Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

»Ein Friede, der der Befürchtung ausgesetzt ist, jede Woche gestört zu werden, hat nicht den Wert eines Friedens; ein Krieg ist weniger schädlich als ein solcher unsicherer Friede.«

Bismarck.

 

»Glaubt man etwa, die Russen würden unser Land besser behandeln, wenn wir nichts tun? Sie werden nur dann Achtung vor uns haben, wenn unsere Festungen stark besetzt sind, durch Truppen gedeckt und verteidigt werden können. Ohne militärische Streitkräfte muß die Achtung und das Zutrauen zur Regierung fehlen und diese sich allen zufälligen Ereignissen preisgeben. Dies sind Wahrheiten, bei denen jede andern Rücksichten billig verschwinden.«

Scharnhorst.

 

Berlin, August – September 1923.

Gerhard Scholz saß im Zuge, saß im Auto, auch wohl im Flugzeug – den langen Sommer lang. Er war in Ostpreußen und in der Pfalz, war in Tirol, in Schleswig und Thüringen, traf seine Kameraden in Frankfurt und Berlin, in Hamburg und München. Er schlief in verräucherten Kanzleistuben und muffigen Kasernen, in verwanzten Lagerbaracken, in den waffenstarrenden Buden seiner Freunde. Er knüpfte überall die losen Fäden zwischen den Verbänden, die alle dasselbe wollten und doch nach allen Richtungen auseinanderstrebten. Man befreite Ehrhardt aus dem Gefängnis; Gerhard hatte lange Besprechungen mit dem Kapitän.

Er half beim Aufbau der Reitervereine in Ostpreußen, Holstein und Westfalen, er besichtigte in geheimem Auftrage der Reichswehr die acht östlichen Grenzkreise, er arbeitete mit Forstrat Escherich und seiner Orgesch, mit Justizrat Claas und den alldeutschen Verbänden. Er traf Adolf Hitler in München, Dietrich Eckart, Pöhner und Hauptmann Göring, suchte Major Pabst und seine Heimwehrführer in Innsbruck auf, General von Epp in Augsburg. Er hielt engste Fühlung mit den aufgelösten Freikorps, die dennoch weiterbestanden, traf immer wieder ihre Fähnleinführer Röhm, Heydebreck, Römer, Pfeffer, Aulock – manche noch. Er besuchte die Technische Nothilfe in allen Städten, leitete selber die geheime Tätigkeit der Stoßtrupps am Rhein und an der Ruhr. Und er baute, in und um Berlin, die Schwarze Reichswehr auf.

Mit Wissen und Willen – auf Wunsch und halb auch auf Kosten der Reichsregierung.

Tief in Westfalen stand der Franzose – dem polnischen Freunde, der die Bolschewiken aus seinem Lande gejagt, Wilna den Litauern entrissen hatte, mußte die Gelegenheit günstig erscheinen: wenn das achtzehnte Jahrhundert die Teilung Polens sah, warum sollte nicht das zwanzigste Deutschlands Teilung bringen? Dann aber war Ostpreußen, waren Danzig und Schlesien seine Beute. Nur hunderttausend Mann gestattete das Versailler Diktat der deutschen Verteidigung – armselige hunderttausend ohne Flugzeuge, ohne Tanks und schwere Geschütze, ohne Schlachtschiffe und Unterseeboote. Überall im Reiche loderten Kommunistenaufstände, geschürt von Moskau und vom Hunger. Da griff die Regierung nach jeder Hilfe, duldete und förderte die geheime Aufstellung von Regimentern – wie sie früher die Freikorps gerufen hatte, als sie Leib und Leben deutscher Männer gebrauchte, im Osten gegen die Bolschewiken, in Schlesien gegen den Polen, an der Ruhr gegen Spartakus. Sie ließ die Schwarze Reichswehr erstehn und wachsen, dennoch jeden Tag bereit, sie zu verleugnen – wie sie die Freikorps verleugnet, ihre Führer bespien und ins Gefängnis gesteckt hatte.

Seit einem Jahr nun schmiedete Gerhard an dieser Waffe, hämmerte und schliff sie gut und scharf: eine Truppe, von einem Geist erfüllt, der nach Taten schrie, von einem Glauben beseelt, der vor nichts Halt machen würde.

Im Wehrkreishaus hatte er sein Hauptquartier, in der Kurfürstenstraße zu Berlin, nahe beim Lützowplatz. Wenige Zimmer nur, dürftig genug eingerichtet. An einer Tür ein Zettelchen: Oberleutnant Scholz.

Nein, die Spitzen bekam er nie zu sehn. Keinen Minister, keinen Staatssekretär, keinen einflußreichen Politiker, nicht einmal die maßgebenden Herrn, die im Reichswehrministerium herrschten. Und vor allem den Befehlshaber nicht, General von Seeckt, den man die große Sphinx nannte, die steinerne Wache, die in der Wüste lag, ewig wartend und schweigend. Aber sie fühlten alle: einmal – und der Tag war nicht fern – würde der Stein leben und Fleisch werden. Würde die Sphinx sich recken, rotes Blut würde durch ihre Adern rollen. Und sie würde – endlich, endlich! – die mächtigen Pranken heben, würde zuschlagen –

In allen Reichsministerien wußte man von Gerhard Scholz und seinem Werk. Aber keiner kannte ihn, keiner grüßte ihn. Lili lachte, sagte, daß er die ausgehaltene Schöne der Regierung sei, die man öffentlich verleugne, im verschwiegenen Stübchen dafür um so heißer ans Herz drücke. Heines Verschen sagte sie auf:

»Blamier mich nicht, mein schönes Kind,
Und grüß mich nicht Unter den Linden:
Wenn wir nachher zuhause sind,
Wird sich schon alles finden.«

Aber es stimmte nur halb. Er und seine Schwarzen liebten nur eines: Deutschland – nicht die Regierung. Die aber liebte sie noch weniger; sie sorgte für die Truppe, zahlte auch – ja, das tat sie; aber sie tat es nur, weil sie die Leute – vielleicht! – bald brauchen mußte.

Und wie sorgte sie! Heeresgerät und alte Waffen freilich waren genug vorhanden – die Truppe selber suchte sie im Lande zusammen und setzte sie instand. Auch Quartier gab die Regierung: in der Spandauer Zitadelle, im Fort Hahneberg, in Döberitz, Jüterbog, Küstrin. Dann – Lumpen, aus denen die Leute sich mühsam Uniformen zurechtstückelten. Auch Geld gab man her, erbärmlich wenig zwar – obgleich in dieser Zeit die Regierung Milliardenscheine zu ungezählten Millionen ins Land flattern ließ – mühsam mußten sich Scholz und seine Freunde zusammenbetteln, was durchaus nötig war. Mief und Kohldampf herrschten in den überfüllten dumpfen Kasematten; die Leute hungerten, daß ihnen die Kohlrübenzeit der Kriegsblockade als fette Märchenjahre erschienen: nie sah einer einen Pfennig Löhnung.

Und dennoch blieben die Freiwilligen, dennoch meldeten sich immer neue zum alten Stamm. Man verlangte Ungeheuerliches von ihnen – sie leisteten es ohne Murren, hofften, sehnten sich nach dem Tage, an dem sie ihr Leben einsetzen durften fürs Vaterland.

