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XIV

»Wohin, wohinaus, du schöne Magd?
Was machst du hier allein?
Willst du die Nacht mein Schlafbuhle sein,
So reit ich mit dir heim.«
»»Mit euch heimreiten, das tu ich nicht,
So groß ist doch mein Wehe,
Ich bitt euch um den Gefangenen mein,
Den will ich haben zur Ehe.««
»Den Gefangenen, und den geb ich dir nicht,
Im Turm muß er verfaulen,
Zu Falkenstein steht ein tiefer Turm
Wohl zwischen zwei hohen Mauern.«

Volkslied, XVI. Jahrhundert.

 

Münster i. W. 1928.

Vier Besuche erhielt Gerhard in diesem Jahr im Zuchthaus zu Münster: zwei von seinem Anwalt, dann von Schwester Pia, endlich von Käte. Nicht von Lili; Lili war –

Im Sommer kam Schwester Pia, kam von Paris; sie durfte mit ihm eine halbe Stunde lang sprechen im Besuchszimmer. Ein starkes Gitter war zwischen ihnen; ein Beamter saß dabei.

Sie erzählte ihm alles, was sie wußte von Lili, klar und einfach; da war kein unnützes Wort.

Sehr merkwürdig seien ihre Briefe gewesen in den letzten Monaten – ob er von ihr in dieser Zeit gehört habe?

Zweimal nur in diesem Jahre, gab er zurück, einmal im Winter, dann vor etwa drei Wochen. Sie habe wohl öfter geschrieben, aber man habe ihm die Briefe nicht gegeben; auch von diesen beiden habe er nur Abschriften bekommen, die Briefe selber habe man zu den Akten genommen – wer weiß warum! Das letzte Schreiben sei ganz kurz gewesen: sie glaube nun ihren Weg zu sehn – Gott würde sie leiten.

Schwester Pia schüttelte den Kopf. Solch wirre Andeutungen habe sie auch in ihren Briefen an sie gemacht, habe verlangt, man solle beten, daß ihr Vorhaben gelingen möge – was immer das gewesen sei. Weder sie noch Ellen noch Paul Hornemann seien klug daraus geworden; hätten sich nur zusammenreimen können, daß sie beabsichtige, für ihn, Gerhard, etwas zu unternehmen. Auf Fragen hätte sie nicht geantwortet – so seien sie schließlich sehr beunruhigt gewesen, hätten beschlossen, daß sie, Pia, nach Paris fahren solle.

Sie sei sofort in die kleine Pension gegangen, wo Lili wohnte – dort habe man ihr gesagt, daß das Fräulein seit zehn Tagen weg sei. Sie habe ihre Rechnung bezahlt, ihre Sachen aber zurückgelassen. Die Pensionsmadame habe ihr den Namen der Malschule gegeben; so sei sie dorthin gefahren.

Und nun hörte sie, was geschehn war. Schon seit vielen Wochen sei Mlle. Ignota nicht mehr in der Malklasse gewesen. Kein Mensch würde sich um sie gekümmert haben, wenn nicht einer der Schüler, ein Bildhauer, zufällig in die Morgue gekommen wäre, um sich dort die Toten anzusehn – die Makkabäer nannte er sie. Da, im Leichenschauhaus, habe sie gelegen, man hatte sie aus der Seine aufgefischt. Sehr schön habe sie ausgesehn – so habe er die Erlaubnis erbeten, eine Totenmaske machen zu dürfen. Am nächsten Tage sei die Polizei in die Malklasse gekommen und habe alle verhört – sie hätten nur angeben können, daß sie sich Ignota nenne und daß alle Mitschüler sie darum ›La Belle Inconnue‹ getauft hätten.

Schwester Pia fuhr also zur Morgue, fand die Tote nicht mehr vor; man wies sie an die Polizei. Dort erfuhr sie, daß die Leiche freigegeben sei, nachdem man aus einem bei ihr gefundenen Briefe die Selbstmordabsicht der Verstorbenen einwandfrei festgestellt habe. Da sich keine Hinterbliebenen gemeldet hatten, um für eine Bestattung zu sorgen, habe man die Leiche der Anatomie überlassen. Man gab ihr die Sachen der Toten, auch den Brief – er trage auf dem Umschlag die Worte ›Für Gerhard‹, sei mit Bleistift geschrieben und ziemlich verwischt; doch habe einer der Beamten nach Möglichkeit die Buchstaben mit Tinte nachgezogen. Der Brief sei von der Polizei wieder verschlossen worden.

Sie habe Glück gehabt in der Anatomie; noch habe man die Tote nicht angerührt. Man habe sie ihr herausgegeben unter der Bedingung sofortiger Beerdigung – auf dem Friedhof von Neuilly ruhe sie nun.

Hier log Schwester Pia. Man hatte die Tote sofort aufgeschnitten; der Anatomieprofessor hatte an ihr Unterricht erteilt. Dann war sie zerteilt worden, ein Student hatte diesen, ein andrer jenen Teil bekommen. Schwester Pia gab gute Trinkgelder; die Anatomiediener schleppten alles zusammen. Nur der linke Fuß fehlte, der war nicht mehr aufzutreiben.

Aber diese Einzelheiten behielt Schwester Pia für sich.

Nicht einmal unterbrach sie Gerhard, hörte still zu.

Nach einer Weile fragte er: »Weshalb tat sie's?«

Schwester Pia hielt seine Hand. »Ich weiß nicht. Aber es wird wohl in dem Brief stehn.«

Er sah sie fragend an.

Nein, sie habe ihn nicht gelesen. Er habe seinen Namen getragen, sei verschlossen gewesen. Sie habe den Brief in der Kanzlei abgeben müssen, er würde ihn wohl morgen erhalten.

Sie sprach etwas absichtlich von andern Dingen; erzählte ihm, daß seine Freunde nicht nachgäben, immer weiterarbeiteten – daß man große Hoffnung habe auf einen Gnadenerlaß für politische Vergehn, daß –

Er hörte nicht hin. Er ließ ihr die Hand; kühl war sie und etwas feucht, wenig Fleisch nur über den Knochen. Bleich war sein Gesicht, durchsichtig fast, eingefallen an Schläfen und Wangen.

»Schläfst du wenigstens?« fragte sie.

»Manchmal«, murmelte er.

Der Beamte erhob sich – die Zeit sei vorbei, zwei Minuten schon über die halbe Stunde.

»Das nächste Mal draußen, Gerhard«, sagte sie.

Er sah ihr nach, glasig schienen die Augen. Beide Hände hingen schwer in den Eisenstäben.

* * *

Man gab ihm den Brief noch nicht; verhörte ihn einstweilen darüber.

Ob er wisse, von wem der Brief sei?

Von seiner Verlobten, antwortete er.

Wie die heiße? Er nannte ihren Namen.

