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Viertes Kapitel, das Kunde gibt, wie sie Alraunes Mutter fanden

Frank Braun sass auf der Veste. Oben auf Ehrenbreitstein. Sass schon zwei Monate dort und hatte noch drei zu sitzen. Den ganzen Sommer hindurch. Und das alles, weil er ein Loch in die Luft geschossen hatte und sein Gegner auch.

Er langweilte sich.

Er sass oben auf der Brüstung des Brunnens, der weit hinabsah von dem steilen Fels in den Rhein. Liess die Beine baumeln, schaute ins Blaue und gähnte. Und genau dasselbe taten die drei Genossen, die mit ihm dasassen; keiner sprach ein Wort.

Sie trugen gelbe Drillichjacken, die sie den Soldaten abgehandelt hatten. Von ihren Burschen hatten sie sich riesige schwarze Ziffern auf den Rücken malen lassen, die sollten die Nummern ihrer Zellen bedeuten. Zwei, Vierzehn und Sechs waren da. Frank Braun aber trug die Nummer Sieben.

Dann kam ein Trupp Fremder hinauf, Engländer und Engländerinnen, die ein Sergeant von der Wache führte. Er zeigte ihnen die armen Gefangenen mit den grossen Nummern, die so trübselig dasassen: da regte sich ihr Mitleid. Und mit Ach's und Oh's fragten sie den Sergeanten, ob man den elenden Menschen nichts geben dürfe? Das sei streng verboten, sagte der, und er dürfe so etwas nicht sehen. Aber in seines Herzens grosser Güte drehte er sich um und erklärte den Herren die Gegend. Dort liege Coblenz, sagte er, und da hinten Neuwied. Und dort, unten am Rhein –

Derweilen kamen die Damen heran. Die armen Gefangenen streckten die Hand nach hinten, hielten sie gerade unter die dicke Nummer; dahinein tropften die Geldstücke, fielen Zigaretten und Tabak. Manchmal auch eine Visitenkarte mit einer Adresse.

Das war das Spiel, das Frank Braun erfunden und eingeführt hatte hier oben.

»Es ist eigentlich entwürdigend,« meinte Nr. Vierzehn. Das war der Rittmeister Baron Flechtheim.

»Du bist ein Idiot.« sagte Frank Braun. »Entwürdigend ist nur, dass wir uns so vornehm dünken, dass wir alles den Unteroffizieren geben und nichts behalten. Wenn wenigstens die verdammten englischen Zigaretten nicht so parfümiert wären.« – Er besah sich den Raub. »Da! Schon wieder ein Pfundstück dabei! Der Sergeant wird sich freuen. – Herrgott, ich könnt's gut selber gebrauchen heute!«

»Wie viel hast du gestern verloren?« fragte Nr. Drei.

Frank Braun lachte. »Pah – meinen ganzen Wechsel, der am Morgen ankam. Und dazu ein paar Ehrenscheine auf einige Blaue. Hol der Henker das Bac!«

Nr. Sechs war ein blutjunger Fähnrich, ein Bübchen, das aussah wie Milch und Blut. Das seufzte tief: »Ich hab auch alles verjeut.«

»Na, und du meinst, uns geht es anders?« schnauzte ihn Nr. Vierzehn an. »Und zu denken, dass die drei Halunken sich jetzt mit unserm Geld in Paris amüsieren! – Wie lange denkst du, dass sie bleiben werden?«

Dr. Klaverjahn, Marinearzt, Festungsstubengefangener Nr. Zwei, sagte: »Ich schätze drei Tage. Länger können sie nicht gut wegbleiben, ohne dass man es merkt. Und länger reichen die auch mit dem Gelde nicht!«

Die – das waren Nr. Vier, Nr. Fünf und Nr. Zwölf. Sie hatten in der letzten Nacht tüchtig gewonnen und waren gleich am Morgen den Berg hinuntergeklettert, um mit dem Frühzuge nach Paris zu fahren. Sich – ein bisschen auszuspannen, wie man das auf der Festung nannte.