Nicht ein höherer Offizier. An der Spitze stand Major Buchrucker, unter ihm Hauptleute und Leutnants. Und der höchste Verbindungsoffizier der Reichswehr zu ihnen war wieder nur ein einfacher Hauptmann. Was lag daran? – Die steinerne Sphinx wußte schon, warum sie schwieg, wußte auch, warum sie die braven Truppen, die in tiefsten Festungsmauern vergraben lagen, öffentlich verleugnete. Bis die Sonne aufging über dem Tag –

* * *

Als Gerhard Scholz an diesem Morgen vor der Spandauer Zitadelle aus dem Auto sprang, trug er ein großes Paket unter dem Arm, das ihm am Morgen die Post gebracht hatte – aus Himmelgeist von Frau Stina Schmitz. Er schritt an den Erlen vorbei, dem Juliusturm zu, kam über die weiten, sonndurchfluteten Anlagen – gewöhnlich sehr verlassen und menschenleer, schienen sie diesmal ungewöhnlich belebt. Überall standen kleinere Gruppen umher, lungerten in der Mitte unter den Bäumen, saßen rings auf der Böschungsmauer; einige schwiegen, an andrer Stelle wieder sprach man leise, doch erregt miteinander. Viele Halbwüchsige waren darunter. Gerhard hatte ein Auge für Massen: die Leute waren gewiß in bestimmter Absicht hier. Kommunisten? Hatte man Wind bekommen, was drinnen vorging?

Zwei junge Burschen kamen vorbei, der eine trug ein uraltes Köfferchen, der andre eine große Pappschachtel: neue Freiwillige, sie gingen schnurgrade auf das Tor zu. Einen Augenblick drauf waren sie umringt; die Leute sprachen heftig auf sie ein. ›Lumpen!‹ hörte Gerhard, ›Streikbrecher!‹ Er eilte hinzu, raunte den beiden zu: »Nicht antworten! Weitergehn!« Sie kamen mit ihm zusammen zum Tor, begleitet von einem Dutzend halbwüchsiger Burschen – nur ein Älterer war dabei. Einer stieß einen andern auf Scholz zu, ein dritter griff nach dem Paket. Aber die Schnur hielt, schnitt ihm in die Finger, riß nicht. Der eine Freiwillige schlug dem Burschen den Arm herunter, derweil rissen ihm zwei andre die Pappschachtel aus der Hand, liefen weg. Das schaffte Ruhe für ein paar Sekunden – das Tor öffnete sich, ließ sie ein, schloß sich hinter ihnen.

»Schade«, sagte Scholz, »Ihre Sachen sind Sie los!«

Der Junge lachte. »Die Schachtel war leer – ich wollte nur meinen Anzug drin verstauen.«

Gerhard schüttelte ihnen die Hand, übergab sie dann dem wachhabenden Unteroffizier. »Überlegt's euch wohl, Jungs«, sagte er, »leicht habt ihr's nicht hier bei uns.«

Er stieg die Treppen hinauf, ließ Wachtmeister Kramer kommen, trat mit ihm auf den Balkon über dem Tor.

»Schaun Sie mal hin, Wachtmeister«, meinte er. »Es scheint mir, daß da unten allerhand Menschen herumlungern, die nicht hingehören.«

Kramer blickte hinaus. »Säubern?« brummte er.

Scholz nickte, der Wachtmeister latschte die Treppe hinab. Still war es hier oben. Aus einer der Stuben klang ein fernes Singen, von hinten aus dem Hofe abgerissene Exerzierkommandos. Dann leichte Schritte über dem Flur – Gerhard sah auf, erblickte den schlanken Hauptmann von Senden.

»Tag, Senden«, rief er. »Die Menge da auf dem Platz gefällt mir nicht – Streikposten, die unsre Leute belästigen. Ich habe eben den Hund von Baskerville hinausgeschickt.«

»Der wird schon Ordnung schaffen«, lachte der Hauptmann. Sie lehnten über das Geländer, blickten hinaus.

»Draußen ist's schön«, stellte er fest. »Und die Leute lassen die Sonne fahren, lassen Feld und Wald und buntes Straßengewirr. Kommen hierher, graben sich ein in feuchte Kellerlöcher – tausende und noch tausende. Rackern sich ab sechzehn Stunden am Tag – kein Rekrut in der Welt ist je so geschliffen worden. Fallen nachts auf die Strohsäcke, todmüde – da merken sie nichts von Wanzen und Mücken! Unbegreiflich ist's!«

»Und Sie?« gab Scholz zurück. »Merken Sie was davon, Senden? Und sind auch hier. Und hungern und arbeiten mit den Leuten. Und –«

Unter ihnen kreischte das Tor. Wachtmeister Kramer trat heraus, neben ihm ein andrer Hüne, noch größer als er.

»Feldwebel Fahlbusch«, sagte der Hauptmann. »Der Baskerviller hat sich seine Leute gut ausgesucht!« Er sah auf die Uhr. »Neun Uhr achtzehn«, stellte er fest. »Wir wollen mal sehn, wieviel Zeit es nimmt.«

Der kleine Trupp trat auf den Platz – vierzehn Mann hinter den beiden Führern. Keiner trug eine Waffe.

Sie gingen auf die erste Gruppe zu, die beim Wasser stand – die Burschen zogen sich unwillkürlich zurück, blieben dann stehn, trotzig, eng geballt.

»Platz räumen!« befahl Fahlbusch mit lauter Stimme.

Keiner rührte sich. Von andern Gruppen schollen höhnische Worte herüber.

Ein wenig wartete der Feldwebel. Dann, mit zwei, drei langen Schritten war er bei den Burschen. Ohne ein Wort griff er den größten heraus, hob den Zappelnden hoch in die Luft. Trug ihn zur Brücke, warf ihn in hohem Bogen in den Graben. Derweil machte sich der Wachtmeister an den nächsten Haufen. Wie Windmühlenflügel fuhrwerkten seine Arme durch die Luft, hämmerten seine unheimlichen Pratzen auf Köpfe und Schultern.

Merkwürdig, die Menge johlte nicht. Langsam, Schritt um Schritt, wich sie zurück. Dumpf und verbissen sonderten sich hier und dort ein paar Dutzend aus, blieben stehn, schlossen sich zusammen, schienen bereit zum Widerstand. Aber sie hielten keine Minute lang stand, als die Soldaten bei ihnen waren. Ein wirrer Knäuel schien es zunächst – der sich doch sofort löste. Fünf, sechs der Burschen lagen auf der Erde – die andern jagten durch die Anlagen.

»Klaubt sie auf!« rief ihnen Fahlbusch nach. »Oder sollen wir sie mitnehmen?«

Wirklich, ein paar kamen zurück, halfen den Burschen, stützten sie, schleppten sie mit sich fort.

Hinten, am Grabendamm, stand ein einsamer Schutzmann, betrachtete aufmerksam den Vorgang. Ein paar der Bengels liefen auf ihn zu, schrien ihn an, daß er einschreiten solle. »Wa ham jarnischt jetan!« brüllte einer. »Wa sind überfallen worden.« Der alte Schupo nickte. »Haut man ab, Jungs«, riet er, »sons jibt's noch mehr von die Sorte.«

Schweigend zogen die Soldaten rund um die leeren Anlagen, bummelnd, gemütlich fast, dann kehrten sie zurück in die Zitadelle.