Der Beamte fuhr ihn an. Ignota? Er wisse recht gut, was das bedeute! Schwindel sei es! Er wisse nichts andres? Nun gut, dann solle er sein Gedächtnis anstrengen. Wenn ihm der Name einfalle, könne er sich ja melden; vorher würde er jedenfalls den Brief nicht erhalten.

Er schrieb an seinen Anwalt – der sandte eine Bescheinigung der Berliner Polizei: unter diesem Namen sei sie gemeldet gewesen auf Grund eines giltigen Passes.

Man verhörte ihn wieder. Ob ihm bekannt sei, daß diese Ignota mit Pariser Behörden in Verbindung gestanden habe? Welcher Art diese Beziehungen gewesen seien? Ob er sich einbilde, daß er auf diese Weise aus dem Zuchthaus herauskäme? Da irre er sich gewaltig, dies sei deutsches Land, nichts hätten die Franzosen hier zu sagen.

Gerhard blickte auf. »Die Beziehungen, in denen ich zu den Franzosen stand, waren auf Hieb und Stich. Wenn's anders gewesen wäre, würde keine deutsche Behörde mir ein Härchen krümmen, dann liefe ich herum, ein freier Mann, wie die Herrn Sonderbündler, wie die Spitzel und Spione, die für Geld ihr Vaterland verrieten. Das wissen die recht gut, die mich herschickten, Staatsanwälte und Richter – und Sie auch, Herr Direktor!«

Der Beamte ließ ihn abführen; drei Tage Arrest kosteten ihn die Worte. Eisenkäfig, tiefstes Dunkel, ein wenig trockenes Brot – man muß für Zucht sorgen im Zuchthaus.

Gewiß hat man Mitleid, lebt schließlich in seiner Zeit. Auch Sträflinge sind Menschen, auch Einbrecher und Raubmörder, arme Kinder, die man erziehen muß, um sie geläutert der Gesellschaft zurückzugeben. Gehobene Strafgefangene gibt es, solche zweiter Stufe, die haben's viel besser. Und die dritte Stufe – das ist schon beinahe wie im Paradies, das trägt Streifen am Arm und sieht stolz herab auf die andern.

Gerhard blieb, wo er war, in der untersten Stufe – blieb noch darunter. Die Zuchthäusler ließen ihn merken, daß sie ihn kannten; keiner unterhielt sich mit ihm, wenn er im Sträflingsanzug mit ihnen herumlief in der Freistunde. »Sauhund«, riefen sie ihm zu, »Schuft, Fememörder.«

Er war froh, wenn er wieder in seiner Zelle war. Klosettbürsten durfte er da anfertigen.

* * *

Dann gab man ihm Lilis Brief – abgetippt auf Anstaltspapier. Wenn es doch ihre Schrift wäre – das würde sein wie ein Stück von ihr. Wie ein Gruß aus dem Grab würde das sein, schmerzlich und süß.

Aber ihren Brief hielt man fest, der kam – zu den Akten.

Ihm gab man nur die Abschrift. Manches war ausgelassen, dafür las er Bemerkungen des Beamten. Lürmann hieß er; jedesmal hatte er seinen Namen deutlich hingeschrieben.

Er las:

 

Liebster, nun sitz ich wieder im Luxembourggarten. Kinderfrauen ringsum, Ammen, viele junge Mütter. Und alle haben Kinder. Ich hab keins, verzeih mir, Liebster. Wenn ich ein Kindchen von Dir hätte, wenn das nicht so gekommen wäre, damals, würde ich die Kraft haben, zu leben, trotz allem. Die junge Frau, die mit dem leeren Ki– ( Eine Zeile verwischt. Lürmann) – sitzt auf der Nachbarbank, schaut hinüber zu mir, scheu, ängstlich, als ob ich ihr etwas wegnehmen wolle.

Vielleicht finde ich es drüben, ihr Kindchen. Dann will ich's warten für sie, bis sie kommt. Unsres auch, meines und Dei – ( Drei oder vier Worte unleserlich. Lürmann) – kommst.

Gerhard, Liebster, Du wirst verstehn, daß ich nun gehn muß. So viel hab ich versucht in den langen Jahren, für Dich und für mich, und immer, immer war es ein – ( Ein Wort unleserlich; nachgezogene Wortbildung unverständlich. Lürmann)

Als Schloß – ( Wort verwischt. Kann vielleicht Dühmen oder Dülmen heißen. Lürmann) – brannte, als meine Elt– ( Vier Zeilen unleserlich. Lürmann) – ich durch Blut und Kot lief. So konnte es nie eine Rache sein für jene rote Nacht. Siebzehn Jahr war ich damals alt – und ertrank in Schlamm. Als ich begriff, daß die Heimat für immer verloren war, als ich fühlte, daß ich ersticken mußte in meinem Haß, damals schon wollt ich ein Ende machen. Und vielleicht wär's besser gewesen. Vielleicht war eine gekommen, die Dir Glück gebracht hätte – so viel Glück, wie ich Dir Unglück brachte, immer wieder. Verzeih mir, Liebster, das könnt ich nicht wissen, damals.

( Folgen zweieinhalb Zeilen in französischer Sprache. Diese können auf ihre Übermittlungsmöglichkeit hin erst geprüft werden, wenn Strafgefangener Scholz sich bereit erklärt, auf seine Kosten sie von einem vereideten Dolmetscher übersetzen zu lassen. Lürmann)

Dann kam die trunkene Nacht – die sollte die letzte sein. Ich wollte ausreiten im Morgengrauen – wir klebten am Feind – vielleicht hätte mich der erste Wachtposten abgeknallt. Da trank ich, war trunken wie alle. Der Kornett der Wirgolitschkosaken – er war kaum älter als ich, der Kornett – der wußte darum. Als ich's ihm sagte, lachte er mich aus. Er? In den Tod reiten mit einer Soldatendirne? Ins Puff wolle er mit mir reiten, nach Mitau, da hätt ich noch Zukunft!

So stand es mit mir, in der Nacht, da ich Dich traf.

Dann verspielte er mich – Lustige Sieben hieß das Spiel. Der deutsche Rittmeister gewann mich, der mit dem Kunstbein – dem war ich nicht einen Schnaps wert. Der schrie: »Wenn du verlauste Nut – ( Leider zwei Zeilen unleserlich. Lürmann) Dann kamst Du. Der Rittmeister trank Dir zu, rief: »Willst du sie kaufen, Scholz?«

Du aber fragtest mich: »Soll ich dich kaufen?«

Ich sah Dich an – und ich fühlte: der Mann da ist nüchtern, ist nicht betrunken wie alle ringsum. Doch kennt er dich, wie dich alle kennen im Baltenland, weiß, was du treibst. Wenn er dich kauft – kauft, wie – ( Mehrere Zeilen verwischt. Lürmann)

Da flüsterte ich: »Ja, kauf mich.«

Du zogst die Scheine heraus, viel Geld. Kehrtest die Taschen um, alles, was Du hattest, gabst Du ihm.

