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Vierzehntes Kapitel, das verzeichnt, wie Frank Braun mit dem Feuer spielte und wie Alraune erwachte

An diesem Abende kam das Fräulein nicht zum Essen, liess sich von Frieda Gontram nur ein wenig Tee und ein paar Cakes hinaufbringen. Frank Braun wartete auf sie eine Weile, hoffte, dass sie vielleicht später noch herunterkommen würde. Dann ging er in die Bibliothek, nahm unlustig die Akten vom Schreibtisch auf. Aber er konnte sich nicht recht hineinlesen, klappte sie wieder zu, entschloss sich zur Stadt zu fahren. Vorher entnahm er der Schublade noch die letzten kleinen Erinnerungen: das Stückchen der Seidenschnur, die durchschossene Karte mit dem Kleeblatte und endlich das Alraunmännlein. Er packte alles zusammen, siegelte dann das braune Papier, liess das Paketchen dem Fräulein hinaufbringen. Er schrieb kein Wort hinzu – alle Erklärungen würde sie ja in dem Lederbande finden, der ihre Initialen trug.

Dann klingelte er dem Chauffeur, fuhr in die Stadt. Wie er erwartet hatte, traf er Herrn Manasse in dem kleinen Weinhause am Münsterplatze; bei ihm war Stanislaus Schacht. Er setzte sich zu ihnen, begann zu plaudern. Er vertiefte sich mit dem Rechtsanwalt in einige Rechtsfragen, erörterte das Für und Wider bei diesem und jenem Prozess. Sie beschlossen, einige zweifelhafte Sachen allein dem Justizrat zu überlassen, der sie schon zu irgendeinem annehmbaren Vergleich führen würde, bei anderen wieder glaubte Manasse bestimmt ein obsiegendes Urteil zu erreichen. In manchen Fällen schlug Frank Braun vor, ruhig ein Anerkenntnisurteil hinnehmen zu wollen, aber Manasse widersprach. Nur nicht anerkennen – und wenn des Gegners Verlangen sonnenklar war und hundertmal berechtigt! Er war der gradeste und ehrlichste Anwalt beim Landgericht, einer, der seinem Klienten gewiss stets alle Wahrheit ins Gesicht sagte und vor der Barre wohl schwieg, nie aber log – und doch war er viel zu sehr Jurist, um nicht einen eingefleischten Hass gegen jede Anerkennung zu haben.

»Es erhöht uns nur die Kosten,« wandte Frank Braun ein.

»Wenn schon!« kläffte der Rechtsanwalt. »Was macht das bei den Objekten!? – Und ich sage Ihnen: man kann nie wissen. – Irgendeine Chance hat man immer noch.«

»Eine juristische – vielleicht –« antwortete Frank Braun – »aber –« Er schwieg: anderes gab es ja nicht für den Anwalt. Das Gericht sprach Recht – darum war das Recht, wie es eben entschied. Heute so freilich – und ganz anders nach ein paar Monaten in der höheren Instanz. Dennoch: das Gericht gab schliesslich das Urteil, das dann heilig war – und nicht die Partei tat es. Anerkenntnisnehmen aber hiess selbst Urteil sprechen, hiess dem Gerichte vorgreifen. Manasse aber war Anwalt, war ganz Partei: und wie er den Richter parteilos wünschte, so war es ihm ein Greuel, wenn er selbst ein Urteil nehmen sollte oder geben für seine Partei.

Frank Braun lächelte. »Wie Sie wollen,« sagte er.

Er sprach mit Stanislaus Schacht, liess sich von dessen Freunde Dr. Mohnen erzählen und von all den andern, die damals hier waren, als er studierte. Ja, der Joseph Theyssen war nun lange schon Regierungsrat und der Klingelhöffer war Professor in Halle – der würde wohl nächstens den neuen Lehrstuhl für Anatomie hier bekommen. Und der Fritz Langen – und der Bastian – und –

Frank Braun hörte zu, blätterte in diesem lebenden Gotha der Universität, der alle Personalien kannte. »Sind Sie immer noch immatrikuliert?« fragte er.

