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Zwölftes Kapitel, das berichtet, wie Frank Braun in Alraunens Welt tritt

 

Frank Braun war zurückgekommen in seiner Mutter Haus. Irgendwoher von einer seiner planlosen Reisen, aus Kaschmir oder vom bolivianischen Chaco. Oder vielleicht von Westindien, wo er Revolution spielte in närrischen Republiken, oder von der Südsee, wo er Märchen träumte mit den schlanken Töchtern sterbender Völker.

Irgendwoher kam er –

Langsam ging er durch seiner Mutter Haus. Hinauf durch das weisse Treppenhaus, an dessen Wänden sich Rahmen an Rahmen drängten, alte Stiche und moderne Radierungen. Durch seiner Mutter weite Räume, in welche die Frühlingssonne durch gelbe Vorhänge fiel. Dort hingen die Ahnen. Viele Brinkens, kluge und scharfe Gesichter, Leute, die wussten, wo sie standen in dieser Welt. Dann Urgrossvater und Urgrossmutter – gute Bilder aus der Kaiserzeit. Und die schöne Grossmutter – sechzehnjährig, in der frühen Tracht der Königin Viktoria. Hingen Vater und Mutter, hing auch sein eigen Bildnis. Einmal als Kind, den grossen Ball in der Hand, mit langen, weissblonden Kinderlocken, die über die Schultern fielen. Und als Knabe, in schwarzsamtenem Pagenkostüm, lesend in einem dicken, alten Buche.

Dann, im nächsten Zimmer, die Kopien. Ueberallher, von der Dresdener Gallerie, von der Casseler und der Braunschweiger. Vom Palazzo Pitti, vom Prado und vom Riyksmuseum. Viele Holländer, Rembrandt, Frans Hals, Ostade, dann Murillo, Tizian, Velasquez und Veronese. Alle waren ein wenig nachgedunkelt, leuchteten in roten Goldtönen in der Sonne, die die Gardine brach.

Und weiter, durch die Zimmer, wo die Modernen hingen. Manche gute Bilder und manche weniger gute – aber nicht ein schlechtes war dabei und kein süssliches. Und rings standen die alten Möbel, viel Mahagoni – Empire, Directoire und Biedermeier. Keine Eiche, aber manch einfaches, modernes Stück dazwischen. Nirgends ein einheitlicher Stil, ein Durcheinander nur, wie es die Jahre brachten. Und doch eine stille, volle Harmonie: unter sich war alles verwandt, was hier stand.

Er stieg hinauf in die Etage, die die Mutter ihm gegeben hatte. Alles war so, wie er es gelassen hatte, als er das letztemal auszog – vor zwei Jahren. Kein Briefbeschwerer stand anders, kein Stuhl war verrückt. Ja, die Mutter passte schon auf, dass die Mägde vorsichtig waren und respektvoll – trotz allem Reinmachen und Staubwischen.

Und hier, mehr noch wie sonst im Hause, herrschte ein wirres Gedränge unzähliger, krauser Dinge, auf dem Boden wie an den Wänden: fünf Weltteile gaben hierher, was sie nur hatten an Absonderlichem und Bizarrem. Grosse Masken, wilde hölzerne Teufelsgötzen vom Bismarckarchipel, chinesische und anamitische Flaggen, viele Waffen aus aller Herren Länder. Dann Jagdtrophäen, ausgestopfte Tiere, Jaguar- und Tigerfelle, grosse Schildkröten, Schlangen und Krokodile. Bunte Trommeln von Luzon, langhalsige Streichinstrumente aus Radschputana, naive Gusslen Albaniens. An einer Wand ein mächtiges rotbraunes Fischernetz, bis über die Decke hin, und darin riesige Seesterne und Igel, Sägen vom Sägefisch, silberschimmernde Schuppen vom Tarpon. Gewaltige Spinnen, merkwürdige Tiefseefische, Muscheln und Schnecken. Alte Brokate über den Möbeln, dann indische Seidengewänder, bunte spanische Mantillen und Mandarinenmäntel mit grossen Golddrachen. Viele Götter auch, silberne und goldene Buddhas in allen Grössen, indische Reliefs Schiwas, Krischnas und Ganeschas. Und die absurden, obszönen Steingötzen der Tschanvölker. Dazwischen, wo nur ein Plätzchen frei war an den Wänden, Glasrahmen. Ein frecher Rops, wilde Goyas und eine kleine Zeichnung Jean Callots. Dann Cruikshank, Hogarth und manche bunten, grausamen Blätter aus Kambodscha und Mysore. Viele moderne daneben, die der Künstler Namen und ihre Widmung trugen. Möbel aller Stile und aller Kulturen, dicht besetzt mit Bronzen, mit Porzellanen und unendlichem Kleinkram.

Dies alles, dies war Frank Braun. Seine Kugel schlug die Eisbärin, deren weisses Fell sein Fuss trat, er selbst angelte den Blauhai, dessen mächtiges Gebiss mit dreifachen Zahnreihen dort im Netze hing. Er nahm den wilden Bukaleuten diese vergifteten Pfeile und Speere ab, ihm schenkte der Mandschupriester diesen närrischen Götzen und diese hohen, silbernen Priesterbügel. Mit eigener Hand stahl er den schwarzen Donnerstein aus dem Waldtempel der Houdon-Badagri, trank mit eigenen Lippen aus dieser Bombita in Mate Blutsbrüderschaft mit dem Häuptling der Tobaindianer an den sumpfigen Ufern des Pilcomayo. Für diese krummen Schwerter gab er seine beste Jagdflinte einem Malaiensultan auf Nordborneo, für jene andern, langen Richtschwerter sein kleines Taschenschachspiel dem Vizekönig von Schantung. Diese wundervollen indischen Teppiche schenkte ihm der Maharadscha von Vigatpuri, dem er das Leben rettete auf der Elefantenjagd, und die tönerne achtarmige Durga, rot bespritzt vom Blute von Ziegen und Menschen, erhielt er vom Oberpriester der entsetzlichen Kali zu Kalighat –

Sein Leben lag in diesen hohen Räumen, jede Muschel, jeder bunte Fetzen erzählte ihm lange Erinnerungen. Da lagen seine Opiumpfeifen, da die grosse Mescaldose, aus silbernen Mexikodollars zusammengeschlagen, neben ihr die fest verschlossenen Büchschen mit Schlangengiften von Insulinde. Und ein goldener Armreif – mit zwei herrlichen Katzenaugen – den gab ihm einst in Birma ein ewig lachendes Kind. Viele Küsse musste er dafür zahlen –

Herum auf dem Boden, übereinandergehäuft, standen und lagen Kisten und Koffer – einundzwanzig. Die hielten seine neuen Schätze – keiner war noch geöffnet. »Wohin nur damit?« lachte er.

Quer vor dem grossen Doppelfenster streckte sich eine lange, persische Lanze in die Luft; ein sehr grosser, schneeweisser Kakadu sass darauf. Ein Makassarvogel, mit hohem, flamingorotem Schopf.

»Guten Morgen, Peter!« grüsste Frank Braun.

»Atja, Tuwan!« antwortete der Vogel. Er stieg gravitätisch über die Stange, dann seinen Ständer hinab. Kletterte von da auf einen Stuhl und hinab zum Boden. Kam mit krummen, würdigen Tritten zu ihm hin, kletterte an ihm hinauf, auf die Schulter. Spreizte den stolzen Schopf, schlug die Flügel weit auseinander, wie das preussische Wappentier. »Atja, Tuwan! Atja, Tuwan!« rief er.

Er kraute ihm den Hals, den ihm der weisse Vogel entgegenstreckte. »Wie geht's, Peterchen? – Freust du dich, dass ich wieder einmal da bin?«

Er ging hinab, eine halbe Treppe, trat auf den grossen gedeckten Balkon, wo die Mutter ihren Tee trank. Unten im Garten leuchteten alle Kerzen des mächtigen Kastanienbaumes; weiter hinten, in dem grossen Klostergarten, lag ein weisses Meer von leuchtendem Blütenschnee. Unter den lachenden Bäumen wandelten die braunkuttigen Franziskaner.

»Da ist der Pater Barnabas!« rief er.

Die Mutter setzte die Brille auf, schaute hinab. »Nein,« antwortete sie, »es ist der Pater Cyprian –«

Auf dem eisernen Geländer des Balkons hockte ein grüner Amazonas. Und wie er den Kakadu dort hinsetzte, eilte der kleine, freche Papagei auf ihn zu. Komisch genug, immer überquer, wie ein latschender, galizischer Hausierer.

»Alright,« schrie er, »alright! – Lorita real di España e di Portugal! – Anna Mari-i-i-i-i-a!« Und er hackte nach dem grossen Vogel, der den Schopf spreizte und ganz leise sagte: »Ka–kadu.«

»Immer noch so frech, Phylax?« fragte Frank Braun.

»Jeden Tag wird er frecher.« lachte die Mutter. »Nichts ist mehr sicher vor ihm, am liebsten möchte er das ganze Haus abnagen.« Sie tauchte ein Stückchen Zucker in ihren Tee und gab es ihm in dem Silberlöffel.

»Hat der Peter was gelernt?« fragte er.

»Gar nichts,« erwiderte sie. »Nur sein schmeichlerisches ›Kakadu‹ spricht er, und dann seine malaiischen Brocken.« »Und die verstehst du leider nicht,« lachte er.

Die Mutter sagte: »Nein – Aber meinen grünen Phylax verstehe ich um so besser. Er redet den lieben, langen Tag, in allen Sprachen der Welt – immer wieder Neues. Bis ich ihn in irgendeinen Schrank sperre, um eine halbe Stunde Ruhe zu haben.« Sie nahm den Amazonas, der nun mitten auf dem Teetisch spazierte und die Butter attackierte, setzte den zappelnden Vogel zurück auf das Geländer.

Ihr braunes Hündchen kam, stellte sich auf die Hinterbeine, schmiegte das Köpfchen an ihr Knie. »Ja – du bist auch da,« sagte sie, »willst deinen Tee haben.« Sie goss Tee und Milch in den kleinen roten Napf, brockte ihm Weissbrot hinein und ein Stückchen Zucker.

Frank Braun blickte hinunter auf die weiten Gärten.