»Neun Uhr neunundzwanzig«, sagte Baron von Senden. »Elf Minuten, die Parade eingeschlossen. Gute Arbeit.«

Scholz nickte. »Ich habe die Menge überschlagen – zweihundertzwanzig etwa. Dagegen: Fahlbusch und der Baskerviller, mit ihnen vierzehn Mann.«

»Und keiner hatte eine Waffe!« rief der Hauptmann. »Nur die blanke Faust!«

Gerhard Scholz sah ihn an. »Nein, Senden, die Faust allein schafft es nie. Diese Burschen von der Straße hatten Schlagringe in der Tasche, Gummiknüppel, Stahlruten, Revolver vielleicht – alle haben sie das. Nicht einer hat davon Gebrauch gemacht. Feige sind sie gewiß nicht – sie hätten leicht unsre Jungs zu Brei trampeln können – warum taten sie's nicht? Der Wille fehlte ihnen – er allein ist Macht. Unsre sechzehn Leute hatten den Willen und hatten den Geist – Ihren Geist, Senden, und meinen und den der ganzen Truppe. Da wurden ihre nackten Fäuste zu Waffen, räumten schnell wie Maschinengewehre – das ist es, das allein!«

Der Wachtmeister tappte die Treppe herauf, meldete: »Anlagen leer, Herr Oberleutnant.« Und gleich kamen die Worte, die ihm wie Spucke von den Lippen troffen, immer wieder und bei allen Gelegenheiten: »Haben Herr Oberleutnant vielleicht eine Zigarre?«

Gerhard griff in die Tasche, reichte ihm die Tüte. »Ich hab noch viel was Besseres heute, Kramer«, lachte er, zeigte auf das Paket, das neben ihm stand. »Für Sie und Ihr Rollkommando – ich lasse guten Appetit wünschen.«

Kramer hob das Paket auf, wog es wohlgefällig in der Hand. »Nicht nötig, Herr Oberleutnant, stets reichlich vorhanden. Schönen Dank auch!« Grinsend betrachtete er die Anschrift, las den Namen des Absenders, nickte befriedigt. »Von der Dame haben uns Herr Oberleutnant schon mal ein Paket mitgebracht, die versteht –« Er stockte, das rechte Wort fehlte ihm.

Hauptmann von Senden half ihm aus. »Versteht ihrer Liebe den rechten Ausdruck zu verleihn, was?«

»Falsch geraten, Kramer«, rief Scholz. »Die Dame Stina liebt nur einen – das ist ihr Mann Döres. Schmitz IX – Sie kennen ihn doch von Kurland her! Dem geht's gut – wenn Sie ihm schreiben, schickt er Ihnen gewiß auch was.«

Aber der Wachtmeister maulte. »Warum ist er nicht hier?«

Scholz verstand, was er dachte. »Weil ich ihn im Westen gebrauche, an Rhein und Ruhr. Glaubt ihr, ihr seid die einzigen braven Kerle in Deutschland?«

Der Hund von Baskerville riß die Lefzen weit auf, schloß sie wieder. Die mächtige Tatze hob sich zur Mütze. »Befehl, Herr Oberleutnant!« knurrte er. »Dann werd ich ihm also schreiben. Dann kann er ruhig schicken.«

Er machte kehrt, wandte sich aber auf der ersten Stufe. »Ist ein neuer Mann da, möchte Herrn Oberleutnant sprechen. Er wartet unten, darf ich ihn herschicken?« Scholz nickte.

Gleich darauf stand der Freiwillige vor ihm – sieh doch, Fritz Hemmerling aus Neiße! Er sah komisch genug aus; die viel zu weite Uniform schlotterte um den dürren Leib.

»Du hier, Troßbub?« rief der Oberleutnant. »So ist's recht –« Er unterbrach sich, sein Blick verfinsterte sich. »Wieder weggelaufen aus der Schule – was?! Ich hab dir gesagt, daß du bleiben solltest, und du hast mir's versprochen!«

»Gymnasium fertig, Herr Oberleutnant«, gab der Rekrut zurück. »Ich hab tüchtig gebüffelt, hab ein halbes Jahr eingespart – das Zeugnis hab ich mitgebracht.«

Gerhard reichte ihm die Hand. »Dann ist's recht, Troßbub – meinerseel, haben sie dich hergerichtet!«

»Kannst dich als Hasenscheuche im Krautgarten aufstellen lassen«, lachte Senden.

Fritz Hemmerling sah an sich herunter. »Der Herr Wachtmeister hat gesagt, daß ich morgen passendes Zeug bekäme.«

»Dann wirst du's schon kriegen, wenn der's dir versprochen hat«, sagte Gerhard. »Lauf nur schnell zu ihm – vielleicht kannst du noch ein Stück Wurst von ihm erben.

* * *

Paul Hornemann stürmte durch die Sperre des Anhalter Bahnhofs, als der Münchner Zug einlief. Früh um sechs hatte er Gerhards Telegramm bekommen, als er draußen in Spandau seine Rekruten drillte, war dann gleich in die Stadt gefahren, in Uniform wie er war.

Er wartete, bis Gerhard sich von zwei Herrn verabschiedete – lange genug dauerte das. Dann erst begrüßte er ihn. »Wer sind denn die beiden?« fragte er neugierig.

»General von Lossow«, antwortete sein Freund, »der Befehlshaber der Bayerischen Division. Der andre ist Polizeioberst Seisser – ich hab heutnacht mit ihnen verhandelt.«

»Und?« fragte Hornemann.

Aber Scholz schüttelte den Kopf. »Später vielleicht. Ich bin schmutzig und verdammt müde, habe drei Nächte kein Bett gesehn. Ich will ins Dampfbad. Du mußt gleich zum Bahnhof Zoo, Lili abholen, die von Düsseldorf kommt – sag ihr, sie solle um eins in der Kurfürstenstraße sein. Und hol mich ab im Admiralsgarten –«

Sie fuhren zur Badeanstalt; dann ging Hornemann die Friedrichstraße hinunter nach Unter den Linden, wartete auf den Autobus. Leute drängten sich da, spähten nach Fremden. »Want a guide, Sir?« hörte er. Andre luden zu Rundfahrten ein: »Potsdam – Sanssouci – unvergleichlich schön am herrlichen Augustmorgen.« Und immer wieder gezischt und geflüstert: »Dollars to sell? Schwedenkronen zu verkaufen?« – Ihn freilich belästigte keiner – woher sollte auch ein Leutnant fremde Geldscheine haben?!

»Was geben Sie fürs englische Pfund?« fragte er einen der Kerle. Es klang ihm von Milliarden ins Ohr – aber er hörte nicht hin, sein Blick fiel auf einen Mann in neuem, hellem Sommeranzug, der dort bei dem Zeitungsverkäufer stand, mit ein paar der Anreißer tuschelte. Den kannte er doch?!

Er ging auf ihn zu. »Wilcke? – Was machen Sie denn hier?«

Der Mann wandte sich um, sichtlich unbehaglich. Aber er faßte sich gleich, winkte den beiden Schleppern, die im Augenblick verschwanden. »Sie sehn ja, Herr Leutnant: Devisenhandel«, lachte er breit. »Wir kaufen hier auf, bringen die Sore zum Rhein, bekommen das Doppelte dafür. Da pfeift man auf die Kunststückchen, mit denen hier die Regierung ihre Geldlappen stützt. Was wollen Sie, man muß doch leben –«

Der Autobus rollte an, Hornemann sprang auf.

Er kam zum Bahnhof, hatte noch Zeit, ein paar Rosen zu kaufen. Lili stieg aus dem Wagen, bleich, mit tiefen Ringen unter den Augen. »Wo ist Gerhard?« fragte sie.

»Ich brachte ihn zum Admiralsgarten«, berichtete er, »er will baden und ein wenig ruhn. Hast du wenigstens geschlafen?«

»O ja«, antwortete sie, »eine halbe Stunde lang und dann noch mal zehn Minuten. Seit sechzehn Stunden sind wir unterwegs – immer warten und umsteigen! Der Schlafwagen natürlich besetzt von Offizieren der Kommission und Regierungsbeamten – ich hätte die ganze Nacht auf dem Gang stehn müssen, wenn mich in Hannover nicht Frau Styssen entdeckt und in ihr Halbabteil genommen hätte.«

Eine junge, hübsche Frau erschien im Zugfenster, rief nach einem Träger. »Da ist sie«, sagte Lili, »hilf ihr mit ihren Sachen, Paulchen.«

Paul nahm Köfferchen und Handtasche, die sie aus dem Fenster reichte, half ihr dann aussteigen.

»Leutnant Hornemann«, stellte Lili vor, »glücklicher Besitzer ungezählter Brauten und Herzensbrecher von Beruf – sonst aber ein ganz braver Mann.«

»Schweig doch«, wehrte er ab.

