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XIII

»Wer den Rausch nicht kennt, weiß auch nichts davon,
wie schal die Nüchternheit ist!«

Fr. Hebbel.

 

»Es muß ein jeglich Land seinen eignen Teufel haben;
unser deutscher Teufel muß »Sauf« heißen. Und wird
solch ewiger Durst Deutschlands Plage bleiben, hab
ich Sorge, bis an den jüngsten Tag.«

Martin Luther.

 

Düsseldorf, Berlin, Paris,
März – November 1927.

Fritz Hemmerling hatte in Düsseldorf haltgemacht, seinen Freund ten Brinken zu besuchen, der war nun Referendar. Nach England sollte der Troßbub, die letzten Semester in Edinburg zu studieren, Brückenbau. Hans ten Brinken hatte ihm Fahrt besorgt auf einem schmucken Schiff, den Rhein hinunter, über die Nordsee und die Themse hinauf nach London – Fritz kam es wie eine große Reise vor.

»Warum ein Holländer?« fragte er.

Der Referendar seufzte. »Es ist ein deutsches Schiff, führt nur niederländische Flagge. Ein Reeder nach dem andern hängt die an seine Masten – da spart er Steuern und Soziallasten, die den ganzen Verdienst auffressen. Als ich ein kleiner Junge war, vor dem Krieg noch, sah man fast nur deutsche Flaggen auf Rheinschiffen – heute kannst du lang darnach suchen, siehst belgische und holländische, französische und schweizerische Wimpel – alles mögliche noch.«

Sie saßen beim Nachtmahl, tranken Moselwein.

»Morgenmittag fährt der Kahn«, sagte Hans ten Brinken. »Dein Gepäck hab ich gleich vom Bahnhof hinschaffen lassen.«

»Vorher muß ich noch Gerhards Schwester begrüßen«, meinte Fritz.

»Nicht zu machen«, erwiderte sein Freund, »sie ist irgendwo im Sanatorium. Auch Lili soll es recht schlecht gehn – kein Wunder, daß die einen Knacks weghat!«

Sie sprachen von Gerhard; die Revision des zweiten Prozesses war zurückgewiesen, das Todesurteil bestätigt.

Aber dann hatte ihn die preußische Regierung begnadigt.

Begnadigt – zu lebenslänglichem Zuchthaus.

Eine andre Regierung sah die Sache mit andern Augen an – die kanadische. Sie hatte sich Bericht erstatten lassen, erklärte dann, daß bei Kramer von einem gemeinen Verbrechen keine Rede sein könne; es sei klar, daß es sich um ein politisches Vergehn handle, das keine Auslieferung bedinge. Sie verlangte Freilassung und Rückbeförderung: auf Reichskosten fuhr der Wachtmeister nach Kanada, ein freier Mann. Nichts las man davon in den Zeitungen, nach wie vor glaubten die Massen, daß der Metzgerhund, dies scheußliche Urbild aller Femehenker, genau so fest verwahrt im Zuchthaus sitze wie sein blutbefleckter Herr und Meister, der Mörder Scholz.

Brinken und der Troßbub wanderten durch die Märznacht. Kühl war es und neblig, es nieselte. Kneipen, Kaffeehäuser – hier hatte sie Gerhard einmal hinbestellt, dort hatten sie mit Paul Hornemann gehockt, zwei Stunden lang bei einem Schnaps für alle drei – zu mehr langte es nicht. In dieser Bar hatte Eggeling ihnen die ersten Cocktails vorgesetzt, in jener Schenke hatte Peter von Lannwitz die halbe Nacht ihnen vorgeschwärmt von Käte Scholz.

Wo der wohl stecken mochte, der Rittmeister? Keiner hatte ein Sterbenswörtchen von ihm gehört.

Sie brachen auf, gingen durch das vordere Zimmer, da rief eine Stimme ihnen nach: »Pädchesjong! – Studentche! – Pädchesjong!«

Döres Schmitz – er saß einsam in Hut und Mantel, eine große Blechdose stand vor ihm. »Das' fein, dat ich euch treff! Da wird mich vielleich besser – ich han so unglückliche Jedanke.« Er schrie nach dem Zapfer, bestellte Bier und Schnaps, bestand darauf, daß sie es gleich hinuntergossen. »Hier jefällt et mich nich mehr«, erklärte er, »mer wolle wo angers hin. Ich muß aufbleibe, ich han dä letzte Elektrische nach Himmeljeist verpaßt.«

Sie traten auf die Straße; es war kalt geworden, ein leichter Frost hatte den Nebel verjagt. An der nächsten Ecke blieb Döres stehn. »Jessesmarja«, rief er, »ich han jet verjesse«. Er lief zurück, taumelnd, schräg über die enge Gasse und wieder auf die andre Seite – er hatte augenscheinlich einen mächtigen sitzen.

Die beiden warteten; bald kam er wieder an, hielt etwas an die Brust gepreßt. Sie gingen ins ›Schiffchen‹; Döres zog die Blechdose unter dem Mantel heraus, stellte sie auf die Bank. »Zappes«, schrie er, »drei Bier und drei Schabau!«

»Na gut«, sagte Hans ten Brinken, »aber dann Schluß!«

»O nee, Studentche«, lachte Döres, »so jeht dat nich! Heut seid ihr minge Jäst! – Komm her, Zappes: dreimal Bohnezupp mit Schnüßches un Öhrches – das' en Delikatäß, dat jibt et nirjend so jut wie im ›Schiffche‹!«

Sie aßen und tranken. Döres wurde ein wenig nüchterner, dabei aber sehr gefühlsselig. »Also Referendar biste jetz, Studentche, un Doktor biste noch dazu?! Dä Pädchesjong wird auch noch emol ene Doktor und Inschenjör! Bloß ich sitz immer bei mein Stina!« Er seufzte, goß seinen Schnaps hinunter. »Wißt ihr noch, wie mer im Schato Verlobung jefeiert habe? Ich mag jarnich dran denke – acht Tag drauf hat dä Scholz schon im Kaschöttche jesesse. Un sitzt immer noch drin!« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Unsre Oberleutnant hantse zum Tod verurteilt, kapell, kapell dä Kopp ab! Dä Hindenburg hat em statt desse lebenslänglich Zuchthaus jejebe – das' noch schlimmer! Jrad dä Hindenburg, wo mer uns so für abjeplackt han – janz Himmeljeist hat em je wählt! Bei mich hat dä ausjespielt – ich sag euch, Jüngkes: damals hammer uns umsons besoffe! – Schabau, Zappes, un eil dich jet!«