Da spielten zwei runde Stacheligel auf dem Rasen, naschten die jungen Keime. Uralt mussten sie sein – er selbst hatte sie einmal mitgebracht aus dem Walde, von einem Schulausflug. Wotan hiess das Männchen und das Weibchen Tobias Meier. Aber vielleicht waren es auch ihre Enkel oder Urenkel. – Und er sah, neben dem weissblühenden Magnolienbusch einen kleinen Hügel: da hatte er einst seinen schwarzen Pudel begraben. Zwei grosse Yukkas wuchsen dort, die würden im Sommer grosse Blüten treiben mit hundert weissen, klingenden Glocken. Nun aber, zum Frühling, hatte die Mutter viele bunte Primeln dort pflanzen lassen.

Efeu kroch hinauf an der hohen Mauer des Hauses und viel wilder Wein, bis hinauf auf das Dach. Da lärmten und zwitscherten die Spatzen.

»Dort hat die Drossel ihr Nest, dort, siehst du?« sagte die Mutter. Sie zeigte hinab auf den hölzernen Torbogen, der vom Hof hinunter in den Garten führte; halbversteckt lag in dichtem Efeu das runde Nestchen.

Er musste suchen, bis er es entdeckte. »Drei kleine Eier hat sie schon.« sagte er.

»Nein, es sind vier,« belehrte ihn die Mutter, »heute morgen hat sie das vierte gelegt.«

»Ja, vier!« nickte er. »Nun kann ich sie alle sehn. – Es ist schön bei dir, Mutter.«

Sie seufzte, legte ihre alte Hand auf die seine. »O ja, mein Junge – es ist schön. – Wenn ich nur nicht immer so allein wäre.«

»Allein?« fragte er. »Hast du nicht mehr soviel Besuch wie früher?«

Sie sagte: »Doch, jeden Tag kommen sie. Viele junge Menschen, die sich umsehen nach dem alten Frauchen. Kommen zum Tee, kommen zum Abendessen, jeder weiss ja, wie ich mich freue, wenn man sich ein wenig um mich kümmert. Aber siehst du, mein Junge, es sind doch Fremde. – Du bist es doch nicht.«

»Nun bin ich ja da.« sagte er. Und er wechselte das Gespräch, erzählte von allerlei kuriosem Zeug, das er mitgebracht habe, fragte sie, ob sie dabei sein wolle, wenn er auspacke.

Dann kam das Mädchen, brachte die Post herauf, die eben gekommen war. Er riss seine Briefe auf, warf einen flüchtigen Blick hinein.

Er stutzte, sah einen Bogen genau an. Es war ein Brief des Justizrats Gontram, der ihm kurze Mitteilung von dem machte, was in seines Oheims Hause geschehen war. Auch eine Abschrift des Testaments war beigefügt und der Wunsch ausgesprochen, dass er so bald wie möglich herüberfahren möge, um die Angelegenheiten zu ordnen. Er, der Justizrat, sei vom Gericht provisorisch bestellt worden; jetzt, da er höre, dass er wieder zurück sei in Europa, bäte er ihn, ihm seine Verpflichtung abzunehmen.

Die Mutter beobachtete ihn. Sie kannte seine kleinste Geste, jeden geringsten Zug seines glatten, sonnenverbrannten Gesichts. Und sie las in dem leisen Zucken seiner Mundwinkel, dass es etwas Wichtiges sei.

»Was ist es?« fragte sie. Und ihre Stimme zitterte.

»Nichts Schlimmes.« antwortete er leicht. »Du weisst ja, dass Ohm Jakob tot ist.«

»Ja, das weiss ich,« sagte sie. »Es war traurig genug.«

»Nun gut.« nickte er. »Der Justizrat Gontram schickt mir das Testament. Ich bin Vollstrecker und soll dazu Vormund des Mädchens werden. – Da muss ich wohl nach Lendenich fahren.«

»Wann willst du fahren?« fragte sie schnell.

»Nun –« sagte er. »Ich denke – heute abend.«

»Fahre nicht,« bat sie, »fahre nicht! Drei Tage bist du erst zurück bei mir, nun willst du schon wieder fort.«

»Aber Mutter,« wandte er ein, »es ist ja nur für ein paar Tage. Nur um da ein wenig Ordnung zu schaffen.«

Sie sagte: »Das sagst du immer: ein paar Tage nur! – Und dann bleibst du fort, durch Jahre hindurch.«

»Du musst es doch einsehen, liebe Mutter!« beharrte er. »Hier ist das Testament: der Onkel hat dir eine recht ansehnliche Summe vermacht und mir auch – was ich gewiss nicht von ihm erwartet hätte. Und wir können es doch gut gebrauchen, alle beide.«

Sie schüttelte den Kopf. »Was soll mir das Geld, wenn du nicht bei mir bist, mein Junge?«

Er stand auf, küsste sie auf die grauen Haare. »Liebe Mutter, zum Ende der Woche bin ich wieder bei dir. Ich fahre ja nur zwei Stunden weit mit der Bahn.«

Sie seufzte tief, streichelte seine Hände: »Zwei Stunden – oder zweihundert Stunden, wo ist der Unterschied? – Du bist fort – so oder so!«

»Adieu, liebe Mutter,« sagte er. Ging hinauf, packte nur einen kleinen Handkoffer, kam noch einmal auf den Balkon. »Da siehst du! Kaum für zwei Tage reicht es – auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, lieber Junge!« sagte sie still. Sie hörte, wie er die Treppen hinabsprang, hörte unten die Türe ins Schloss fallen. Sie legte die Hand auf den klugen Kopf ihres Hündchens, das sie mit treuen Augen tröstend ansah.

»Liebes Tierchen,« sprach sie, »nun sind wir wieder allein. – Oh, nur um zu gehen, kommt er – wann werden wir ihn wiedersehn?«

Schwere Tränen tropften aus ihren guten Augen, zogen über die Furchen ihrer Wangen, fielen hinunter auf die langen, braunen Ohren des Hündleins. Das leckte sie ab, mit seiner roten Zunge.

Dann hörte sie unten die Klingel, hörte Stimmen und Tritte die Treppe hinauf. Rasch wischte sie die Tränen aus den Augen, schob das schwarze Spitzentuch auf dem Scheitel zurecht. Stand auf, beugte sich über das Geländer, rief hinab in den Hof, dass die Köchin frischen Tee bereiten solle, für die Gäste, die da kamen.

Oh, es war gut, dass so viele kamen, sie zu besuchen. Damen und Herren – heute und immer. Mit denen konnte sie plaudern, konnte erzählen – – von ihrem Jungen.

 

Justizrat Gontram, dem er seine Ankunft gedrahtet hatte, erwartete ihn am Bahnhof. Nahm ihn mit, führte ihn auf die Gartenterrasse des Kaiserhofes, erzählte ihm alles, was nötig war. Und er bat ihn, noch heute hinauszufahren nach Lendenich, um mit dem Fräulein zu sprechen und dann gleich am andern Morgen zu ihm aufs Bureau zu kommen. Er könne nicht sagen, dass ihm das Fräulein Schwierigkeiten mache, aber er habe ein so seltsames, unangenehmes Gefühl ihr gegenüber, das ihm jedes Zusammenkommen unleidlich mache. Das sei komisch, er habe doch so manche Verbrecher – Raubmörder, Totschläger, Einbrecher, Kindesmörderinnen, Engelmacherinnen und was es nur gäbe, kennen gelernt und er habe immer gefunden, dass es recht nette, umgängliche Menschen seien – ausserhalb ihres Berufes. Bei dem Fräulein aber, dem man doch gar nichts vorwerfen könne, habe er immer eine Empfindung, wie sie andere Menschen solchen Zuchthauszöglingen gegenüber hätten. Aber das müsse wohl an ihm liegen –

Frank Braun bat ihn, anzutelephonieren und ihn zu melden bei dem Fräulein. Dann verabschiedete er sich, schlenderte gemächlich durch die Anlagen, schlug den Fahrweg ein, auf Lendenich zu. Er schritt durch das alte Dorf, kam an dem heiligen Nepomuk vorbei, nickte ihm zu. Stand vor dem Eisentor, schellte, blickte in den Hof. Drei mächtige Gaskandelaber brannten in der Einfahrt, wo früher ein armseliges Lämpchen leuchtete – das war das einzige Neue, was er sah.

Oben, von ihrem Fenster, blickte das Fräulein hinab, suchte die Züge des Fremden in dem flakkernden Lichte zu erkennen. Sie sah, wie Aloys seine Schritte beschleunigte, wie er rascher wie sonst den Schlüssel ins Schloss steckte. »Guten Abend, junger Herr!« rief der Diener. Und der Fremde bot ihm die Hand, nannte ihn beim Namen, als ob er nur zurückgekommen sei von einer kleinen Reise, in sein Haus. »Wie geht's, Aloys?«

Dann wackelte der alte Kutscher über die Steine, so schnell ihn die krummen Gichtbeine tragen wollten. »Junger Herr,« krähte er, »junger Herr! Willkommen auf Brinken!«

Frank Braun antwortete: »Froitsheim! Auch noch da? Das freut mich, Sie noch einmal zu sehen!« Und er schüttelte ihm kräftig beide Hände.

Die Köchin kam und die breithüftige Haushälterin, mit ihnen Paul, der Kammerdiener. Die ganze Gesindestube leerte sich, zwei alte Mägde drängten sich vor, ihm die Hände zu reichen, wischten sie vorher sorgfältig ab an den Schürzen.

»Gelobt sei Jesus Christus!« grüsste ihn der Gärtner. Und er lachte: »In Ewigkeit, Amen!«

»Der junge Herr ist da!« rief die grauhaarige Köchin und nahm dem Dienstmann, der ihm folgte, den kleinen Koffer ab. Alle umstanden ihn, jeder verlangte einen besondern Gruss, einen Händedruck, irgendein Wort. Und die jungen, die, die ihn nicht kannten, standen dabei, starrten ihn an mit offenen Augen und verlegenem Lachen. Etwas abseits stand der Chauffeur, rauchte seine kurze Pfeife: selbst auf seinen indolenten Zügen schimmerte ein freundliches Lächeln. Das Fräulein ten Brinken schnippte mit den Fingern. »Er scheint beliebt hier, mein Herr Vormund,« sagte sie halblaut. Und sie rief hinunter: »Bringt die Sachen des Herrn in sein Zimmer! – Und du, Aloys, führ ihn herauf.«

Irgendein Reif fiel in den frischen Lenz dieses Willkomms. Sie liessen die Köpfe hängen, sprachen nicht mehr. Nur Froitsheim presste ihm noch einmal die Hand, geleitete ihn zu der Herrentreppe. »Es ist gut, dass Sie da sind, junger Herr.«

Frank Braun ging auf sein Zimmer, wusch sich. Folgte dann dem Kammerdiener, der meldete, dass gedeckt sei. Trat in das Speisezimmer.