»Und hier ist zu sehn Frau Ellen Styssen«, fuhr sie fort wie der Ausrufer einer Jahrmarktsbude, »Besitzerin der weltberühmten Styssenwerke, reichste Frau im ganzen Sauerlande, dazu liebenswürdig und geistreich. Vor fünf Minuten erst hat sie mir einen hübschen Dollarscheck für unsre Sache ausgeschrieben – da muß ich schon ihr Lob singen. Also halt dich ran, Paulchen Hornemann! Gib ihr die Rosen, die du wohl für mich bestimmt hast, die sie aber mehr verdient.«

Paul verbeugte sich, reichte ihr die Blumen. Die junge Frau nahm sie, dankte mit leichtem Lächeln.

»Leider glücklich verheiratet!« Sie stockte, blickte suchend umher, drehte schließlich ihren Schirm um, zog einen Handschuh aus, berührte die Spitze mit den Fingern.

»Ist nur gut, wenn man immer ein Stückchen Holz bei sich hat!« nickte Lili. »Aber jetzt soll's Ihnen wirklich Glück bringen, Frau Ellen, Ihr Mann wird bald wieder frei sein – die Franzosen haben ihn nämlich hoppgenommen.«

Paul nickte. »Ich hab's in der Zeitung gelesen.«

Sie gingen die Treppen hinunter. Lili verabredete sich mit Frau Styssen für den nächsten Tag.

Als sie allein waren, sagte Hornemann: »Ich finde, daß du ein bißchen gar zu aufgekratzt mit ihr redest – was soll die Frau von dir denken?! Ihren Mann haben die Franzosen zu Zuchthaus verurteilt, zusammen mit Krupp und den andern. Wegen ›Gehorsamsverweigerung und Nichtbefolgung von Requisitionsbefehlen‹ – es ist erstaunlich, was heute in Deutschland als Verbrechen gilt! Weißt du, wieviel sie ihm aufgeknackt haben?«

Sie antwortete: »Fünfzehn Jahre – ich weiß das recht gut. Weiß auch, daß er krank ist, schwer krank sogar. Daß sie hergefahren ist, um mit dem Minister zu sprechen, dem Kanzler, dem Präsidenten – und daß ihr das alles so wenig nutzen wird, wie es uns nutzte, als wir die halbe Erde für Schlageter einspannten. Was sie von mir denkt, ist ganz gleichgiltig. Aber sie kommt ein wenig auf andre Gedanken, sieht nicht gar so trübe, wenn ich lache und so daher schwatze. Hoffentlich begreifst du das, Paulchen, und hoffentlich wirst du dir endlich abgewöhnen, mich erziehn zu wollen.«

Er sah sie entrüstet an. »Ich dich? Das ist doch stark! Wo du mich nur siehst, tust du, als ob du meine Gouvernante seist. Versuch doch dein Talent bei Gerhard Scholz!«

Sie streckte ihm die Hand hin. »Nicht bös sein, Paulchen! Für Gerhard paßt's nicht – der merkt's nicht mal. Übrigens – könntet ihr nicht versuchen, den Styssen zu befreien?«

Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Darauf wird sich Gerhard nicht einlassen; der hat wichtigere Dinge im Kopf, als Hüttenbarone, die vor Geld stinken, aus dem Gefängnis zu holen. Die ganze Welt spricht von diesem schmachvollen Urteil – also können uns Krupp und Styssen und wie sie heißen in ihrer Zelle nur nützen. Da sind sie Märtyrer. Einmal draußen würden sie nicht den Finger für uns rühren.«

»Wer weiß!« flüsterte sie.

Er brachte sie zum Auto, hob ihr Gepäck hinein. »Also um ein Uhr bei Gerhard«, rief er.

Er brauchte nicht lange zu suchen im Liegesaal des Admiralsgartens, wenige Männer nur lagen dort um diese Stunde. Er setzte sich neben das Ruhebett, betrachtete den tief Schlafenden, schob ihm die Leinendecke zurecht. Aber nach wenigen Minuten schon erwachte Gerhard, hob sich mit einem Ruck, blickte auf die Uhr. »Genau eine Stunde«, murmelte er, »wie ich mir vornahm. Willst du uns Kaffee bestellen und ein paar Brötchen? – Bist ja auch wohl noch nüchtern.«

Ein Badewärter schob ein Tischchen heran; beide frühstückten. Paul erzählte, daß er Wilcke getroffen habe und daß der jetzt in Devisen schiebe. Aber Gerhard hörte kaum hin. »So, so«, sagte er. »Daß er weg ist von Essen, wußte ich. Er müsse nach Schlesien, hat er angegeben, seine Mutter sei krank. Übrigens war Lannwitz froh, daß er ihn los war. Der mochte ihn nicht.«

Er ließ sich wieder zurückfallen, starrte in die Luft.

»Willst du nicht aufstehn, Gerhard?« fragte Paul.

»Laß mich«, bat sein Freund, »ich will nachdenken.«

Unbeweglich lag er, dreiviertel Stunden lang; Hornemann saß neben ihm, störte ihn nicht. Schweigend zog Gerhard sich an, schweigend fuhren sie zur Kurfürstenstraße.

Auf einem Stuhl vor seiner Tür saß Fritz Hemmerling; diesmal paßte die Uniform. Er sprang auf, grüßte.

»Tag, Troßbub«, rief ihm Scholz zu, »wie kommst du her?«

»Seit zwei Tagen abkommandiert zum Wehrkreiskommando«, meldete der Rekrut. »Zur besonderen Verfügung des Herrn Oberleutnants.«

»Weißt du, daß ich jetzt wieder Pferdchen haben kann?« sagte Gerhard. »Nur die Zeit fehlt leider. Aber morgen früh wollen wir doch reiten – um halb sechs im Tiergarten.«

Hemmerlings Gesicht strahlte. »Befehl, Herr Oberleutnant.«

Sie traten ein; Scholz ging zum Schreibtisch, warf einen Blick auf die aufgehäuften Briefe und Papiere. »Allerhand!« murmelte er. Er suchte herum, griff ein paar Bündel auf, reichte sie Hornemann. »Hier die Berichte aus Mitteldeutschland. Studier sie durch, sag mir später Bescheid.«

Er setzte sich hin, riß einen Brief auf nach dem andern, machte Notizen. Manchmal pfiff er, summte auch eine Melodie. Aber nur einmal hörte Paul ein leise geflüstertes Wort: »Geld – wir brauchen Geld!«

Er schellte dem Kompanieschreiber, diktierte, empfing dazwischen einen nach dem andern, seine Offiziere, ließ sich Bericht erstatten.

Hemmerling meldete: »Eine Dame wünscht Herrn Oberleutnant zu sprechen.«

»Soll warten«, rief er. Fragte dann doch: »Wie heißt sie?

Der Troßbub sagte: »Sie hat ihren Namen nicht genannt – hat wohl gedacht, daß ich ihn wisse. Sie hat mich gleich erkannt: es ist die Dame, die im Walde von Ujest –«

»Sie muß doch warten«, unterbrach ihn Scholz. »Sie soll spazierengehn – wiederkommen in einer halben Stunde.«

Aber es war drei Uhr vorbei, als er sie vorließ.

»Verzeih, Lili«, sagte er, »es ging nicht anders. Jetzt ist Pause – die Herrn sind zum Essen.«

»Hab mir's gedacht«, rief sie. »Es wird dir gut tun, Gerhard, wenn du zur Abwechslung auch mal Mittagessen bekommst.« Sie packte aus; Hemmerling kam, stellte ein paar Flaschen Bier auf den Tisch, gab ihr das Wechselgeld zurück. »Gläser habt ihr wohl nicht?« fragte sie.

