nicht?«

»Sehr hübsch«, nickte er.

»Wollen Sie's haben?« fragte sie. »Ich werde Ihnen was drauf schreiben.« Sie nahm einen Bleistift, schrieb ihren Namen. Drehte das Bildchen um, schrieb auch auf die Rückseite. Reichte ihm das Foto. »Nun wissen Sie, woran Sie sind.«

Er las.

»And I'll hae thee still, my lad,
Though a' the seas gang dree!«

»Verstehn Sie das?« fragte sie.

»Nein«, sagte er.

»Töt, töt« machte sie, »warum lügen Sie? Ich hab gehört, wie Sie mit dem englischen Groom sprachen – da ging's recht gut.«

»Möglich«, sagte er. »Aber das ist schottische Mundart.«

Sie quirlte in ihrem Glas, nippte die aufsteigenden Bläschen. »Und dazu reicht's nicht, zu den paar andern Buchstaben?«

»Nun gut, Jane«, antwortete er, »ich versteh's. Ich weiß auch, daß die Menschen aus eurem schottischen Hochland verdammt zäh sind: ihr ruht nicht, wenn ihr einmal was haben wollt – und wenn alle Meere drüber trocken würden. Aber manchmal geht's doch nicht. Eisenbeton kaut sich schlecht, wenn man noch so gute Zähne hat.«

»Meinen Sie?« gab sie zurück. »Kommen Sie mit mir hinaus zur Mole, da zeig ich Ihnen, wie das Meer das Eisenzeug zernagt und zerbeißt.« Sie hielt ihr Glas hin, ließ sich einschenken, trank ihm zu. »Eins nur möcht ich wissen: gibt's eine Frau, die Sie lieben?«

»Eine, die tot ist«, sagte er.

»Dann ist's gut«, flüsterte sie. Besann sich, streichelte leicht seine Hand. »Ich wollte Sie nicht verletzen. Ich hab mir's gedacht, daß es so sei. Wunden heilen – alle.«

Gerhard zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber das ist gewiß, Marquise: ich lie–«

Sie hielt ihm die Hand auf den Mund. »Schweigen Sie doch – ich mag's nicht hören. Ich weiß ja, daß Sie mich nicht lieben – würden Sie sonst mich so mit Füßen treten? Aber ich habe ein Ziel, und kein Mensch kann mich hindern, darum zu kämpfen – auch Sie nicht. Und ich weiß: ich liebe Sie und ich lebe. Die andre aber ist tot.«

Er antwortete nicht.

Sie hob den Arm, sah auf die Uhr. »Elf zwanzig – kurz vor zwölf müssen Sie hinausfahren zum Venediger Dampfer. Eine halbe Stunde noch.«

Sie nahm seine Hand. Er fühlte: wenn er da bliebe, da, wo seine Hand lag, dann war er geborgen. War sicher und ruhig für alle Zeit. Sicher? Er sah sie an; offen standen die feuchten Lippen, leicht bewegte der Wind das rotblonde Haar. Aber ihr Blick war klar, sehr entschlossen.

O gewiß, sie war keine der Frauen ringsum, die auf billige Abenteuer jagten, die – besten Falles – sich festbissen, wenn willkommener Widerstand sie reizte. Die hier war mehr, wollte mehr. Wollte geben, nehmen – wollte ihn, Gerhard Scholz. Herz, Gedanken, alles. Wußte doch nichts von ihm, von seinem Schicksal, seinem Weg. Glaubte nur.

Er fuhr sich über die Stirn. Fühlte: das war ein Traum. Oder auch – es gehörte zu dem Traum, in dem er lebte, seit dem Tage, als Pauls Auto ihn wegtrug von Essen. Ja – und es konnte zur Wahrheit werden, wenn er die Hand da ließ, wo sie nun lag.

Wirklichkeit? Das vielleicht nicht. Er würde weiter atmen und träumen vom Meer und von der Sonne. Würde vergessen, was einmal war, alles.