Einen Augenblick war er allein, schaute sich um. Dort stand noch immer das riesige Büfett, prunkte noch immer mit den schweren goldenen Tellern, die das Wappen der Brinken trugen. Aber es lagen heute keine Früchte darauf. »Ist noch zu früh im Jahre,« murmelte er. – »Vielleicht hat auch die Base kein Interesse an den Erstlingen.«

Dann, von der andern Seite, kam das Fräulein. In schwarzem Seidenkleide, reich mit Spitzen besetzt, fussfrei. Einen Augenblick blieb sie stehen in der Türe, trat dann näher, begrüsste ihn: »Guten Abend, Herr Vetter.«

»Guten Abend,« sagte er, streckte ihr die Hand entgegen. Sie reichte ihm nur zwei Fingerspitzen, aber er tat, als bemerkte er es nicht. Nahm die ganze kleine Hand, schüttelte sie kräftig.

Sie lud ihn mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen, setzte sich ihm gegenüber. »Man muss wohl ›du‹ sagen zueinander?« begann sie.

»Gewiss,« nickte er, »so war es Brauch bei den Brinken von jeher.« Und er hob sein Glas: »Auf dein Wohl, kleine Base.«

›Kleine Base‹, dachte sie, ›er nennt mich: kleine Base. Wie ein Spielpüppchen betrachtet er mich.‹ – Aber sie tat ihm Bescheid. »Prosit, grosser Vetter.« Sie leerte ihr Glas, winkte dem Diener, es neu zu füllen. Und sie trank noch einmal: »Auf dein Wohl – Herr Vormund!«

Das machte ihn lachen. Vormund – Vormund? Es klang so würdig. – ›Bin ich wirklich schon so alt?‹ dachte er. Und er antwortete: »Auf das deine, kleines Mündel.«

Sie ärgerte sich. – ›Kleines Mündel, wieder: kleines?› – Oh, es würde sich ja schon zeigen, wer dem andern überlegen war von ihnen beiden.

»Wie geht es deiner Mutter?« fragte sie.

»Danke,« nickte er. »Gut, denke ich. – Du kennst sie ja noch gar nicht? – – Hättest sie schon einmal besuchen können.«

»Sie hat uns ja auch nicht besucht,« erwiderte sie. Dann, da sie sein Lächeln sah, setzte sie schnell hinzu: »Wirklich, Vetter, wir haben nie daran gedacht.«

»Kann ich mir denken,« sagte er trocken.

»Papa hat kaum von ihr gesprochen – und von dir überhaupt nicht.« Sie sprach ein wenig zu rasch, überhastete sich. »Es hat mich eigentlich gewundert, weisst du, dass er gerade dich –«

»Mich auch,« unterbrach er sie, »Und er hat es gewiss nicht ohne Absicht getan.«

»Absicht?« fragte sie. »Welche Absicht?«

Er zuckte mit den Achseln. »Das weiss ich noch nicht. – Aber es wird sich ja wohl noch herausstellen.«

Das Gespräch stockte nicht. Wie ein Ballspiel war es, hin und zurück flogen die kurzen Sätze. Sie blieben höflich, liebenswürdig und zuvorkommend, aber sie beobachteten einander, waren wohl auf der Hut. Kamen nie zusammen: ein straffes Netz spannte sich zwischen ihnen.

Nach der Tafel führte sie ihn ins Musikzimmer. »Willst du Tee?« fragte sie. Aber er bat um Whisky und Soda.

Sie setzten sich, plauderten weiter. Dann stand sie auf, ging zum Flügel. »Soll ich etwas singen?« fragte sie.

»Bitte!« sagte er höflich.

Sie hob den Deckel, setzte sich. Wandte sich dann um, fragte: »Hast du besondere Wünsche, Vetter?«

»Nein,« erwiderte er. »Ich kenne ja dein Repertoire nicht, kleine Base.«

Sie presste leicht die Lippen. ›Das wird er sich abgewöhnen müssen,‹ dachte sie. Sie schlug ein paar Töne an, sang eine halbe Strophe. Brach ab, begann ein ander Lied. Brach auch das ab, sang nun ein paar Takte von Offenbach, und wieder einige Zeilen von Grieg –

»Du scheinst nicht recht in Stimmung zu sein,« bemerkte er ruhig.

Sie legte die Hände in den Schoss, schwieg eine Weile, trommelte nervös auf den Knien. Dann hob sie die Hände, senkte sie rasch auf die Tasten. Und sie begann:

»Il etait une bergère,
et ron et ron, petit patapon,
il etait une bergère,
qui gardait ses moutons.«

Sie wandte sich um zu ihm, spitzte das Mäulchen. O ja, dies kleine Gesichtchen, das die kurzen Locken rings umrahmten, konnte ganz gut einer zierlichen Schäferin gehören –

»Elle fit un fromage,
et ron et ron, petit patapon,
eile fit un fromage
du lait de ses moutons.«

›Hübsche Schäferin!‹ dachte er. ›Und – arme Schäfchen.‹

Sie wiegte das Köpfchen, streckte den linken Fuss seitwärts, schlug mit dem zierlichen Schuh den Takt auf dem Parkettboden.

»Le chat qui la regarde,
et ron et ron, petit patapon,
le chat qui la regarde,
d'un petit air fripon!

Si tu y mets la patte,
et ron et ron, petit patapon,
si tu y mets la patte,
tu auras du bâton!«

Sie lächelte ihn voll an, ihre blanken Zähne leuchteten. ›Meint sie, ich solle ihr Kätzchen spielen?‹ dachte er.

Ein wenig ernster wurde ihr Gesicht, ganz versteckt klang eine leichte spöttische Drohung ihrer halben Stimme.

»Il n'y mit pas la patte,
et ron et ron, petit patapon,
il n'y mit pas la patte,
il y mit le menton.

La bergère en colère,
et ron et ron, petit patapon,
la bergère en colère,
tua son petit chaton!«

»Hübsch,« sagte er. »Woher hast du das Kinderliedchen?«

»Vom Kloster,« antwortete sie, »die Schwestern sangen es.«

Er lachte: »Sieh da: vom Kloster! Das hätte ich nicht geahnt. – Sing zu Ende, kleine Base.«

Sie sprang auf vom Klavierstuhl. »Ich bin zu Ende: das Kätzchen ist tot – da ist das Liedchen aus!«

»Nicht so ganz.« erklärte er. »Aber deine frommen Nönnchen scheuten die Strafe – so liessen sie das hübsche Schäfermädchen ungestraft seine böse Sünde begehen! – Spiel noch einmal: ich will dir erzählen, wie es dem Mädchen weiter erging.«

Sie ging zurück zum Flügel, spielte die Melodie. Er sang:

»Elle fut à confesse,
et ron et ron, petit patapon,
elle fut à confesse
pour obtenir pardon.

Mon père, je m'accuse,
et ron et ron, petit patapon,
mon père, je m'accuse,
d'avoir tue mon chaton!

Ma fille, pour pénitence,
et ron et ron, petit patapon,
ma fille, pour pénitence,
nous nous embrasserons!

La pénitence est douce,
et ron et ron, petit patapon,
la pénitence est douce – –
nous recommencerons!«

»Fertig?« fragte sie.

»O ja, ganz und gar!« lachte er. »Wie gefällt dir die Moral, Alraune?«

Es war das erstemal, dass er sie mit ihrem Namen anredete – das fiel ihr auf, so achtete sie nicht die Frage. »Gut!« erwiderte sie gleichgültig.

»Nicht wahr?« rief er. »Eine nette Moral: sie lehrt, dass kleine Mädchen nicht ungestraft ihr Spielkätzchen umbringen dürfen!«

Er stand dicht vor ihr. Wohl zwei Haupteslängen überragte er sie und sie musste hoch aufsehen, um seinen Blick zu fassen. Sie dachte, wie viel es doch ausmacht – diese dummen dreissig Zentimeter! Sie wünschte auch in Herrentracht zu sein: schon ihre Röcke gaben ihm einen Vorteil. Und zugleich fiel ihr ein, dass sie bei keinem der andern diese Empfindung gehabt habe. Aber sie reckte sich auf, schüttelte leicht die Locken. »Nicht alle Schäferinnen tun solche Busse,« zwitscherte sie.

Er parierte: »Und nicht alle Beichtväter absolvieren so leicht.«

Sie suchte nach einer Antwort und fand keine. Das ärgerte sie. Sie hätte ihm gerne gedient – auf seine Weise. Aber diese Art war ihr neu – wie eine ungewohnte Sprache war es, die sie wohl verstand, aber selbst noch nicht recht sprechen konnte.

»Gute Nacht, Herr Vormund,« sagte sie rasch. »Ich will zu Bett.«

»Gute Nacht, kleine Base,« lächelte er. »Träume süss!«

Sie stieg die Treppe hinauf. Sprang nicht wie sonst; ging langsam und nachdenklich. Er gefiel ihr nicht, der Vetter, o nein! Aber er reizte sie, spornte ihren Widerspruch. ›Wir werden schon mit ihm fertig werden,‹ dachte sie.

Und sie sagte, als die Jungfer ihr das Mieder löste und das lange Spitzenhemd reichte: »Es ist gut, Käte, dass er da ist! Das unterbricht die Langeweile.« – Es freute sie fast, dass sie dies Vorpostengeplänkel verloren hatte.

 

Frank Braun hatte lange Sitzungen mit Justizrat Gontram und Rechtsanwalt Manasse. Er beriet mit dem Vormundschaftsrichter und dem Erbschaftsrichter, hatte manche Laufereien und recht überflüssige Scherereien. Mit dem Tode seines Onkels waren die strafrechtlichen Anzeigen freilich abgeschnitten, dafür aber waren die zivilrechtlichen Klagen zu einer Hochflut angeschwollen. Alle kleinen Krämer, die sonst ein schielender Blick der Exzellenz zittern machte, wagten sich nun hervor, kamen mit immer neuen Forderungen, Ansprüchen auf Entschädigung oft recht zweifelhafter Natur.