Stanislaus schwieg, ein wenig gekränkt. Aber der Rechtsanwalt bellte: »Was? Das wissen Sie nicht? Er hat ja sein Doktorexamen gemacht – – vor fünf Jahren schon!«

Schon – vor fünf Jahren schon! Frank Braun rechnete nach. Das muste also in seinem fünfundvierzigsten, nein, im sechsundvierzigsten Semester geschehen sein.

»Also doch!« sagte er. Er erhob sich, streckte ihm die Hand hin, die der andere kräftig schüttelte. »Da erlauben Sie mir, Ihnen zu gratulieren, Herr Doktor!« fuhr er fort. – »Aber – sagen Sie mir – was fangen Sie denn nun eigentlich an?«

»Ja, wenn er das wüsste!« rief der Rechtsanwalt.

Dann kam Kaplan Schröder, Frank Braun trat auf ihn zu, ihn zu begrüssen.

»Auch einmal wieder im Lande?« rief der Schwarzrock. »Das muss man feiern!«

»Ich bin der Wirt,« erklärte Stanislaus Schacht. »Er muss mit mir auf meinen Doktorhut anstossen.«

»Und mit mir auf meine neue Vikarswürde,« lachte der Geistliche, »also teilen wir uns in die Ehre, wenn's Ihnen recht ist, Dr. Schacht.«

Sie einigten sich und der weisshaarige Vikar bestellte dreiundneunziger Scharzhofberger, den das Weinhaus durch seine Vermittlung bekommen hatte.

Er prüfte den Wein, nickte befriedigt, stiess an mit Frank Braun. »Sie haben's gut,« sagte er, »stecken die Nase in alle unbekannten Meere und Länder, man liest es ja in den Blättern. – Unsereins muss zu Hause sitzen, sich damit trösten, dass an der Mosel immer noch ein guter Wein wächst. – Die Marke da bekommen Sie draussen gewiss nicht!«

»Die Marke schon,« antwortete er, »aber den Wein nicht. – Nun, Hochwürden, was treiben Sie sonst?«

»Was soll ich treiben?« erwiderte der Geistliche. »Man ärgert sich eben: immer preussischer wird's an unserm alten Rhein. Da schreibt man zur Erholung faule Stücke für den Tünnes und den Bestevader, für den Schäl und den Speumanes und die Marizzebill. Den ganzen Plautus und den Terenz hab ich schon ausgeplündert für Peter Millowitschs Kölner Hänneschen-Theater – nun bin ich bei Holberg. Und denken Sie, der Kerl – Herr Direktor nennt er sich heute – bezahlt mir jetzt sogar Honorare – auch so eine preussische Erfindung.«

»Freuen Sie sich doch!« knurrte Rechtsanwalt Manasse. »Uebrigens hat er eine Arbeit über Jamblichos herausgegeben,« wandte er sich an Frank Braun, »und ich sage Ihnen, es ist ein ganz vorzügliches Buch.«

»Nicht der Rede wert,« rief der alte Vikar. »Nur ein kleiner Versuch –«

Stanislaus Schacht unterbrach ihn. »Gehen Sie doch!« sagte er. »Ihre Arbeit ist grundlegend für das ganze Wesen der alexandrinischen Schule, Ihre Hypothese über die Emanationslehre der Neuplatoniker –«

Er ging los, dozierte, wie ein streitbarer Bischof auf dem Konzil. Machte hie und da einige Bedenken, meinte, dass es nicht richtig sei, dass der Verfasser sich so ganz auf den Boden der drei kosmischen Prinzipien gestellt habe, wenn es ihm auch vielleicht nur so habe gelingen können, den Geist Porphyrs und seiner Schüler völlig zu erfassen. Manasse mischte sich ein, endlich auch der Vikar. Und sie stritten, als ob es nichts Wichtigeres gäbe auf der weiten Welt, als diesen seltsamen Monismus der Alexandriner, der doch im Grunde nichts war, als eine mystische Selbstvernichtung des Ichs, durch Ekstase, Askese und Theurgie.