Er war nicht zu halten, die beiden mußten schon mitmachen. »Da könne die Zeitunge schreibe, wat se wolle – wenn man ene Minsch kennt, wie ich dä Jerrard Scholz kenn, da macht mich keiner wat weiß! Wenn dä ene Fememörder is, dann simmer ja all Fememörder! In Essen, da hammer doch dä Halunk, dä Synder, kapottjemacht, dä Franzosespion, dä dat janze Werdener Zuchthaus mit anständije Leut bevölkert hat! Un in Köln han ich dem Smeets eins auf der Däz jejebe – et tut mich jetz noch leid, dat ich en nich besser jetroffe han. Dann könnt dä längs in de Höll dem Deuwel sein Jroßmutter dat Nachtpöttche mit sing Zahnbürst reinije. Nu aber kriejt er von die Rejierung en Pangsion und dä Scholz sitzt im Zuchthaus. Ich bejreif et nich mehr!« Er seufzte tief, trank sein Bier aus, rülpste vernehmlich. »Mer müsse auf andere Jedanke komme – lammer jonn, Jüngkes!«

Im ›Goldnen Ring‹ war's nicht viel anders. Düsseldorfer Bier, obergärig, wie Wasser trinkt sich das, aber wenn man auf jedes einen Wacholder drauf setzt, merkt's auch der tapferste Krieger. Zum drittenmal schon tranken sie Brüderschaft, ob sie gleich sich nie anders als mit du angeredet hatten. Zu diesem Zweck stellte Döres seinen Blechtopf mitten auf den Tisch, baute vorsichtig die Schnapsgläser darauf auf. »Das' ne feierliche Momang«, sagte er.

»Was hast du eigentlich drin?« fragte der Troßbub. »Spargel für deine Stina?«

Döres sah ihn entrüstet an. »Keine Pijetätsverletzung, Fritzche! Das' en Heilijtum – weißte denn nich, wat heut für ne Tag is?«

»Mittwoch«, entschied Hans ten Brinken.

»Jewiß«, nickte Döres, »aber wat für ne Mittwoch? Dat wißt ihr nich? Da sieht mehr, wohin et jekomme is mit dä heutije Jugend. Ich will et euch sage, Jüngkes. Wie ich heut morje noch so lecker im Bett lieg, reißt mich mein Stina die Deck weg. ›Aufstehn‹, sagt se, 'mer müsse in de Kirch jonn.' – ›Wat solle mer denn da?‹ frag ich. Da meint se, dat et Aschermittwoch war. Ich war janz bös: ›Wenn mer keine Karneval han, brauche mer uns auch kein Aschekreuzehe zu mache.‹ Aber se jab kein Ruh, mein Stina, ich mußt mit, mußt mich dat Aschekreuzehe auf de Stirn male. Un wie ich jrad noch dabei bin, is et mich schwer auf et Herz jefalle. Prost, Studentche, prost Pädchesjong – erunter mit dä Schabau!«

»Prost, Döres«, lachte der Referendar. »Da sind dir also all deine Sünden eingefallen?«

Döres nickte. »Nich jleich all – aber doch ein janz dicke!« Er nahm die Blechdose hoch, knallte sie auf den Tisch. »Die Sünd da nämlich! Dat is kein Sparjel – dat is dä alte Herr Scholz! Ihr wart ja dabei, wie er verbrannt wurd. Damals han ich vom Fräulein Käte dä Auftrag bekomme, ich möcht em abhole – die Asch nämlich, meint se. Ich fuhr also nach Krefeld, aber da war er noch nich fertig – dat jeht nich eso schnell! Dann wurd dä Friedhof verlejt – da hammer beschlosse, daß mer em so lang in Ruh lasse wollt. Et is jarnich zu sage, wie lang dat jedauert hat, bis se all die Dote aus dem alte Kirchhof in dä neue erüberjebracht han. Dat war vor em Jahr! Ich han dat Jrab fein mache lasse, mit Efeu un en Trauerweid un Immerjrünches, jrad, wie et dat Fräulein jewünscht hat. Dann fahr ich widder nach Krefeld – da war dat Kremalatorijum jeschlosse. Dreimal war ich da – dat wurd anjestriche un umjebaut un kein Minsch könnt mich dä alte Herr Scholz jebe. Dat Fräulein Käte war schon janz bös: wenn ich em jetz nich mitbrächt – dann wollt se en selber hole. Da is mich dat passiert.«

»Was denn?« fragte Fritz Hemmerling.

Döres seufzte. »Dat is mich mächtig in die Jlieder jefahre, dat unsre Oberleutnant im Kaschöttche sitzt – un seitdem pitsch ich mich jern eine! Wie ich also damals nach Krefeld fuhr, da hatt ich auch widder ene kleine sitze – aber die Leut im Kremalatorijum, die hatte kein Verständnis für mein Trauer. Jeweint han ich und jebrüllt, sie möchte mich doch nu endlich dä alte Herr Scholz verabfolje – erausjeschmisse hantse mich. Da bin ich janz bös jeworde un han jemeint, et war mich jetz janz ejal un se könnte mich emal – un dä alte Herr Scholz auch! Seht ihr, Jüngkes, dat war mein Sünd! Denn wenn mer dot is, denn kann mer eine emal – jarnich, besonders, wenn mer nur ä Häufche Asch is un in nem Blechpott wohnt. Drei Tag drauf aber war dem alte Herr seine Jeburtstag – da is dat Fräulein Käte zum Kirchhof jefahre un mein Stina auch un ich auch, allesamt hammer Kränz jehabt. Da hann ich dene beide vorjeloge, dat ich ihre Papa schon jeholt hätt un nu war er friedlich beisamme mit sein Frau. Ich han mich jedacht, wie die dat wohl mache, wenn se Wiedersehn feire in zwei Blechpött – aber jesagt han ich nix. Da hammer also de Kränz hinjelejt un dat Fräulein hat jeweint un mein Stina auch un ich han nachjedacht über de ewije Sälijkeit. Et war mich ä bißke fies zumut, weil dem Fräulein singe Papa noch immer in Krefeld in de Eck stand, un nu doch so jemütlich da lieje könnt un sich freue über die Kränz und die Tränches von die zwei Weiter. Aber ich han mich nix merke lasse.«