»Was wollen wir anfangen, diesen Sonntagnachmittag?« fragte Nr. Vierzehn.

»Streng deinen blöden Schädel einmal selber an!« rief Frank Braun dem Rittmeister zu. Er sprang von der Mauer hinab, ging durch den Kasernenhof in den Offiziersgarten. Er war missgestimmt genug, pfiff laut vor sich hin.

Nicht der Spielverlust war's – das war ihm öfter passiert und drückte ihn durchaus nicht. Aber dieser klägliche Aufenthalt hier oben, dieses unerträgliche Einerlei. Gewiss, die Festungsbestimmungen waren leicht genug und es war dazu keine dabei, die die Herrn Gefangenen nicht in jeder Stunde verletzten. Sie hatten ihr eigenes Kasino hier oben, in dem ein Klavier stand und ein Harmonium; zwei Dutzend Zeitungen hielten sie. Hatten jeder seinen eigenen Burschen und als Zelle einen mächtigen Raum, einen Saal fast, für den sie dem Staate eine tägliche Miete von einem Pfennig zahlten. Sie liessen sich ihr Essen aus dem besten Gasthofe der Stadt kommen und ihr Weinkeller war in allerschönster Ordnung. Nur eines war zu tadeln: man konnte seine Zimmertüre nicht von innen verschliessen. Das war der einzige Punkt, in dem die Kommandantur ungeheuer streng war: seitdem einmal ein Selbstmord vorgekommen, wurde jeder Versuch, einen Riegel innen anzubringen, im Keime erstickt. »Sie sind ausgemachte Trottel dort unten,« dachte Frank Braun. »Als ob man sich nicht geradesogut ohne Riegel selbstmorden könnte!«

Dieser fehlende Riegel quälte ihn jeden Tag, verdarb ihm alle Freude am Dasein. Denn so war es unmöglich, allein zu sein auf der Festung. Er hatte mit Seilen und mit Ketten die Türe festgemacht, hatte sein Bett davor gestellt und alle andern Möbel. Es nutzte nichts: nach einem mehrstündigen Kampf war alles zertrümmert und zerschlagen und stand doch die ganze Gesellschaft triumphierend in seinem Zimmer.

O diese Gesellschaft! – Jeder einzelne war ein harmloser, netter, gutmütiger Kerl. Jeder einzelne einer, mit dem man – allein – wohl einmal eine halbe Stunde plaudern konnte. – Aber zusammen, zusammen waren sie unerträglich. Es war der »Komment«, der sie alle niederschlug, diese wilde Mischung von Offiziers- und Studentenkomment, aufgeputzt durch einige besondere Narrheiten der Festung. Man sang, man trank und man jeute, einen Tag, eine Nacht um die andere. Und dazwischen: ein paar Mädel, die man heraufschleppte, und ein paar Spritztouren, die man hinunter machte – –, das waren die Heldentaten.

Und man sprach auch von nichts anderm mehr.

Die, die am längsten oben waren, waren die schlimmsten, ganz verkommen in diesem ewigen Rundlauf. Dr. Bermüller, der seinen Schwager erschossen hatte und nun schon seit zwei Jahren hier oben sass, und sein Nachbar, der Dragonerleutnant Graf von Vallendar, der noch ein halbes Jahr länger die gute Luft hier oben genoss. Und die, die neu kamen, taten es in kaum einer Woche schon den andern gleich; wer am rohesten war und am wildesten – der stand hoch im Ansehn.

Frank Braun stand im Ansehn. Er hatte gleich am zweiten Tag das Klavier abgeschlossen, weil er des Rittmeisters grässliches ›Frühlingslied‹ nicht länger anhören wollte, hatte den Schlüssel in die Tasche genommen und dann hinuntergeworfen vom Festungswall. Er hatte auch seinen Pistolenkasten mitgebracht und schoss nun den lieben langen Tag. Und saufen konnte er und fluchen, so gut wie einer hier oben.