Wie mit Peter Lannwitz würde es sein. Nie wieder zurück – nichts hören mehr, nichts sehn. Tot die Vergangenheit – tot, wie Lili tot war. Keine Kameraden, keine Freunde – ah, und kein Deutschland! Tot alles.

Er hörte sie: »Lieben? Später vielleicht. Ist's heute nicht genug, daß ich Sie liebe?«

Er hörte: »Warum wollen Sie reisen? Ich werde Sie doch finden. Werde wissen, was Sie sind, wer Sie sind –«

Er lächelte müde. »Das glaub ich, Jane. Jeder wird's Ihnen sagen, wenn Sie nach Deutschland kommen: Gerhard Scholz – Gerhard heiß ich – zum Tode verurteilt als Mörder.«

Ihre Finger zuckten, hielten doch seine Hand. »Mörder? Das ist nicht wahr.« Sie hob die Augen, flüsterte: »Und wenn es wahr wäre – würde ich doch kommen.«

Unwillkürlich erwiderte er den Druck ihrer Hand. Sie merkte es wohl – ein Leuchten strahlte aus ihren Augen.

»Bleib«, sagte sie, »bleib!«

Er schüttelte den Kopf. »Ich muß zurück, ich gab mein Ehrenwort.«

Sie fuhr zusammen. »Einer Frau? Sagten Sie nicht, daß Sie –«

»Nein, keiner Frau«, erwiderte er. »Einem – Beamten. Nach Deutschland zurück muß ich. Sonst nichts, es ist eine Formsache. Fragen Sie nicht, Jane, das ist so gleichgiltig.«

Die Dampfpfeife schrie durch die Nacht. »Nun muß ich gehn«, sagte er.

Sie preßte enger seine Hand. »Noch nicht – das ist der erste Pfiff. In zehn Minuten erst.«

Sie saßen still, schwiegen.

Auf dem Tanzrund schoben die Paare. Helikon, Xylofon, Saxofon – wie das quiekte! Der Stehgeiger plärrte mit gemachter Kastratenstimme: »Huch! Mein Schatz ist ein Matrose – mit einer blauen Hose –«

In allen Farben leuchteten die Glühbirnenketten, die zwischen den Bäumen hingen, dicke Nachtmotten flatterten dazwischen. Der Kellner vor ihm schob die Scheine in die Tasche, gab ihm zurück. Speckig war sein Frack, nach Patschuli roch er.

Ihre Hände sprachen: »Bleib doch, bleib. Hier bist du sicher.«

Er fühlte: ›Hier? Wenn ich draußen mit dir wäre, mitten im blauen Meer, auf der Narzisseninsel – wenn ich mit dir wandelte, Arm in Arm gehängt, tief in dem Steinbruch, wo die Sommernacht tönt vom süßen Sang der Nachtigallen – dann vielleicht! – Hier?‹ – Er fühlte: ›So deutsch bin ich, so deutsch –‹

Er fühlte: ›Ich muß zurück. Nach Deutschland muß ich.‹

Deutschland –

* * *

Spät abends traf er ein in Berlin. Ging ins Hotel, nachtmahlte. Nun bin ich gesund, dachte er, muß etwas tun –

Was denn nur –

Er ging in die Halle, verlangte das Fernamt.

Mit Ellen sprach er – sie schien verwundert, daß er zurück war. Nein, Paul sei nicht da, sie würde ihm Bescheid sagen –

Als er beim Frühstück saß, brachte der Page ein Telegramm: Paul sei abgefahren, würde nachmittags eintreffen. Gerhard nickte: Paul würde ihn einstellen, gleich, wo und wie – da würde er arbeiten können.

Also war heute noch Ferientag, heute noch Traumtag – morgen dann würde er aufwachen. Würde mitten im Leben stehn, endlich wieder.

Er trat hinaus auf die Straße – ob sich die Stadt verändert hatte in dieser Zeit?

Zum Hafen, dann hinunter den Landwehrkanal. Verstaubt die Bäume – heiß brannte die Julisonne, kein Windhauch regte sich. Aber im Tiergarten war es kühl, kreisende Wassersprenger feuchteten Sträucher und Wiesen.