»Die Staatsanwaltschaft hat nun Ruhe vor uns,« sagte der alte Justizrat, »und die Strafkammer braucht sich auch nicht zu bemühen. Aber dafür haben wir das Landgericht für uns allein gepachtet. – Die zweite Zivilkammer ist auf ein halbes Jahr hinaus ein Privatinstitut des seligen Geheimrats.«

»Das wird Seiner Seligkeit Spass machen, wenn sie es von ihrem höllischen Bratkessel aus beobachten kann,« bemerkte der Rechtsanwalt. »Solche Prozesse waren ihm nur dutzendweise sympathisch.«

Und er lachte auch, als ihm Frank Braun die Burberger Erzkuxe übergab, die sein Erbteil waren.

»Jetzt möchte der Alte hier sein,« knurrte er, »Ihr Gesicht zu belauern auf eine halbe Stunde! Warten Sie nur, Sie werden eine kleine Ueberraschung haben.«

Er nahm die Papiere, zählte sie. »Hundertachtzigtausend Mark,« referierte er, »hundert Mille für die Frau Mutter – der Rest für Sie! – Nun passen Sie einmal auf.« Er nahm das Hörrohr, liess sich mit dem Schaafhausenschen Bankverein verbinden, verlangte einen der Herren Direktoren zu sprechen.

»Hallo!« bellte er. »Sind Sie es, Friedberg? – Also bitte, ich habe einige Burberger Erzkuxe da – zu welchem Preise kann man sie veräussern?« Ein wieherndes Lachen scholl aus dem Telephon, in das Herr Manasse laut einstimmte.

»Ich dachte es mir –« rief er dazwischen. »– Also gar nichts wert – was? Auf Jahre hinaus neue Zubussen zu erwarten?! – Am besten den ganzen Kram verschenken – na natürlich!

– Ein Schwindelunternehmen, das sich sicher über kurz oder lang in Wohlgefallen auflöst?! – Ich danke Ihnen, Herr Direktor, verzeihen Sie die Störung!«

Er hing das Hörrohr an, wandte sich grimmig an Frank Braun. »So, nun wissen Sie Bescheid! – Und nun machen Sie genau das dumme Gesicht, das Ihr menschenfreundlicher Onkel erwartet hatte – entschuldigen Sie gütigst die Wahrheitsliebe! – Aber lassen Sie mir nur die Papiere – es ist möglich, dass einer der andern Gewerken aus irgendeinem Interesse sie doch nimmt und Ihnen ein paar hundert Mark dafür zahlt: dann werden wir einen guten Tropfen dafür trinken.«

 

Die grösste Schwierigkeit, ehe Frank Braun zurück war, bildeten die fast täglichen Verhandlungen mit der grossen Mühlheimer Kreditbank. Von Woche zu Woche hatte sich die Bank mit äusserster Kraftanstrengung hingeschleppt, immer in der Hoffnung, die von dem Geheimrat feierlich versprochene Hilfe von seinen Erben wenigstens zum Teil zu erhalten. Mit heroischem Mute hatten die Direktoren, die Herren vom Vorstand und vom Aufsichtsrat das lecke Schiff über Wasser gehalten, stets gewärtig, dass der kleinste neue Stoss es zum Kentern bringen müsse. Die Exzellenz hatte, mit Hilfe der Bank, sehr gewagte Spekulationen glücklich durchgeführt, ihm war dies Institut eine blanke Goldquelle gewesen. Aber die neuen Unternehmungen, die sein Einfluss durchsetzte, schlugen alle fehl – freilich war sein Vermögen nicht mehr in Gefahr, wohl aber das der Fürstin Wolkonski und mancher anderen reichen Leute. Und dazu die ersparten Taler von einer grossen Anzahl kleiner Leute, Pfennigspekulanten, die dem Sterne der Exzellenz folgten. Die Rechtsvertreter der Erbschaftsmasse des Geheimrats hatten ihre Hilfe zugesagt, soweit es in ihrer Macht stand; aber dem Justizrat Gontram, als provisorischem Vormund, waren ja durch das Gesetz nicht weniger die Hände gebunden, wie dem Vormundschaftsrichter. Mündelgeld – auf einmal war es heilig!

Freilich gab es eine Möglichkeit, die hatte Manasse herausgefunden. Man konnte das Fräulein ten Brinken für majorenn erklären: dann hatte sie freie Verfügung, konnte die moralische Verpflichtung des Vaters einlösen. Daraufhin arbeiteten alle Beteiligten, in dieser Hoffnung brachten die Leute der Bank jedes letzte Opfer aus eigener Tasche. Schon hatten sie, mit letzter Kraft, vor vierzehn Tagen einen starken Run auf die Kassen siegreich abgeschlagen – nun musste die Entscheidung fallen.

Das Fräulein hatte den Kopf geschüttelt bisher. Sie hatte ruhig angehört, was ihr die Herren auseinandergesetzt hatten, dann gelächelt und ein ›Nein‹ gesagt. »Warum soll ich mündig sein?« fragte sie. »Ich fühle mach ja ganz wohl so. – Und warum soll ich Geld weggeben um die Bank zu retten, die mich gar nichts angeht?«

Der Vormundschaftsrichter hielt ihr eine lange Rede: um die Ehre ihres Vaters handle es sich! Jedermann wisse, dass er allein der Urheber aller der Schwierigkeiten des Instituts sei – da sei es wohl eine Kindespflicht, seinen guten Namen rein zu bewahren.

Alraune lachte ihm hell ins Gesicht: »Seinen guten Namen!?« Sie wandte sich an Rechtsanwalt Manasse: »Sagen Sie doch, was halten Sie davon?«

Manasse antwortete nicht, rollte sich zusammen in seinem Sessel, fauchte und zischte wie ein getretener Kater.

»Nicht sehr viel mehr wie ich, scheint's!« sagte das Fräulein. »Und ich will keinen Pfennig dafür geben.«

Der Kommerzienrat Lützman, der Vorsitzende des Aufsichtsrates, stellte ihr vor, dass sie doch Rücksicht nehmen solle auf die alte Fürstin, die dem Hause Brinken so lange intim befreundet sei. Und auf alle die kleinen Leute, die ihre sauer verdienten Groschen verlieren würden.

»Warum spekulieren sie?« fragte sie ruhig. »Warum legen sie ihr Geld in eine so zweifelhafte Bank? – Wenn ich Almosen geben wollte, wüsste ich eine bessere Verwendung.«

Ihre Logik war klar und grausam, wie ein scharfes Messer. Sie kenne ihren Vater, sagte sie, und wer mit ihm gemeinsame Sache gemacht habe, sei gewiss nicht sehr viel besser.

Aber es handele sich ja gar nicht um ein Almosen, wandte der erste Bankdirektor ein. Es bestehe die sichere Wahrscheinlichkeit, dass die Bank sich durchaus halten würde mit ihrer Hilfe; nur über diese Krise müsse man wegkommen. Sie würde ihr Geld zurückerhalten, auf Heller und Pfennig und mit allen Zinsen.

Sie wandte sich an den Vormundschaftsrichter.

»Herr Landgerichtsrat,« fragte sie, »ist ein Risiko dabei? – Ja oder nein?«

Das musste er zugeben. Ein Risiko war freilich dabei. Unvorhergesehene Umstände konnten natürlich eintreten. Er habe die amtliche Pflicht ihr das zu sagen – aber als Mensch könne er nicht anders als ihr dringend zureden, seine Bitten mit denen der andern Herren vereinen. Sie tue ein grosses und gutes Werk, rette eine Menge von Existenzen. Und die Möglichkeit eines Verlustes sei nach menschlichem Ermessen so gering.

Sie erhob sich, unterbrach ihn rasch. »Also ein Risiko ist da, meine Herren,« rief sie spöttisch, »und ich will eben kein Risiko eingehn. Ich will auch keine Existenzen retten und habe durchaus keine Lust, grosse und gute Werke zu tun.«

Sie nickte den Herrn leicht zu, ging hinaus, liess sie sitzen mit dicken, roten Köpfen.

Noch aber gab sich die Bank nicht, noch kämpfte sie weiter. Schöpfte neue Hoffnung, als ihr der Justizrat drahtete, dass Frank Braun, der eigentliche Vormund, angekommen sei. Die Herrn setzten sich sogleich mit ihm in Verbindung, verabredeten eine Zusammenkunft für einen der nächsten Tage.

Frank Braun sah wohl ein, dass er nicht so rasch wegkomme, wie er geglaubt hatte. Das schrieb er seiner Mutter.

Die alte Frau las seinen Brief, faltete ihn vorsichtig, legte ihn in die grosse, schwarze Truhe, die all seine Schreiben enthielt. Die öffnete sie, an langen Winterabenden, wenn sie ganz allein war, las dann ihrem braunen Hündchen vor, was er ihr einmal schrieb.

Und sie ging auf ihren Balkon, schaute hinunter auf den hohen Kastanienbaum, der in mächtigen Armen viele leuchtende Kerzen trug. Auf die weissen Blütenbäume des Klostergartens, unter denen die braunen Mönche still wandelten.

›Wann wird er kommen, mein lieber Junge?‹ dachte sie.

Dreizehntes Kapitel, das erwähnt, wie die Fürstin Wolkonski Alraune die Wahrheit sagte

Der Justizrat Gontram schrieb der Fürstin, die in Nauheim zur Kur war, schilderte ihr die Lage. Es dauerte einige Zeit, bis sie verstand, um was es sich handele; Frieda Gontram musste sich grosse Mühe geben, sie alles begreifen zu machen.

Erst lachte sie nur, dann wurde sie nachdenklich. Und zum Schluss jammerte sie und schrie. Als ihre Tochter eintrat, fiel sie ihr wehklagend um den Hals. »Armes Kind,« heulte sie, »wir sind Bettler. Wir liegen auf der Strasse!«

Und sie goss grosse Laugen östlichen Zornes über die tote Exzellenz, sparte ihr kein unflätiges Schimpfwort.

»Ganz so schlimm ist es nicht,« wandte Frieda ein. »Sie haben immer noch Ihre Bonner Villa und das Schlösschen am Rhein. Dann die Zinsen aus den ungarischen Weingärten. Endlich bekommt Olga ihre russische Rente und –«

»Davon kann man nicht leben!« unterbrach sie die alte Fürstin. »Man verhungert damit!«

»Wir müssen versuchen, das Fräulein umzustimmen,« bemerkte Frieda. »Wie Papa es uns rät!«

»Er ist ein Esel!« schrie sie. »Ein alter Schuft! Er war im Bunde mit dem Geheimrat, der uns bestahl! Nur durch ihn bin ich mit dem hässlichen Gauner zusammengetroffen.« Und sie meinte, dass alle Männer betrügerische Schurken seien, und dass sie noch nie im Leben einen kennen gelernt hätte, der anders gewesen wäre. Wie stünde es denn mit Olgas Mann, dem sauberen Grafen Abrantes –? Hätte der nicht auch alles durchgebracht mit schmutzigen Tingeltangelfrauenzimmern, was er nur von ihrem Gelde habe erwischen können? Nun sei er weg mit einer Zirkusreiterin, da der Geheimrat den Daumen auf die Papiere gedrückt und ihm nichts mehr herausgerückt habe –

»So hat die alte Exzellenz doch da wenigstens Gutes getan!« sagte die Gräfin.