Der Troßbub zog eins aus der Tasche. »Ich hab's nebenan auf dem Schrank gefunden«, erklärte er.

Lili nahm es, betrachtete es, gab's ihm zurück. »Es könnte nichts schaden, wenn Sie's erst auswaschen würden. Sie legte einen Stoß Papiere auf den Tisch, öffnete ihre Tasche, nahm den Scheck heraus, reichte ihn Gerhard. »Da nimm – das hab ich dir mitgebracht.«

Gerhard warf einen Blick darauf, griff einen Bleistift, begann eifrig zu rechnen. »Komm her, Paul«, rief er. »Ich hab hier aufgeschrieben, wohin alles zu gehn hat. Fahr du mit Lili zur Reichsbank – gleich halb vier – sie ist schon geschlossen – ihr müßt hinten herumgehn, über den Hof. Man wird euch die Dollarscheine auszahlen auf den Namen Styssen hin. Nehmt den Troßbub mit, noch einen Mann. Schreibt dort die nötigen Briefe – du unterschreibst in meinem Namen, Paul. Alles steht hier auf dem Zettel – für Berlin nehmt ihr Ordonnanzen – nach Spandau müßt ihr selber hin – alles andre Eilbrief, eingeschrieben, und gleich zur Post. – Halt, noch etwas: fahrt durch die Wilhelmstraße!«

»Was sollen wir denn dort?« fragte Hornemann, »vielleicht Herrn Ebert von dir grüßen?«

»Grüßen nicht«, sagte er, »aber grade bei ihm sollt ihr Ausschau halten: die Ehrenwache am Präsidentenschloß haben heut unsre Schwarzen.«

»Donnerwetter«, rief Paul, »das will was sagen! Wenn unsre Leute –«

Gerhard unterbrach ihn. »Eilt euch!«

»Befehl, Herr Oberleutnant!« machte Lili. »Und du wirst die Liebenswürdigkeit haben, inzwischen zu essen.«

»Befehl, Fräulein Finanzminister!« lachte er.

Aber als sie nach drei Stunden zurückkamen, stand alles unberührt. »Verzeih«, murmelte er, »ich hab's wirklich vergessen. Keine Minute Zeit –«

Sie schalt: jetzt sei das Bier schal und die Butterbröte abgestanden –

»Macht nichts, Kinder«, rief er. »Greift zu – habt ja wohl auch nichts gehabt.«

Er trank einen Schluck, biß in ein Schinkenbrot. »Ich muß noch etwas durchgeben –« Er lief aus der Tür, sein Butterbrot in der Hand.

»Schrecklicher Mensch!« sagte Lili.

»Prachtmensch!« sagte Hornemann.

Sie traten ans Fenster. Längst war das Haus leer, vereinzelt nur ging ein verspäteter Offizier durch den Garten, an der Wache vorbei, auf die stille Straße. Einer blieb stehn, sprach ein paar Worte mit ballspielenden Kindern. Dann rannte, eine dicke Aktenmappe unterm Arm, ein Leutnant durch, sprang draußen in einen kleinen Opelwagen, jagte davon. »Den hetzt Gerhard«, sagte Lili.

Endlich kam er. Ging zum Waschstand, wusch sich. »Fertig für heute!« erklärte er.

»Gottseidank«, sagte Lili, »wo wollen wir hin?«

Er antwortete: »Hierbleiben, wenn's euch recht ist. Ich möchte Bilanz machen, klar sehn, wie wir stehn. Abwägen – alle Einzelheiten –«

»Wenn du die Einzelheiten nicht kennst, wer sollte sie sonst wissen?« rief Paul.

»Vielleicht sehe ich sie so scharf, daß ich das Gesamtbild drüber verliere«, erwiderte er. »Was München anlangt, so habe ich mir im Dampfbad alles durch den Kopf gehn lassen; über Berlin, Spandau, Küstrin sprach ich heute mit meinen Herrn. Ich gab dir das Bündel Thüringen, Sachsen – wie sieht's aus, Paul? Über Rhein und Ruhr wißt ihr Bescheid – das wollen wir zuletzt durchgehn.«

Paul begann, erläuterte den Bericht, kam von einer Stadt zur andern. Dann besprachen sie die Lage im Westen. Scholz lauschte schweigend, fragte gelegentlich, wenn eine scheinbar gleichgiltige Einzelheit übersehn war.

Er stand auf, lief mit langen Schritten durchs Zimmer.

»Es wird dunkel«, sagte Hornemann, »knips das Licht an.«

»Laß«, gab Gerhard zurück, »der Mond steigt auf. Da überlegt sich's besser.«

Er setzte sich wieder an den Schreibtisch, griff ein Messer, klappte es auf und zu, spielte herum.

Nach einer Weile sagte er. »Sehn wir das Ganze an.«

Er redete vor sich hin, als ob er zu sich selbst spräche. Wandte sich doch ab und zu an die beiden, verlangte Einwürfe, Stichworte. Lili warf sie ihm zu, bisweilen auch Paul Hornemann. Klar und ruhig, nüchtern fast, malte er das Bild dieses Tages, Ende August 1923. Und nur zuweilen hob sich seine Stimme, schwebte ein heller Klang über den Mondstrahl hinaus, verlor sich im stillen Garten.

Nein, den Ruhrkampf sähe Paul zu schwarz. Richtig sei, daß alle Maßnahmen der Reichsregierung nur halb seien, lau nur und widerwillig ausgeführt würden. Dennoch sei es nicht sicher, daß Deutschland diesen Kampf verlieren müsse. Berlin freilich sei fertig mit seiner Kunst, aber Poincarés Künste hätten genau so abgewirtschaftet. Er suchte auf dem Tische, nahm einen Bogen auf. »Das ist die Abschrift eines Geheimberichts des Monsieur Brand – meine Schwester schickt sie – des obersten Leiters der französischen Eisenbahnregie. Er schreibt, daß er und seine Leute mit dem Mute der Verzweiflung kämpften – wenn es so weitergehe, müsse man das Ruhrunternehmen dranstecken. Vermutlich kennt die Wilhelmstraße dieses Schriftstück – für alle Fälle habe ich Abschrift zur Reichskanzlei gesandt. Brand ist sehr tüchtig, jeder einzelne seiner Leute von ihm persönlich ausgesucht. Die sind zäh, werfen nicht leicht die Flinte ins Korn – und dennoch sagt Brand, daß er fertig sei. Wenn unser Reichskanzler Cuno sich aufrafft und den Preußenbehörden, die seine Arbeit hintertreiben, einen Fußtritt gibt, so daß unsre Leute nur ein paar Wochen ungestört arbeiten, Brücken, Kanäle, Bahnkörper sprengen können – gründlicher als bisher – dann muß die französische Verkehrsverwaltung zusammenbrechen. Alle Förderung auf Achsen und Schleppkähnen hört damit auf: in ihren Rocktaschen können die Himmelblauen nicht gut die Kohle nachhause tragen. Die bis aufs Blut gequälte Bevölkerung würde mitmachen, sowie sie einen Rückhalt spürt – da mag General Degoutte Schamade blasen!«

Nur – in Paris herrsche ein fester Wille – bei uns schwatze man herum, hetze gegeneinander. Die Reichsregierung habe gewiß die besten Absichten, auch wohl Präsident Ebert. Aber diese Absichten würden auf Schritt und Tritt von den Herrn durchkreuzt, die in Preußen herrschen: Severing habe die Verantwortlichen genau so am Bändel wie vor drei Jahren beim Spartakusruhrkampfe den General Watter. Er arbeite für sein Ideal, und dies Ideal verkörpere sich in seiner Partei. Immer wieder betone er – und alle sozialistischen Führer mit ihm – daß sie vor allen Dingen Weltbürger seien. Sie glaubten immer noch an die große Völkerverbrüderung: so müsse jeder von seinem Volkstum was abgeben. Sie aber müßten mit gutem Beispiel vorangehn, müßten verzichten auf alles betont Deutsche – da würden die andern schon folgen. Das würden sie nie begreifen, daß man als schwacher und schlechter Deutscher auch nur ein zweitklassiger Europäer sein könne – und ein Weltbürger vierzehnter Klasse.