Schweigend hörte Frank Braun zu. ›Das ist Deutschland,‹ dachte er, ›das ist mein Land.‹ – Vor einem Jahre, fiel ihm ein, hatte er in einer Bar gesessen, irgendwo in Melbourne oder Sidney – drei Männer waren mit ihm, ein Oberrichter, ein Bischof der Hochkirche und ein berühmter Arzt. Die disputierten und stritten nicht minder eifrig, wie die drei, die nun bei ihm sassen – aber es handelte sich darum, wer der bessere Boxer sei: Jimmy Walsh aus Tasmanien oder der schlanke Fred Costa, der Champion von Neu-Süd-Wales.

Hier aber sass ein kleiner Rechtsanwalt, der noch immer beim Justizrat übergangen wurde, sass ein Geistlicher, der närrische Stücke für die Puppenbühne schrieb, der wohl ein paar Titel, aber nie eine Pfarre hatte, sass endlich der ewige Student Stanislaus Schacht, der mit einigen vierzig Jahren glücklich seinen Doktor gemacht hatte und nun nicht mehr wusste, was er mit sich anfangen sollte. Und diese drei kleinen Schlucker sprachen über die gelehrtesten, weltfernsten Dinge, die dazu nicht das geringste mit ihrem Berufe zu tun hatten, sprachen mit derselben Leichtigkeit, mit derselben Sachlichkeit, mit der sich die Herren in Melbourne über einen Boxmatch unterhielten. Oh, ganz Amerika und ganz Australien konnte man durchsieben und dazu neun Zehntel von Europa – und man würde nicht eine solche Fülle von Wissen finden –

›– Nur – es ist tot,‹ seufzte er. ›Es ist längst verstorben und riecht nach Verwesung – freilich, die Herren merken es nicht!‹

Er fragte den Vikar, wie es seinem Pflegesohne ginge, dem jungen Gontram. Sogleich unterbrach sich Rechtsanwalt Manasse.

»Ja, erzählen Sie, Hochwürden, deshalb bin ich ja gerade hergekommen. Was schreibt er?«

Vikar Schröder knöpfte den Rock auf, zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Brief. »Da, lesen Sie selbst!« sagte er. »Sehr tröstlich klingt's nicht!« Er reichte das Kuvert dem Rechtsanwalt.

Frank Braun warf einen raschen Blick auf den Poststempel. »Aus Davos?« fragte er. »So ward ihm doch seiner Mutter Erbteil?«

»Leider,« seufzte der alte Geistliche. »Und er war ein so frischer, guter Junge, der Josef! Eigentlich gar nicht zum Geistlichen geschaffen, – ich hätte ihn, weiss Gott, was anderes studieren lassen, ob ich auch selbst den schwarzen Rock trage, wenn ich's nicht seiner Mutter versprochen hätte auf dem Totenbette. Uebrigens würde er schon seinen eigenen Weg gegangen sein, so wie ich auch – ich sag Ihnen: summa cum laude hat er sein Doktorexamen gemacht! Ich bekam alle Dispense für ihn beim Erzbischof, der mir persönlich ja sehr wohlwill. Bei der Arbeit über Jamblichos hat er mir tüchtig geholfen – ja aus ihm könnte etwas werden! Nur – leider –«

Er stockte, leerte langsam sein Glas. »Kam es so plötzlich, Hochwürden?« fragte Frank Braun.