»Gutes?« schrie ihre Mutter. – Als ob es nicht ganz gleichgültig wäre, wer die Banknoten gestohlen hätte! Schweine seien sie, der eine wie der andere.

Aber sie sah doch ein, dass man einen Versuch machen müsse. Sie wollte selbst fahren, doch redeten die beiden ihr ab. Sie würde sich hinreissen lassen, würde sicher nicht mehr erreichen, wie die Herren von der Bank. Man müsse sehr diplomatisch vorgehen, erklärte Frieda, müsse Rücksicht nehmen auf die Launen und Kapricen des Fräuleins. Sie wolle fahren, das sei das beste.

Olga meinte, dass es noch besser wäre, wenn sie führe.

Die alte Fürstin widerstand, aber Frieda erklärte, dass es gewiss nicht gut sei, wenn sie die Kur unterbreche und sich solchen Aufregungen aussetze. Das sah sie ein.

Dann einigten sich die beiden Freundinnen und fuhren zusammen. Die Fürstin blieb im Bade, aber untätig war sie nicht. Sie ging zum Pfarrer, bestellte hundert Messen für die arme Seele des toten Geheimrats: das ist echt christlich, dachte sie. Und da ihr verstorbener Mann orthodox war, so fuhr sie hinüber nach Wiesbaden, ging zur russischen Kapelle und bezahlte auch dort für hundert Seelenmessen dem Popen. Das beruhigte sie ungemein. Einmal, überlegte sie, würde es ja doch kaum etwas nützen, da die Exzellenz protestantisch war und freidenkerisch dazu. Dann aber zählte es für sie ganz gewiss als ein besonders gutes Werk: ›Segnet, die euch fluchen, liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen.‹ – Oh, das musste man schon anerkennen dort oben.

Und, zweimal am Tage, sprach sie in ihrem Gebete eine Fürbitte für die Exzellenz – mit ganz besonderer Inbrunst. So bestach sie den lieben Gott.

 

Frank Braun empfing die beiden Frauen in Lendenich, führte sie auf die Terrasse, plauderte mit ihnen von alten Zeiten. »Versucht euer Glück, Kinder,« sagte er. »Mir hat mein Reden nichts genutzt!«

»Was hat sie Ihnen geantwortet?« fragte Frieda Gontram.

»Nicht viel,« lachte er. »Sie hat gar nicht zugehört. Sie machte einen tiefen Knix und erklärte mit einem verteufelt würdigen Lächeln, dass sie die hohe Ehre meiner Vormundschaft wohl zu schätzen wisse, dass sie gar nicht daran denke, um der Fürstin willen darauf zu verzichten. Sie fügte hinzu, dass sie nicht mehr über die Sache zu sprechen wünsche. Dann knixte sie wieder, noch tiefer, lächelte wieder, noch ehrerbietiger – und verschwunden war sie!«

»Haben Sie nicht noch einen zweiten Versuch gemacht?« fragte die Gräfin.

»Nein, Olga,« sagte er. »Das muss ich nun Ihnen überlassen. – Ihr Blick, als sie fortging, war so bestimmt, dass ich die feste Ueberzeugung gewann, dass meine Ueberredungskünste genau so unfruchtbar sein würden, wie die der andern Herrn.« Er erhob sich, klingelte dem Diener, liess Tee bringen.

»Uebrigens haben Sie ja vielleicht eine Chance, meine Damen,« fuhr er fort. »Ich sagte meiner Muhme, als der Justizrat Sie beide vor einer halben Stunde telephonisch anmeldete, dass Sie kommen würden und weshalb – ich fürchtete, dass sie Sie vielleicht überhaupt nicht empfangen würde und das wollte ich jedenfalls durchsetzen. Aber ich irrte mich, sie erklärte, dass Sie ihr alle beide sehr willkommen seien, dass sie seit Monaten schon mit Ihnen in sehr reger Korrespondenz stehe. – Darum –«

Frieda Gontram unterbrach ihn. »Du schreibst ihr?« rief sie scharf.

Gräfin Olga stotterte: »Ich – ich – habe ihr ein paarmal geschrieben – ihr kondoliert – und – und –«

»Du lügst!« rief Frieda.

Da sprang die Gräfin auf. »Und du? – Schriebst du ihr nicht? Ich wusste, dass du es tatest, alle zwei Tage schriebst du, darum bliebst du stets so lange allein auf in deinem Zimmer.«

»Du hast mich ausspionieren lassen durch die Kammerjungfer!« warf ihr Frieda entgegen. Die Blicke der Freundinnen kreuzten sich, warfen einen glimmenden Hass, schärfer als Worte. Sie verstanden sich gut: die Gräfin fühlte, dass sie zum ersten Male nicht tun würde, was die Freundin verlangte, und Frieda Gontram empfand diesen ersten Widerstand gegen ihre herrschende Ueberlegenheit. Aber sie waren verbunden durch zu lange Jahre ihres Lebens, durch zu viele gemeinsame Erinnerungen – das konnte nicht so niederbrennen im Augenblick.

Frank Braun sah es wohl. »Ich störe,« sagte er. »Uebrigens wird Alraune gleich selbst kommen, sie wollte nur Toilette machen.« Er ging zur Gartentreppe, grüsste. »Ich werde die Damen ja nachher wohl noch sehen.«

Die Freundinnen schwiegen. Olga sass in dem Rohrsessel, mit grossen Schritten ging Frieda auf und nieder. Dann hielt sie an, blieb stehen vor der Freundin.

»Höre, Olga,« sagte sie leise. »Ich habe dir immer geholfen. Im Ernst und im Spiel. Bei allen deinen Abenteuern und Liebschaften. – Ist das wahr?«

Die Gräfin nickte: »Ja, das ist wahr. – Aber ich habe genau das Gleiche getan, habe dir nicht weniger geholfen.«

»So gut du's eben konntest!« sprach Frieda Gontram. »Doch will ich es gerne anerkennen. – Wollen wir also Freundinnen bleiben?«

»Gewiss!« rief Gräfin Olga. »Nur – nur – Ich verlange ja nicht viel!«

»Was verlangst du?« fragte die andere.

Und sie antwortete: »Mach mir keine Hindernisse!«

»Hindernisse?« gab Frieda zurück. »Was für Hindernisse? Jede soll ihr Glück versuchen – wie ich es dir schon sagte auf dem Lichtmessball!«

»Nein,« beharrte die Gräfin. »Ich will nicht mehr teilen. Ich habe so oft mir dir geteilt – und habe immer den kürzeren gezogen. Es ist ungleich – darum sollst du verzichten diesmal, mir zuliebe.«

»Wieso ungleich?« rief Frieda Gontram. »Doch höchstens zu deinen Gunsten – du bist die Schönere.«

»Ja,« erwiderte ihre Freundin, »aber das ist nichts. Du bist die Klügere. Und ich habe es oft erfahren müssen, dass das mehr wert ist in – in diesen Sachen.«

Frieda Gontram griff ihre Hand. »Komm Olga,« schmeichelte sie, »sei vernünftig. Wir sind ja hier nicht nur wegen unserer Gefühle. – Hör zu: wenn es mir gelingt, das kleine Fräulein umzustimmen, wenn ich dir und deiner Mutter die Millionen rette – willst du mir dann freie Hand lassen? – Geh in den Garten, lass mich allein mit ihr.«

Grosse Tränen traten aus den Augen der Gräfin. »Ich kann nicht,« flüsterte sie. »Lass du mich mit ihr reden – ich will dir ja gerne das Geld lassen. – Dir ist es ja doch nur eine rasche Laune.«

Frieda seufzte laut auf, warf sich auf die Chaiselongue, griff mit den hageren Händen tief in die Seidenkissen. »Eine Laune? – Glaubst du, dass ich solche Umstände mache einer Laune willen? – Bei mir, fürchte ich, sieht es nicht viel anders aus wie bei dir!« Starr schienen ihre Züge, hart blickten die klaren Augen ins Leere. Olga sah sie, sprang auf, kniete nieder vor der Freundin, die beugte den blonden Kopf. Ihre Hände fanden sich, eng pressten sie sich aneinander, schweigend mischten sich ihre Tränen.

»Was sollen wir tun?« fragte die Gräfin.

»Verzichten!« sagte Frieda Gontram scharf. »Verzichten – alle beide. – Mag daraus werden, was will!«

Gräfin Olga nickte, drängte sich eng an die Freundin.

»Steh auf,« flüsterte diese. »Da kommt sie. – Trockne rasch deine Tränen. – Da, nimm mein Taschentuch.«

Olga gehorchte, ging hinüber auf die andere Seite. Aber Alraune ten Brinken sah wohl, was geschehen war.

Sie stand in der grossen Türe, in schwarzen Trikots, wie der lustige Prinz aus der Fledermaus. Sie verbeugte sich kurz, grüsste, küsste den Damen die Hände. »Nicht weinen,« lachte sie, »nicht weinen, das macht die schönen Aeuglein trüb.«

Sie klatschte in die Hände, rief dem Diener zu, dass er Champagner bringen solle. Sie füllte selbst die Kelche, reichte sie den Damen und nötigte sie, zu trinken, »'s ist mal bei mir so Sitte,« trällerte sie, »chacun a son goût.«

Sie führte die Gräfin Olga zu der Chaiselongue, streichelte ihre vollen Arme. Setzte sich dann neben Frieda Gontram, schenkte ihr einen langen, lachenden Blick. Sie blieb in ihrer Rolle, bot Cakes an und Petits fours, tropfte Peau d'Espagne aus ihrem Goldfläschchen auf die Tücher der Damen.

Und dann, plötzlich, begann sie. »Ja, nicht wahr, es ist sehr traurig, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Es tut mir so sehr leid.«

Frieda Gontram richtete sich auf, öffnete die Lippen, mühsam genug. »Und warum nicht?« fragte sie.