Er hob sein Glas. »Prost, Jüngkes, mer wird janz durstig davon! Dann han ich mich vorjenomme, dat ich en nu endlich doch hole wollt, aber bei dem Vornehme is nix erausjekomme: et kam mich immer wat dazwische. Meistens ene Schabau. Schließlich han ich dä alte Mann janz verjesse, bis dat ich mich heut mein Aschekreuzche jeholt han – da is mich auch dem sein Asch auf de Seel jefalle. Ich also nach Krefeld – da han ich em jlücklich jekriejt!«

Der Troßbub knipste mit den Nägeln an die Dose. »Warum bist du denn nicht gleich zum Friedhof gefahren und hast ihn eingraben lassen?«

Döres schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich könnt mich nich von em trenne! Ich han jroße Hochachtung vor em, weil se em doch für et Vaterland totjemacht habe: auf die Weis is dä alte Herr Scholz ene richtije Märtyrer jeworde. Un denn – et war doch janz neu für mich, ich bin noch nie mit enem dote Minsch eine pitsche jejangen. Da han ich em mitjenomme – er hat sich soweit janz ruhig betrage. Heutnachmittag aber – da is noch jet passiert. Wie mer durch die Bolkerstraße jehn, da wollte se dä Hoppeditz bejrabe.«

»Wen?« fragte Fritz. »Hoppeditz – wer ist denn das?«

Döres schob ihm sein Bier hin. »Trink, Jüngke, vielleicht wird dich dann besser. Dat nennt sich Bildung! Ich han dich doch jesagt, dat Fastnacht war? Da jibt et also ene Rosemontagszug un da sitzt dä Prinz Karneval auf singem Wage un fährt durch de janze Stadt – dat is ene lebendije Minsch! Am Aschermittwoch nun heißt dä Prinz Karneval auf einmal Hoppeditz un dann is et en Strohpupp un wird bejrabe – merk dich dat! Nu han die Behörde schon all die Zeit über dä Fastelovend verbote und dä Prinz Karneval auch – aber dä Hoppeditz hantse verjesse. Wie mer nu durch die Bolkerstraß komme, kömpt sone Zug an – die trage dä dote Hoppeditz. Einer hat sich als Pfäffche vermaskiert un ä paar läutete mit Jlöckches – da kömpt dä Polizei. Verbote hatse dä Zug – dat war en Verhöhnung von christliche Jebräuche. Auf einmal – wo mer doch dä Hoppeditz schon seit hundert Jahr so bejrabe. Wie soll mer dat denn sons mache? Wenn mer en bejrabe wollt, wie Türke oder Indijaner, da wüßt ja kein Minsch, dat dat en Bejräbnis war! Ich wollt dene Beamte schon jrad e Wörtche sage, da fiel mich ein, dat ich dä Blechpott bei mich hatt, mit dä Märtyrer drin. Da han ich mich still wejjeschliche – un mir zwei han weiterjesoffe. Et hat mich so leid jetan, dat dä Mann immer nur zukucke sollt – da han ich dä Deckel ä bißke aufjemacht un han ihm ene kleine Schabau zu trinke jejebe!«

Er erhob sich mühsam. »Lammer zum ›Ürijen Willem‹ jonn – da han ich emol mit minge Freund Jerrard jesesse un mit dem Lannwitz – mein Stina war auch dabei. Da hat se selbs jesehn, wat dat für Schentelmänner wäre – janz verliebt is se jewese.«

Ein rauher Wind schlug ihnen entgegen; kaum waren sie auf der Straße, als der Troßbub schon auf dem Pflaster saß. Brinken wollte ihm aufhelfen, mit dem Erfolg, daß er gleich neben ihm lag. »Au verdammt«, rief er, »Glatteis!«

Döres wollte sich schief lachen. »Nich emol jrad stehn könnter!« Das konnten sie alle drei nicht. Die scharfe Luft nach der warmen verräucherten Wirtsstube umnebelte im Augenblick ihre Sinne; immer wieder rutschte einer aus.

»Ratsch – meine Büx!« rief der Referendar, als er wieder mal auf den Steinen saß. Er kletterte mühsam hoch, hob seinen Mantel auf, streckte ihnen den Popo entgegen. Sie fanden das ungeheuer komisch: von oben bis unten war die Hose zerrissen.

»Laß dä Vorhang erunter«, riet Döres, »sons zieht et dich in de Kulisse.«

Ihm ging es am schlechtesten auf diesem kurzen Weg; er saß mehr, als er ging und stand. Aber immer streckte er den rechten Arm mit dem Blechtopf weit von sich. »Wenn ich auch janz voll blaue Fleck bin, dat is mich ejal. Wenn bloß dä Märtyrer jut durchkömp – das' Pijetät!«

Sie krochen an den Häusern entlang, nun waren sie in der Flingerstraße. »Da drüben is et!« zeigte Döres. »Noch ene letzte Däu!«

Aber diese Anstrengung war zu viel. Alle drei schlugen sie hin; dann gelang es Brinken, auf allen vieren hinüberzukriechen.

»So geht's!'« rief er vergnügt.

Döres schüttelte den Kopf. »Das' menschenunwürdig«, erklärte er, »ich bin doch keine Hunk! Aufrecht sinmer vom liebe Jott erschaffe.« Er stand auf, lag in der nächsten Sekunde wieder – der Blechtopf rollte übers Pflaster.

Fritzchen kroch nach, griff nach der Büchse. Aber der Deckel löste sich – über das Glatteis stob die Asche.

»Marjajosep«, schrie Döres, »dä alte Herr Scholz streut!« Und sicher, wie von Engeln geführt, ging er die letzten paar Schritte zum Gelobten Land, wie die Kinder Israel durchs Rote Meer.

Wie drei Helden zogen sie ein in den ›Ürijen Willem‹. »Tag, Zappes«, grüßte Döres. Drei Bier und drei Schabau, drei Soleier un dreimal Lewwerwusch mit Kartoffelsalat!«

Sie legten die Mäntel ab; es stellte sich heraus, daß nur noch der Troßbub einen Hut hatte. Wüst sahn sie aus; Döres nahm gleich Platz, die beiden andern gingen hinaus, bürsteten sich ab, so gut es gehn wollte. Als sie zurückkamen, sahen sie Döres eifrig beschäftigt, den Kartoffelsalat zu mischen; Essig und Öl, Pfeffer und Salz stand vor ihm.