Eigentlich hatte er sich gefreut auf diese Sommermonate auf der Veste. Er hatte einen grossen Stoss Bücher mitgeschleppt; neue Federn und blankes Papier. Er glaubte hier arbeiten zu können, freute sich auf den Zwang in der Einsamkeit.

Aber er hatte kein Buch aufmachen können, hatte nicht einmal einen Brief geschrieben. War hineingezogen in diesen wilden kindischen Strudel, der ihn ekelte, und den er doch so gründlich mitmachte, Tag um Tag. Er hasste seine Kameraden, jeden einzelnen unter ihnen –

Sein Bursche kam in den Garten, salutierte: »Herr Doktor, ein Brief.«

Ein Brief? Am Sonntagnachmittag? Er nahm ihn dem Soldaten aus der Hand. Es war ein Eilbrief, der ihm nachgeschickt war hierher. Er erkannte die dünnen Züge seines Onkels. Von dem? Was wollte der plötzlich von ihm? Und er wog den Brief in der Hand – ah, er hatte gute Lust, ihn zurückgehen zu lassen: Annahme verweigert. Was ging ihn dieser alte Professor an?!

Ja, das war das letzte, was er von ihm sah, als er mit ihm nach Lendenich fuhr – nach jenem Fest bei den Gontrams. Als er ihm einzureden versuchte, er müsse ein Alraunwesen schaffen. Damals – vor zwei Jahren.

Ah, wie weit lag das nun schon zurück!

Er war auf eine andere Universität gegangen, hatte zur rechten Zeit seine Examina gemacht. Sass nun in einem lothringischen Loch – war tätig als Referendar. War tätig –? Bah, er setzte das Leben fort, das er geführt hatte auf der hohen Schule. War gern gesehen bei den Frauen und bei allen denen, die ein lockeres Leben liebten und wilde Sitten. Und war sehr ungern gesehen bei seinen Vorgesetzten. O ja, er arbeitete auch wohl hie und da – so für sich. Aber es war sicher stets etwas, was seine Vorgesetzten groben Unfug nannten.

Wenn er eben konnte, drückte er sich, fuhr nach Paris. War besser zu Hause auf der Butte Sacrée, als im Gericht. Und er wusste nicht recht, wohin das alles führen sollte.

Das war ja gewiss, dass er nie ein Jurist sein würde, Rechtsanwalt oder Richter oder sonst ein Beamter. Aber was sollte er sonst machen? Er lebte dahin, in den Tag hinein, machte immer neue Schulden –

Immer noch hielt er den Brief in der Hand, begierig ihn aufzureissen, und doch voller Lust, ihn so zurückzugeben, wie er war. Als eine späte Antwort auf den andern Brief, den ihm der Onkel schrieb vor zwei Jahren.

Das war kurz nach jener Nacht gewesen. Mit fünf andern Studenten war er zur Mitternacht durchs Dorf geritten, zurück von einem Ausflug in die sieben Berge. Und er hatte alle eingeladen, aus einer plötzlichen Laune heraus, zum Nachtmahle im Hause ten Brinken.

Sie rissen die Schelle ab, schrien laut, hämmerten gegen das schmiedeeiserne Tor. Machten einen Heidenlärm, dass das Dorf zusammenlief. Der Geheimrat war verreist, aber der Diener liess sie ein auf des Neffen Befehl. Sie brachten die Gäule zum Stalle und Frank Braun liess die Dienerschaft wecken. Liess ein grosses Essen herrichten und holte selbst die besten Weine aus des Oheims Keller. Und sie schmausten und tranken und sangen, tobten herum durch Haus und Garten, lärmten, heulten und zerschlugen, was vor ihre Fäuste kam. Früh erst am Morgen ritten sie heim, johlend und gröhlend, hingen auf ihren Gäulen, wie wilde Cowboys die einen und die andern wie alte Mehlsäcke.

»Die jungen Herrn benahmen sich wie die Schweine,« berichtete Aloys dem Herrn Geheimrat.