»Ich habe gar keinen Grund,« antwortete Alraune. »Wirklich gar keinen! – Ich mag einfach nicht – das ist alles.« Sie wandte sich an die Gräfin: »Glauben Sie, dass die Mama sehr darunter leiden wird?« Sie schliff das: sehr – dabei zwitscherte sie süss und grausam zugleich, wie eine Schwalbe auf ihrem Jagdflug.

Die Gräfin zitterte unter ihrem Blick. »Ach nein,« sagte sie, »nicht so sehr.« Und sie wiederholte Friedas Worte: – »Sie hat ja noch ihre Bonner Villa und das Schlösschen am Rhein. Dann die Zinsen aus den ungarischen Weingärten. Und endlich bekomme ich meine russische Rente und –«

Sie stockte, mehr wusste sie nicht; sie hatte keine Ahnung von ihren Verhältnissen, wusste kaum, was Geld eigentlich war. Nur, dass man damit in schöne Läden gehen könne, Hüte zu kaufen und andere hübsche Sachen. Und dazu würde es ja wohl völlig genug sein. Sie entschuldigte sich ordentlich, es sei nur so ein Gedanke von Mama gewesen. Aber das Fräulein möge sich nur ja nicht bemühen, sie hoffe nur, dass dieser unliebsame Zwischenfall keine Trübung bringe in ihre Freundschaft –

Sie schwatzte daher, ohne nachzudenken, unvernünftig und sinnlos. Fing nicht einen der strengen Blicke der Freundin, duckte sich warm unter dem grünstrahlenden Auge des Fräulein ten Brinken, wie ein Waldhäschen in der Sonne der Kohlfelder.

Frieda Gontram wurde unruhig. Zuerst ärgerte sie sich über die ungeheure Dummheit ihrer Freundin, dann fand sie ihre Art abgeschmackt und lächerlich. Keine Fliege, dachte sie, fliegt so täppisch auf den Giftzucker. Endlich aber, je mehr Olga plauderte, je schneller unter dem Blicke Alraunens die konventionelle Schneedecke ihrer Gefühle dahinschmolz, erwachte auch in Frieda das Empfinden wieder, das zu unterdrücken sie gerade fest bestrebt war. Nun wanderten ihre Blicke hinüber, hefteten sich eifersüchtig genug auf des Prinzen Orlowski schlanke Gestalt.

Alraune bemerkte es. »Ich danke Ihnen, liebe Gräfin,« sagte sie, »das beruhigt mich ungemein, was Sie da sagen.« Sie wandte sich zu Frieda Gontram: »Der Justizrat hat mir nämlich solche Mordgeschichten von dem sicheren Ruin der Fürstin vorerzählt!«

Frieda suchte nach einem letzten Halt, gab sich gewaltsam einen Ruck. »Mein Vater hat recht gehabt,« erklärte sie schroff. »Natürlich ist der Zusammenbruch unvermeidlich. – Die Fürstin wird das Schlösschen verkaufen müssen –«

»Oh, das macht gar nichts,« erklärte die Gräfin, »wir sind ohnehin nie dort!«

»Schweig doch!« rief Frieda. Ihre Augen trübten sich, sie fühlte, dass sie ganz zwecklos für eine verlorene Sache kämpfte. »Die Fürstin wird ihren Haushalt auflösen müssen, wird sich nur sehr schwer an die veränderten Verhältnisse gewöhnen. Ob sie sich ein Auto halten kann, ist zweifelhaft; vermutlich nicht mehr.«

»Ach, wie schade!« flötete der schwarze Prinz.

»Auch Pferde und Wagen wird sie verkaufen müssen,« fuhr Frieda fort, »die Dienerschaft grösstenteils entlassen –«

Alraune unterbrach sie: »Wie ist es mit Ihnen, Fräulein Gontram? Werden Sie bei der Fürstin bleiben?«

Sie stutzte bei dieser Frage, die ihr völlig unerwartet kam. »Ich –« stammelte sie, »– ich – aber gewiss –«

Da flötete das Fräulein ten Brinken: »Sonst würde ich mich sehr freuen, wenn ich Ihnen mein Haus anbieten dürfte. Ich bin so allein, ich gebrauche Gesellschaft – kommen Sie zu mir.«

Frieda kämpfte, schwankte einen Augenblick: »Zu Ihnen – Fräulein –?«

Aber Olga warf dazwischen: »Nein, nein! Sie muss bei uns bleiben! – Sie darf meine Mutter jetzt nicht verlassen.«

»Ich war nie bei deiner Mutter,« erklärte Frieda Gontram. »Ich war bei dir.«

»Einerlei!« rief die Gräfin. »Bei mir oder ihr. – Ich will nicht, dass du hier bleibst!«

»O Verzeihung,« spottete Alraune, »ich glaubte, dass das Fräulein seinen eigenen Willen habe.«

Gräfin Olga erhob sich, alles Blut wich aus ihrem Gesicht. »Nein,« schrie sie, »nein, nein!«

»Ich nehme keinen, der nicht von selbst kommt,« lachte der Prinz, »das ist mal so Sitte bei mir. Und ich dränge auch nicht ;– bleiben Sie nur bei der Fürstin, wenn Sie das lieber mögen, Fräulein Gontram.« Sie trat nahe hin zu ihr, griff ihre beiden Hände. »Ihr Bruder war mein guter Freund,« sagte sie langsam, »und mein Spielkamerad. – Ich habe ihn oft geküsst –«

Sie sah, wie diese Frau, fast doppelt so alt wie sie selbst, ihre Lider senkte unter ihren Blicken, fühlte, wie ihre Hände feucht wurden unter ihrer Finger leichter Berührung. Sie trank diesen Sieg, kostete ihn aus.

»Wollen Sie hier bleiben?« flüsterte sie.

Frieda Gontram atmete schwer. Ohne den Blick zu heben, trat sie hin zu der Gräfin. »Verzeih mir, Olga,« sagte sie, »ich muss bleiben.«

Da warf sich ihre Freundin auf das Sofa, grub den Kopf in die Kissen, wand sich in hysterischem Schluchzen.

»Nein,« jammerte sie, »nein, nein!« Richtete sich auf, hob die Hand, als ob sie die Freundin schlagen wolle, lachte dann gell auf. Lief die Treppe hinab in den Garten, ohne Hut, ohne Sonnenschirm. Ueber den Hof und hinaus in die Gassen.

»Olga!« rief ihr die Freundin nach. »Olga! – Höre doch! Olga!«

Aber das Fräulein ten Brinken sagte: »Lass sie nur. Sie wird schon zahm werden.« – Hochmütig klang ihre Stimme.

 

Frank Braun frühstückte, draussen im Garten, unter dem Fliederbaum; Frieda Gontram gab ihm seinen Tee. »Es ist gewiss gut für dies Haus,« sagte er, »dass Sie da sind. Nie sieht man, dass Sie etwas tun und doch läuft alles am Schnürchen. Die Dienstboten haben eine seltsame Abneigung gegen meine Base, gefallen sich in einer passiven Resistenz. Die Leute haben keine Ahnung von sozialen Kampfmitteln, aber schon waren sie bei einer Art Sabotage angelangt. Und die offene Revolution wäre längst ausgebrochen, wenn sie nicht ein wenig Liebe zu mir hätten. Nun sind Sie im Hause – und plötzlich geht alles von selbst. – Ich mache Ihnen mein Kompliment, Frieda!«

»Danke,« erwiderte sie. »Ich bin froh, wenn ich etwas tun kann für Alraune.«

»Nur«, fuhr er fort, »werden Sie bei der Fürstin um so mehr vermisst, da geht alles drunter und drüber, seit die Bank ihre Zahlung eingestellt hat. Da, lesen Sie meine Post!« Er schob ihr einige Briefe hinüber.

Aber Frieda Gontram schüttelte den Kopf. »Nein – entschuldigen Sie – ich will nichts lesen. Will nichts wissen von alledem.«

Er beharrte: »Sie müssen es wissen, Frieda. Wenn Sie die Briefe nicht lesen wollen, will ich Ihnen die Tatsachen kurz mitteilen. »Ihre Freundin ist aufgefunden worden –«

»Lebt sie?« flüsterte Frieda.

»Ja, sie lebt!« erklärte er. »Als sie von hier weglief, irrte sie herum, die ganze Nacht durch und den nächsten Tag. Sie muss erst hineingegangen sein ins Land auf die Berge zu. Dann im Bogen zurück an den Rhein. Fährleute sahen sie nicht weit von Remagen. Sie beobachteten sie, blieben in ihrer Nähe, da ihnen ihr Benehmen verdächtig vorkam. Und als sie den Sprung tat von der Krippe hinab, ruderten sie heran, fischten sie nach wenigen Minuten aus den Fluten. Das war gegen Mittag, vor vier Tagen. Sie brachten die sich heftig Sträubende zum Gerichtsgefängnis – «

Frieda Gontram stützte ihren Kopf in beide Arme. »Ins Gefängnis –?« fragte sie leise.

»Gewiss,« antwortete er. »Wohin hätten sie sie wohl sonst bringen sollen? Es lag auf der Hand, dass sie in Freiheit den Selbstmordversuch sofort erneuern würde – so wurde sie in Schutzhaft genommen. Dazu verweigerte sie jede Auskunft, schwieg hartnäckig. Uhr, Portemonnaie, sogar ihr Taschentuch hatte sie längst weggeworfen – und aus der Krone und den verrückten Buchstaben in ihren Wäschezeichen konnte niemand klug werden. Erst als die von Ihrem Vater veranlassten behördlichen Recherchen eintrafen, stellte man ihre Persönlichkeit fest.«

»Wo ist sie?« fragte Frieda.

»In der Stadt,« erwiderte er. »Der Justizrat holte sie von Remagen, brachte sie in die Privatirrenanstalt des Professors Dalberg. Hier ist sein Bericht – ich fürchte, dass Gräfin Olga wohl recht lange dort wird bleiben müssen. Gestern abend ist die Fürstin eingetroffen. – Sie, Frieda, sollten Ihre arme Freundin bald einmal besuchen, der Professor stellt fest, dass sie sehr still und ruhig ist.«

Frieda Gontram erhob sich. »Nein, nicht!« rief sie. »Ich kann nicht –« Langsam ging sie über die Kieswege unter duftendem Flieder.