»Das kann man wohl sagen,« antwortete der Geistliche. »Den ersten Anstoss gab gewiss eine seelische Impression: der plötzliche Tod seines Bruders Wolf. Sie hätten den Josef sehen sollen, draussen auf dem Friedhof; er wich nicht von meiner Seite, während ich meine kleine Rede hielt, starrte auf einen gewaltigen Kranz blutroter Rosen, der auf dem Sarge lag. Er hielt sich aufrecht, bis die Feier beendet war, dann aber fühlte er sich so schwach, dass wir ihn förmlich tragen mussten, Schacht und ich. Im Wagen schien er besser, aber zu Hause bei mir wurde er wieder ganz apathisch. Und das einzige, das ich an diesem Abend aus ihm herausholen konnte, war: dass er nun der Letzte sei von den Gontrambuben und dass jetzt er an der Reihe sei. Und diese Apathie wich nicht mehr, er blieb von Stund an überzeugt, dass seine Tage gezählt seien, obwohl die Professoren nach sehr eingehender Untersuchung mir eigentlich im Anfang recht viel Hoffnung machten. Dann ging es rapid, von Tag zu Tag konnte man den Verfall feststellen. – Nun haben wir ihn nach Davos geschickt – aber es scheint, dass das Lied bald aus ist.«

Er schwieg, dicke Tränen standen in seinen Augen. – »Seine Mutter war zäher,« brummte der Rechtsanwalt, »die lachte sechs Jahre lang dem Klappermann ins Gesicht.«

»Gott schenke ihrer Seele ewigen Frieden,« sagte der Vikar und füllte die Gläser. »Trinken wir auf sie einen stillen Schluck – in memoriam.

Sie hoben die Gläser und leerten sie. »Nun ist er bald ganz allein, der alte Justizrat,« bemerkte Dr. Schacht. »Nur seine Tochter scheint völlig gesund zu sein – sie ist die einzige, die ihn einmal überleben wird.«

Der Rechtsanwalt knurrte: »Die Frieda? – Nein, das glaub ich nicht.«

»Und warum nicht?« fragte Frank Braun.

»Weil – weil –« begann er. »Ach, warum soll ich's nicht sagen!?« Er sah ihn an, bissig, wütend, als wolle er ihm an die Kehle fahren. »Warum die Frieda nicht alt werden wird, wollen Sie wissen? – Ich will's Ihnen sagen: weil sie nun ganz in den Klauen steckt – von der verdammten Hexe da draussen! – Darum nicht – nun wissen Sie's!«

›Hexe‹ – dachte Frank Braun, ›er nennt sie Hexe, so wie es Ohm Jakob tut in seinem Lederbande.‹

»Wie meinen Sie das, Herr Rechtsanwalt?« fragte er.

Und Manasse bellte: »Genau, wie ich's sage. – Wer dem Fräulein ten Brinken zu nahe kommt – der klebt fest, wie die Fliege im Sirup; und wer einmal festklebt bei ihr – der erstickt und da nützt kein Zappeln! – Nehmen Sie sich in acht, Herr Doktor, ich warne Sie! Es ist undankbar genug – so zu warnen, ich hab's schon einmal getan – ohne jeden Erfolg – bei dem Wölfchen. – Jetzt sind Sie daran – fliehen Sie fort, solange es noch Zeit ist. Was wollen Sie auch noch hier? – Es sieht mir gerade so aus, als ob Sie schon leckten von ihrem Honig!«

Frank Braun lachte, aber es klang ein wenig gewollt. »Meinetwillen kein Grund zur Angst, Herr Rechtsanwalt!« rief er. – Aber er überzeugte den andern nicht – und weniger noch sich selbst. –

Sie sassen und tranken. Tranken auf den Doktorhut Schachts und auf die Vikarswürde des Geistlichen. Tranken auch auf das Wohlergehen Karl Mohnens, von dem keiner mehr etwas gehört hatte, seit er die Stadt verliess. »Er ist verschollen.« sagte Stanislaus Schacht; dann wurde er sentimental und sang gefühlvolle Lieder.