Ich dachte: ›Soviel bin ich ihm wert.‹ Und zum erstenmal, weißt Du, fühlt ich einen Sto– ( Soll wohl 'Stolz' heißen. Rest der Zeile unleserlich. Lürmann)

Dann, als die Zigeuner spielten, nahmst Du meine Hand, zogst mich hinaus.

Ich fühlte: nun gehöre ich ihm – er hat mich gekauft. Was auch sein möge – nun bin ich sein Ding, solang ich lebe, immer und immer – er hat mich gekauft. Sehr süß war dies Gefühl und sehr tief: ich bin sein eigen nun, er hat mich gekauft. Ich empfand eine große Sicherheit – zum erstenmal, seit unser Schloß brannte: nun bin ich nicht mehr allein. Wenn's auch ist wie zuvor, Lager und Landstraße und Blut und Schlamm, so hab ich dennoch ein Heim – er hat mich gekauft.

Und das Wunderbare – zugleich fühlte ich: der Mann gehört dir und ist dein eigen, wie du ihm gehörst.

Als Du gingst, mich zurückließest in Kurland, war mir doch nicht bange: ich hatte etwas von Dir, was Dir fremd war, wie ich, kein Stück von Dir und doch Dir so nah – ein Zoll nur von Deinem Herzen. Den Granatsplitter, den Du mir gabst – ich ließ ihn nicht los, hielt ihn fest in der Hand all die Zeit über, die ich im Fieber lag.

In der Zeit ward mir bewußt, wie ich Dich liebte. Und ich verstand, daß Du es sein mußtest, Du und nie ein andrer.

Viele tausend kämpften im Baltenland. Manche führten – aber Du allein warst ein Führer. Keiner wußte es damals, auch Du selbst nicht. Auch Schwester Pia nicht. Ich sprach mit ihr darüber. Sie lachte nicht, sie sah es, wie ich es sah.

So fühlte ich: wie ich erstand aus tiefster Schmach, so wird auch Deu– ( Hier ist ein Streifen unten am Bogen abgerissen. Der Streifen liegt zwar bei, die darauf geschriebenen Worte sind aber ganz verschmiert. Lürmann) – Du der Mann sein. Und ich bin Dir zur Seite.

Als ich Dich wiedersah, vier Tage, bevor ihr den Annaberg stürmtet – damals, als Herbert Eggeling euch des Verräters Namen brachte, den falschen Namen – ( Mehrere Zeilen unleserlich. Lürmann) – Du wehrtest dich – da war ich es, die Deinen Blick hielt. Und ich fühlte, daß ich Dich zwang, meinen Willen zu tun, ob Dir auch nichts davon bewußt war. Den Willen meines Hasses: diesen Mann zu opfern der Todesgöttin, der Schwarzen Muttergottes von Tschenstochau. Der Falsche war es – aller Jammer und alle Qual entstand daraus: meine Schuld allein! Schwester Pia fühlte es gut – ( Diese ganze Seite ist verwischt; nur einzelne Worte sind zu erkennen, wie ›damals in Düsseldorf‹, ›Schwester Käte‹. Lürmann) – in der Nacht darauf. Und da kam mir zuerst der Gedanke, daß ich es bin, die Dir im Wege steht. Ihr verlort euer Spiel im Baltenland, in Oberschlesien und an der Ruhr – immer war ich dabei. Tag und Nacht arbeitete ich mit Käte, um Schlageter zu retten – sie erschossen ihn doch. In München schlug's fehl, in Berlin – wo ich nur dabei war. Und so war es später. Als Dich die Belgier fingen, da versuchte ich – aber Käte war's, die Dich befreite, wie sie Lannwitz in Aachen rettete. Käte, nicht ich. – Und so ging es immer. In meinen Händen zerbrach, was ich auch tat. Meine Stimme zerbrach und mein Kindchen, verzeih mir, Liebster. An alle Türen klopfte ich, um Dich freizubitten – nichts gelang, nichts.

Dann ging ich nach Paris. Ich wußte: hier wagt man, was man nirgends sonst wagt. Hier kann man es tun, wenn man will, hier hat man die Macht und den Mut.

Ich kannte keinen und hatte keinen Plan. Ich lief herum durch viele Monate, ratlos, hilflos.

Dann endlich fand ich es. Durch drei Nächte dachte ich alles durch; dann ging ich zu – ( Es folgen drei Seiten, welche dem Strafgefangenen Scholz nicht mitzuteilen sind. Es handelt sich um Verbindungen zu einem französischen Staatsmann und um Machenschaften, mit Hilfe dieses den Strafgefangenen Scholz aus dem Zuchthause zu befreien. Lürmann) – war alles umsonst! Durch diesen kindischen, lächerlichen Zufall – durch mein jammervolles, schmähliches Versagen im letzten Augenblick!

So stand ich wieder auf der Straße.

Nun kann ich nicht mehr. Nun weiß ich, daß alles aus ist, daß ich zu nichts gut bin in der Welt. Und die Muttergottes, die schwarze von Tschenstochau, die Buße verlangt und Opfer und Tod, weist mir den We– ( Soll wohl ›Weg‹ heißen. Zwei Zeilen verwischt. Lürmann)

Geträumt hatte ich: hinauf mit Dir, auf den höchsten Berg, wo alle Sonne strahlt. Nun sitzt Du in Deiner Zuchthauszelle und ich – ( Von hier bis fast zum Schluß sind nur wenige Wörter zu entziffern, darunter: ›Kindchen‹, ›Verzeih mir‹, ›Küs–‹ – soll wohl ›Küsse‹ heißen – sowie der Satz: ›Nun hast Du nur noch Käte.‹ Lürmann)

Dank allen, für alles, was sie an mir taten, besonders Paul, Ellen, meiner lieben Schwester Pia. Verzeih mir, Liebster –

Lili

 

Für die Richtigkeit der Abschrift Lürmann, Strafanstaltshauptwachtmeister. Münster i. W., 3. September 1928. Die Urschrift ist der Generalstaatsanwaltschaft zu Berlin zur Kenntnisnahme und weiteren Veranlassung übersandt worden. L.

* * *

Gerhard las diesen Brief, zehnmal und mehr. Er setzte sich hin, nahm einen Bleistift, versuchte die fehlenden Stellen zu ergänzen, die nicht erlaubten, die französischen, die unleserlichen. Im Schlafe träumte er davon, war froh, einen Satz gefunden zu haben – so mußte er lauten, genau so. Alles war verweht, wenn er aufwachte.

Das krallte sich in sein Hirn, ließ ihn nicht los, auch am Tage nicht. Immer wieder fielen ihm Worte ein, halbe Sätze und ganze – lange Zeilen.

Er dachte sie, murmelte sie, sprach sie laut vor sich hin. Ungereimtes Zeug oft, sinnlos und verworren.