Frank Braun sah ihr nach. Wie eine marmorne Larve schien dies Gesicht, wie ein festes Schicksal in harten Stein geschnitten. Dann, plötzlich, fiel ein Lächeln auf die kalte Maske, wie ein leichter Sonnenstrahl, mitten durch tiefen Schatten. Ihre Lider hoben sich, ihre Augen blickten durch die Rotbuchenallee, die zum Herrenhause führte. – Und er hörte das helle Lachen Alraunes.

›Seltsam ist ihre Macht,‹ dachte er. ›Ohm Jakob hat schon recht in seines Lederbandes Meditationen.‹

Er überlegte. O ja, es war schwer sich ihr zu entziehen. Keiner wusste, was es war, und doch flogen sie alle in diese heisse Stichflamme. – Auch er? Er?

Das war gewiss: es war da etwas, das ihn reizte. Er verstand nicht recht, wie es wirkte – auf seine Sinne, auf sein Blut, oder vielleicht auf das Hirn – aber dass es wirkte, empfand er gut. Es war nicht wahr, dass er allein um ihrer Angelegenheiten willen noch immer da war, wegen der Prozesse und Vergleiche – nun der Fall der Mühlheimer Bank entschieden war, konnte er mit Hilfe der Anwälte recht gut alles erledigen – auch ohne persönlich hier zu sein.

Und doch war er da – immer noch. Er stellte fest, dass er sich selbst belog, dass er künstlich neue Gründe sich schuf, mit allen möglichen langwierigen Verhandlungen, um seine Abreise zu verschieben. Und es deuchte ihn fast, als ob seine Base das merkte, ja, als ob ihr stiller Einfluss ihn so handeln mache.

›Ich werde morgen nach Hause fahren,‹ dachteer.

Dann sprang ihm der Gedanke in den Nacken: ›Warum denn?‹ Fürchtete er sich etwa? Hatte er Angst vor diesem zarten Kinde? Steckten ihn die Narreteien an, die sein Oheim in dem Lederbande niedergelegt hatte?

Was würde geschehen? Im schlimmsten Falle ein kleines Abenteuer! Gewiss nicht sein erstes – und sein letztes kaum! War er nicht ein ebenbürtiger Gegner, ein überlegener vielleicht? Lagen nicht auch Leichen auf dem Lebenswege, den sein Fuss schritt? – Warum sollte er fliehen?

Er schuf sie einst: er, Frank Braun. Sein war der Gedanke, und ein Instrument nur war des Onkels Hand. Sein Wesen war sie – viel mehr noch wie das der Exzellenz.

Jung war er damals, schäumend wie Most. Voll bizarrer Träume, voll himmelstürmender Phantasien; er spielte Fangball mit den Sternen. Da brach er eine seltene Frucht aus dem finsteren Urwald des Unerforschlichen, der seine wilden Schritte hemmte. Fand einen guten Gärtner, dem gab er sie. Und der Gärtner senkte den Kern in die Erde, begoss den Keim, pflegte das Reis, wartete des jungen Bäumchens.

Nun war er zurück: da leuchtete ihm sein Blütenbaum. Giftig war er sicherlich: wer unter ihm ruhte, den traf sein Hauch. Manche starben davon – viele, die lustwandelten in seinem süssen Dufte – der kluge Gärtner auch, der ihn pflegte.

Er aber war nicht der Gärtner, dem über alles sein seltener Blütenbaum lieb ward. War nicht einer der Leute, die im Garten wandelten, zufällig und unbewusst.

Er war der, der einst die Frucht brach, die den Kern gab. Seither aber war er manche Tage geritten durch die wilden Wälder des Unerforschlichen, war tief gewatet durch die schwülen Fiebersümpfe des Unbegreiflichen. Manches heisse Gift hatte da seine Seele geatmet, manchen Pesthauch und manch grausamen Rauch sündiger Brände. Ach, es schmerzte wohl, quälte sehr und riss eiternde Schwären – aber es warf ihn nicht. Gesund ritt er von neuem unter des Himmels Dach – nun ward er sicher genug, wie in blauem Panzer aus Stahl.

O gewiss: er war immun –

Kein Kampf, ein Spiel schien es ihm nun. – Dann aber – gerade dann, wenn es nur ein Spiel war – sollte er gehen – war es nicht so? Wenn sie nur ein Püppchen war – gefährlich für alle andern, ein harmloses Spielzeug aber für seine starken Fäuste – dann war dies Abenteuer billig genug. Nur – wenn es wirklich ein Kampf war, einer mit gleich starken Waffen – nur dann war es der Mühe wert –

›Schwindel!‹ dachte er wieder. Wem erzählte er denn eigentlich diese Heldeneigenschaften? Hatte er nicht oft genug allzu sichere Siege gekostet? – Episoden?

Nein, es war nicht anders, wie es stets war. Kannte man jemals des Gegners Kräfte? War nicht der kleinen Giftwespe Stich weit gefährlicher, wie des Kaimans Rachen, dem seine Winchesterbüchse in sicherem Arm gegenüberlag?

Er fand nicht heraus, lief herum im Kreise, wie er sich auch drehte. Kam immer zu dem Punkte: Bleibe!

»Guten Morgen, Vetter,« lachte Alraune ten Brinken. Sie stand dicht vor ihm, neben Frieda Gontram.

»Guten Morgen,« antwortete er kurz. »Lies die Briefe da. – Es würde dir nichts schaden, wenn du dir ein wenig überlegen wolltest, was du da wieder angestellt hast. – Es wäre Zeit, die Narrheiten zu lassen, etwas Vernünftigeres zu tun, etwas, das der Mühe wert wäre.«

Sie sah ihn scharf an. »So?« sagte sie, jedes Wort lang dehnend: »Und was, meinst du, wäre wohl der Mühe wert?«

Er erwiderte nichts – da er keine Antwort wusste im Augenblick. Er erhob sich, zuckte mit den Achseln und ging in den Garten. Hinter ihm scholl ihr Gelächter.

»Schlechter Laune, Herr Vormund?«

 

Am Nachmittage sass er in der Bibliothek. Irgendwelche Akten lagen vor ihm, die gestern Rechtsanwalt Manasse geschickt hatte. Aber er las sie nicht. Starrte in die Luft, rauchte hastig eine Zigarette nach der andern.

Dann zog er die Schublade auf, nahm wieder einmal des Geheimrats Lederband heraus. Las, langsam und genau, dachte nach über jedes kleine Geschehnis.

Es klopfte, rasch trat der Chauffeur ein. »Herr Doktor,« rief er, »die Fürstin Wolkonski ist da. Sie ist sehr aufgeregt, schrie nach dem Fräulein, noch aus dem Wagen heraus. Aber wir dachten, dass es vielleicht besser wäre, wenn Sie sie zuerst empfingen – so bringt sie der Aloys hierher.«

»Recht so!« sagte er. Sprang auf, ging der Fürstin entgegen. Sie schob sich mühsam durch die schmale Tür, wälzte ihre Massen in den halbdunklen Saal, dessen grüne Holzläden die Sonne nur spärlich einliessen. »Wo ist sie?« keuchte sie. »Wo ist das Fräulein?«

Er reichte ihr die Hand, führte sie zum Diwan. Sie erkannte ihn wohl, nannte seinen Namen, aber sie dachte nicht daran, sich auf irgendein Gespräch mit ihm einzulassen.

»Fräulein Alraune suche ich,« schrie sie, »schaffen Sie das Fräulein her!« Sie gab nicht eher Ruhe, bis er dem Diener schellte und ihm Auftrag gab, dem Fräulein den Besuch der Fürstin zu melden, dann erst schenkte sie ihm Gehör.

Er fragte sie nach dem Befinden ihres Kindes und die Fürstin erzählte ihm mit einem ungeheuren Wortschwall, wie sie ihre Tochter angetroffen habe. Nicht einmal erkannt habe sie ihre Mutter, still und apathisch habe sie am Fenster gesessen und hinausgesehen in den Garten. Es sei die frühere Klinik des Geheimrats, dieses Betrügers, die nun Professor Dalberg zur Nervenheilanstalt umgewandelt habe. Dasselbe Haus, in dem diese –

Er unterbrach sie, schnitt ihren Redefluss ab. Ergriff schnell ihre Hand, beugte sich nieder, blickte mit geheucheltem Interesse auf ihre Ringe. »Verzeihen Durchlaucht,« rief er rasch, »woher stammt dieser wundervolle Smaragd? Ein Kabinettstück geradezu!«

»Es ist ein Knopf von der Magnatenmütze meines ersten Mannes.« erwiderte sie. »Ein altes Erbstück.« Sie schickte sich an, weiterzureden, aber er liess sie nicht zu Worte kommen.

»Es ist ein Stein von ungewöhnlicher Reinheit!« beteuerte er. »Und von seltener Grösse! Einen ähnlichen sah ich nur in dem Marstalle des Maharadschas von Rolinkore – er hatte ihn seinem Lieblingspferde als linkes Auge eingesetzt. Als rechtes trug es einen birmanischen Rubin, der nur wenig kleiner war.« Und er erzählte von der Liebhaberei indischer Fürsten, ihren schönen Pferden die Augen auszustechen und ihnen dafür Glasaugen oder grosse Cabochons einzusetzen.

»Es klingt grausam,« sagte er, »aber ich versichere Sie, Durchlaucht, die Wirkung ist verblüffend, wenn Sie so ein herrliches Tier sehen, das Sie mit starren Alexandritaugen ansieht oder Ihnen Blicke zuwirft aus tiefblauen Sternsaphiren.«

Und er sprach von Steinen; er erinnerte sich gut aus seiner Studentenzeit, dass sie von Juwelen und Perlen etwas verstand und dass das im Grunde das einzigste war, das sie wirklich interessierte. Sie gab ihm Antwort; rasch erst und abgerissen, wurde dann ruhiger mit jeder Minute. Zog ihre Ringe ab, zeigte sie ihm der Reihe nach, erzählte ihm von jedem eine kleine Geschichte.

Er nickte, tat aufmerksam genug. ›Nun mag die Base kommen,‹ dachte er, ›der erste Sturm ist vorbei.‹

Aber er irrte sich. Alraune kam; lautlos öffnete sie die Tür. Schritt leise über den Teppich, setzte sich dann in einen Sessel, ihnen gegenüber.

»Ich bin so froh, Sie zu sehen, Durchlaucht,« flötete sie.

Die Fürstin schrie auf, jappte nach Atem. Schlug ein grosses Kreuz, dann noch ein zweites auf orthodoxe Art.