Langsam ging er die Linden hinauf. Kam zum Lustgarten, ging ins Alte Museum, wandelte durch die weiten Säle. Götter, Göttinnen, griechische, ägyptische – Traum alles, Traum. Morgen würde er erwachen.

Er ging hinaus in die Anlagen – da war ein Bau, den er nicht kannte. Er fragte einen Gärtner – das Pergamonmuseum sei es. Fertig sei es auch, oder doch fast fertig – aber man dürfe noch nicht hinein.

Leute kamen vorbei – drei Herrn, sieben, acht Damen. Der Gärtner rief ihn zurück. Das seien gewiß Engländer oder Amerikaner; ein Professor führe sie. Er solle sich doch anschließen, so tun, als ob er dazugehöre.

Gerhard folgte, stieg mit ihnen die Treppen hinauf. Sehr hohe Säle: das Markttor von Milet – der Bogen der Ischtar. Dann: der Tempel von Pergamon.

Kein Fenster im Saal – durch die Glasdecke leuchtete die Sonne. Wie im Freien lag der mächtige Tempel, gewaltig hob sich die breite Freitreppe. Er lauschte den Worten des Professors, der die steinernen Friese erklärte, diesen ungeheuren Kampf der Götter gegen die himmelstürmenden Titanen. Alles kämpfte: Götter und Göttinnen, Tiere, Ungeheuer.

Man müsse sich in die Seele der Griechen hineindenken, sprach der Professor. Heraklit habe gesagt: ›Krieg ist aller Dinge Anfang, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen; die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.‹ Und es sei der Geist dieses Philosophen, der die Griechen befähigt habe, über die zwanzigfache Übermacht der Perser zu siegen, ja, man könne ruhig sagen: Heraklit selber habe die Perser besiegt. Nach Jahrhunderten erst, als das Griechentum diesen großen Weisen vergessen habe, sei der Verfall gekommen: das entnervte, zerrissene Volk sei eine leichte Beute der Römer geworden – so sei diese herrliche Kultur jämmerlich zugrundegegangen. Aber in den Friesen dieses Tempels, von Erben des großen Alexander errichtet, lebe noch der alte Geist Heraklits –

Einer der Herrn, groß, breitschultrig, trat auf den Professor zu, reichte ihm Bleistift und Papier, bat, ihm den Namen und den Ausspruch des Philosophen aufzuschreiben. »Attaboy, that Greek bird has got the right idea all right! I can use his dope for a campaign speech any old day. You see, Professor, we are no blooming pacifists, we Americans!«

Der Professor schrieb ihm die Worte auf, meinte aber, daß man auch andrer Ansicht sein könne, besonders in unsrer Zeit. Pazifismus sei heute die Vorbedingung –

Der Amerikaner klopfte ihm gutmütig auf die Schulter, schob zufrieden den Zettel in die Brieftasche. »Never mind, ol' man, I don't care a hang, how you feel about it. I'm for those battling babies up there. Just look at that fighting Goddess – isn't she a pippin? Say, I should star your Greek wizard on the Chatauqua circuit any time. If you Dutchies prefer to be slaves in this day and age, go to it! We Americans want freedom!«

Der Professor schwieg, führte seine Gäste die Tempelstufen hinauf. Zum Telephosfries, im Brandopfersaal –

Gerhard blieb zurück, setzte sich auf die verstaubten Stufen. Heraklit – war das nicht der Philosoph, den Lili manchmal nannte?

»Krieg ist aller Dinge König –« flüsterte er. Und der, der das lehrte, der Mann rettete sein Volk vom Untergang, besiegte die Perser, ob er gleich lange schon tot war?! Sicher glaubte der Professor an diese uralte Wahrheit. Glaubte sie von den Griechen, von Heraklit und seiner Zeit – leugnete sie doch im selben Atem für seine Zeit und sein Volk. War es denkbar, daß er als Wissenschaftler Heraklits Lehre anerkannte und sie dennoch als Mensch verwarf?

