Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel, das mitteilt, was geschah, als Alraune ein Mägdlein war

Von ihrem achten bis zum zwölften Lebensjahre wurde Alraune ten Brinken im Kloster Sacré Coeur zu Nancy erzogen, von dieser Zeit ab bis zu ihrem siebzehnten Geburtstage in dem Pensionat der Mlle. de Vynteelen, Avenue du Marteau, in Spa. Zweimal in jedem Jahre, zu den Ferien, war sie in dieser Zeit im Hause ten Brinken zu Lendenich.

Zuerst versuchte der Geheimrat, sie zu Hause unterrichten zu lassen. Er engagierte ein Fräulein, um das Kind ein wenig zu erziehen, dann einen Lehrer und bald darauf einen zweiten. Aber sie verzweifelten alle in kurzer Zeit: mit dem Mädchen sei mit dem besten Willen nichts anzustellen. Es war durchaus nicht ungezogen, in keiner Weise wild und ungebärdig. Aber es gab eben keine Antworten, war durch nichts von seinem hartnäckigen Schweigen abzubringen. Es sass still und ruhig da, blinzelte mit halboffenen Augen geradeaus; es war kaum festzustellen, ob es überhaupt zuhörte. Den Griffel nahm es wohl in die Hand, aber es war nicht zu bewegen, Haarstriche, Grundstriche oder Buchstaben zu machen – es zeichnete vielmehr irgendein merkwürdiges Tier mit zehn Beinen, oder ein Gesicht mit drei Augen und zwei Nasen.

Was es überhaupt lernte, ehe es der Geheimrat ins Kloster schickte, brachte ihm Wölfchen bei. Dieser Knabe, der selbst auf jeder Klasse sitzenblieb, unendlich faul war in der Schule und auf alle Schularbeit mit souveräner Verachtung herabsah, beschäftigte sich zu Hause mit einer unendlichen Geduld mit dem Schwesterchen. Sie liess ihn schreiben, lange Reihen von Zahlen, hunderte Male seinen Namen und ihren Namen, und sie freute sich, wenn seine ungeschickte Hand versagte, wenn die kleinen schmutzigen Finger ihm kribbelten. Zu diesem Zwecke nahm sie Griffel, Bleistift und Feder, lernte eine Zahl, ein Wort um das andere, fasste es bald, schrieb es auf und liess es dann den Knaben durch Stunden wiederholen. Immer hatte sie etwas auszusetzen, da war dieser, hier jener Strich nicht in Ordnung. Sie spielte die Lehrerin – so lernte sie.

Dann, als irgendein Oberlehrer einmal herauskam, sich beim Geheimrat zu beklagen über die jämmerlichen Leistungen seines Pflegesohnes, merkte sie, dass Wölfchen recht schwach sei in den Wissenschaften. Und nun spielte sie Schule mit ihm, kontrollierte ihn, liess ihn hocken bis in die Nacht hinein, überhörte ihn und machte ihn lernen. Sie sperrte ihn ein, schloss die Türe ab, liess ihn nicht eher wieder herauskommen, bis er seine Aufgabe erledigt hatte. Und sie tat so, als ob sie das alles wüsste, duldete keinen Zweifel an ihrer Überlegenheit.

Sie fasste sehr leicht und sehr schnell. Sie wollte sich keine Blössen geben vor dem Knaben, so nahm sie ein Buch vor um das andere. Griff dies auf und das, ohne Zusammenhang, wild durcheinander. So weit ging es, dass der Junge, wenn er irgend etwas nicht wusste, zu ihr kam, sie zu fragen, durchaus überzeugt, dass sie es wissen müsste. Dann hielt sie ihn hin, sagte, dass er nachdenken solle, schalt ihn aus. So gewann sie Zeit, suchte in den Büchern, lief auch wohl, wenn sie sich gar nicht zurechtfinden konnte, zu dem Geheimrat und fragte den. Kam dann zurück zu dem Knaben, fragte, ob es ihm noch nicht eingefallen sei. Gab ihm endlich die Antwort.

Der Professor merkte dies Spiel, das ihn amüsierte. Und er würde nie daran gedacht haben, das Mädchen aus dem Hause zu geben, wenn nicht die Fürstin ihn immer wieder gedrängt hätte. Von jeher eine gute Katholikin, wurde diese Frau gläubiger mit jedem neuen Jahre, es war, als ob jedes Kilo Fett sie wieder ein wenig frömmer machte. Sie bestand darauf, dass ihr Patenkind im Kloster erzogen werden müsse, und der Geheimrat, der nun schon seit Jahren ihr finanzieller Berater war und mit den Millionen der Fürstin fast wie mit seinen eignen operierte, hielt es für klug, ihr in diesem Punkte zu Gefallen zu sein: so kam Alraune nach Nancy ins Sacré Coeur.