»Da ist sie,« stöhnte sie, »da sitzt sie!«

»Ja,« lachte Alraune, »wirklich und lebendig!« Sie stand auf, streckte der Fürstin die Hand hin. »Es tut mir so leid,« fuhr sie fort. »Mein aufrichtiges Mitleid, Durchlaucht!«

Die Fürstin nahm ihre Hand nicht. Eine Minute lang war sie sprachlos, keuchte, rang nach Fassung. Dann aber fand sie sich wieder. »Ich brauche dein Mitleid nicht!« rief sie. »Ich habe mit dir zu sprechen.«

Alraune setzte sich, winkte leicht mit der Hand. »Bitte sprechen Sie, Durchlaucht.«

Nun begann die Fürstin. Ob das Fräulein wisse, dass sie ihr Vermögen verloren habe durch die Manipulationen der Exzellenz? Aber natürlich wisse sie es ja, alle die Herren hätten ihr ja haarklein erzählt, was sie hätte tun müssen – sie aber habe sich geweigert, ihre Pflicht zu erfüllen! Ob sie wisse, was mit ihrer Tochter geschehen sei? Sie erzählte, wie sie sie gefunden habe in der Anstalt, welches die Auffassung der Aerzte sei. Immer erregter wurde sie, immer höher und kreischender scholl ihre Stimme.

Sie wisse das alles genau, erklärte Alraune ruhig.

Die Fürstin fragte: was sie nun zu tun gedenke? Ob sie etwa die Absicht habe in die schmutzigen Fusstapfen ihres Vaters zu treten? Oh, der sei ein sauberer Gauner gewesen, in keinem Romane könne man einen geriebeneren Lumpen finden. Nun habe er ja seinen Lohn. Sie beharrte nun bei der Exzellenz, schrie alles laut heraus, wie es ihrer Zunge gefiel. – Sie nahm an, dass der plötzliche Anfall Olgas auf das Fehlschlagen ihrer Mission zurückzuführen sei, sowie darauf, dass ihr Alraune ihre langjährige Freundin abspenstig gemacht habe. Und sie glaubte, dass, wenn das Fräulein jetzt helfen würde, nicht nur ihr Vermögen gerettet sei, sondern durch diese Nachricht auch ihr Kind.

»Ich bitte nicht,« schrie sie, »ich fordere. Ich verlange mein Recht. Du hast das Unrecht begangen, du, mein eigenes Patenkind, und dein Vater! Mach es nun wieder gut, soweit das möglich ist. Es ist eine Schande, dass ich dir das erst sagen muss – aber du wolltest es ja nicht anders.«

»Was soll ich noch retten?« sagte Alraune leise. »Soviel ich weiss, ist die Bank bereits vor drei Tagen zusammengebrochen. Da ist Ihr Geld futsch, Durchlaucht!« Sie pfiff es: pfffutsch – man hörte, wie die Banknoten in alle Winde flatterten.

»Das macht nichts!« erklärte die Fürstin. »Der Justizrat sagte mir, dass es nicht ganz zwölf Millionen seien, die dein Vater in dieser elenden Bank von meinem Gelde investierte. Du wirst mir einfach diese zwölf Millionen geben – von deinem Gelde. Dir macht es so nichts aus – das weiss ich gut!«

»Ach?« machte Fräulein ten Brinken. »Befehlen Sie sonst noch etwas, Durchlaucht?«

»Allerdings,« rief die Fürstin. »Du wirst Fräulein Gontram mitteilen, dass sie gleich dein Haus zu verlassen hat. Sie soll sofort mit mir zu meiner armen Tochter fahren, ich verspreche mir von ihrer Gegenwart, und besonders wenn sie ihr die Mitteilung bringt, dass diese leidige Vermögensangelegenheit geregelt ist, eine sehr günstige Wirkung für die Gräfin – vielleicht eine plötzliche Heilung. Ich werde Fräulein Gontram keinerlei Vorwürfe über ihr undankbares Benehmen machen, und auch dir gegenüber verzichte ich darauf, dein Verhalten weiter zu kennzeichnen. Nur wünsche ich, dass die Angelegenheit sogleich in Ordnung gebracht wird.«

Sie schwieg, holte tief Atem nach der gewaltigen Anstrengung dieser langen Rede. Sie nahm ihr Taschentuch, fächelte sich, wischte die dicken Schweisstropfen ab, die von ihrem hochroten Gesichte perlten.

Alraune erhob sich ein wenig, machte eine leichte Verbeugung. »Durchlaucht sind zu gütig,« flötete sie.

Dann schwieg sie. Die Fürstin wartete eine Weile; fragte endlich: »Nun?«

»Nun?« gab das Fräulein zurück in demselben Tonfalle.

»Ich warte –« rief die Fürstin.

»Ich auch –« sagte Alraune.

Die Fürstin Wolkonski rutschte hin und her auf dem Diwan, dessen alte Federn sich tief bogen unter ihrer Fülle. Eingepresst in ihre gewaltige Corsage, die immer noch in die mächtigen Fleischmassen eine Art Figur einschnitt, war sie schwer und schleppend in ihren Bewegungen. Ihr Atem ging kurz, unwillkürlich leckte ihre dicke Zunge die trockenen Lippen.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser bringen lassen, Durchlaucht?« zwitscherte das Fräulein.

Sie tat, als hörte sie nicht. »Was gedenkst du nun zu tun?« fragte sie feierlich.

Und unendlich einfach sprach Alraune: »Gar nichts.«

Die alte Fürstin starrte sie an mit runden Kuhaugen, als verstände sie gar nicht, was dieses junge Ding da meine. Schwerfällig erhob sie sich, tat ein paar Schritte, liess die Blicke umherschweifen, als suchte sie etwas. Frank Braun stand auf, nahm die Wasserkaraffe vom Tische, schenkte ein Glas ein, reichte es ihr. Sie trank es gierig.

Auch Alraune war aufgestanden. »Ich bitte mich zu entschuldigen, Durchlaucht,« sagte sie. »Darf ich Fräulein Gontram von Ihnen grüssen?«

Die Fürstin ging auf sie zu, siedend, zum Platzen voll von verhaltener Wut.

›Nun zerspringt sie.‹ dachte Frank Braun.

Aber sie fand die Worte nicht, suchte vergeblich nach einem Anfang. »Sag ihr,« keuchte sie, »sag ihr, dass sie mir nie wieder vor die Augen kommen soll! Ein Frauenzimmer ist sie – nicht besser wie du!«

Sie stampfte mit schweren Schritten durch den Saal, fauchend, schwitzend, die mächtigen Arme in der Luft schwingend. Da fiel ihr Blick auf die offene Schublade, sie sah das Halsband, das sie einst dem Patenkinde hatte machen lassen: Schnüre grosser Perlen in den brandroten Haaren der Mutter. Ein Zug triumphierenden Hasses flog über ihr verschwommenes Gesicht, rasch riss sie das Halsband heraus.

»Kennst du das?« schrie sie.

»Nein,« sagte Alraune ruhig, »ich habe es noch nie gesehen.«

Die Fürstin trat dicht vor sie hin: »So hat der Schuft von Geheimrat es dir unterschlagen – das sieht ihm ähnlich genug! Es war mein Patengeschenk für dich, Alraune!«

»Danke,« sagte das Fräulein. »Die Perlen scheinen recht hübsch zu sein – wenn sie echt sind.«

»Sie sind echt!« schrie die Fürstin. »Sie sind so echt, wie die Haare, die ich deiner Mutter abschnitt!« Sie warf das Halsband dem Fräulein in den Schoss.

Alraune nahm das sonderbare Schmuckstück, wog es prüfend in der Hand. »Meiner – Mutter?« sagte sie langsam. »Sie hatte sehr schöne Haare, die Mutter, scheint es.«

Die Fürstin stellte sich breit hin, stemmte die Hände fest in die Hüften. Ihrer Sache sicher, wie ein Waschweib. »Sehr schöne Haare,« lachte sie, »sehr schöne! So schöne, dass alle Männer ihr nachliefen und ihr einen ganzen Taler bezahlten, um eine Nacht zu schlafen bei diesen schönen Haaren!«

Das Fräulein sprang auf, einen Augenblick wich ihr das Blut aus dem Gesicht. Aber sie lächelte gleich wieder, sagte ruhig und höhnisch: »Sie werden alt, Durchlaucht, alt und kindisch.«

Das war das Ende, nun gab es kein Zurück mehr für die Fürstin. Sie brach los, ordinär, unendlich schamlos wie eine trunkene Bordellwirtin. Schrie, überschlug sich, heulte, goss ihre Nachttöpfe unflätiger Reden. Eine Hure sei Alraunens Mutter gewesen, eine der niedrigsten Sorte, die um Markstücke sich verschachert habe. Und ein elender Lustmörder der Vater, Noerrissen sei sein Name gewesen, sie wisse es wohl. Für Geld habe der Geheimrat die Dirne gekauft zu seinem schuftigen Experiment, habe sie befruchtet mit dem Samen des Hingerichteten. Sie sei dabei gewesen, sie selbst, wie er der Mutter den eklen Samen eingespritzt habe, dessen stinkende Frucht sie sei – sie, Alraune, die da vor ihr sitze! Eines Mörders Tochter und einer Dirne Kind!

Das war ihre Rache. Sie ging hinaus, triumphierend, leichten Schritts, geschwollen von dem Stolze ihres Sieges, der sie um zehn Jahre verjüngte. Schlug die Türe krachend ins Schloss.

– Nun war es still in der weiten Bibliothek.

Alraune sass in ihrem Sessel, schweigend, ein wenig bleich. Nervös spielten ihre Hände mit dem Halsbande, ein leichtes Zucken spielte um ihre Lippen.

Endlich erhob sie sich. »Dummes Zeug,« flüsterte sie.

Sie machte ein paar Schritte, dann besann sie sich. Trat hin zu ihrem Vetter.

»Ist es wahr, Frank Braun?« fragte sie.

Er zögerte einen Augenblick. Stand auf, sagte langsam: »Ich glaube, dass es wahr ist.« Er trat hin zum Schreibtisch, nahm den Lederband, reichte ihn ihr hin.

»Lies das.« sagte er.

Sie sprach kein Wort, wandte sich zum Gehen.

»Nimm auch das mit.« rief er ihr nach. Und er reichte ihr den Knobelbecher, der aus ihrer Mutter Schädel, und die Würfel, die aus ihres Vaters Knochen gefertigt waren.


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