Sie ließen ihn nicht mehr, diese schmerzlichen Wachträume. Wenn er herumlief in der Freistunde, wenn er Borsten einzog in seine Bürsten, wenn er sein trocknes Brot zerkaute – stets klangen ihm Worte in den Ohren aus Lilis Brief.

Aber das war das quälende: immer war Lürmann dabei, immer machte der seine Bemerkungen.

Er dachte: ›Mon ami, je t'aime bien – verwischt. Lürmann.‹ Er flüsterte: ›Verzeih mir, Liebst – soll wohl Liebster heißen. Lürmann.‹ Er sagte: ›Nun bin ich dein eigen – unleserlich. Lürmann.

Er schrie, brüllte: »Ich sitze im Zuchthaus – hurra! Lürmann. – Ich putze den Kübel – verschmiert. Lürmann. – Ich mache Klosettbürsten – durch vereideten Dolmetscher auf Kosten des Strafgefangenen Scholz zu Deutsch wiedergegeben als Abtrittsbürsten. Lürmann.«

Er hockte auf dem Schemel, schlug mit der Stirn auf den Tisch. Er weinte, schluchzte. »Verrückt werde ich, wahnsinnig!« Er steckte die Finger in die Ohren, hörte doch die Worte: » Für die Richtigkeit! Lürmann.«

* * *

Der Professor strahlte, als er in die Zelle trat. »Endlich eine gute Nachricht!«

»Wiederaufnahme?« fragte Gerhard.

»Nein, das nicht«, sagte der Anwalt. »Das ist bisher nicht gelungen. Aber der Gnadenerlaß ist heraus – für Sie und alle andern. Vom Reichstag beschlossen, vom Reichsrat angenommen. Statt lebenslänglich – nur siebeneinhalb Jahre! Und Gefängnis, nicht mehr Zuchthaus.«

Gerhard rechnete. »Im Mai sperrten sie mich ein, bald nach Hindenburgs Wahl. Das ist nun dreieinhalb Jahr her – da hätt ich noch vier Jahre zu sitzen!«

»Besser als lebenslänglich«, tröstete der Anwalt. »Aber leider stimmt's nicht ganz. Die Untersuchungshaft wird nicht angerechnet – so zählt die Frist erst von der Stunde an, in der das Urteil in Sachen Peters rechtskräftig wurde. Das war im Juli 1927 –«

Gerhard nickte. »Dann sind's noch über sechs Jahre – bis 1935! Der Staatsanwalt ist ein mächtiger Mann: er rechnet an – er rechnet nicht an! Auf diese Weise werde ich, überschüttet mit Gnade – nur etwa zehn Jahre lang sitzen.«

Professor Grimm sah ihn an. »Sie haben bisher durchgehalten – wir werden alles tun, was wir können. Sie dürfen –«

Gerhard lachte hart. »Ich weiß, ich darf da sitzen und Abtrittsbürsten verfertigen. Nehmen Sie doch eine mit für den Herrn Generalstaatsanwalt! Zum Andenken! Der ist ein tüchtiger Mann, in den paar Jährchen, die er mir jetzt dazu gab, sollte er meine Arbeitskraft gut ausnützen. Nur ein paar Anzeigen in den großen Blättern: Fememörder Scholz' Abtrittsbürsten im Zuchthaus zu Münster gefertigt – das kauft Freund und Feind!«

Der Anwalt griff seine Hand. »Beruhigen Sie sich doch – Sie brauchen keine Zuchthausarbeit mehr zu leisten. In ein paar Tagen schon werden sie verlegt ins Gefängnis.«

Gerhard kicherte, seine Stimme überschlug sich. »Ins Gefängnis? Nach Plötzensee zurück in die Mörderzelle? Oder nach Moabit zu meinem Gönner, dem Schließer Kubalke? Der wird sich freuen! Da darf ich den Eimer putzen tagaus und tagein, jahrelang! Er wird mich begrüßen: »Wat denn, wat denn, Scholz? Sie woll'n aus'm Zuchthaus komm? Woll'n zwölf Jahre lang Soldat jewesen sind? Da solltense doch nu jelernt haben, wie blank det der Kübelrand sin muß!«

Er preßte die Hände ineinander, biß in die Unterlippe. Nach einer Weile sprach er: »Verzeihn Sie, Professor – zuweilen geht's durch mit einem. Ihr tut, was nur möglich ist, Sie, Hornemann, alle! Freut euch für mich, wenn ihr nach schwersten Kämpfen etwas erreicht habt – und ich bin undankbar. Verzeihn Sie meinen Aufschrei; ich weiß, daß er vollkommen nutzlos ist. Einen Wunsch hab ich noch –«

»Bitte«, sagte der Anwalt.

Gerhard nahm den Brief aus der Schublade. »Nehmen Sie das mit – geben Sie's Paul Hornemann. Es ist das letzte Schreiben meiner Verlobten, ehe sie in die Seine sprang. Ich bekam nur die Abschrift, geschmückt mit Bemerkungen des Inspektors, der die Anstaltszensur ausübt. Diese Bemerkungen – Sie werden ja selbst sehn. Kurz, der Brief macht mich krank – halb närrisch bin ich schon.«

Der Professor steckte den Brief ein, verabschiedete sich. Wie er mit dem Schließer durch den Flur ging, hörte er seinen Namen; er kehrte zurück zu der Zelle. Durch das vergitterte Guckloch in der Tür rief ihm Gerhard zu: »Bitte – einen Gefallen noch!«

»Von Herzen gern«, sagte der Anwalt, »was ist's?«

Aus der Zelle schrie es: »Wenn Sie den Inspektor sehn sollten – Lürmann heißt er – unleserlich. Lürmann – vereideter Dolmetscher. Lürmann – für die Richtigkeit. Lürmann – wenn Sie den sehn sollten, grüßen Sie ihn von mir. Und bitte – schlagen Sie ihn tot!«

Ein irres Gelächter drang durch die Tür, schrill, widerlich, unheimlich.

* * *

Noch blieb er in Münster; man konnte sich nicht entschließen, wohin man ihn schaffen sollte. Ein ganz sichres Gefängnis sollte es sein, man mußte auf der Hut sein mit Fememördern. So ließ man ihn im Zuchthaus – einstweilen.

Ein paar Tage vor Weihnachten kam Käte.

Sehr ungewöhnlich war ihr Besuch, ganz gegen die Regeln der Anstalt. Nur der Anwalt durfte in die Zelle kommen, durfte den Gefangenen allein sprechen; auch dann saß ein Schließer vor der Tür, der durch das Guckloch beobachten konnte. Für alle andern aber war das Besuchszimmer da – hinter dem Gitter stand man, und ein Beamter saß daneben.