Preußen aber – Braun, Severing – arbeite klug und zielbewußt, das müsse man sagen, während die jämmerlich schwache Reichsregierung nicht einmal unter sich einig sei. Ohne einen Funken von Recht habe man die besten Männer verhaftet – ebenso grundlos wie sinnlos. Den Kapitän Ehrhardt hätten seine Freunde ja herausgeholt, Hauenburg habe man – nach Schlageters Hinrichtung – freigelassen, Roßbach aber sitze immer noch im Leipziger Gefängnis, während man ihn, Scholz und seine Leute zu gleicher Zeit ruhig arbeiten lasse – mitten in Berlin.

Er schwieg, stand auf, ging ans Fenster. »Alles kracht in den Fugen«, sagte er, »alles drängt zur Entscheidung. Die Länder stehn gegen das Reich – Preußen, Sachsen, Bayern, alle! Die sächsische Regierung ist bolschewistisch wie Moskau – nur gemildert durch die Bestechlichkeit der Führer. Man hat in Dresden die Massenbewaffnung der Arbeiterschaft befohlen; natürlich wird nun die Reichswehr an die Elbe rücken. Frankreich hat seine Fühler nach München und Hannover ausgestreckt – das sind die schmutzigen Pfoten des Doktor Dorten. Lest nur Eggelings Bericht durch, den er den Engländern herauslockte. Der Schuft Dorten war in Hannover bei dem Weifen von Dannenberg – hat freilich sich dort eine Absage geholt: wenn diese Preußenhasser auch von Berlin nichts wissen mögen, so wollen sie sich doch gewiß nicht von Paris nasführen lassen. Aber Monsieur Dard – der französische Gesandte, den Frankreich eigens nach München setzte – hat mit einer Handvoll Lumpen Verbindungen angeknüpft, die bedenklich sind. Die Separatisten am Rhein schlagen bestimmt los – da ist alles vorbereitet. Rheinbundpolitik – wie zu Napoleons Zeiten.

»Also noch einmal: das Reich, halb schwarz-weiß-rot, halb schwarz-rot-gold, tappt im Dunkeln, wie beim Blindekuhspiel ein verprügeltes Waisenkind. Preußen will rot, nicht nach Moskauer Art, sondern nach der unsrer Gewerkschaften, also mit einer schwarz-rot-goldenen Gösch. Sachsen will rot, rund und nett rot, ebenso Braunschweig, Hamburg und noch ein paar Ländchen. Was das von Paris bezahlte Gesindel am Rhein und in der Pfalz will, ist klar: ihren grün-weiß-roten Separatistenlappen, den es dann baldmöglichst gegen Frankreichs glorreiches Blau-weiß-rot vertauscht.

»Bleibt Bayern. Bayern hat genug von allem, was rot ist, die Räteregierung des neunzehner Jahres hat ihm gründlich den Geschmack verdorben. Die Vaterländischen befreiten die Stadt, so wurde München eine Freistatt für alles, was deutsch dachte. Ludendorff setzte sich dort fest, Escherich, Ehrhardt schufen und leiten von dort aus ihre Verbände, Hitler peitscht in immer neuen Volksversammlungen die Massen auf. Aber keiner von ihnen ist Bayer, keiner von ihnen ist gläubig im bayrisch-katholischen Sinne. Erinnerst du dich an die Herrn, die heutfrüh mit mir ankamen, Paul? Die zwei, Lossow und Seisser und ihr Freund, Herr von Kahr – das ist heute Bayern. Sie wollen Bayern blau-weiß – mit schwarz-weiß-roter Gösch. Da habt ihr die buntgelappte Landkarte dieses sogenannten Deutschen Reiches.«

»Und wer ist für uns?« fragte Lili. »Was können wir dem entgegenstellen?«

»Wir haben, mit Major Buchrucker an der Spitze, die Schwarze Reichswehr«, antwortete er, »zwanzigtausend Mann. Wir –«

»In sechs Wochen werden's dreißigtausend sein«, unterbrach Paul.

»Umso besser!« fuhr Gerhard fort. »Wir haben die Reitervereine in Ostpreußen und Pommern, haben die Abteilungen, die Ehrhardt zur Zeit in Thüringen aufstellt. Wir haben ›Oberland‹ unter Doktor Winter, haben die ›Reichsflagge‹ unter Hauptmann Röhm. Wir haben die Roßbacher, haben die Stoßtruppen Hitlers unter Göring. Wir haben unsre Leute im Westen, die Trupps Römers und Pfeffers, die Zeitfreiwilligenverbände des Generals von Kleinhenz, haben überall im Reiche die Technische Nothilfe und die Vaterländischen Verbände. Ich habe versucht, eine Zahl festzustellen; die Angaben schwanken. Auch ist ungewiß, wieviel Mann am entscheidenden Tage wegbleiben, wieviel neu zuströmen.«

»Also alles zusammen, außer den Schwarzen, etwa fünfzigtausend«, meinte Hornemann.

Gerhard zuckte die Achseln. »Vielleicht die Hälfte, vielleicht doppelt soviel. Nur: die Leute sind überall verzettelt, und die Bewaffnung läßt, mit Ausnahme weniger Einheiten, alles zu wünschen übrig. Gegen die Franzosen könnten wir nur einen lächerlichen Kleinkrieg führen. Wir sind Manns genug, bolschewistische Unruhn überall zu ersticken, aber die Regierung hat uns dazu nicht nötig – in wenigen Tagen wird die Reichswehr das Glimmfeuer in Sachsen austreten. Den rheinischen Verrätern gegenüber wird sie uns freie Hand lassen, da sie sich selber nicht einmischen kann – aber da können wir nur einzelne entschlossene Leute einsetzen.«

»Wozu also sind wir da?« rief Paul. »Ich denke –«

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Gerhard, »und was wir alle denken: wir wollen Deutschland wieder deutsch machen. Dann kommt alles andre von selbst.«

»Was willst du tun?« flüsterte Lili.

Langsam sagte er: »Wir können nichts tun ohne die Reichswehr – die Reichswehr aber ist Seeckt: haben wir ihn, so haben wir das Reich. Sonst –«

»Sonst?« drängte Lili.

»Sonst geht's, wie's bisher ging«, erwiderte er. »Sonst arbeiteten wir, hungerten und kämpften für die Katz. Das ist alles so einfach. Die Regierung – damals hieß sie Noske und Ebert – rief die Freikorps, ohne die sie nicht einen Tag länger hätte leben können. Verlangte Opfer über Opfer, setzte uns ein im Osten und an der Ruhr, in Schlesien, München, Berlin und allen deutschen Städten – sie jagte den Mohren fort, als er seine Schuldigkeit getan hatte. Jetzt ist's genau so: München läßt Ehrhardt arbeiten, Heiß und Röhm – Berlin Buchrucker und uns alle, sie werden uns zum Teufel jagen, wenn sie uns nicht mehr brauchen können. Dann aber wird's Lossow und Kahr grad so ergehn: nach einiger Zeit bekommen sie ihren Fußtritt genau wie wir. Endlich ist die große Sphinx selber dran: Seeckt wird seinen Tritt beziehn, wird in hohem Bogen hinausfliegen. Und Deutschland wird reif sein für Erfüllungspolitik, wird ein Fronstaat versklavter Fellachen sein, mitten in Europa. Den Bonzen kann das nur recht sein, die haben immer noch Gelegenheit, Taschen und Bäuche zu füllen und auf fetten Pöstchen der Verkalkung entgegenzuschlummern.«

Er schwieg, starrte in den Mondstrahl, der nun mitten auf den Schreibtisch fiel. Eine große Nachtmotte flatterte ungeschickt herum, setzte sich, flog wieder auf. Weit über die Straße her krächzte ein Grammophon.