»So«, grinste er, »jrad fertig – die Soleier auch. Lecker un pikant!«

Der Troßbub schob seinen Teller zurück. »Ich mag keine Leberwurst – und Kartoffelsalat auch nicht.«

»Du frißt, Jüngke«, bestimmte Döres. »Eh mer weitertrinke, müsse mer ers widder en sanfte Unterlag schaffe!«

Sie aßen, saßen dann stumm, schielten die Blechdose an. »Prost«, sagte Brinken. Und Döres antwortete: »Prost!«

»Ob noch was drin ist?« meinte der Troßbub, machte den Deckel auf, blickte hinein. »Ich hab ihn gesehn, wie er angeschwemmt da lag in Kaiserswerth – scheußlich sah er aus.« Eine dicke Träne löste sich aus seinem Auge, rollte über die Wange, fiel in den Aschenrest.

Brinken zog ihm den Topf weg, nahm mit den Fingerspitzen ein wenig Asche, betrachtete sie, seufzte laut.

»Wie riecht er?« fragte Döres.

»Garnicht«, stellte der Referendar fest.

Döres wurde neugierig, nahm auch Asche. Dabei kam ihm etwas in die Nase – er mußte niesen. Dreimal, viermal – es dröhnte durch den Raum. »Das' wie Schneeberjer«, lachte er, »beste Schnupftabak! – Da, Pädchesjong, willste auch e Prieske?«

Fritzchen wollte nicht. Aber Döres redete ihm gut zu. »Sei keine Feijling – nur her mit dat Näske: dat reinijt et Jehirn!«

Der Troßbub schnupfte, der Referendar schnupfte auch. Sie niesten laut, bogen sich über den Tisch.

»Wenn dat mein Stina wüßt«, grölte Döres, »die würd mich nie widder ene Kuß jebe. Aber mer sin Männer, Landsknecht simmer!«

Dann dämmerte es Brinken; er nahm den Deckel, schloß den Topf fest zu, starrte ihn an. »Da sitzen wir nun«, sagte er tiefsinnig.

Der Troßbub sagte garnichts. Zwei dicke Tränen standen in seinen Augen.

»Et beste is, dat mer et verjesse«, schlug Döres vor. Und er brüllte: »Zap–pes! Dreimal Schabau!«

Der Zapfer kam ins Zimmer und brachte die Schnäpse; aber gleich hinter ihm kam der Wirt.

»Feierabend!« gebot er.

»Feierabend?« schimpfte Döres. »Dat jibt et nich, um vier Uhr früh! Ihr dürft uns jarnich erausschmeiße; et is Jlatteis und wenn mer uns die Bein breche, müßt Ihr et bezahle.«

Aber der Wirt war ein kluger Mann und kannte Döres Schmitz. Er hatte ein Auto holen lassen.

Sie standen auf, ließen sich in die Mäntel helfen. Döres nahm die Blechdose, drängte sie Brinken auf. »Nimm du dat Pöttche, Studentche. Mich brennt dä Märtyrer in de Fingere.«

Sehr durcheinander lagen sie im Wagen: mit vieler Mühe stiegen sie die Treppe hinauf zu Brinkens Bude. Ein Bett im Schlafzimmer – im Wohnraum hatte die Wirtin das Sofa zurechtgemacht. Der Referendar sann nach, wo er Döres unterbringen könne.

Aber der überlegte nicht lange. Er riß die Tischdecke herunter, wickelte sich hinein, legte sich auf den Boden. »En Kissen kannste mich noch unter dä Kopp tun, Fritzke! So hammer immer in die Schatoschlösser jeschlafe!«

* * *

Sie ließen ihn schnarchen am andern Tag – Mittag vorbei und die Sonne lachte durchs Fenster. Erst als sie fertig waren, weckten sie ihn, rüttelten ihn kräftig, rollten ihn aus seiner Decke. »Aufstehn, Döres«, rief Brinken, »jetzt kommst du an die Reihe: dein Bad wartet.«

Döres rieb sich die Augen. »Wat? – Ich brauch kein Bad.«

Aber der Referendar wurde ungemütlich. »Du siehst aus wie ein Schwein – so kannst du nicht auf die Straße.«

Döres maulte. »Du redst jrad, als ob du ne Leutnant wärs un mich wat zu sage hätt's!« Aber er gehorchte doch, zog sich aus, stieg in die Badewanne.

Die Wirtin brachte das Frühstück. Döres nahm einen Schluck, schüttelte sich, setzte die Tasse gleich wieder hin. »Haste keine Mosel da, um dä Kaffee erunterzuspöle?!«

Der Referendar schüttelte den Kopf. Sie ließen das Frühstück stehn; garnicht wohl fühlten sie sich. Die Köpfe schmerzten und die Zungen klebten.

»Mein Schiff ist auch weg«, seufzte der Troßbub, »und mein Gepäck dazu! Schlag zwölf war die Abfahrt.«

»Das' noch jarnich jesagt«, tröstete Döres. »Schiffches han jetzt immer Verspätung. Mer könne ja mal kucke jehn.«

In der Tür wandte sich Brinken. »Vergiß deinen Blechtopf nicht.«

Aber Döres schüttelte den Kopf. »O nee, o nee – o nein! Trag du dä lieber.« Er blickte sich um. »Wo steht er denn?«

Der Referendar wies auf den Tisch; hübsch eingepackt war der Topf, gut verschnürt.

»Das' wat anders«, sagte Döres. »Das' jrad, wie mit mein Stina. Als die noch klein war, könnt se auch kein dote Ratz anfasse – bloß, wenn se in Zeitungspapier einjewickelt war!« Er nahm den Blechtopf, trug ihn die Treppe hinunter. Aber schon in der Haustür gab er ihn dem Referendar. »Trag du en doch lieber – tu mich dä Jefalle. Mich is, als ob dä Mann da drin wat jejen mich hätt.«

Völlig umgeschlagen war das Wetter, weich und warm schien die junge Märzsonne. Sie vermieden die Altstadt, die Stätte ihrer nächtlichen Heldentaten, machten schweigend einen Umweg durch den Hofgarten und an der Akademie vorbei. Noch lag der weiße Dampfer am Ufer.