Krieg – die einen macht er zu Sklaven, die andern zu Freien. Gerhard fühlte: ein Freier war er gewesen, solange es Krieg gab – elf Jahre lang für ihn. Und wurde dann zum Sklaven, saß in der Zelle –

Lag nicht sein ganzes Volk in enger Zelle, kaum fähig Atem zu schöpfen? Lag es nicht festgeschmiedet in Ketten, unfähig, sich zu rühren? Grade wie er –

Vier Jahre im Kerker – ein paar Wochen dann im Traumland – er wußte wenig, was draußen vorging. Gab es überhaupt noch Leute, die für Deutschlands Freiheit arbeiteten? Lannwitz nicht, Eggeling nicht, so wenig, wie der Wachtmeister in Kanada oder der brave Döres in Himmelgeist. Hinrichsen, Hauenburg? All die Kameraden überall im Reich? Er wußte nichts von ihnen, nichts. Lili war tot, Käte – was war mit Käte? Nichts hatte er gehört von ihr in dem halben Jahr, seit sie ihn aufsuchte zur Weihnachtszeit im Zuchthaus zu Münster.

– Er stand auf. Zeit war es, er mußte zurück ins Leben. Vielleicht wartete seiner doch eine Aufgabe.

Aber heut – heut war noch Traumtag.

Er ging hinaus, irrte über sonnenheiße Straßen.

Schlenderte an der Spree, bog links ein auf den Schiffbauerdamm. Sein Blick fiel auf ein Schaufenster: Gipsabgüsse, Köpfe, Büsten, Figuren; knallweiß die einen, bemalt die andern, bronziert oder vergoldet. Dante natürlich, Tasso, Voltaire, Homer, Nietzsche, Sokrates. War nicht ein Heraklit dabei?

Er suchte, fand nichts – drinnen vielleicht. Kaufen – nein, kaufen wollte er gewiß keinen Gipskopf, hätte nur gern gewußt, wie er aussah, der alte Heide.

Er ging in den Laden: ein dickes, schlampiges Weib kam ihm entgegen – was er wünsche?

»Haben Sie vielleicht«, begann er, »haben Sie –«

Er stockte – grade vor ihm auf dem Tisch lag eine Anzahl Masken. Ausgepackt eben, halb bedeckt mit Holzwolle; einige staken noch in der großen Kiste. Matt, graugelb waren sie angestrichen.

Masken einer toten Frau –

Und alle, alle – meingott, gerechtergott!

Lili –!

Er trat heran, taumelte, hielt sich am Tisch. Die Frau schob ihm einen Stuhl hin, schwerfällig setzte er sich. Sie lief nach hinten, kam zurück mit einem Glas Wasser – die Hitze, ja, diese glühende Hitze.

Er trank, atmete schwer. Wies mit der Hand auf die Totenmasken, stammelte: »Wer – wer ist das?«

»Nehmen Se man noch en Schlickchen, det möbelt Ihn' wieder uf! Keen Wunder bei die Hundstage! – Na, jeht's nu wieder?«

Gerhard leerte das Glas. »Danke – danke Ihnen. – Sagen Sie mir: wer ist das?«

»Det?« erwiderte die Frau. »Det is die ›Scheene Unbekannte‹ – ebent is se wieder injetrudelt. Die kriejen wa aus Paris – janz direktemang – die ham se da so aus de Panke jefischt.« Sie nahm ein Verzeichnis, blätterte, reichte ihm das Heft.

Er las: ›Nr. 437. L'Inconnue de la Seine. M. 5,20.‹

Das Weib schwatzte: »Die jeht wie warme Semmeln – die belebt det janze Jeschäft, da sin der Beethoven un der Dante en Popel jejen! Wolln Se sich eene mitnehmen? Wat Scheenert finden Se doch jarnich, wenn Se Ihr Frollein Braut schnieke inrichten wolln – det dote Mächen jeht uf't Jemüt – un, wissen Se, det is en Denkzettel, wenn se da so hängt. Wenn Se jleich zwei nehmen, laß ick se Ihnen vor neun Em, vier fuffzij det Stück – rechts un links von de Servangte.«

Gerhard hob die Hand, wie zur Abwehr; die Frau mißverstand ihn.