 

Für diese Zeit finden sich in dem Lederbande, ausser kurzen Eintragungen von des Geheimrats Hand, einige längere Berichte der mère supérieure. Der Professor grinste, als er sie einheftete, besonders bei den lobenden Stellen, wenn von den ausserordentlichen Fortschritten des Mädchens die Rede war: er kannte seine Klöster und wusste gut, dass man nirgends auf der Welt weniger lernen kann, als bei den frommen Schwestern. Und es machte ihm Spass, als die anfänglichen Lobestiraden, die alle Eltern bekamen, bei Alraune sehr bald einer anderen Tonart Platz machten, als die mère supérieure immer wieder und immer mehr bewegliche Klagen über allerlei Grausamkeiten zu berichten hatte. Und diese Klagen hatten stets denselben Grund: nicht das Betragen des Mädchens selbst, nicht ihre Leistungen gaben zu Vorstellungen Anlass, es war immer nur der Einfluss, den sie auf ihre Mitschülerinnen ausübte.

– »Es ist wohl wahr,« schrieb die révérende mère, »dass das Kind nie selbst Tiere quält; wenigstens ist sie nie dabei ertappt worden. Aber es ist ebenso wahr, dass alle kleine Grausamkeiten – die sich die Schülerinnen zuschulden kommen lassen, in ihrem Kopfe entstanden sind. Zuerst wurde die kleine Marie, ein sehr braves und folgsames Kind, dabei erwischt, wie sie im Klostergarten mit Grashalmen Fröschlein aufblies. Zur Rede gestellt, wie sie dazu komme, gestand sie, dass Alraune ihr den Gedanken eingegeben habe. Wir wollten das erst nicht recht glauben, dachten vielmehr, dass es nur eine Ausrede sei, um die Schuld einigermassen von sich abzuwälzen. Aber bald darauf wurden zwei andere Mädchen dabei entdeckt, wie sie einige grosse Nacktschnecken mit Salz bestreuten, so dass die armen Tiere, die doch auch Gottesgeschöpfe sind, sich auf qualvolle Weise zu Schleim auflösten. Und wieder gaben die zwei Kinder an, dass Alraune sie angestiftet habe. Ich stellte sie nun selbst zur Rede und das Kind gab ohne weiteres alles zu, erklärte, dass es das einmal gehört habe und nun habe sehen wollen, ob es wirklich so wäre. Auch die Anstiftung zum Fröscheaufblasen gestand sie ein; sie sagte, dass es so hübsch knalle, wenn man dann den aufgeblasenen Frosch mit einem Stein zerschlage. Sie selbst würde es freilich nicht tun, weil so leicht von dem zerquetschten Frosch einem etwas auf die Hand spritzen könne. Gefragt, ob sie ihre Sünden einsehe, erklärte sie: nein, sie habe ja nichts getan; und was andere Kinder täten, ginge sie gar nichts an.«

Bei dieser Stelle befindet sich eine Parenthese des Geheimrats, die lautet: »Sie hat vollkommen recht.«

»Trotz allen Strafen«, ging der Brief weiter, »haben wir dann in kurzer Zeit noch einige andere bedauerliche Fälle feststellen müssen, die wieder Alraune zur Urheberin hatten. So stach Clara Maassen aus Düren, ein Mädchen einige Jahre älter als Alraune, das bereits seit vier Jahren in unserer Pflege ist und sonst nie den geringsten Anlass zur Klage gab, einem jungen Maulwurf mit der glühend gemachten Stricknadel beide Augen aus. Sie war über ihre Tat selbst so entsetzt, dass sie ein paar Tage, bis zum nächsten Beichttag, ein äusserst aufgeregtes Wesen zur Schau trug und ohne jeden Anlass immer wieder zu weinen begann; sie beruhigte sich erst wieder, nachdem sie Absolution empfangen hatte. Hier erklärte Alraune, dass Maulwürfe in der dunklen Erde kröchen, und es also ganz gleichgültig sei, ob sie sehen könnten oder nicht. Dann fanden wir im Garten Vogelfallen, die sehr sinnreich zusammengesetzt waren, die kleinen Vogelstellerinnen, die Gott sei Dank noch nichts gefangen hatten, wollten durchaus nicht mit der Sprache heraus, wie sie auf den Gedanken gekommen seien. Erst unter der Androhung schärfster Strafen gestanden sie, dass Alraune sie verlockt und zu gleicher Zeit bedroht habe, ihnen etwas anzutun, wenn sie sie verraten würden. – Und leider ist der unheilvolle Einfluss des Kindes auf ihre Mitschülerinnen in letzter Zeit derartig gestiegen, dass wir kaum mehr die Wahrheit ermitteln können. So wurde Hélène Petiot von der Klassenschwester dabei erwischt, wie sie in der Freistunde Fliegen fing, ihnen vorsichtig mit der Schere die Flügel abschnitt, die Beinchen einzeln ausriss und sie dann in einen Ameisenhaufen warf. Das kleine Mädchen blieb aber dabei, dass es ganz allein auf den Gedanken gekommen sei und beteuerte selbst vor Seiner Hochwürden, dass Alraune nichts damit zu tun hätte. Genau so hartnäckig leugnete gestern ihre Cousine Ninon, die unserer braven alten Katze einen alten Blechtopf an den Schwanz gebunden hatte, der das arme Tier halb verrückt machte. Trotzdem sind wir überzeugt, dass auch hier Alraune wieder ihre Hand im Spiele hatte.«