Doch das war es nicht, was diesen so erboste, kein Wort hätte er darüber verloren. Aber auf dem Büfett lagen seltene Äpfel, taufrische Nektarinen, Birnen und Pfirsiche aus seinen Treibhäusern. Edle Früchte, mit unsäglicher Mühe gezogen. Erstlinge von neuen Bäumen, lagen auf Watte dort auf goldenen Tellern zum Nachreifen. Aber die Studenten hatten keinerlei Pietät vor des Professors Liebe, waren respektlos darüber hergefallen. Hatten sie angebissen, dann, da sie halb unreif noch waren, wieder liegen lassen. Das war es.

Er schrieb seinem Neffen einen erbitterten Brief, ersuchte ihn, nie wieder sein Haus zu betreten.

Und Frank Braun wieder war tief verletzt über den Grund dieses Schreibens, den er als jämmerliche Kleinlichkeit empfand.

– Ah, hätte ihn der Brief, den er nun in der Hand hielt, dort erreicht, wohin er gesandt war, in Metz, oder gar auf dem Montmartre – er würde keine Sekunde gezögert haben, ihn zurückgehen zu lassen.

Hier aber – hier – in dieser grässlichen Langeweile der Festung?

Er entschloss sich. »Auf alle Fälle ist's eine Abwechslung,« murmelte er. Öffnete den Brief.

Der Onkel teilte ihm mit, dass er, nach reiflicher Überlegung, gewillt sei, der Anregung, die er, sein Neffe, ihm damals gegeben, Folge zu leisten. Er habe nun auch schon einen geeigneten Vaterkandidaten: die Revision des Raubmörders Noerrissen sei zurückgewiesen und es sei nicht anzunehmen, dass das Begnadigungsgesuch mehr Erfolg habe. Nun suche er nach einer Mutter. Er habe schon einige Versuche nach dieser Richtung hin gemacht, diese seien aber leider durchaus negativ verlaufen; es scheine doch nicht ganz so leicht, hier das Richtige zu finden. Aber die Zeit dränge und er frage nun seinen Neffen, ob er bereit sei, ihn in dieser Angelegenheit zu unterstützen.

Frank Braun starrte den Burschen an: »Ist der Briefträger noch da?« fragte er.

»Zu Befehl, Herr Doktor,« meldete der Soldat.

»Sag ihm, er solle warten. Da, gib ihm ein Trinkgeld!« Er suchte in seinen Taschen, schliesslich fand er noch ein Markstück. Den Brief in der Hand, eilte er zurück, dem Gefangenenhause zu.

Doch kaum war er auf dem Kasernenhofe angelangt, als ihm die Frau des Feldwebels mit einem Depeschenboten entgegenkam. »Ein Telegramm für Sie!« rief die Frau.

Es war von Dr. Petersen, dem Assistenzarzt des Geheimrats. Es lautete:

»Exzellenz befinden sich seit vorgestern in Berlin, Hotel de Rome. Erwarten umgehend Nachricht, ob Sie eintreffen, lassen herzlich grüssen.«

Exzellenz? Also der Onkel war Exzellenz geworden. Und darum war er in Berlin. – In Berlin – ah, das war schade. Er wäre lieber nach Paris gefahren, dort hätte er gewiss viel leichter etwas gefunden und etwas Besseres wohl auch –

Einerlei, nun war es einmal Berlin. Zum mindesten war es eine Unterbrechung in dieser Öde. Er überlegte einen Augenblick. Er musste fort, heute abend noch. Aber – er hatte keinen Pfennig Geld. Und die Kameraden hatten ja auch nichts.

Er sah die Frau an. »Sie, Frau Feldwebel –« begann er. Aber nein, das ging nicht. Und er schloss: »Geben Sie dem Mann ein Trinkgeld. Schreiben Sie's mir auf die Rechnung.«

Er ging in sein Zimmer, liess den Handkoffer packen, befahl dem Burschen ihn gleich zum Bahnhofe zu bringen und dort zu warten. Dann ging er hinunter.