»Überlejen Se nich lange – sagen Se nich, det Se wiederkomm wolln! Det Köppken brauch ick bloß int Fenster lejen, da strömt de Kundschaft. Det is der jrößte Schlager in de janze Welt – se sagen, der Mensch, der se abjejossen hat, hat en Vamöjen mit vadient.« Sie wühlte in der Kiste herum, nahm eine weiße Maske heraus. »Oder wolln Se se vielleicht lieber so ham – rein Jips? Oder verjoldet? Is ooch da – wie't valangt wird. Wenn Se aber wat janz Apachtes ham wolln, denn rat ick Ihnen: lassen Se se uf Natur arbeiten. Det kost sechs Mark extra – det macht en Kunstmaler! Aber denn ham Se ooch wat für't Leben. Die Künstler von die Theaters hier so rum, die nehm se alle so – da sieht die scheene Unbekannte aus, jrad wie ebent aus'm Kanal jefischt, blau und bleich un janz naß – det is en Jenuß, sach ick Ihnen.«

Gerhard nahm eine der Totenmasken, hielt sie in beiden Händen, starrte sie an.

Das dicke Weib grinste. »Jefällt se Ihnen, det Wassermächen? Da könn Se von träumen, von det Undineken!«

Gerhard stand auf, griff in die Tasche, reichte ihr einen Zehnmarkschein.

Die Frau nickte. »Zweie – wat? Da kriejen Se noch wat raus.« Sie wickelte Holzwolle um die Masken, schlug sie in Packpapier ein. »Ja – so is't im Leben. Die kleene Nutte hat's jewiß nich jut jehabt – det sieht man ihr an. Nischt zu fressen un Dresche von ihr'n Kerl, wenn se nich jenuch von de Tour bringt. Na, un da jeht se ebent int Wasser un macht det sieße Lächeln – bums, is se ne Weltberiehmtheit!«

Gerhard nahm das Paket, ging hinaus.

Er lief über die Straße, ging die Spree entlang. Das war nicht wahr, das war alles nicht wahr –

Aber er hielt das Paket in den Fingern – nur weg damit, weg! Sollte er es verlieren, irgendwo verstecken? Hinunterwerfen ins Wasser, wie –

Das ging doch nicht, ging nicht. Sie war es doch, sie!

Nun hatte er sie wieder – sie, Lili. Nein, so war es nicht. Sie hatte ihn – und er mußte sie tragen durch alle Ewigkeiten. Und sie würde in seinem Zimmer hängen –

Wo denn? Am Bett, neben dem Spiegel, auf dem Schreibtisch –?

Er würde sie sehn, wenn er aufstand, wenn er sich niederlegte. Wenn er sich anzog und auszog, wenn er saß und arbeitete, immer – immer dies süße, traurige Lächeln.

Ringsum würde sie hängen. Bronziert oder vergoldet, mattgelb oder weiß. Oder auch blau und bleich gestrichen – sechs Mark extra – wie frisch aus dem Kanal gefischt.

Überall würde sie hängen, jedem ihr süßes Lächeln schenken. Studenten und Schauspielern, Ladenjünglingen und Fußballspielern – allen. Huren und Gouvernanten, Verkäuferinnen und Tänzerinnen, Kellnern und Leutnants – allen, allen!

Alle würden sie haben: l'Inconnue de la Seine, die schöne Unbekannte. Ein Schlager war sie, ein Welterfolg – sie, Lili!

Hin lief er und wieder zurück. Kam über eine Brücke – noch eine – war denn hier überall Wasser?

Dann kannte er sich aus. Dort drüben lag der Reichstag – hier kam er zum Lehrter Bahnhof. Sein Blick fiel auf die Uhr – schon fünf vorbei?