Die mère supérieure schreibt dann weiter, dass sie eine Konferenz zusammenberufen habe und dass man beschlossen habe, Seine Exzellenz ergebenst zu bitten, seine Tochter vom Kloster wegzunehmen und so bald wie möglich abholen zu lassen. – Der Geheimrat antwortete, dass er die Vorkommnisse ausserordentlich bedaure, aber bitten müsse, das Kind einstweilen noch im Kloster zu lassen: je schwieriger die Arbeit, um so grösser nachher der Erfolg. Er zweifle nicht, dass es der Geduld und der Frömmigkeit der Schwestern gelingen würde, das Unkraut in dem Herzen seines Kindes auszuroden und dieses zu einem schönen Garten des Herrn zu machen.

Im Grunde war es ihm darum zu tun, zu sehen, ob wirklich der Einfluss dieses zarten Kindes stärker wäre als alle Klosterzucht und alle Einwirkung der frommen Schwestern. Er wusste recht gut, dass das billige Kloster von Sacré Coeur in Nancy ohnehin nicht gerade von den besten Familien beschickt war, dass es sehr froh sein musste, das Töchterlein einer Exzellenz unter seinen Schülerinnen zu zählen. Er täuschte sich nicht: die rèvèrende mère antwortete, dass man es mit Gottes Hilfe noch einmal versuchen wolle und dass alle Schwestern sich freiwillig bereit erklärt hätten, allabendlich in ihr Gebet eine besondere Bitte für Alraune mit einzuschliessen. Worauf ihnen der Geheimrat grossmütig einen Hundertmarkschein für ihre Armen sandte.

 

In diesen Ferien beobachtete der Professor ziemlich gründlich das kleine Mädchen. Er kannte die Gontramfamilie vom Urgrossvater her und er wusste, dass ihnen die Liebe zu allen Tieren mit der Muttermilch eingeflösst war. Wie gross auch des Kindes Einfluss auf den soviel älteren Knaben war – hier musste er einen Damm finden, musste machtlos werden an diesem innersten Gefühl grenzenloser Güte.

Und doch erwischte er Wölfchen Gontram eines Nachmittags bei dem kleinen Teich, unter dem Trompetenbaum. Er kniete auf der Erde, vor ihm sass auf einem Stein ein grosser Frosch. Der Junge hatte ihm eine brennende Zigarette in das breite Maul gesteckt, tief hinein in den Rachen. Und der Frosch rauchte in Todesangst. Er verschluckte den Rauch, sog ihn in den Magen, mehr und immer mehr; aber er stiess ihn nicht wieder aus – so wurde er dicker und dicker. Wölfchen starrte ihn an, dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Aber er zündete doch, als die Zigarette heruntergebrannt war, eine zweite an, nahm den Stummel dem Frosch aus dem Hals, steckte ihm mit zitternden Fingern die frische ins Maul. Und der Frosch schwoll unförmig an, dick quollen ihm die grossen Augen aus den Höhlen. Es war ein starkes Tier: zwei und eine halbe Zigarette konnte es vertragen, ehe es zerplatzte. Der Junge schrie jammernd auf, es schien, als ob sein Schmerz noch viel grösser sei, als der des Tieres, das er zu Tode quälte. Er sprang zurück, als wollte er fliehen in das Gebüsch hinein, blickte sich um, lief, als er sah, dass der zerrissene Frosch sich noch bewegte, schnell hinzu, trat wild und verzweifelt mit den Absätzen auf dem Tier herum, um es zu töten und so von seinen Qualen zu befreien.