»Eil dich, Jüngke«, rief Döres, »er feift jrad!«

Der Troßbub rannte über die Laufbrücke, die hinter ihm weggezogen wurde. Die Schrauben arbeiteten, langsam schwenkte das Schiff in den Rhein. Die beiden standen an der Kaimauer, winkten.

Das Schiff verschwand hinter der Rheinbrücke; Döres atmete mit vollen Zügen die frische Luft ein. »Jetz is et mich schon viel besser«, meinte er.

Sie gingen zu Fuß zum Friedhof, sprachen nicht viel. Draußen zog Döres einen Briefumschlag heraus, gab ihn seinem Freund. »Dat sin die Krefelder Papiere – da frage se nach. Links mußte ereinjehe, in die zweite Tür.« Der Referendar ging in das Verwaltungsgebäude; man prüfte die Papiere, gab ihm einen Totengräber mit.

»Wollen Sie vielleicht einen Kranz haben?« fragte der.

Döres nickte eifrig. »Jewiß dat! Zwei – drei sojar!« Er wandte sich zu Brinken, sagte leise: »Dat simmer em schuldig – eine Kranz von jedem von uns.«

Sie folgten dem Totengräber in die Gärtnerei, wählten Kränze. Geschickt schob der Mann auf dem Grabe den Efeu zur Seite, stach mit dem Spaten ein Loch, ließ sich die Büchse geben, wickelte sie aus, senkte sie ein, füllte die Erde wieder auf, strich die Efeuranken zurück. Brinken gab ihm ein Trinkgeld; er bedankte sich, entfernte sich schnell.

Sie lehnten zwei Kränze an die Marmortafel, einen an die Trauerweide. »Sie kriegt schon Kätzchen«, sagte Döres.

Sie standen da, starrten stumm auf den grünen Efeu. »Eijentlich sollte mer bete«, sagte Döres. Er besann sich, es fiel ihm nichts Passendes ein. Er blickte auf seinen Freund – aber der sagte auch nichts.

Döres senkte den Kopf. »Wat mer jestern jedonn han –« Er zögerte, schüttelte den Kopf, begann dann in seinem besten Hochdeutsch: »Was wir gestern getan haben – lieber Herr Scholz, bitte nehmen Sie uns dieses nicht übel. Wir waren schwer voll – dat kömpt vor. Wir wollen es auch ganz gewiß nicht wieder tun –« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Jessesmarjajosep – sag doch auch wat, Studentche!«

Brinkens Mundwinkel zuckten. »Ich verspreche, zur Buße ein halbes Jahr lang kein Bier und keinen Schnaps mehr zu trinken«, sprach er feierlich.

»Ich auch, ich auch!« rief Döres. »En janz Jahr sojar! So lang sojar, bis dä Oberleutnant widder frei is. Keine Droppe Bier un keine Schabau!« Er blickte auf das Grab, als ob er von dort eine Antwort erwarte. Dann nahm er den Arm seines Freundes. »Lammer jonn.«

Sie gingen langsam zwischen den Gräbern. Döres fragte leise: »Jilt dat für alle Sorte?«

Der Referendar nickte. »Natürlich! Willst du den armen Toten betrügen?«

Döres seufzte. »O nee – ich halt mein Wort. Aber du has mich ereinjelegt, Jüngke! Du has schon vorhin erklärt, als mer dem Schiffche nachjekuckt han, dat du jenug Bier hätt's für lange Zeit. Nu jehst de hin un trinks Mosel und Rotwein un so wat! Aber mein Stina jibt mich nur Sonntags en halb Fläschke. Un nu soll ich für all die Zeit –«

»Du hast es dem Toten versprochen!« mahnte Brinken.

»Ich weiß dat«, sagte Döres. »Du brauchs mich dat nich immer zu widderhole! Ich halt et ja auch! – Mein Stina wird denke, ihre arme Mann wör verrückt jeworde!«

* * *

Frühjahr und Sommer und wieder ein Herbst – da war nicht viel Abwechslung für Gerhard Scholz. Immer noch saß er in Berlin – von Moabit hatte ihn der grüne Gefängniswagen nach Plötzensee gebracht. Kameraden waren dort, wie er in Femeprozessen zum Tode verurteilt. Man hatte sie in die Mörderzellen gesteckt, da pflegten die zu sitzen, die ihre Hinrichtung erwarteten. Rechts von ihm, links von ihm saßen die andern; aber er sah nie einen; einzeln wurden sie auf den Hof geführt in der halben Freistunde. Ein kleiner Platz: in der Mitte eine Steinplatte – da stellte man den Richtblock auf, da trennte mit scharfem Beil der Scharfrichter seinen Kunden den Rumpf vom Hals. Ein paar schwarze Flecke auf dem Stein – Blutspuren? Täglich liefen sie da herum.

Draußen war Berlin – viele Menschen auf allen Gassen; Hochbahnen, Tiefbahnen, Autobusse. Das rannte herum, zur Arbeit und wieder zurück, lief zum Radrennen, zum Fußball, zum Freibad Wannsee.

Gerhard lief um den Stein. Seine Zelle war berühmt im Gefängnis: eine stattliche Anzahl von Mördern hatte darin gewohnt vor ihrer Hinrichtung; kurz vor ihm der Lustmörder Böttcher, der war der letzte, dessen Kopf vom Richtblock in den Sack sprang.

Tagsüber saß vor seiner Zelle ein Beamter, der hatte die Pflicht, ihn durch das Guckloch in der Tür zu beobachten. Nachts nahm man ihm alles weg, was es nur gab in der Zelle – auf der Matratze lag er im Anstaltshemd. Aber er schlief nicht viel; man brachte ein schweres Vorhängeschloß vor der Tür an; wer nur vorbeikam, schlug kräftig daran – man mußte doch prüfen, ob es noch heil war.

Draußen war Berlin – viele Menschen auf allen Gassen, auch in der Nacht. Das lief in Theater und Kinos, lief zum Sportpalast und zum Lunapark. Das saß in Kneipen und Dielen, das trank und sang und liebte.