Er blieb stehn – dann mußte Paul im Hotel sein. Er ging in die Fernsprechzelle, ließ sich verbinden – ja, Herr Hornemann sei eben eingetroffen, habe nach ihm gefragt.

Er wartete; dann hörte er Pauls Stimme: wo er denn stecke? Und warum er nicht geschrieben habe? Nicht dort geblieben sei, wo er war, statt nach Berlin zu kommen?

»Aber ich mußte doch zurück sein«, rief Gerhard, »ich hab doch mein Ehrenwort drauf gegeben.«

Was habe er gegeben? Sein Ehrenwort – was? Warum denn und weshalb?

Gerhard erzählte von dem Beamten, der in Bückeburg eingestiegen, mit ihm nach Hannover gefahren sei. Nur eine Formsache sei es –

Sehr aufgeregt klang es. »Mensch, Gerhard! Wir bringen dich ins Ausland – und du gibst dein Wort, zurückzukehren?« Ein Zungenschnalzen hörte Gerhard, einen halben Seufzer. Dann: »– trotz größtem Flei – iße – ist alles – scheinbar!«

»Immer noch falsch«, rief Gerhard.

Er wartete, hörte nichts mehr. »Hallo!« rief er und »Paul?« Endlich kam eine Antwort: er solle ein Auto nehmen, sofort zum Hotel fahren.

Gerhard nahm sein Paket auf. Was wollte Paul denn, warum stellte er sich so an?

Er kam am Zeitungsstand vorbei, blickte auf die Blätter, las ein paar Überschriften. Dann bemerkte er das Datum – auf den Tag bin ich zurück, dachte er, auf den Tag.

Er winkte ein Taxi heran – das hätte er heut morgen schon tun sollen, sich bei dem Beamten melden, wie er's versprochen hatte. Wenn er Glück hatte, würde er ihn noch antreffen im Büro. »Alexanderplatz«, sagte er, »Polizeipräsidium.«

Er suchte die Karte aus der Brieftasche – ganz richtig, Zimmer dreiundsechzig.

Er ging durch die langen Gänge, fragte sich zurecht. Suchte nach jemandem, der ihn anmelden könne; fand keinen – die Kanzleizeit war schon vorbei.

So klopfte er, hörte ein ›Herein‹, öffnete die Tür.

Am Schreibtisch saß einer – ja, das war der freundliche Herr, der ihm die Koffer trug. »Guten Abend«, sagte Gerhard, »ich komme –«

Der Beamte sah nicht auf von seiner Arbeit. »Entschuldigen Sie – ich bin gleich fertig. Nehmen Sie Platz.«

Gerhard setzte sich auf die Bank, die bei der Tür stand, legte sein Paket neben sich, wartete. Er blickte sich um; bis zur Decke türmten sich die Akten in den Ständern. Zwei Bilder an den Wänden, schlechte Öldrucke der Präsidenten Ebert und Hindenburg.

Er hörte die Feder über das Papier kratzen. Schnell, hastig schrieb der Mann – Arbeit, Arbeit! Morgen würde auch er arbeiten, morgen –

Der Beamte nahm seinen Löscher auf, drückte zugleich auf die Tischglocke. Ein Wachtmeister erschien. »Abtippen lassen«, befahl der Kommissar.

Der Wachtmeister nahm die Bogen, zog sich zurück. Der Beamte öffnete seine Schublade, warf die Akten hinein. »So«, sagte er, »nun steh ich zu Ihrer Verfügung.«

Gerhard trat an den Schreibtisch. »Ich versprach Ihnen, mich heute zu melden. Da bin ich – Gerhard Scholz.«

Der Kriminalkommissar knallte die Schublade zu, warf sich im Sessel zurück. »Sie? Oberleutnant Scholz? Was wollen Sie denn hier? Sind Sie verrückt geworden?«

Gerhard starrte ihn an. »Sie haben doch selber gesagt –«

»Was ich schon gesagt habe!« rief der Beamte. »Sie sind glücklich im Ausland – frei wie der Vogel in der Luft – und da haben Sie nichts Gescheiteres zu tun, als zurückzukommen nach Berlin, schnurstracks ins Präsidium?«