Frank Braun empfahl sich. Ging zu Fusse hinaus nach Lendenich, durch die duftenden Frühlingsbäume – wie in alter Zeit.

 

Er kam über den Hof, da sah er Licht in der Bibliothek. Er ging hinein – Alraune sass auf dem Diwan.

»Du hier, Mühmchen?« grüsste er. »So spät noch auf?«

Sie antwortete nicht, winkte ihm mit der Hand Platz zu nehmen. Er setzte sich ihr gegenüber, wartete. Aber sie schwieg und er drängte sie nicht.

Endlich sagte sie: »Ich wollte mit dir sprechen.« Er nickte, aber sie schwieg wieder.

So begann er: »Du hast den Lederband gelesen?«

»Ja.« sagte sie. Sie holte tief Atem, sah ihn an. »Ich bin also nur ein – ein Witz, den du einmal machtest, Frank Braun?«

»Ein Witz –?« wandte er ein. »Ein – Gedanke, wenn du willst –«

»Also gut, ein Gedanke,« sagte sie. »Was liegt an dem Wort? – Was ist ein Witz anderes als ein lustiger Gedanke? Und ich meine – er war lustig genug.« Sie lachte hell auf. »Aber nicht darum warte ich hier auf dich; ich will etwas anderes von dir wissen. Sag mir: glaubst du daran?«

»Woran soll ich glauben?« antwortete er. »Ob alles so war, wie es der Onkel erzählt in dem Lederband? Ja, das glaub ich wohl.«

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Natürlich ist es so – warum sollte er lügen in diesem Bande? – Ich will wissen, ob du auch glaubst – so wie das mein – mein – also: dein Onkel tat – dass ich ein anderes Wesen bin, wie andere Menschen, dass ich – nun, das bin, was mein Name bedeutet?«

»Wie soll ich dir diese Frage beantworten?« sagte er. »Frag einen Physiologen – der wird dir sicher erwidern, dass du genau so gut ein Mensch bist wie jeder andere auf der Welt, wenn auch dein Debüt hier ein etwas ungewöhnliches war. – Wird hinzufügen, dass alle die Geschehnisse reine Zufälligkeiten waren, Nebensächlichkeiten, die –«

»Das geht mich nichts an,« unterbrach sie. »Für deinen Onkel wurden diese Nebensächlichkeiten zur Hauptsache. Es ist auch im Grunde wohl gleichgültig, ob sie das waren, oder nicht. Ich will von dir wissen: teilst du diese Ansicht? Glaubst du auch, dass ich ein besonderes Wesen sei?«

Er schwieg, suchte nach einer Antwort; wusste nicht, was er erwidern sollte. Er glaubte es wohl – und glaubte es doch wieder nicht –

»Siehst du –« begann er endlich.

»Sprich doch,« drängte sie. »Glaubst du: dass ich dein frecher Witz bin – der dann Formen annahm? Dein Gedanke, den der alte Geheimrat in seinen Tiegel warf, den er kochte und destillierte, bis das daraus wurde, was nun vor dir sitzt?«

Diesmal besann er sich nicht. »Wenn du es so fassest: ja, das glaube ich.«

Sie lachte leicht auf. »Ich dachte es mir wohl. – Und darum wartete ich auf dich, heute nacht, um dich, so bald wie möglich, von diesem Hochmut zu heilen. Nein, Vetter, du warfst nicht diesen Gedanken in die Welt, du nicht – so wenig, wie der alte Geheimrat es tat.«

Er verstand sie nicht: »Wer denn sonst?« fragte er.

Sie griff mit der Hand unter die Kissen. »Das da!« rief sie. Sie warf das Alräunchen leicht in die Luft, fing es wieder auf. Streichelte es zärtlich mit nervösen Fingern.

»Das da? Warum das da?« fragte er.