Eine Zeitlang war er krank. Nierenblutung, sehr schmerzhaft – man brachte ihn ins Anstaltslazarett, flickte ihn zurecht, schlecht und recht. Dann wieder zurück in die Zelle.

Verhöre – er antwortete nicht mehr. Besprechungen mit seinen Anwälten: im Oktober würde es wieder losgehn. Die neue Verhandlung des ersten Prozesses, dessen Freispruch das Reichsgericht aufgehoben hatte – frische Beweismittel brachte die Staatsanwaltschaft. Da war ein Zeuge, der behauptete, er habe seine Stimme am Fernsprecher erkannt, als einer der andern ihn gefragt habe –

Gerhard schüttelte den Kopf, als ihm sein Anwalt das mitteilte. Nein, diesen Zeugen kenne er nicht, sowenig wie den Leutnant, dem er den Mordbefehl durchs Telefon gegeben haben solle. »Wann war es denn?« fragte er.

»Dreiundzwanzig«, erwiderte der Anwalt, »am achtundzwanzigsten September.«

»Da saß ich im Auto, war auf dem Wege nach Düsseldorf«, sagte Gerhard. »Ich weiß es genau, weil zwei Tage drauf dort der Blutsonntag war.«

Der Anwalt nahm seinen Bleistift. »Kann das jemand bestätigen?«

Gerhard nickte. »Mein Fahrer, Fritz Hemmerling.«

Der Anwalt schrieb den Namen auf. »Es wird nicht viel nützen«, seufzte er, »der Zeuge des Staatsanwalts wird sagen, daß er sich geirrt habe: ein Tag früher sei es gewesen.«

»Lassen Sie ihn doch«, sagte Gerhard müde. »Wenn's nicht um die andern wäre, möchte ich am liebsten alles zugeben, was der Staatsanwalt will. Nur endlich einmal Schluß!«

Der Anwalt redete ihm zu: er dürfe den Kopf nicht hängen lassen. Er müsse durchhalten; ganz sicher würde einmal ein Gnadenerlaß kommen –

Gerhard lächelte still. »O ja, einmal mag er schon kommen. Wenn wir so weit sind, daß sie uns in Idiotenanstalten sperren können! Dann werden sie triefen vor Mitleid – wenn sie sagen können: arme Irre sind es und waren's von jeher. Vaterlandsglaube – Hakenkreuz – Fememord: alles nur Stufen fortschreitenden Irrsinns! So werden sie sagen. O ja, Doktor, Sie haben recht, wir haben immer noch Aussichten: in Käfigen ausgestellt zu werden, als warnendes Beispiel für alle die, die ein gutes Parteibüchel haben, rot oder schwarz.«

Der Anwalt versuchte ein Lachen. »Solange Sie noch Witze machen können –«

Gerhard streckte ihm die Hand hin: »Ist das ein Wunder bei so ruhigem, gesichertem Leben?«

Der Schließer kam, traf die Vorbereitungen für die Nacht, nahm alles heraus. Er saß auf seiner Matratze, schaute sich um in der Zelle. Drei Meter lang, zweieinhalb Meter breit, drei Meter hoch – nur, die Höhe nützt einem nichts. Er rechnete: zweiundzwanzigeinhalb Kubikmeter – wie großartig das klang! Eine Matratze und ein Mensch darauf im Anstaltshemd. Nichts sonst. Er würde daliegen, würde einschlafen – dann würde jemand an das Vorhängeschloß schlagen. Noch einmal – wieder – schließlich würde er nicht mehr schlafen. Siebzehnmal hatte er gezählt in der letzten Nacht. Aber vielleicht schrie das Schloß heute nur zwölfmal und vielleicht auch zwanzigmal. Das war verschieden.

Draußen war Berlin –

* * *

Jeden Tag saß Lili im Luxembourggarten in den Mittagsstunden. Letzte Oktobertage in Paris – so warm schien noch die Sonne. Junge Mütter ringsum. Gouvernanten, Kindermädchen, Ammen. Und viele Kinder – die liefen herum, spielten im Sand, ließen Schifflein fahren im Wasserbecken. Schliefen in ihren Wagen, saugten kräftig an strotzenden Brüsten. Hier mochte man glauben, daß Paris sich vermehre, ungezählte Kinder zur Welt bringe, frohe, gesunde Kinder.

Auf der Bank neben ihr saß eine Frau. Jung, schlank, sehr gepflegt das zarte Gesicht. Wenig Kinn nur, ein bißchen stupsig die Nase – aber große dunkle Augen, tief und träumerisch. Scheu doch, ein wenig ängstlich. Immer saß sie da, jeden Mittag, blickte auf ihren Kinderwagen. Stand zuweilen auf, rückte am Verdeck den Vorhang zurecht mit unendlicher Zärtlichkeit. Ihr Kleines schlief – und vielleicht könnte die Sonne es stören.

Lili sah hinüber – aber die junge Frau mochte das nicht. Stand auf, fuhr ihren Wagen herum. Keinen kannte sie, mit keinem sprach sie, war nur allein mit ihrem Kindchen.

Lili dachte: sie hat nichts in der Welt, hat ihr Kindchen nur, das hat all ihre Liebe. Niemand soll es ihr nehmen, niemand es anrühren. Nicht einmal anschaun soll es ein Fremder.

Wie alt mochte es wohl sein? Zwei Jahre schon? Dann würde es so alt sein wie ihr eigen Kindchen, wenn –

Sie hatte einen Liebsten, hatte Gerhard. In Berlin war der, saß im Gefängnis in Plötzensee – wie er jetzt wohl aussah? Manchmal war ihr, als ob sie sein Gesicht vergessen habe – wie eine Beklemmung war das.

Die junge Frau da – vielleicht war der tot, den sie liebte. Aber sie hatte ihr Kindchen. Hatte von ihm ein Geschenk – hatte ein Süßes, Warmes, das sie tragen konnte in beiden Armen, etwas, das sie streicheln durfte und küssen.

Ihr Kindchen war tot, sehr fern war ihr Geliebter. Eingeschlossen war er, irgendwo – tief im Bauch der Erde oder auf dem Aldebaran, gleichviel. Und sie war in Paris.

Oft dachte sie, warum sie jetzt wohl hier sei.