Käte kam in die Zelle; der Schließer schleppte ein paar große Pakete hinter ihr. Gerhard sah, daß sie geöffnet und notdürftig wieder zusammengebunden waren – also hatte seine Schwester sie bei ihrer Ankunft vorgezeigt; sie waren sogleich untersucht und freigegeben worden. Fünf Tage dauerte das sonst im besten Falle, manchmal auch Wochen.

Der Schließer machte sich sogleich daran, auszupacken, sehr dienstfertig. Käte winkte ihm: »Lassen Sie nur.«

Der Mann ließ die an die Wand hochgeschlossene Pritsche herunter: »Will sick dat Fräulein nich en bittken setten? Hie is't doch komodiger äs up dütt wackelige Poggenstölken!« Er sah, wie sie den Hut abnahm, ihren Pelz öffnete. »Willt Se nich affleggen?« schlug er vor. »Et is'n bittken wahn heet bi us, de Heizung is faken nich recht in'n S'chuß; oömon wast förn Isbär noch te kolt un nu kann't keen Düwel fo Hette hie uthollen.« Er grinste breit, kniete vor ihr, zog ihr die hohen Gummistiefel aus, stellte sie an die Tür. Dann half er ihr aus dem Pelz. Er schaute sich um, suchte nach einem Platz, wo er ihn hinlegen sollte. Schließlich kramte er in seiner Hosentasche, zog einen Nagel heraus. Nahm vom Tisch eine halbfertige Klosettbürste, hämmerte den Nagel in die Tür, ein paar Handbreit über dem Guckloch. Er hängte den Pelz auf, trat zurück, betrachtete wohlgefällig sein Werk. »So wat häff hie auk mi Liewe noch nich hangen«, schmunzelte er.

Gerhard traute seinen Augen nicht. Ein Nagel in der Tür – und das heilige Guckloch verhangen, ja, wie konnte man nun durchsehn? Ungeheuerlich war es – war der Mann wahnsinnig?

Käte schien es nicht so verwunderlich zu finden. Sie nickte nur, sagte ruhig: »Gehn Sie jetzt.«

Und der Schließer gehorchte. Er nahm die Überschuhe auf, hängte sie über den Arm. »De will ik in de Tit putzen. Wenn dat Fräulein gaohn will, dann brukt jei man to rupen, ik sitte vörne an de Treppen.«

Bei der Treppe – nicht vor der Tür?

Er verbeugte sich, ging rückwärts hinaus. Das Schloß schnappte – dreimal drehte sich der schwere Schlüssel.

Gerhard war allein mit Käte. Allein mit einer Frau, seit – wie lange war das nun her?

Er starrte sie an – was sollte er nur sprechen?

Sie zog ihre Handschuhe aus, setzte sich auf die Pritsche. »Willst du dich nicht auch setzen?« sagte sie.

Unter dem Tisch her zog er den Schemel vor. »Komm doch zu mir«, sagte sie.

Er ging hinüber, setzte sich an das andre Ende der Pritsche. Das war Käte, gewiß, seine Schwester – wie fremd schien sie ihm doch! Dunkelblau war ihr Kleid, hochgeschlossen am Hals, Schneiderkleid, halblang – dann trug man jetzt nicht mehr so kurz?

Was denn? Seit wann betrachtete er das, was eine Frau anhatte? Wie oft hatten sie ihn ausgelacht, Lili, Käte, Ellen, daß er nie wußte, was sie trugen! Nur bei Pia kannte er sich aus: Schwesterntracht.

Seidene Strümpfe – und, sieh doch, aus den Schuhen herausguckend, blaugraue, wollne Söckchen –

»Ist es draußen so kalt?« fragte er.

Sie nickte. »Fünfundzwanzig Grad unter Null – das ist ein böser Winter. Kommst du nicht an die Luft?«

»Doch«, sagte er. »Das heißt – nein, jetzt nicht. Seit ich wegkommen soll von hier, brauch ich nicht mehr mit den andern im Hof zu laufen. Es ist ja auch besser so, daß ich zuhause bleibe, wenn es so kalt ist.«

Sie blickte umher – zuhause nannte er das!

Er folgte ihrem Blick, verstand sie doch nicht. Sah die Pakete liegen, fragte: »Das ist wohl für mich?« Er machte Miene, aufzustehn; sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Schau dir's später an, wenn ich fort bin.«

»Das haben sie in der Kanzlei durchgelassen?« fragte er.

Sie lächelte. »Es hat Mühe gemacht.«

Er nickte. »Der Schließer – du verstehst das nicht so! Mit deinem Pelz hat er das Guckloch verhangen, hat einen Nagel in die Tür gehämmert! Und die Stiefel hat er dir ausgezogen, putzt sie selber da draußen.«

»Ist er sonst nicht so manierlich?« fragte sie.

Er starrte sie an. »Manierlich – der? Ogott!«

Sie streichelte leicht seine Hand. »Denk nicht dran, Gerhard. Jetzt bin ich bei dir –«

Sie schwiegen. Dann sagte er leise: »Das weißt du – daß Lili tot ist? Sie hat mir geschrieben, ehe – ehe sie das tat. Auch von dir, Käte.«

»Was schrieb sie von mir?« fragte die Schwester.

Er antwortete. »Daß du – es war ein schrecklicher Brief. Nein, nicht der Brief, aber die Abschrift, die man mir gab – nur Bruchstücke und die Bemerkungen des Inspektors. Daß du es gewesen seist, schrieb sie, die mich in Neuß von den Belgiern losmachte – grad wie vorher den Rittmeister in Aachen. Dir allein müsse ich dafür danken. Sie schrieb noch mehr von dir, aber es war verwischt. Nur ein paar Worte konnte der Inspektor entziffern: ›Nun hast du nur noch Käte!‹«

Käte sagte: »Mir hat sie auch geschrieben; Schwester Pia brachte den Brief. Daß sie das einzige mir lasse, was sie habe: dich, Gerhard. Daß ich dir Glück bringen möge, daß –«

Er fragte nicht, nickte nur; saß da, still und versonnen. Dann wurde er unruhig, rückte hin und her.

»Was hast du?« fragte sie.

Er besann sich, sagte: »Ist wohl das Ungewohnte. Dreieinhalb Jahr – und nie sah man ein weibliches Wesen, da weiß man nicht recht, was man reden soll. Und: immer allein – und doch nie allein, denn das Loch da in der Tür, das verband stets mit der Außenwelt. Du wirst dich schwer da hineindenken können. Immer ging jemand vorbei, immer konnte jemand hereinschauen, Tag und Nacht. Und nun ist es verhangen, das Loch. Nun bin ich wirklich allein hier, zum erstenmal. Und allein mit dir. Das ist – ist – unheimlich.«

Er sagte: »Muß mich erst gewöhnen ans Reden, man spricht ja so selten. Wenn der Anwalt kommt, geht's ja – da ist's immer dasselbe: Eingaben, Wiederaufnahme, Möglichkeiten. Und dann, der ist ein Mann. Du –«

Er sagte: »Und natürlich, man ist wohl ein bißchen nervös. Sonst geht mir's sehr gut. Jeden Tag fünfmal mach ich Freiübungen – das hält gesund. Nur freilich das Rheuma – das reißt. Und dann die Nerven. Man schläft ja auch so wenig.«

»Träumst du?« fragte sie.