Gerhard warf seinen Hut auf den Tisch. »Herr Kommissar«, sagte er scharf, »Sie scheinen vergessen zu haben, daß Sie mein Ehrenwort verlangten. Und ich gab es Ihnen: heute mich bei Ihnen zu melden – Zimmer dreiundsechzig.«

Der Beamte lachte hell auf. »Ehrenwort? Begreifen Sie denn nicht, welche Ungelegenheiten Sie den Behörden machen? Mann Gottes, Sie sind in – in – wo war es denn noch? – leben dort herrlich und in Freuden, sicher unter Mussolinis väterlichem Schutz. Da konnten Sie bleiben in alle Ewigkeit, oder bis eine Amnestie kommt, was ja schließlich auch mal geschehn wird. Dann war alles in Butter! Man lebt ja so fix heut – in ein paar Jahren wäre alles vergessen gewesen – da möchten die Leute glauben, daß ›Fememörder‹ ein neues Mittel sei, um Wanzen zu vertilgen! Statt dessen brechen Sie Unglückspeter ins Präsidium ein –«

Gerhard lachte: »Na, entschuldigen Sie, Herr Kommissar, ich geh schon. Schließlich schau ich mir dies Haus auch lieber von außen an. Mein Besuch ist ja doch nur Formsache – wie Sie das nannten.«

Der Kommissar erhob sich. »Formsache – Ihr Besuch? Ihr gottsverdammtes Ehrenwort meinte ich – wenn ich von Formsache sprach. Leichter konnte ich's Ihnen doch gewiß nicht machen!«

Gerhard schüttelte den Kopf. »Ich begreife nichts. Sie verlangten mein Ehrenwort – wünschten doch, daß ich's breche? Ja, zum Henker, wozu wollten Sie's denn haben?«

Ernst wurde die Stimme des Beamten. »Wir zwei leben in andern Welten, Sie und ich, wir reden aneinander vorbei. Als die Behörde Sie beurlaubte – gern hat sie's nicht getan, kann ich Ihnen verraten – waren wir überzeugt, daß Sie die Nase gründlich voll hätten von dem Zellenstank und also nie zurückkommen würden. Nun gibt's hierzulande so was wie ein Parlament – falls Sie davon schon mal gehört haben sollten! Da sitzen Leute, die der Regierung gern unbequeme Fragen vorlegen – in der Tat hat man sich schon ein paarmal im Ausschuß nach Ihnen erkundigt. Krankheitsurlaub – das konnten wir vertreten – vier Jahre hatten Sie schon abgerissen, waren ja wirklich hundselend. Auch fürs Ausland hatten Sie unsern Segen – nur brauchte ich eine kleine Sicherheit, darum das Ehrenwort! Wenn Sie ruhig geblieben wären, wo Sie waren, dann konnte man bei der nächsten Anfrage gemütlich antworten: ›Der Oberleutnant Scholz hat sein Ehrenwort gegeben, zurückzukehren – wir haben dem Wort eines Offiziers des alten Heeres geglaubt. Er hat sein Wort gebrochen – das ist nicht Schuld der Regierung.‹ – Begreifen Sie nun? Auf diese Weise war alles bestens geregelt! Das war doch billig genug eingekauft: ein schönes Leben in Freiheit gegen ein kleines versautes Ehrenwörtchen!«

Gerhard nahm seinen Hut. »So war's gemeint?! – Sagen Sie doch, wer ist denn jetzt Reichskanzler – immer noch der Herr Doktor Luther?«

»Das wissen Sie nicht?« rief der Kommissar. »Lesen Sie denn gar keine Zeitungen? Luther ist doch längst raus – Hermann Müller heißt er – Sozialdemokrat.«