Sie war damals zurückgekommen nach Berlin mit leeren Händen – von München und Rom, von Budapest und Innsbruck. Freundlich hatte man sie empfangen in Ungarn wie in Tirol, hatte lange überlegt. Hatte sie schließlich weggeschickt mit derselben Antwort, die sie in Rom bekam: man dürfe nicht eingreifen. Zu gefährlich sei es, sie müsse das einsehn –

Gewiß sah sie es ein, alles. Sie lief auf und nieder vor dem Gefängnis, stundenlang. Drinnen saß er –

Sie beriet mit den Anwälten. Hatte immer neue Besprechungen mit Ellen und Paul Hornemann. Sie zwang sich, in die Kliniken zu laufen, immer widerlicher wurde ihr die Medizin. Aber das Singen erholte sie; sehr groß und schön wurde ihre Stimme in diesem Jahr.

Und sie dachte: alles will ich ihm singen, wenn er zurückkommt, alles, was seine Mutter sang.

Einmal war ein Kapellmeister bei ihrer Gesangsmeisterin. Die sagte: »Nimm dich zusammen heute – das ist der große Mann von der Staatsoper.«

Der Herr Generalmusikdirektor hörte sie – ein paar Arien: Agathe, Elsa. Er bot ihr einen Vertrag für den Herbst. Sie lehnte ab: nur Lieder wolle sie singen. Er drang in sie: ein Verbrechen sei es, sie müsse zur Oper mit der Stimme –

Sie schüttelte den Kopf.

Schubert sang sie und Schumann, Brahms, Hugo Wolf.

Was seine Mutter sang, das lernte sie. Nur für ihn sang sie.

– Nun war sie in Paris, und sie sang nicht mehr. Wußte gut: nie würde sie für ihn singen.

Damals in der Nacht – ein Jahr war das her, fast ein Jahr schon? – in der Nacht, als sie ihn zum Tode verurteilten, in jener Nacht –

Unbeweglich hatte sie gesessen in diesem Augenblick, regungslos. Hatte hinübergesehn zu ihm, zu Gerhard –

Da stand er in seiner Bank, hochaufgerichtet, sehr bleich, nur ein Zucken um die Lippen. Er preßte sein Taschentuch an den Mund – rote Flecken sah sie. Sie wußte: Skorbut – sein Zahnfleisch blutete. Und der Wachtmeister neben ihm, vornübergebeugt, grauenhaft, wie ein gewaltiger Waldmensch, der auf den Feind stürzen will –

Alle drängten sich vor, standen bei ihnen – Eggeling, Hinrichsen und der Troßbub. Schwester Pia, Ellen, Käte – die hielt seine Hand.

Nur sie nicht. Sie saß auf ihrem Stuhl, festgebannt, konnte nicht hoch. Sie schrie nicht, weinte nicht, starrte ihn an.

Dann kamen die Polizeibeamten, führten die Verurteilten ab. Paul umarmte ihn, küßte ihn, küßte auch den Wachtmeister. Riß sich los – Ellen half ihm, aus der Bank zu klettern.

Sie nahmen sie mit zum Hotel, legten sie zu Bett. Schwester Pia reichte ihr ein Glas, und sie trank. Sie saßen bei ihr, hielten ihre Hände, bis sie einschlief. Sehr lange schlief sie.

In der Nacht war es –

Aber sie wußte es nicht am andern Tage. Merkte es nach Wochen erst, zufällig.

Bei Ellen saß sie mit Schwester Pia. Und die beiden bedrängten sie, sie müsse ihre Arbeit wieder aufnehmen. Medizin, Gesang –

Sie ging zum Flügel. Sang, drei, vier Takte nur. Heiser klang ihre Stimme.

Das war merkwürdig: klar war die Stimme, wenn sie sprach. Doch lag ein Schatten darüber, wie tiefer Nebel, wenn sie singen wollte.

Zu einem Professor nahm sie Schwester Pia, der untersuchte sie mit dem Kehlkopfspiegel. Lähmung des Internusmuskels, erklärte er, sogenannte Schrecklähmung.

Man könne elektrisieren; das sei langweilig und nütze auch nicht viel. Das beste sei, ruhig abzuwarten – möglicherweise würde es von selbst besser, vielleicht auch nicht.

Dann plötzlich, im Sommer, hatte sie erklärt, daß sie nach Paris wolle. Malen wolle sie.

Sie wisse nicht, warum. Aber sie müsse dahin, nach Paris.

Die drei berieten lange, Ellen, Paul, Schwester Pia. Sie kamen überein, sie gewähren zu lassen. Vielleicht würde das ihr Befriedigung geben. Möglich auch, daß eines Tages ihre Stimme wieder da war. Und auf alle Fälle war sie weg aus dieser trostlosen Arbeit, diesem jämmerlich kleinen Kampf um Gerhard. Immer neue Versuche der Anwälte, hoffnungslose Rechtsmittel, immer neue Absagen und Rückschläge –

So ließ man sie ziehn; so war sie in Paris.

Sie arbeitete, lief in ihre Malschule, o gewiß. Sie hörte das Lob des Meisters; viel Begabung, sie würde ihren Weg schon machen! Und gescheit sei sie auch: welch ein Name: La Belle Inconnue Mlle. Ignota! Verkappte Prinzessin aus Mondland – auf den Bluff würden alle Kritiker hupfen!

Sie lächelte kaum. Begabung? O ja – und dann würde eines Tages von Notre Dame ihr ein Dachziegel auf den Arm fallen. Und die Hand würde verkrüppeln. Mit dem Malen, das würde gehn wie mit dem Singen, wie mit –

Oh, wie mit allem!

Sie zeichnete viel – Erinnerungsskizzen. Zeichnete den langen Dr. Hinrichsen im Ärztekittel, zeichnete Pia in ihrer Schwesterntracht. Paul und Ellen, Herbert Eggeling, den Troßbuben und den Hund von Baskerville –

Auch Gerhard zeichnete sie, immer wieder. Wußte doch manchmal kaum, wie er aussah. Dann mußte sie ein Foto nehmen: ja, das war er, ganz recht!

Und die Kinder zeichnete sie im Luxembourggarten. Spielende, schreiende, schlafende, saugende. Bonnen auch, Ammen, Kinderfrauen. Die junge Mutter mit dem Stupsnäschen und den scheuen, traurigen Traumaugen, die jeden Tag da saß in der Sonne, auf der Bank neben ihr.