Er sagte: »Ja, das tu ich wohl. Eine Zeitlang war's schlimm. Da hatte ich immer den Brief im Kopf. Lilis Brief – davon träumte ich – und von den Bemerkungen des Inspektors Lürmann.«

»Von ihr träumst du nicht?« fragte sie.

Er schüttelte langsam den Kopf. »Vom Krieg träum ich; sehr scharf ist alles, was man da sieht. So klar – aufschreiben könnt man's. Paul Hornemann ist oft dabei, auch der Wachtmeister, auch Döres Schmitz – viele noch, die längst tot sind. Als ich noch in Moabit lag, da träumte ich wohl von Lili. Jetzt nicht mehr. Auch von dir nicht.«

»Von keiner Frau?« fragte sie.

Er zögerte. »Doch. – Nein – von keiner bestimmten. Nur so wirres Zeug von tiefen Augen, von starken Brüsten und nackten Hüften. Von Küssen –« Er zuckte die Achseln, lachte. »Aber das ist nichts. Ist wohl die Folge der Einsamkeit, der –« Er unterbrach sich, sah sie scheu an. Dunkelrot wurde plötzlich sein jämmerlich bleiches Gesicht. »Verzeih, Käte – das, das sagt man wohl nicht vor Damen.«

Sie sah ihn still an. »Doch – warum nicht? Das ist nur natürlich.«

Er senkte den Blick, schaute unruhig herum. »Ob ich nicht doch die Sachen ansehn soll?« bat er.

»Wie du willst«, sagte sie.

Er stand auf, hob die Pakete auf, öffnete sie. Unterwäsche, Hemden, Socken, Kamm, Zahnbürste, manches noch. Auch Bücher, Zeitschriften, Obst, Schokolade –

»Das ist nicht erlaubt«, flüsterte er, »das ist fast alles nicht erlaubt. – Und sie haben es durchgelassen?«

Sie nickte. »Du kommst ja hier weg, Gerhard. Wo du hinkommst, wirst du's besser haben – da ist's wohl erlaubt.«

Er sah sie zweifelnd an. »Meinst du? Man hat immer Angst vor dem Wechsel.«

Er lief durch die Zelle, hin und zurück. Ganz klein machte er die Schritte – da wurden es mehr. Wie ein Tier war er, das im Käfig wandelt, genau auf denselben Fleck traten die Füße, genau an derselben Stelle drehte er um. »Setz dich doch, Gerhard«, bat sie.

Er hockte sich wieder neben sie. »Verzeih«, sagte er, »man ist das so gewöhnt.« Er strich über die harte Decke. »Das ist auch verboten, hier zu sitzen. Bei Tage muß sie aufgeklappt sein, die Pritsche, an die Wand geschlossen. Da kann man auch besser laufen.«

Sie griff seine Hand. »Aber jetzt ist nichts verboten, Gerhard. Garnichts, du darfst tun, was du willst.«

Er fragte: »Was soll ich denn tun?« Er wies auf den Tisch. »Da liegen Klosettbürsten, die hab ich gemacht. Jetzt brauch ich's nicht mehr, weil ich doch heraus soll aus dem Zuchthaus. Aber ich mach sie doch weiter – etwas muß man doch tun.« Sie schluckte, würgte, ihr Kehlkopf preßte sich zusammen. So trostlos war das alles.

Dann sagte sie: »Gerhard, du mußt etwas haben – etwas, das dich beschäftigt, woran du denken kannst, etwas, das –«

Er nickte. »Wiederaufnahme, ja! Daran hab ich oft gedacht. Aber jetzt ist's mir schon gleich. Jetzt denk ich nur dran, wenn der Anwalt kommt – zweimal in diesem Jahr.«

»Und sonst nichts«, fragte sie, »sonst nichts?«

Er schüttelte müde den Kopf. »Nein, was denn sonst noch?«

Sie nahm einen neuen Anlauf. »Sieh, Gerhard, was du geschaffen hast, das ist zerschlagen. Und Lili ist tot –«

Er unterbrach sie, fast gleichgiltig klang es. »Ja, das weiß ich. Jetzt hab ich nur noch dich – schrieb sie. Und du bist ja sehr gut zu mir. Hast mir all die schönen Sachen gebracht.«

Sie beharrte: »Gerhard, hör mich doch an. So geht es nicht weiter. Einen Glauben mußt du haben – wenn das nicht geht, wenigstens ein Spielzeug.«

Er lachte still. »Ja, ein Spielzeug! Klosettbürsten machen. Oder Schweinsborsten auslesen. Tütenkleben – was? Da muß man aufpassen, das lenkt ab.«

Wie wund seine Stimme klang, wie weh! Aber sie gab nicht nach, weinte nicht. »Das ist für die Hände«, sagte sie. »Du mußt etwas haben für dein Hirn und deine Sinne.«

Er zeigte auf den Schemel. »Meinst du Bücher? Die sind die ersten hier in der Zelle. Wenn sie mir die nur nicht wieder wegnehmen.«

»Bücher auch«, erwiderte sie, »gewiß, die auch! Alles was dich zerstreuen kann –«

Sie stockte – wie schwer es doch war! Sie hatte ein Empfinden, als ob ihre Hände gefesselt seien, als ob ihre Zunge fest im Gaumen klebe. Sie nahm die Handschuhe auf, zog sie in den Fingern, als ob sie sie zerreißen wolle. Sie sagte: »Gerhard, kein Mensch weiß hier, daß ich deine Schwester bin.«

Er sah sie erstaunt an. »Nein? Warum hast du's ihnen denn nicht gesagt?«

Sie wiegte den Kopf. »O Gerhard – in dem Einführungsschreiben steht ein andrer Name; ich hielt das für besser. Sie denken, daß ich eine fremde Dame sei, eine, die – die an deinem Schicksal teilnimmt, vielleicht einmal zu dir – Das denken sie.« Sie stockte – was sollte sie ihm nur sagen? Dann schloß sie: »So ist es romantischer.«

»Ach so«, sagte er, »romantisch ist das.«

Sie drängte: »Ja, ja, gewiß! Also, siehst du, Gerhard: eine fremde Frau bin ich hier, eine wildfremde Frau. Eine, die viel Mitleid hat, Teilnahme. Die gern dir helfen möchte –«

Sie sah ihn an, voll zarter Sorge; tiefste Hingabe lag in ihrem Blick. Er merkte es nicht, starrte achtlos auf den Boden.

Sie nestelte an ihrem Kleide, atmete schwer. »Sehr heiß ist es hier«, flüsterte sie.