Der Geheimrat nahm ihn am Ohr, untersuchte zuerst seine Taschen. Er fand noch ein paar Zigaretten und der Junge gestand, sie vom Schreibtische aus der Bibliothek genommen zu haben. Aber er war nicht zu bewegen, eine Antwort darauf zu geben, wer ihm das beigebracht habe, dass rauchende Frösche sich selbst aufblasen und endlich zerplatzen. Da half kein Zureden und die Prügel, die ihm der Professor sehr reichlich durch den Gärtner geben liess, halfen erst recht nichts. Auch Alraune leugnete hartnäckig, selbst dann noch, als eine der Mägde angab, dass sie gesehen habe, wie das Kind die Zigaretten nahm. Trotzdem blieben die beiden dabei: der Knabe, dass er die Zigaretten gestohlen habe, und das Mädchen, dass sie es nicht getan habe.

Noch ein Jahr blieb Alraune im Kloster, dann wurde sie – mitten im Schuljahr – nach Hause geschickt. Und diesmal gewiss mit Unrecht: nur die abergläubischen Schwestern glaubten an ihre Schuld und, vielleicht, ein klein wenig auch der Geheimrat. Aber kein vernünftiger Mensch würde es tun.

Schon einmal war im Sacré Coeur eine Krankheit ausgebrochen, die Masern. Siebenundfünfzig kleine Mädchen lagen in ihren Bettchen, und nur sehr wenige, darunter Alraune, gingen gesund herum. Diesmal aber war es viel schlimmer: eine Typhusepidemie. Acht Kinder starben und eine Schwester; fast alle andern waren krank. Aber Alraune ten Brinken war nie so gesund wie in dieser Zeit, sie nahm zu, blühte, lief fröhlich durch alle Krankenzimmer. Und da sich niemand um sie kümmerte in diesen Wochen, so lief sie treppauf und ab, setzte sich an alle Bettchen und erzählte den Kindern, dass sie sterben müssten, morgen schon, und dass sie alle in die Hölle kämen. Sie aber, Alraune, würde leben und würde doch in den Himmel kommen. Und sie verschenkte überall ihre Heiligenbildchen, sagte den kranken Mädchen, dass sie fleissig beten sollten zur Madonna und zum heiligen Herzen Jesu – – aber dass es doch nichts nutzen würde. Brennen müssten sie doch und tüchtig braten – – o es war erstaunlich wie gut sie das alles ausmalen konnte. Manchmal, wenn sie gut gelaunt war, war sie milde: dann versprach sie nur hunderttausend Jahre Fegefeuer. Aber auch das war am Ende schlimm genug für die kranken Sinne der frommen kleinen Mädchen. Der Arzt warf Alraune höchst eigenhändig aus dem Zimmer und die Schwestern, fest überzeugt, dass sie allein die Krankheit ins Kloster gezogen habe, schickten sie Hals über Kopf nach Hause.

Der Professor lachte und war entzückt über diesen Bericht. Und er wurde kaum ernster, als kurz nach des Kindes Ankunft zwei seiner Mägde am Typhus erkrankten und alle beide bald darauf im Krankenhause starben. Der Vorsteherin des Klosters zu Nancy aber schrieb er einen entrüsteten Brief, in dem er sich bitter beklagte, dass man ihm unter den obwaltenden Umständen die Kleine ins Haus gesandt habe. Er verweigerte die Zahlung des Schulgeldes für das letzte halbe Jahr und verlangte energisch Rückerstattung des Geldes, das er für die kranken Mägde hatte auslegen müssen. Und es ist ja richtig – – vom sanitären Standpunkte aus hätten die Schwestern vom Sacré Coeur nicht so handeln dürfen.

 

Im übrigen handelte Exzellenz ten Brinken nicht viel anders. Er hatte nicht gerade Angst vor der Ansteckungsgefahr, aber, wie allen Ärzten, so waren auch ihm Krankheiten sehr viel sympathischer bei andern Menschen, als am eigenen Leibe. Er liess Alraune so lange in Lendenich, bis er sich in der Stadt nach einer guten Pension erkundigt hatte; dann, schon am vierten Tage, sandte er sie nach Spa, in das berühmte Institut der Mlle. de Vynteelen. Der schweigsame Aloys musste sie begleiten. Die Reise ging für das Kind ohne Zwischenfall vonstatten, während der Diener zwei kleine Erlebnisse hatte: auf der Hinfahrt fand er ein Portemonnaie mit einigen Silberstücken und auf der Rückfahrt zerquetschte er sich beim Zuschlagen der Coupétür einen Finger. Der Geheimrat nickte befriedigt, als ihm Aloys diesen Bericht abstattete.