Sie gab zurück: »Dachtest du je früher daran – vor dem Tage, als Justizrat Gontram die Kommunion der beiden Kinder feierte?«

»Nein,« erwiderte er, »gewiss nicht.«

»Dann aber sprang dies Ding von der Wand herab: da kam dir der Gedanke! – Ist es nicht so?«

»Ja,« bestätigte er, »so war es.«

»Nun wohl,« fuhr sie fort, »so kam er von aussen zu dir hin, irgendwoher. Als der Rechtsanwalt Manasse seine Rede hielt, als er wie ein gelehrtes Buch schwatzte, euch auseinandersetzte, was dies Alräunchen sei und was es bedeute – da wuchs die Idee in deinem Hirn. Ward gross und stark, so stark, dass du die Kraft fandest, sie deinem Onkel zu suggerieren, ihn zu bestimmen, sie auszuführen: mich zu schaffen. Wenn es also stimmt, Frank Braun, dass ich ein Gedanke bin, der in die Welt kam und Menschenform annahm, so bist du nur ein vermittelndes Werkzeug – nicht mehr, wie der Geheimrat oder sein Assistenzarzt, nicht anders wie –« Sie stockte, schwieg.

Nur einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: »– wie die Dirne Alma und der Raubmörder, die ihr zusammenkuppeltet – ihr und – der Tod!«

Sie legte das Alräunchen auf die Seidenkissen, sah es an mit fast innigen Blicken. Und sie sagte: »Du bist mein Vater, du bist meine Mutter. Du bist das, was mich schuf.«

Er schaute ihr zu. ›Vielleicht ist es so,‹ dachte er. ›Die Gedanken wirbeln durch die Lüfte, wie der Blütenstaub, spielen herum, senken sich endlich in irgendeines Menschen Hirn. Oft verkümmern sie dort, verdorren und sterben – o wenige nur finden einen guten Nährboden. – ›Vielleicht hat sie recht,‹ dachte er. ›Mein Hirn war immer eine gut gedüngte Pflanzstätte für alle Narrheiten und krausen Phantasien.‹ Und es schien ihm gleichgültig, ob er einst dieses Gedankens Samen in die Welt warf – oder ob er die fruchtbare Erde war, die ihn aufnahm.

Aber er schwieg, liess sie bei ihren Gedanken. Blickte sie an: ein Kind, das mit seinem Püppchen spielte.

Sie erhob sich langsam, liess das hässliche Männlein nicht aus den Händen.

»Ich wollte dir noch etwas sagen,« sprach sie leise. »Zum Danke dafür, dass du mir den Lederband gabst und ihn nicht verbranntest.«

»Was ist es?« fragte er.

Sie unterbrach sich. »Soll ich dich küssen?« fragte sie. »Ich kann küssen –«

»Das wolltest du sagen, Alraune?« sagte er.

Sie erwiderte: »Nein, das nicht! – Ich dachte nur: dann könnte ich dich auch einmal küssen. Dann – Aber erst will ich dir das sagen, was ich wollte: geh fort!«

Er biss sich in die Lippen. »Warum?«

»Weil – weil es wohl besser ist,« antwortete sie. »Für dich – vielleicht auch für mich. Aber darauf kommt es nicht an. – Ich weiss ja nun, wie es steht – bin nun ja – aufgeklärt. Und ich denke: wie es bisher ging, wird es wohl weiter gehen – nur, dass ich nicht blind mehr daherlaufe – dass ich nun sehe: alles. Und dann – dann wäre nun wohl an dir die Reihe. Und darum ist es besser, wenn du gehst.«

»Bist du deiner Sache so sicher?« fragte er. Und sie sprach: »Muss ich nicht?«

Er zuckte die Achseln. »Vielleicht – ich weiss es nicht. Aber sage mir: warum möchtest du mich schonen?«

»Ich hab dich gern,« sagte sie still. »Du warst gut zu mir.«

Er lachte. »Waren das die andern nicht?«

»Doch,« antwortete sie, »jeder war es. Aber ich empfand es nicht so. Und sie – alle – sie liebten mich. – Du nicht – noch nicht.«