Sogleich sprang er auf. »Da brauch ich nur die Eisenstange hochzuschieben, dann öffnet sich oben die Luke.«

»Laß nur«, sagte sie, »laß nur.« Sie öffnete die Knöpfe am Hals, schlug den Kleidkragen zurück. Ihr Hals lag nun frei, das Kleid zeigte einen kleinen Ausschnitt.

Er setzte sich wieder, betrachtete sie. »Das ist bequem. Es ist, als ob du ein ganz andres Kleid anhättest – so siehst du fast noch besser aus.«

»Gefall ich dir?« fragte sie.

Er nickte. »Natürlich. Wenn man so in der Zelle sitzt, immer allein – ich glaube: jede Frau muß einem gefallen.«

Sie rückte näher zu ihm, streichelte seine Hand. »Jede Frau?«

Er nahm ihre Hand. »Wie klein sie ist, deine Hand. Voll und weich, sehr zart.« Er betrachtete seine eigne, lächelte. »Das ist ein Unterschied – bei mir hängt das Fell auf den Knochen. Das macht wohl die Luft und der Duft – man denkt, man gewöhnt sich dran, aber es geht nicht. Ich hab's immer in der Nase – Speisereste und Gas und die Feuchtigkeit der Wände. Dann Wanzen und der Eimer mit – verzeih! Frische Luft – glaubst du, daß ich je wieder frische Luft atmen darf? Einen Tag – eine ganze Woche lang?«

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. »Sicher, Gerhard – du mußt nur ausharren. Einmal wirst du frei sein.«

»Einmal?« erwiderte er. »Es muß bald sein, sonst – nützt es nichts mehr.«

Sie saßen still bei einander, Hand in Hand. Kalt und feucht waren seine Finger, kalt und feucht wie das Bettlaken.

Sie sagte: »Es wird dämmrig.«

Wieder wollte er aufstehn, sie hielt ihn fest. »Ich kann Licht machen«, sagte er. »Da bei meinem Tisch ist der Gashahn. Und – ich habe zwei Streichhölzer. Verboten natürlich – ich hab sie doch.«

Flüsternd kam das, furchtsam fast – doch mit einer stillen Genugtuung.

»Steck die Flamme nicht an«, bat sie, »es ist heimlicher so.«

Er sagte: »Es bleibt lange dämmrig bei mir. Ist fast immer so – kommt ja nur wenig Licht durch die Luke.«

Sie drängte sich an ihn, nahm seinen Kopf in beide Hände. Küßte seine Stirn und seine Augen, auch die Wangen, auch die Lippen. Trocken waren sie und zersprungen.

»Ich hab dich sehr lieb, Gerhard«, sagte sie. »Wir haben niemanden mehr – alle sind tot. Du und ich – wir sind nun allein. Wir müssen einander helfen, Gerhard, du mir und ich dir. Lili schrieb –«

Er murmelte vor sich hin. »Verwischt. Lürmann. – Unleserlich. Lürmann. – Vereideter Dolmetscher, für die Richtigkeit. Lürmann –«

Angst faßte sie, sie schüttelte seinen Arm. »Was hast du, Gerhard?«

Er zuckte zusammen, blickte auf. »Weißt du das nicht? Nein, du kannst es ja nicht wissen. Das ist der Brief, Lilis Brief. Sprich nicht davon – ich muß das vergessen.«

Sie legte die Hände in den Schoß, seufzte tief. »Armer Junge«, flüsterte sie, »lieber, armer Junge.«

Sie sprachen nicht mehr. Saßen still, lange Zeit.

Dann ein Schrei durch die tiefe Stille. Und ein wildes Kreischen und Brüllen.

Erschreckt sprang sie auf, zitternd. »Was ist das? Ums Himmels willen, was ist das?«

»O nichts«, sagte er gleichgiltig, »ein Epileptiker – drüben auf der andern Seite. Vierte Zelle von der Treppe. Er hat seinen Anfall.«

Sie setzte sich wieder. Schob ihren Arm durch den seinen, nahm seine Hände. Lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Gerhard«, flüsterte sie, »Gerhard –«

Er antwortete nicht. Schweigend saßen sie.

Endlich sagte sie: »Nun muß ich gehn.«

Stand auf, trommelte an die Tür, rief nach dem Schließer.

Sie wandte sich, wiederholte: »Nun muß ich gehn. Vielleicht wirst du das alles einmal verstehn. Wenn du mich brauchst – rufe mich – dann komm ich wieder.«

Dreimal drehte sich der Schlüssel im Schloß, die Tür öffnete sich. Der Schließer streckte ihr die blanken Russenstiefel entgegen, half ihr hinein, zündete dann die Gasflamme an. Nahm den Pelz von der Tür, hielt ihn ihr hin. Dann zog er eine Kneifzange aus der Tasche, riß geschickt den Nagel heraus, wischte mit dem Daumen über das Loch.

»Lebwohl, Gerhard«, sagte sie, »auf Wiedersehn.«

»Lebwohl«, sagte er.

Noch einmal trat sie auf ihn zu, schlang beide Arme um ihn, küßte ihn. Dann ging sie.

* * *

Er stand mitten in der Zelle, rührte sich nicht.

Der Schließer kehrte zurück, holte die Sachen wieder ab: sie müßten erst ordentlich untersucht werden. Gerhard achtete nicht darauf, hörte kein Wort, das der Mann sprach.

Der Kalfaktor schob das Essen hinein. Gerhard ließ es stehn auf dem Boden, rührte nichts an.

Die Nacht kam. Er ging zubett, schlief nicht, wälzte sich in dem feuchten Laken. Stand auf, lief durch die Zelle hin und zurück, hin und zurück. Legte sich wieder auf die Pritsche, starrte in die Dunkelheit mit weit aufgerissenen Augen.

Riß sich zusammen, stammelte: »Ich – ich muß wieder in die Wirklichkeit! Etwas tun muß ich, etwas tun!«

Er sprang auf, suchte in der Schublade, fand seine Streichhölzchen. Das Gas? Nein, nein, das war abgestellt. Er schlich zurück zur Pritsche, strich ein Hölzchen an –

Fing eine Wanze. Noch eine.

Er lachte auf. Hüllte sich wieder in das Laken.

Dann kam es wieder. Er keuchte. Rot sah er ringsum.

Ihren Namen flüsterte er: Käte, Käte –

Er stöhnte, stöhnte. Hundertmal rief er ihren Namen – Käte!

Er fiel zurück, schlief. Träumte. Wirres Zeug, weiße Arme und Brüste und Beine. Große Augen, die ihn anstarrten.

Frauen, Frauen –

Aber dann war es Lili. Nein, Käte war es –

Er wachte wieder. Wischte den Schweiß vom Gesicht. Seine Zähne klapperten, todkalt war die Nacht.