Von den Jahren, die Alraune in Spa zubrachte, wusste Fräulein Becker, die deutsche Lehrerin, die auch aus der Universitätsstadt am Rhein stammte und dort ihre Ferien verbrachte, dem Geheimrat viel zu erzählen. Gleich vom ersten Tage an habe Alraune begonnen in der alten Avenue du Marteau ihre Herrschaft auszuüben, und diese Herrschaft habe sich nicht nur auf ihre Mitschülerinnen erstreckt, sondern auch auf die Lehrerinnen und ganz besonders auf die Miss, die schon nach wenigen Wochen ein fast willenloses Spielzeug der absurden Launen des kleinen Mädchens geworden sei. So habe Alraune gleich beim Frühstück erklärt, dass sie Honig und Marmelade nicht möge, dass sie vielmehr Butter haben wolle; Mlle. de Vynteelen habe ihr natürlich keine Butter gegeben. Nach wenigen Tagen schon hätten einige der andern Pensionärinnen auch schon Butter verlangt und schliesslich sei durch das ganze Institut ein grosser Schrei nach Butter gegangen. Miss Patterson aber, die nie in ihrem Leben etwas anderes zum Morgentee genossen habe, als Toast mit Jam, habe plötzlich auch eine unstillbare Sehnsucht nach Butter empfunden – – so habe die Vorsteherin nachgeben und die grosse Butterforderung bewilligen müssen. – Alraune aber habe von diesem Tage an mit Vorliebe Orangenmarmelade genommen.

Tierquälereien, erklärte Fräulein Becker auf die besondere Frage des Geheimrats, kamen in diesen Jahren im Pensionat Vynteelen nicht vor, wenigstens wurde kein einziger solcher Fall entdeckt. Dagegen habe Alraune sowohl die andern Kinder, wie die Lehrer und Lehrerinnen gründlich gequält, besonders den armen Musikprofessor. In seiner Schnupftabaksdose, die er stets im Mantel auf dem Korridor liess, um nicht in die Versuchung zu kommen, während der Stunden zu schnupfen, seien seit Alraunens Eintritt die merkwürdigsten Gegenstände gefunden worden, so: dicke Kreuzspinnen und Kellerasseln, dann Schiesspulver, Pfeffer, Streusand mit Tinte und einmal gar zerhackte Tausendfüsse. Einige Male seien Mädchen dabei ertappt und auch dafür bestraft worden – nie aber Alraune. Doch habe diese dem alten Musiker stets eine passive Resistenz gezeigt, nicht geübt und in der Stunde die Hände in den Schoss gelegt und sie nie zum Spiel erhoben. Als aber der Professor sich in seiner Verzweiflung endlich einmal bei der Leiterin beschwert habe, habe Alraune ruhig erklärt, dass der Alte lüge. Mlle. de Vynteelen wohnte dann der nächsten Stunde persönlich bei – – und, siehe da, das kleine Mädchen konnte seine Lektion vorzüglich, spielte besser wie eine der andern und zeigte plötzlich eine ganz erstaunliche Fertigkeit. Die Pensionsdame machte dem Musiklehrer heftige Vorwürfe – der sprachlos dabeistand und nichts anderes zu sagen wusste, als: »Mais c'est aiccoyable – c'est vraiment aiccoyable!«

Weshalb ihn die kleinen Pensionsfräulein von nun an nur noch ›Monsieur Incroyable‹ nannten; sie riefen es ihm nach, wo er sich nur sehen liess, und sprachen es aus, wie er, als ob sie keine Zähne mehr im Munde hätten.

Was die Miss angehe, so habe sie kaum mehr einen ruhigen Tag erlebt, stets sei ihr wieder ein neuer dummer Streich gespielt worden. Man habe ihr Juckpulver ins Bett gestreut, und einmal, nach einer Landpartie, sogar ein halbes Dutzend Flöhe hineingesetzt. Bald war der Schlüssel zu ihrem Schranke, oder zu ihrem Zimmer verschwunden, bald waren alle Haken und Ösen von dem Kleide, das sie gerade anziehen wollte, abgetrennt. Einmal, als sie zu Bett gehen wollte, erschreckte sie zu Tode die Wirkung des Brausepulvers in ihrer ›Vase de nuit‹, und ein andermal flogen ihr durch das offene Fenster brennende Schwärmer herein, so dass sie laut um Hilfe schrie. Bald war der Stuhl, auf den sie sich setzte, mit Leim oder Farbe beschmiert; bald fand sie in ihren Taschen eine tote Maus oder einen alten Hühnerkopf. Und so ging es fröhlich weiter, die arme Miss konnte kaum eine Stunde mehr ihres Lebens froh werden. Eine Untersuchung löste die andere ab, stets wurden ein paar Schuldige ermittelt und bestraft. Nie aber befand sich Alraune dabei, obwohl jedermann überzeugt war, dass sie die eigentliche Urheberin all dieser Streiche war. Die einzige, die diesen Verdacht mit Entrüstung zurückwies, war die Engländerin selbst; sie schwor auf die Unschuld des Mädchens, tat es bis zu dem Tage, als sie dem Institut de Vynteelen den Rücken kehrte: dieser Hölle, wie sie sagte, die nur einen kleinen süssen Engel beherbergte.