Sie ging zum Schreibtisch, nahm eine Postkarte und gab sie ihm. »Hier ist eine Karte von deiner Mutter; sie kam heute abend schon, der Diener brachte sie aus Versehen herauf, mit meiner Post. Ich las sie. Deine Mutter ist krank – sie bittet dich so sehr, zurückzukommen – auch sie.«

Er nahm die Karte. Starrte vor sich hin, unschlüssig. Er wusste, dass sie recht hatten, alle beide, fühlte gut, dass es Narrheit sei, hier zu bleiben. Und dann fasste ihn ein knabenhafter Trotz, der ihm ›nein‹ zuschrie, ›nein!‹

»Wirst du fahren?« fragte sie.

Er zwang sich; sprach mit fester Stimme: »Ja, Base!«

Er sah sie scharf an, belauerte jeden Zug ihres Gesichtes. Ein kleines Zucken um die Mundwinkel, ein leichter Seufzer hätte ihm genügt, irgend etwas das ihm ihr Bedauern gezeigt hätte. Aber sie blieb still und ernst, kein Hauch bewegte ihre starre Maske.

Das kränkte ihn, verletzte ihn, deuchte ihm ein Affront und eine Beleidigung. Er presste die Lippen fest aufeinander. ›So nicht,‹ dachte er, ›so gehe ich nicht.‹

Sie kam auf ihn zu, reichte ihm die Hand. »Gut,« sagte sie, »gut. – Nun will ich gehen. – Ich will dich auch küssen zum Abschied, wenn du magst.«

Da flackerte ein rasches Feuer in seinen Augen. Ohne es zu wollen, sagte er: »Tu es nicht, Alraune, tu es nicht!« Und seine Stimme nahm ihren Tonfall an.

Sie hob den Kopf, fragte rasch: »Warum nicht?«

Wieder gebrauchte er ihre Worte, aber sie empfand, dass es nun Absicht war. »Ich hab dich gern,« sagte er, »du warst gut zu mir, heute. – Manche rote Lippen küsste mein Mund – und sie wurden sehr bleich. Nun – nun wäre wohl die Reihe an dir. Und darum ist es besser, wenn du mich nicht küsst!«

Sie standen sich gegenüber, stahlhart leuchteten ihre Augen. Unmerklich spielte ein Lächeln um seine Lippen, blank und scharf war seine gute Waffe. Nun mochte sie wählen. Ihr ›Nein‹ war sein Sieg und ihre Niederlage – – leichten Herzens konnte er dann gehen. Ihr ›Doch‹ aber war der Kampf.

Und sie empfand das alles – so gut wie er. Wie am ersten Abende würde es sein, genau so. Nur: damals war es der Anfang und ein erster Hieb – da war noch Hoffnung auf manchen Gang in dem Zweikampf. Jetzt aber – war es das Ende.

Er aber war es, der den Handschuh warf –

Sie griff ihn auf. »Ich fürchte mich nicht,« sprach sie.

Er schwieg, sein Lächeln erstarb auf seinen Lippen. – Nun wurde es Ernst.

»Ich will dich küssen,« wiederholte sie.

Er sagte: »Nimm dich in acht! – Auch ich werde dich küssen.«

Sie hielt seinen Blick. »Ja,« sagte sie. – Dann lächelte sie. »Setz dich, du bist ein wenig zu gross für mich!«

»Nein,« rief er hell, »so nicht!« Er ging zu dem breiten Diwan, legte sich lang hin, bettete den Kopf in die Kissen. Streckte die Arme weit aus nach beiden Seiten, schloss die Augen.

»Nun komm, Alraune!« rief er.

Sie trat näher, kniete zu seinen Häupten. Zögerte, schaute ihn an, warf sich dann plötzlich zu ihm nieder, fasste seinen Kopf, drängte ihre Lippen auf die seinen.