* * *

Weihnachtstage. Das waren nun die vierten Weihnachten, die er in der Zelle verbrachte – allein wie zuvor. Unten in der Halle war ein großer Christbaum – oder stand er im Kirchensaal? Und der Chor der Heilsarmee gab ein Konzert für die Gefangenen, Musik und Gesang. Alle durften hin, nur Gerhard nicht. Er war ja kein Zuchthäusler mehr, gehörte von Rechts wegen nicht in diese Anstalt. Hatte keine Pflichten – aber auch keine Begünstigungen.

Sein Schließer hatte Urlaub für diese Tage; er fragte den Stellvertreter nach seinen Sachen. Der sagte: es seien noch mehr Pakete für ihn eingetroffen, auch Briefe. Aber die Kanzlei habe genug zu tun; ob er sich einbilde, daß die Beamten für ihn an den Festtagen arbeiten sollten.

Er erhielt doch ein Weihnachtsgeschenk. Der Kalfaktor schob ihm, unten durch die Türklappe, ein wenig Skrind zu, ausgekauten und ausgespuckten Kautabak – den konnte er in Papier rollen, über der Gasflamme anstecken, rauchen.

Er arbeitete viel in diesen Tagen. Bürsten, Bürsten –

Das war sein Fest: von Zuchthäuslern ausgespiener Kautabak und Klosettbürsten.

Am Silvestertage kam der Schließer zurück; Gerhard fragte nach seinen Sachen. Ob er nicht ein Buch haben könne.

Der Schließer war gut gelaunt, gab ihm Ratschläge. Er möge sich am Dienstag melden lassen, da könne er seine Bitte vortragen – nein, das ginge nicht, das sei ja morgen, am Neujahrstage. Also erst Freitag zur Sprechstunde –

»Danke schön!« rief Gerhard. »Und dann wird das Buch geprüft vom Leseausschuß, ob es sich auch eignet für einen Gefangenen. Vom Direktor, vom Inspektor, vom Geistlichen – von wem sonst noch? Wenn ich Glück habe, bekomme ich's in zwei Monaten.«

Der Schließer zuckte die Achseln. Anstaltsordnung – da könne man nichts machen. Und übrigens: er habe ja seine Weihnachtsfreude schon vorher gehabt, er brauche sich doch gewiß nicht zu beklagen.

Er grinste, ging zur Tür, betrachtete sinnend das Nagelloch, wischte mit dem Daumen drüber. »Dat Lock müe wi wull met Kitt ves'chmeern un ächterhär 'n bittken öwerstriken.«

»Weihnachtsfreude?« rief Gerhard. »Alles haben Sie mir ja gleich wieder abgeholt!«

Der Schließer wandte sich um. »Na, un dat feine Dämken, dat wör wull garnix? Käl no mol – de fine Pelz un de haugen Stulpenstievel un buomen wier feinen Pelzbesatz! Junge – Junge, dat Water leip mi so richtig um de Täne, äs ick de feinen Stievelkes blank mök, wenn ick an de feinen Fötkes dagg, de dorin pössen. Gottsverdori, dat wör all'n graut Vergnögen vö mi, un Se, Se habt dat ganze Dämken hat, ohne Pelz und Stievelkes!« Er trat auf ihn zu, klopfte ihm die Schulter. »Seggt Se äs, S'cholz, de Dame, dat wör wulln söten Brocken?« Er zwinkerte ihm zu, stieß ihn vertraulich in die Seite: »Wull viel Pläseer met hatt, wa?«

Gerhard starrte ihn an. »Was erlauben Sie sich?! Die Dame war meine Schwester.«

Der Schließer lachte gemütlich. »Ou, Kälken, Ji, Ji makt mi nicks wis, ick wet doch genau Bes'cheid! – S'chwester? Ick wör doch auk Suldat! Wenn wie eene von use Brüte besochen, un de Herrs'chaft grad inne Kücke kam, dann was de Köchin auk imme use – S'chwester. Aff un to gloff'n se't un mauken auk nich.«

»Sie war wirklich meine Schwester«, beharrte Gerhard.

Der Schließer kicherte, setzte sich auf den Schemel, betrachtete sachverständig eine Klosettbürste. »Dat habt Se ganz got makt, jammers'chade, dat Se hie wegg müet't! S'cholz, Mens'ch, nehmen Se doch Vernunft an, ich weiß, was das für 'ne Dame was; der Name steht doch in'er Besuchsliste. Mich brauchen Se nix vorzulügen! Se hätt mi auk'n ganz verdöbelt anständig Drinkgeld giemm – hundert Mark – Junge, Junge, minetwiegen kann se muon all wie' kumen. Dorum häbb ick't Ju beiden auk su vergnöglich makt, ick häff ju sölvers noch de Prits'chke runnerklappt. Den kleinen Spaß häff ick Ju ganz gäne günnt. Ick will auk gornich wietten, wat do förfallen is.«

Gerhard stammelte: »Nichts ist vorgefallen. Sie war meine Schwester.«

»Nu s'chla ower einer lang henn«, rief der Schließer, »gottsverdori, nu wet't mi ower rein te dull! Mennt Se denn, S'cholz, man hätte keine Augen in'n Kopp? Mir kön'n Se nich verdummdeubeln; mich entgeht nix, wat in eine Zelle vonstatten geht. Ich hab sie mich genau angekuckt – Ihre S'chwester. Vorher – da was das Kleid bis an de Ohren, un nachher, als ich wieder hierhin g'kom'n bin, da sah'se anders aus. Jä, jä – so geiht't! Se hadde sieker vergäten, wu vörhier ähr Kleed wör – jä, jä – nu wört ähr opnmol vorn an'n Hals los, un de Kragen was dal klappt. Knöppken stönn auk no los – Dunners'chlag, ick segg Ju, wenn de Prits'chke wat verteilen könne, ower sei häff jä kin Mul. Äs ick nachts bi mine Olschke lagg, da häff ick no drommt von Jue ›S'chwester‹, un mine Olschke häff –«

Gerhard zischte: »Schweigen Sie!«

»Wat«, rief der Schließer, »Se will't mi't Mul vebeiden? Se häbt hie Juckelstündkes met dat Saustück von Wief un –«

»Hinaus!« schrie Gerhard.

Mit einem Schritt war der Schließer an der Tür. »Ick werde Sie melden – dat sall Ju noch äs suer upbräken, dat Ji –«

Gerhard sprang zu ihm hin, stand vor ihm mit weit gespreizten Fingern. »Hinaus, du Hund!« brüllte er. »Ich erwürge dich, wenn du nicht gehst! Hinaus! Hinaus!«

Sehr schnell war der Schließer draußen.

Er meldete ihn nicht mehr. Am andern Tage wurde Gerhard verschickt, am Neujahrstage. Zwei Gendarmen holten ihn ab, legten ihm Handfesseln an. Brachten ihn durch die Stadt und zum Bahnhof. – In das Gefängnis zu Essen kam er.

 


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