Der Geheimrat grinste, als er in dem Lederbande eintrug: »Dieser kleine süsse Engel ist Alraune.«

Was sie selbst angehe, erzählte Fräulein Becker dem Professor weiter, so habe sie es von vornherein vermieden, mit dem seltsamen Kinde in Berührung zu kommen. Das sei ihr um so leichter möglich gewesen, als sie ja hauptsächlich sich mit den französischen und englischen Schülerinnen beschäftigen musste und Alraune nur im Turnen und in der Handarbeit zu unterrichten gehabt hätte. Von letzterem Gegenstand habe sie sie gleich dispensiert, als sie gesehen habe, dass Alraune nicht nur kein Interesse dafür, sondern geradezu einen direkten Widerwillen dagegen zeigte; in den Turnstunden aber, in denen sie sich übrigens stets ausgezeichnet, habe sie immer so getan, als ob sie die Launen des Kindes gar nicht bemerkte. Nur einmal habe sie, und zwar bald nach Alraunens Eintritt, einen kleinen Zusammenstoss mit ihr gehabt, bei dem sie, wie sie leider zugeben müsse, durchaus den kürzeren zog. Sie habe zufällig in einer Freistunde gehört, wie Alraune ihren Mitschülerinnen von ihrem Aufenthalte im Kloster erzählte, dabei so abscheulich renommierend und frech aufschneidend, dass sie es für ihre Pflicht gehalten habe, einzuschreiten. Auf der einen Seite habe die Kleine erzählt, wie wundervoll und herrlich da alles sei, auf der andern Seite habe sie wahre Mordgeschichten berichtet über allerhand Untaten der frommen Schwestern. Da sie nun selbst in dem Kloster von Sacré Coeur zu Nancy erzogen worden sei, also recht gut wisse, dass es da sehr einfach und schlicht zugehe, dass auch die Nonnen die harmlosesten Geschöpfe von der Welt seien, so habe sie Alraune herausgerufen und ihr diese Schwindelgeschichten vorgeworfen, auch verlangt, dass das Mädchen sogleich ihren Mitschülerinnen sage, dass sie die Unwahrheit gesprochen. Als das Alraune hartnäckig verweigerte, habe sie erklärt, dass sie es dann selber den Mädchen sagen würde. Darauf habe Alraune sich hoch auf ihre Fussspitzen gereckt, sie still angesehen und ruhig erwidert: »Wenn Sie das sagen, Fräulein, werde ich erzählen, dass Ihre Mutter zu Hause einen kleinen Käseladen hat.«

Sie, Fräulein Becker, müsse bekennen, dass sie schwach genug gewesen sei, einer falschen Scham nachzugeben und dem Kinde seinen Willen zu lassen. Es habe freilich, fügte sie hinzu, aus der leisen Stimme des Mädchens etwas so Überlegenes geklungen, dass sie sich in dem Augenblicke beinahe gefürchtet. Sie habe Alraune stehen lassen und sei in ihr Zimmer gegangen, froh, mit dem kleinen Geschöpf in keinen Streit geraten zu sein. Übrigens habe sie die verdiente Strafe dafür, dass sie ihre gute Mutter so verleugnet, bald genug erhalten: Alraune habe schon am nächsten Tage die andern Pensionärinnen doch mit der Tatsache des mütterlichen Käseladens bekannt gemacht und es habe viel Mühe gekostet, den Respekt, den sie dadurch im Institut einbüsste, nach und nach sich wieder zu erobern.

Viel schlimmer aber, als ihren Vorgesetzten, spielte Alraune ihren Kameradinnen mit – da war nicht eine in der Pension, die nicht darunter zu leiden hatte. Und es schien, seltsam genug, als ob die Kleine sich durch jede neue Untat noch beliebter machte. Wohl schalt jene der Pensionärinnen, die sie sich gerade zum Opfer ausersehen hatte, aber dann waren alle andern stets auf Alraunes Seite; sie war beliebter wie eines der anderen Mädchen. Fräulein Becker berichtete dem Geheimrat darüber eine Menge Einzelheiten, einige der krassesten Fälle erwähnt dieser dann in dem Lederbande.