»Der?« sagte Gerhard. »Das ist doch der Mann, der nach Versailles fuhr, das Diktat unterschrieb, nicht? Der steht neben Hindenburg? – Nun, es tut mir leid, daß ich seiner Regierung den Gefallen, mein Ehrenwort zu brechen, nicht leisten konnte. Im übrigen – wir beiden haben einander wohl nichts mehr zu sagen. Guten Abend, Herr Kommissar.«

Der Beamte drückte heftig auf die Tischglocke. »Sie irren sich, Scholz – nun Sie einmal bei uns sind, bleiben Sie auch.«

Der Wachtmeister erschien in der Tür. »Führen Sie den Mann ab«, befahl der Kommissar. »Übergeben Sie ihn –«

Gerhard erbleichte. Er stieß mit der Faust den Wachtmeister vor die Brust, daß er zurücktaumelte. Dann riß er die Tür auf, rannte den Gang hinunter.

Eine helle Pfeife schrillte hinter ihm, aus drei, vier Türen stürzten Polizisten heraus. Aber er hatte einen guten Vorsprung – um sein Leben lief er. Er kam an die Treppe, sprang hinunter in drei Sätzen zum nächsten Stockwerk. Überlegte rasch, lief durch den menschenleeren Flur. Kam wieder an eine schmale Treppe, eilte hinab, geriet in einen Hof. Durchschritt ihn, gelangte in einen Torweg – zwei alte Weiber scheuerten da. Weit offen standen die Flügel, ungehindert kam er hinaus.

Alexanderplatz – Autobusse, Straßenbahnen, Lastwagen, Autos. Menschen, Menschen – weißer Staub in drückender Sonne. Er schritt hindurch, kam zur Untergrundbahn, stieg die Stufen hinab. Löste eine Fahrkarte, ging durch die Sperre – ›Breitenbachplatz‹ zeigte die Tafel. Das traf sich gut – da konnte er ›Kaiserhof‹ aussteigen, konnte ins Hotel gehn, Paul verständigen. Der würde sicher einen schnellen Wagen zur Hand haben; in fünf Stunden konnte er an der böhmischen Grenze sein. Wie gut, daß er seinen Paß in der Tasche hatte!

Der Zug lief in die Halle. Leute stiegen aus, er griff die Klinke der Schiebetür –

Aber er stieg nicht ein. Ließ die Klinke wieder los, ließ den Zug abfahren. Blieb stehn, wo er stand.

Ganz plötzlich kam ihm der Gedanke: er mußte zurück. Mußte holen, was er vergessen hatte: sein Paket.

L'Inconnue de la Seine –

Langsam kehrte er um. Ging durch die Sperre, über den glühheißen Platz. Durch den Seiteneingang, wo die Scheuerfrauen schrubbten. Über den engen Hof, hinauf die Nebentreppen.

Niemanden traf er. Ausgestorben schien das riesige Gebäude.

Zimmer dreiundsechzig – er lauschte. Hörte keinen Laut, trat rasch ein – kein Mensch war im Zimmer. Dort die Bank – er nahm sein Paket – blieb einen Augenblick stehn in der Tür, spähte hinaus.

Wie seine Schritte hallten auf dem steinernen Gang! Doch kam er zur Treppe, eilte hinunter. Hörte Schritte unten, bog wieder in einen Gang – da standen zwei vor ihm.

Er wollte vorbei, hörte eine Stimme von hinten – ah, der Kommissar!

Wieder begann er zu laufen – Schreie und Lärm hinter ihm. Eine Tür ging, einer hing an ihm; er schüttelte ihn ab. Mehr noch – woher kamen sie nur? Einer stellte ihm ein Bein – lang schlug er hin. Sprang wieder auf, sah vor sich einen riesigen Schutzmann. Mit beiden Händen griff er sein Paket, schlug es ihm mitten ins Gesicht. Dann waren sie an ihm – er tobte, hieb um sich, wurde doch überwältigt am Ende.

Die eiserne Tür schnappte ins Schloß, der Schlüssel drehte sich. Handschellen trug er; aus seiner Nase sickerte Blut.

»Nun bin ich wach«, murmelte er, »nun bin ich ganz wach.«

 


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