Gerhard sagte: »Lossow begreift es. Eine Division hat er in München, eine von den sieben, die uns geblieben sind. Er könnte den Anstoß geben. Aber ich fürchte, er wagt's nicht:

folgen wird er gern, will doch nicht der erste sein, wartet auf den Wink von Berlin.«

»Was wagt er schon Großes!« rief Hornemann. »Seine Pension, wenn's schief geht – vielleicht ein paar Jahre Festung! Im schlimmsten Falle sein Leben. Wenn der Sturm heult, fallen Ziegel vom Dach, die treffen Gerechte und Ungerechte – wenn sie schon treffen.«

»Das ist's nicht, Paul«, sagte Scholz, »an persönlichem Mut fehlt's Lossow nicht und keinem. Wenn die Generäle und hohen Beamten, wenn Intelligenz und Adel und Bürgertum, wenn sie alle versagt haben in den Novembertagen und immer wieder seither, so war es doch nicht, weil sie feige sind. Aber das fehlt ihnen, was Bismarck Zivilcourage nannte – so scheuen sie alle Verantwortung.«

»Und der Herr der Reichswehr?« fragte Lili. »Seeckt?«

Gerhard sagte: »Er wartet, wartet. Ich habe alles versucht, ihn zu sprechen – er läßt mich nicht vor. Er kennt mich nicht, weiß nichts von mir, hat nie davon gehört, daß ich auf der Welt bin. Dennoch läßt er sich täglich Bericht erstatten über meine Arbeit und die aller andern, ist bis aufs kleinste unterrichtet. Er läßt uns arbeiten. Er wartet.«

»Worauf wartet er denn, zum Teufel?« rief Paul.

»Darauf vielleicht«, sagte Gerhard, »daß er eines Tages vor kalten Tatsachen steht. Daß er vor die harte Wahl gestellt wird: für oder wider, und ein Drittes gibt's nicht. Darauf wartet er. Auch er will gezwungen werden. Nichts singt in seiner Seele, nie wird er selber zum Angriff blasen. Er ist kein Mädchen von Orleans.«

»Nee«, brummte Paul, »verbrennen lassen will er sich nicht.«

Scholz sagte: »Er ist auch kein Lincoln. Der wollte den Bürgerkrieg. Nicht um der Nigger willen – das war ein bequemer Vorwand, wie der Durchmarsch durch Belgien den Engländern, der Unterseebootkrieg den Yankees willkommener Anlaß war, uns an die Gurgel zu fahren. Lincoln wußte, daß sein Land in zwei Teile zerfallen mußte und daß nur Blut es wieder zusammenschweißen könne. Er nahm die Verantwortung, einte das zerrissene Land, schuf erst wahrhaft das Volk, das heute das mächtigste der Erde ist.

»Seeckt ist kein Lincoln. Andre mögen die schwarz-weiß-roten Fahnen entrollen, die heute Aufruhr bedeuten. Aber wenn der Bürgerkrieg da ist, weiß er, was er zu tun hat: dann kann er der Retter werden!«

»Eine feine Rolle«, sagte Hornemann.

Gerhard hörte es nicht. »Nur auf den Zeitpunkt kommt es an«, flüsterte er, »nur auf den rechten Augenblick. Seeckt muß da stehn, unbelastet und frei, kein kleinstes Fleckchen auf seinem blanken Schild.«

Paul bewegte die Lippen, dachte: ›Münzen wird man ihm prägen. Hans von Seeckt, Salvator Patriae. Erzengel, wallender Mantel, flammendes Schwert – hurraluja!‹

»Die Verantwortung muß ein andrer nehmen«, sagte Gerhard.

Hornemann fuhr auf. »O gewiß, gewiß! Klappt es, hat er allen Ruhm – geht's schief, bist du der Hochverräter, du allein der räudige Hund!«

Gerhard sah ihn an. »Meinst du? Sei's drum.«

Der Mondstrahl badete sein Gesicht; sehr bleich sah er aus.

Lili griff seine Hand; er erwiderte nicht ihren Druck. Ihre Finger streichelten seine Haut, ruhten dann, fühlten aufmerksam – sehr schnell ging sein Puls. Sie fuhr ihm leicht übers Haar, über Wangen und Schläfen.

»Du fieberst«, flüsterte sie.

* * *

Nein, es war nichts Gefährliches. Nur ein Rückfall der Malaria, die er sich in Rußland geholt, in den Mückensümpfen zwischen den Flüssen Pripjet und Goryn. Ach, in wenig Tagen wäre er das los gewesen, aber sein Körper war – just hier! – überempfindlich: allergisch gegen Chinin hatten die Ärzte das genannt. So konnte er das Zeug nur in kleinsten Mengen schlucken, mußte ergeben abwarten, bis die Viecher in seinem Blut, diese verdammten Malariaamöben, Frieden zu schließen geruhten. Mit Schüttelfrost begann der tägliche Anfall; langsam stieg das Fieber, ruhig meist, selten nur von einem Taumel begleitet. Nach ein paar Stunden dann starker Schweißausbruch, Erschöpfung. Aber er schonte sich nicht, tat seine Arbeit wie sonst, rechnete die Stunden des Anfalls auf seine Freizeit. Zuerst sorgte Lili für ihn; aber er brauchte sie, sandte sie nach München, dann wieder zum Rhein – da gab sie Fritz Hemmerling Anleitung, schärfte ihm ein, was er zu tun habe, fuhr nicht ab, bis ihr Gerhard versprochen hatte, daß er ihn bei sich behalten wolle. So war der Troßbub ständig um ihn, unbemerkt oft, war immer in der Nähe bei Tag und Nacht.

»Schöner Dienst für einen Soldaten«, lachte Scholz. »Eigentlich müßte ich dich Kinderfräulein nennen.«

»Zu Befehl«, sagte Fritz Hemmerling. Aber es blieb doch bei dem ›Troßbub‹.

Hauptmann Stennes vom vierten Bataillon führte ihn, als er den Hahneberg bei Spandau besichtigte – der Stennes, den die Reichswehr erst nicht hereinlassen wollte. ›Wenn wir dem das Fort geben‹, kam der Bescheid, ›müssen wir's später mit schweren Minenwerfern zurückerobern.‹ O ja, der Generalstab kannte seine Brüder.

»Stimmung bei den Leuten?« fragte Scholz.

»Stimmung?« gab der Hauptmann zurück. »Wann geht's endlich los, fragen sie – und kein Wort sonst.«

Der wachhabende Unteroffizier trat heran, meldete. »Ein französischer Soldat steht am Tor, wünscht Herrn Oberleutnant zu sprechen.«

»Ein – was?« fragte er. »Ein französischer Soldat?«

»In voller Uniform«, sagte der Unteroffizier, »hier ist sein Militärausweis.«

Scholz nahm das Papier, las, reichte es dem Hauptmann. »Jean-Jacques Jockelé – de Saverne – da bin ich neugierig.«

»Führen Sie ihn her«, befahl Stennes, »er soll draußen warten. Untersuchen Sie ihn vorher auf Waffen.«

»Schon geschehn, Herr Hauptmann«, meldete der Unteroffizier. »Er hatte Seitengewehr umgeschnallt, außerdem zwei Revolver. Er wollte die Waffen erst nicht abgeben – er ist sehr frech, spricht aber gut Deutsch.«

»Das glaub ich«, rief Scholz, »daß er Deutsch spricht, wenn er aus Zabern stammt und Hansjakob Jockele heißt! – Was hältst du davon, Stennes?«

»Er ist sicher von der französischen Kommission«, meinte der Hauptmann, »vielleicht wollen sie zu verstehn geben, daß sie von unserm Dasein Bescheid wissen. Vielleicht aber will er nur schnüffeln –«

»Schnüffeln – in voller Uniform?« warf Gerhard ein.