Er umarmte sie nicht, rührte die Arme nicht. Aber seine Finger krampften sich zur Faust. Er fühlte ihre Zunge, spürte ihrer Zähne leichten Biss –

»Küss weiter,« flüsterte er, »küss weiter.«

Irgendein roter Nebel lag vor seinen Augen. Er hörte des Geheimrats hässliches Lachen, sah die grossen, seltsamen Augen der Frau Gontram, wie sie den kleinen Manasse bat, ihr das Alräunchen zu erklären. Hörte das Kichern der beiden Festmädchen Olga und Frieda und die zerbrochene und doch so schöne Stimme der Madame de Vere, die »Les Papillons« sang. Sah den kleinen Husarenleutnant, der eifrig dem Rechtsanwalt zuhörte, sah Karl Mohnen, wie er das Alräunchen abwischte mit der grossen Serviette –

»Küss weiter!« murmelte er.

Und Alma – ihre Mutter. Rot wie ein Feuerbrand, schneeweiss die Brüste mit kleinen blauen Adern. Und die Hinrichtung ihres Vaters – so wie sie Ohm Jakob geschildert hatte in dem Lederbande – aus der Fürstin Mund –

Und die Stunde, in der der Alte sie schuf – und die andere, in der sein Arzt sie zur Welt brachte –

»Küss mich,« flehte er, »küss mich.«

Er trank ihre Küsse, sog das heisse Blut seiner Lippen, die ihre Zähne zerrissen. Und er berauschte sich, wissend und mit Willen, wie an schäumendem Wein, wie an seinen Giften vom Osten –

»Lass,« rief er plötzlich, »lass, du weisst nicht, was du tust!«

Da drängten sich ihre Locken noch enger um seine Stirn, fielen ihre Küsse wilder noch und heisser.

Nun lagen zertreten des Tages klare Gedanken. Nun wuchsen die Träume, schwoll des Blutes rotes Meer. Nun schwangen Mänaden die Thyrsosstäbe, schäumte des Dionysos heiliger Rausch.

»Küss mich –« schrie er.

Aber sie liess ihn los, liess die Arme sinken. Er schlug die Augen auf, blickte sie an.

»Küss mich!« wiederholte er leise. Glanzlos blickte ihr Auge, kurz ging ihr Atem. Langsam schüttelte sie den Kopf.

Da sprang er auf. »So will ich dich küssen,« rief er. Hob sie hoch auf die Arme, warf die Sträubende auf den Diwan. Kniete nieder – dahin, wo sie eben gekniet hatte.

»Schliess die Augen –« flüsterte er.

Und er beugte sich nieder –

Gut, gut waren seine Küsse. – Schmeichelnd und weich, wie ein Harfenspiel in der Sommernacht. Wild auch, jäh und rauh, wie ein Sturmwind über dem Nordmeer. Glühend, wie ein Feuerhauch aus des Aetna Mund, reissend und verzehrend, wie des Maelstroms Strudel –

›Es versinkt,‹ fühlte sie, ›alles versinkt.‹

Dann aber schlugen die Lohen, brannten himmelhoch alle heissen Flammen. Flogen die Brandfackeln, zündeten die Altäre, wie mit blutigen Lefzen der Wolf durch das Heiligtum sprang.

Sie umschlang ihn, presste sich eng an seine Brust –

»Ich brenne,« jauchzte sie – »ich verbrenne–«

Da riss er die Kleider ihr vom Leibe.

 

Hoch schien die Sonne, da erwachte sie. Sie sah wohl, dass sie nackt dalag, aber sie bedeckte sich nicht. Sie wandte den Kopf, sah ihn aufrecht neben sich sitzen – nackt wie sie selbst.

Sie fragte: »Wirst du fahren heute?«

»Willst du, dass ich fahren soll?« gab er zurück.

»Bleibe,« flüsterte sie, »bleibe!«


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