Nicht das Kindchen. Das lag im Wagen und schlief. Sorgsam verdeckt von dem kleinen Spitzenvorhang.

Aber sie wußte gut: nicht darum war sie in Paris. Nur um seinetwillen war sie da, nur um Gerhards willen. Hier, nur hier würde sie ihm helfen können.

Paris – das war nicht wie in München und Rom, wie sonst irgendwo in der Welt. Paris, das war Frankreich, das war heute das reichste und mächtigste Land auf dem Erdenrund. Hier kannte man keine Rücksichten und keine Bedenken. Hier mischte man jeden Tag sich in fremde Dinge, überall in Europa und besonders in Deutschland. Noch wehte die Trikolore am Rhein – scharf war das Schwert und trocken das Pulver: hier griff man ein, wenn man wollte.

Und darum: hier konnte man ihr helfen. In Paris, nur hier. Wenn – wenn man wollte.

Niemanden kannte sie. Wußte nur ein paar Namen: Briand, Doumergue, Poincaré. Und der alte Mann, der klügste von allen, den sie den ›Tiger‹ nannten, Clémenceau. Der vielleicht?

Sie hatte keinen Plan. Wußte nicht wie und nicht was. Aber einmal würde es ihr einfallen. Nachts, wenn sie im Bett lag, nicht einschlafen konnte, immer an ihn dachte, immer.

In der Sonne saß sie im Luxembourggarten, träumte. Schlug ein Blatt um in ihrem Zeichenblock, zeichnete die junge Mutter. Nun saß sie wieder nebenan auf der Bank, zog den Wagen leicht zu sich, lugte zärtlich unter das Verdeck auf ihr schlafendes Kindchen.

Wie das wohl aussehn mochte? Ob es ein Knabe war oder ein Mädel? Blond – oder dunkel?

Lili zog ein Telegramm heraus, das sie heut früh erhalten hatte: ›Gerhard freigesprochen. Pia.‹ Zwanzigmal schon hatte sie es gelesen. Klammerte sich an dies Wort: ›Freigesprochen‹. Dies Wort, das doch so weh tat, das wie ein blutiger Hohn klang – freigesprochen in diesem andern Prozeß – er, Gerhard Scholz, der doch rechtskräftig zum Tode verurteilt, durch große Gnade nur zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt war, eng geschlossen in seiner Zelle saß.

Sie hatte zur Verhandlung hinfahren wollen, hatte schon die Koffer gepackt, ihren Fahrschein gelöst. Und dann, plötzlich, hatte sie Angst. Reiste nicht, drahtete der Freundin: ›Ich darf nicht kommen. Ich fürchte, daß ich ihm Unglück bringe. Küß du seine Hände für mich.‹

Das war es! Das erste Mal: da geschah das mit dem Kindchen – doch wurde er freigesprochen, als sie nicht mehr da war. Im zweiten Prozeß aber war sie dabei von Anfang zu Ende – und er wurde zum Tode verurteilt. Diesmal – würde er ein zweites Mal verurteilt, so würden sie ihn nicht mehr begnadigen, würden ihm den Kopf herunterschlagen, das war ganz gewiß. So hatte sie Angst. Sie wußte, daß es Aberglaube war, dummer, lächerlicher Aberglaube – was nutzte das? Angst hatte sie, Angst!

Nun waren die Prozesse zu Ende. Nun würde man ihn ins Zuchthaus schaffen – wohin wohl? Aber sie würde Zeit haben, würde für ihn arbeiten können, hier in Paris –

Sie wußte nicht was, wußte nicht wie. Aber einmal würde sie es wissen. Und vielleicht, vielleicht fiel's ihr heute schon ein.

Sie küßte das Telegramm. Küßte den Namen ›Gerhard‹, küßte das Wort ›Freigesprochen‹. Auch ›Pia‹ küßte sie – Schwester Pia, gute, tapfere, starke Freundin.

Sie zeichnete ihn auf die Rückseite – nun wußte sie gut, wie er aussah. Wie seine Unterlippe höhnisch zuckte, wie sein Auge lachte, als er das Wort hörte: ›Freigesprochen‹.

Immer noch saß dort die junge Frau. Nun beugte sie sich über ihren Wagen, zog den Vorhang zurück. Streifte den Handschuh ab; leise strich ihre Hand die Decke hinauf unter das Verdeck – jetzt streichelte sie ihr süßes Kindchen.

Lili blickte umher – alle hatten sie Kinder, alle. Wenn Gerhard zurückkam, wenn sie ihn wiederhatte, endlich, endlich einmal – dann würde auch sie bald ein Kindchen haben.

Sie klappte den Zeichenblock zusammen, stand auf. Ein rascher Wunsch – sie wollte das Kind sehn, das der Nachbarin gehörte. Etwas verband sie mit der – dieser stillen, scheuen Frau. Wie seltsam die nur blickte, wirr und furchtsam.

Sie ging nach rechts, an den Bäumen vorbei. Kehrte wieder um, kam langsam zurück, hinter den Bänken. Leise ging sie, wie auf Schleichsohlen – nun stand sie hinter der Bank, wo die junge Mutter saß. Sie beugte sich vor, schaute über ihre Schultern, sah das lichtblaue Daunendeckchen, sah den Spitzenvorhang, der nun offen stand. Sah ein kleines Kopfkissen, sah eine schmale, weiße Hand darauf –

Aber das Kindchen sah sie nicht. Leer war der Wagen.

Sie fuhr zurück – schreien wollte sie. Aber sie biß sich auf die Zunge, schlich davon. Sie blieb stehn hinter einem Baum, wandte sich noch einmal. Sah, wie sich die Lippen der Mutter bewegten, wie sie sprach mit ihrem süßen Kindchen, wie ihre Finger es liebkosten –

Ihr Kindchen – das doch nicht da war.

Ihr Kindchen – das längst nun tot war. Das in kleinem Sarg lag, tief in feuchter Erde.

Ihr Kindchen, das vielleicht – nie, nie auf der Welt war.

Aber sie koste es, streichelte es, küßte es. Diese arme, irre Frau – diese zarte junge Frau mit den Traumaugen.

Lili senkte den Blick. Etwas fror in ihr, ballte sich, ward ein harter Stein. Zuckte doch, blutete doch – armes Herz –

 


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