Blanche de Banville war aus den Ferien zurückgekehrt, die sie bei ihren Verwandten in der Picardie verbracht hatte; bei dieser Gelegenheit hatte sich das warmblütige vierzehnjährige Ding bis über beide Ohren in ihren nicht viel älteren Vetter verliebt. Sie schrieb ihm auch von Spa aus und der Junge antwortete: B. d. B., poste restante; dann aber hatte er wohl etwas Besseres zu tun – jedenfalls blieben die Briefe aus. Alraune wusste um das Geheimnis, sie und die kleine Louison. Blanche war natürlich sehr unglücklich und weinte ganze Nächte hindurch; Louison sass dann bei ihr und suchte sie zu trösten. Alraune aber erklärte, man dürfe sie nicht trösten; ihr Vetter sei ihr untreu geworden und habe sie verraten, und Blanche müsse nun sterben an unglücklicher Liebe. Das sei das einzige Mittel, um dem Falschen seine Untat recht vorzustellen; zeit seines Lebens würde er dann von Furien gefoltert herumlaufen. Und sie wusste eine Menge berühmter Beispiele, wo es auch so gewesen sei. Blanche war einverstanden mit dem Sterben, aber es ging nicht so recht; sogar das Essen schmeckte ihr stets vorzüglich, trotz ihres grossen Schmerzes. Da erklärte Alraune, dass Blanche die Pflicht habe, sich selbst umzubringen, wenn sie denn durchaus nicht an gebrochenem Herzen sterben könne. Sie empfahl einen Dolch oder eine Pistole – aber man hatte weder das eine noch das andere. Auch war Blanche nicht zu bewegen, aus dem Fenster zu springen, noch eine Hutnadel sich ins Herz zu stossen, noch auch sich aufzuhängen. Nur schlucken wollte sie, und sonst nichts. Aber Alraune wusste bald Rat. In dem Arzeneischränkchen der Mlle. de Vynteelen stand eine Lysolflasche – die musste Louison stehlen. Es war leider nur noch ein ganz kleines Restchen darin, darum musste Louison noch von ein paar Dosen mit Streichhölzern die Phosphorköpfe abkratzen. Blanche schrieb einige Abschiedsbriefe, an ihre Eltern, an die Vorsteherin und an den verräterischen Geliebten; dann trank sie das Lysol und schlang die Zündholzköpfe – beides schmeckte ihr abscheulich genug. Um aber ja ihrer Sache sicher zu sein, liess sie Alraune noch drei Päckchen mit Nähnadeln herunterschlucken. – Sie selbst war übrigens bei diesem Selbstmordversuche nicht zugegen, war vielmehr unter dem Vorwande, aufpassen zu wollen, in ihr Zimmer gegangen, nachdem ihr Blanche auf das Kruzifix geschworen hatte, alles genau zu tun. Die kleine Louison sass an dem Abend an dem Bette ihrer Freundin, sie reichte ihr unter jämmerlichen Tränen, erst das Lysol, dann die Phosphorköpfchen und endlich die Nähnadelbriefchen. Als aber dieses dreifache Mordgift der armen Blanche sehr schlecht bekam, als sie sich wand und vor Schmerzen schrie, da schrie Louison mit, dass das Haus dröhnte, lief hinaus aus dem Zimmer, holte die Vorsteherin und die Lehrerinnen und zeterte, dass Blanche im Sterben liege.

Blanche de Banville starb gar nicht, ein geschickter Arzt gab ihr gleich ein tüchtiges Brechmittel, das das Lysol und das Phosphor und auch die Nadelbriefchen wieder hervorholte. Freilich hatte sich eines von diesen gelöst und ein halbes Dutzend Nadeln im Magen verloren: die wanderten durch den Körper, kamen an allen möglichen Stellen im Laufe der Jahre wieder heraus und erinnerten die kleine Selbstmörderin noch oft schmerzhaft genug an ihre erste Liebe.

Blanche lag noch lange im Bett und hatte tüchtige Schmerzen; so schien sie genügend bestraft. Alle hatten viel Mitleid mit ihr, waren so lieb zu ihr, wie sie konnten und erfüllten ihr alle ihre kleinen Wünsche. Aber sie wünschte nichts anderes, als dass man ihre beiden Freundinnen, die ihr geholfen hatten, nicht bestrafen solle, Alraune und die kleine Louison. Und sie bat und bettelte so lange, bis die Vorsteherin es versprach – so wurde Alraune nicht weggejagt aus dem Pensionat.

Dann kam Hilde Aldekerk an die Reihe, die so gerne Berliner Pfannkuchen ass; die bekam man in der deutschen Konditorei auf der Place Royale. Sie könne zwanzig essen, meinte sie, aber Alraune behauptete, dass sie gewiss nicht dreissig vertilgen könne. Sie wetteten; wer verlor, sollte die Kuchen bezahlen. Hilde Aldekerk gewann – aber sie wurde krank, dass sie vierzehn Tage das Bett hüten musste. »Vielfrass!« sagte Alraune ten Brinken. »Es ist dir recht geschehen.« –

Und alle die kleinen Mädchen nannten die dicke, runde Hilde nur noch: »Vielfrass«. Diese heulte ein bisschen, gewöhnte sich dann an den Kosenamen und wurde endlich eine der allertreuesten Anhängerinnen Alraunens – genau so wie Blanche de Banville.