Da lachte es draußen. »Kuck ens an, wie dä dotzige Pädsköttel jewachse is! Tuste hier auch Pädches besorje?«

Dann hörte man den Troßbuben: »Was meinen Sie?«

»Ob de widder Pädches besorjst?« kam es zurück. »Pädches, Pädches, Pferdchens!«

Die Tür öffnete sich. »Hier ist der Kerl«, meldete der Unteroffizier.

Schmitz IX nahm Haltung. »A wo sorder, mong lötenang!« grüßte er. Fügte noch ein »Salü!« hinzu.

»Bist du wahnsinnig geworden«, fuhr ihn Scholz an. »Willst du Fastnacht spielen im September und hier in Spandau?«

Aber Döres ließ sich nicht einschüchtern. »Ich soll bloß ene schöne Jruß bestelle von mein Stina un et war so weit – seit sechs Woche schon. Da möchten Se kommen und Jevatter stehn – et is ene Jong!«

»Führen Sie den Mann auf Nummer Sicher«, befahl Stennes. »Und lassen Sie gleich den Arzt kommen.«

»Warte Se noch, Herr Hauptmann«, sagte Döres, »dä Mann hat noch wat Schönes.« Er setzte sich auf den Fußboden, schnürte den linken Stiefel auf, zog ihn aus. »Feine Versteck«, meinte er, »ich hab dat emal in em Indianerbuch jelese!« Vorsichtig löste er die Sohle ab, nahm ein Papier heraus, reichte es Scholz. »Jruß von Ihre Fräulein Schwester.«

Gerhard las: »Sonntag dreißig Gründung R. R. Düsseldorf. Kommen zur Festfeier nötig.« Er schwenkte den Zettel in der Luft herum. »Weißt du, was das bedeutet, Stennes? Sonntag den 30. September rufen die Separatisten die Rheinische Republik aus – unter dem Schutze französischer Bajonette!«

»Traust du wirklich dem Kerl?« wandte Stennes ein. »Was soll denn die Maskerade?«

»Ob ich ihm traue?!« rief Gerhard. »Steh auf, Döres, erzähl dem Herrn Hauptmann, wie und warum du dir die schöne Uniform besorgt hast.«

Aber Döres blieb sitzen, zog in aller Gemütsruhe den Stiefel an. »Besorjt han ich mich jarnix, Herr Oberleutnant, diesmal zufällig nich. Det Janze is en Jedanke von mein Stina – die is jarnich so dumm, wie sie aussieht.«

Sehr gut habe sich alles getroffen. Fräulein Käte habe ihn kommen lassen, ihm den Auftrag gegeben, die Nachricht sofort nach Berlin zu bringen. Auf dem Wege nach Himmelgeist habe er sich überlegt, wie er das am besten anstellen könne – weil die Franzosen ihn doch schon zweimal eingesteckt hätten wegen der Smeetsgeschichte, nur hätte er sich jedesmal durchgelogen. Und dann: wie er es Stina beibringen solle. Aber zu seiner Überraschung habe die garnicht geschimpft. »Das' recht!« habe sie gesagt. »Dann kannste deine Oberleutnant jleich zur Kindtauf mitbringe!«

Am selben Vormittag aber habe der eine der beiden Elsässer, die er im Quartier hatte – der andre sei schon vor Monaten ausgerissen –, den Befehl erhalten, sich in Berlin zur Dienstleistung bei der Kommission zu melden. Na, da habe die Stina mit dem ein ernstes Wort gesprochen und alles abgemacht: der Schangschack Jockele sei die blaue Uniform auch schon lange leid gewesen. Gemeinsam seien sie zum Bahnhof gegangen, der Jockele als Wachsoldat und er als sein Gefangener – nicht einmal Fahrkarten hätten sie gebraucht; dafür aber habe man ihnen ein besondres Abteil angewiesen. Unterwegs habe ihm der Elsässer Unterricht erteilt, wie man grüßen müsse und wie die Anreden seien –

»Daher also dein feines Französisch?« fragte Gerhard.

»Dem Wackes seins war auch nich besser«, meinte Döres.

Hinter Vohwinckel, als sie aus dem Bereich der Regiebahn heraus waren, hätten sie sich im Örtchen eingesperrt: da sei aus dem Döres ein Schangschack und aus dem Schangschack ein Döres geworden. Er habe dem Elsässer Geld gegeben, auch seine Papiere – so sei der als Theodor Schmitz nach Basel gefahren, wo er Verwandte habe.

»Ich kann Ihne jarnich sage, wie dä sich jefreut hat, Herr Oberleutnant, als mer jlücklich in Elberfeld wäre«, erzählte Döres. »Abjebützt hat er mich zum Abschied mit sin dreckelije Schnüß!«

»Und kein Mensch hat Sie angehalten unterwegs und hier in Berlin?« fragte Hauptmann Stennes.

»Mich? Ich han de Leut anjehalte«, antwortete Schmitz IX, »die scheine sich hier sehr jeehrt zu fühle, wenn sone himmelblaue Parlewu sie anredt! Ein paar han jleich französch losjebabbelt – dene han ich jesagt, daß se ruhig deutsch rede könnte: soviel ich wüßt, läg Berlin noch in Deutschland. Ich bin schon seit jestern abend hier, hab Sie überall jesucht, Herr Oberleutnant, in Ihre Wohnung, in der Kurfürstenstraß' – bis se mich schließlich hier eraus jeschickt han. Un de janze Zeit über han ich mich jefreut, wat Se wohl für ä dumm Jesicht mache, wenn ich so ankäm – Se han mich nich enttäuscht!«

Scholz lachte, überlegte dann. »Nach Düsseldorf muß ich«, sagte er. »Vielleicht ist da auch Zeit für eure Taufe. Vor allem müssen wir dir jetzt einen Ausweis besorgen und einen Anzug – so kannst du hier nicht rumlaufen.«

»Zivilkluft kann er kriegen«, meinte der Hauptmann, »wir haben noch ein paar Anzüge auf der Kammer liegen, von den armen Kerls, die letzte Woche zum Teufel gingen, als der alte Mörser platzte.«

»Danke schön«, sagte Döres. »Ich möcht nur bitte, daß mich mein Franzosekleidasch aufbewahrt wird. Jetz kann ich se nich jut mitnehmen – aber später möcht ich se doch jern han. Das' ä fein Andenke für minge Jong.«

An der Tür blieb er stehn, zog eine Zeitung aus dem Ärmelaufschlag. »Ich möcht noch wat frage: wat sin Joldmark?«

»Goldmark?« sagte Scholz, »das sind gute Mark, wie wir sie früher hatten, nicht solch lausiges Papierzeug von heute.«

Schmitz IX kratzte sich am Kopf, reichte ihm dann die Zeitung. »Die han ich heut morjen jekauft – lesen Se, Herr Oberleutnant – da links, janz unten. Die Franzose han befohle, dat die deutsche Regierung dem Sauoos, dem Smeets, en Pangsion bezahle muß – einundzwanzigtausend Joldmark im Jahr! Für die leichte Beschädigung, die ich ihm letzte Fastnacht zujefüjt han.«

Er sah so unglücklich aus, daß Gerhard hell auflachte. »Nun machst du das dumme Gesicht, Döres.«

Döres nickte. »Dat jlaub ich jern. Da bin ich fies ereinjefalle: nu han ich dem Smeets en Pangsion verschafft!«

 


 << zurück weiter >>