Nur ein einziges Mal, berichtete Fräulein Becker, sei Alraune im Pensionat ernsthaft bestraft worden, und merkwürdigerweise in diesem Falle gewiss zu Unrecht. In einer Vollmondnacht sei die französische Lehrerin entsetzt aus ihrem Zimmer gestürzt, habe das ganze Haus wach geschrien und gezetert, dass auf der Balustrade ihres Balkons ein weisses Gespenst sitze. Niemand habe sich in ihr Zimmer hineingetraut, schliesslich habe man den Portier geweckt, der, mit einem tüchtigen Knüppel bewaffnet, hineingegangen sei. Das Gespenst entpuppte sich dann als Alraune, die still in ihrem Nachthemde dort sass und mit weit offenen Augen in den Mond starrte. Wie sie dort hinkam, war nicht aus ihr herauszubringen. Die Vorsteherin habe das Gespensterspielen für einen sehr schlechten Streich gehalten – erst viel später habe sich herausgestellt, dass das Mädchen offenbar nur unter dem Einflusse des Vollmondes gehandelt hatte: noch zu verschiedenen andern Gelegenheiten sei sie beim Schlafwandeln erwischt worden. Seltsam sei, dass Alraune ihre ungerechte Strafe – das Abschreiben langer Kapitel aus dem ›Télémaque‹ an schulfreien Nachmittagen – ohne Widerrede und höchst gewissenhaft abbüsste: gegen jede gerechte Strafe würde sie sich gewiss bis aufs äusserste empört haben.

– Fräulein Becker sagte zu dem Geheimrat: »Ich fürchte, Exzellenz werden nicht viel Freude an Ihrem Töchterlein erleben.«

Aber der Professor antwortete: »Ich glaube doch. Bisher bin ich recht zufrieden.«

Die beiden letzten Jahre liess er Alraune nicht in den Ferien nach Hause kommen. Er erlaubte ihr, mit ihren Pensionsfreundinnen zu reisen, nach Schottland einmal mit Maud Macpherson, dann mit Blanche zu ihren Eltern nach Paris und endlich mit den beiden Rodenbergs auf ihr Gut im Münsterlande. Er hatte von diesen Episoden aus Alraunens Leben gar keine bestimmte Nachrichten – – malte sich nur aus, was sie in den Ferien vielleicht angestellt haben könnte. Und es war ihm eine Befriedigung zu denken, dass dies Wesen, das er schuf, weit hinaus die merkwürdigen Kreise seines Einflusses ziehen möchte. In der Zeitung las er, dass in dem Sommer, in dem Alraune auf Boltenhagen war, die grün-weissen Farben des alten Grafen Rodenberg auf dem Rasen ganz besonders gut abgeschnitten und seinem Gestüt einen sehr erheblichen Gewinn gebracht hatten; weiter erfuhr er, dass Mlle. de Vynteelen eine ziemlich unerwartete Erbschaft gemacht habe, die sie in den Stand setzte, ihr Institut aufzulösen, so dass sie keine neuen Pensionärinnen mehr aufnahm und nur noch die alten bis zum Schluss ihrer Studien behielt. Beides schrieb er der Gegenwart Alraunens zu und war halb überzeugt, dass sie auch den übrigen Häusern, in denen sie geweilt, dem Kloster in Nancy, dem Reverend Macpherson in Edinburgh und dem Heim der Banville auf dem Boulevard Haussmann Gold ins Haus gebracht habe: so habe sie dreifach ihre kleinen Teufeleien wieder gutgemacht. Er dachte, dass alle diese Menschen seinem Kinde sehr dankbar sein müssten, hatte ein Gefühl, als ob er ein seltsames »Mädchen aus der Fremde« in die Welt gesetzt habe, das jedem seine Gaben brachte und ringsum Rosen auf den Lebensweg der Menschen streute, die das Glück hatten es zu treffen. Er lachte, als ihm einfiel, dass diese Rosen auch scharfe Dornen hatten und manche hübsche Wunde reissen konnten.

Und er fragte das Fräulein Becker: »Sagen Sie mir doch – wie geht es eigentlich Ihrer lieben Mama?«

»Danke, Exzellenz,« antwortete sie, »die Mutter kann nicht klagen. Das Geschäft ist erheblich besser geworden in den letzten Jahren!«

Da sagte der Geheimrat: »Sehen Sie!« – Und er gab Auftrag, dass von nun an aller Käse bei Frau Becker in der Münsterstrasse gekauft werben solle, Emmenthaler, Roquefort, Chester und alter Holländer.


 << zurück weiter >>