In der Türe stand der Feldwebel, der Aufseher des Gefangenenhauses, händeringend, fast aufgelöst. »Sie wollen auch fort, Herr Doktor?« jammerte er. – »Und die drei Herren sind schon weg – nach Paris – ins Ausland! Herrgott, das kann ja kein gutes Ende nehmen! Ich falle herein, ich allein – ich trag die Verantwortung.«

»Na, es wird nicht so schlimm sein,« antwortete Frank Braun. »Ich reise ja nur auf ein paar Tage, und die andern Herren werden dann auch wohl zurück sein.«

Der Feldwebel klagte weiter: »Es ist ja nicht wegen mir. Ich sag gewiss nichts! Aber die andern sind alle so neidisch auf mich. Und heut hat gar der Sergeant Becker die Wache, der –«

»Der wird's Maul halten!« entgegnete ihm Frank Braun. »Der hat erst eben über dreissig Mark von uns bekommen – mildtätige Gaben der Engländerinnen. – Übrigens geh ich nach Coblenz zur Kommandantur, Urlaub zu erbitten. – Sind Sie nun zufrieden?«

Aber der Gefangenenaufseher war gar nicht zufrieden: »Was? Zur Kommandantur? – Aber Herr Doktor? Sie haben ja keinen Urlaub von hier oben fortzugehen, hinunter zur Stadt. Und Sie wollen gar zur Kommandantur?«

Frank Braun lachte: »Jawohl, gerade dahin! – Ich muss nämlich den Kommandanten um Reisegeld anpumpen.«

Der Feldwebel sagte kein Wort mehr, stand da, rührte sich nicht, völlig versteinert, mit weit offenem Munde.

»Gib mir zehn Pfennige, Schorsch,« rief Frank Braun seinem Burschen zu, »fürs Brückengeld.«

Er nahm das Geldstück und ging mit schnellen Schritten über den Hof. In den Offiziersgarten und von dort auf das Glacis. Schwang sich auf die Mauer, fasste an der andern Seite den Ast einer mächtigen Esche und kletterte hinab an ihrem Stamm. Stieg, durch das dichte Unterholz, den mächtigen Fels hinab.

In zwanzig Minuten schon war er unten. Das war der Weg, den sie gewöhnlich einschlugen auf ihren nächtlichen Streifzügen.

Er ging den Rhein entlang bis zur Schiffbrücke, dann hinüber nach Coblenz. Er kam zur Kommandantur, erfuhr, wo der General wohnte, und eilte dorthin. Er gab seine Karte ab und liess sagen, dass er in sehr dringlicher Angelegenheit komme.

Der Herr General empfing ihn, hielt seine Karte in der Hand.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«

Frank Braun sagte: »Gestatten Exzellenz, ich bin Festungstubengefangener.«

Der alte General musterte ihn ziemlich ungnädig, sichtlich verstimmt über die Störung.

»Nun, was wollen Sie? – Wie kommen Sie übrigens hinunter in die Stadt? Haben Sie Urlaub?«

»Jawohl, Exzellenz,« sagte Frank Braun. »Kirchenurlaub.«

Er log, aber er wusste gut: der General wollte nur eine Antwort haben. »Ich komme, um Exzellenz zu bitten, mir drei Tage Urlaub zu geben nach Berlin. Mein Onkel liegt im Sterben.«

Der Kommandant fuhr auf: »Was geht mich Ihr Onkel an? Ist vollkommen ausgeschlossen! Sie sitzen da oben nicht zu Ihrem Vergnügen, sondern weil Sie Staatsgesetze übertreten haben, verstehen Sie? Da könnte jeder kommen mit sterbenden Onkeln und Tanten! Wenn es nicht wenigstens die Eltern sind, verweigere ich einen solchen Urlaub grundsätzlich.«

»Ich danke gehorsamst, Exzellenz,« erwiderte er. »Ich werde meinem Onkel, Seiner Exzellenz, dem Wirklichen Geheimen Rat Professor ten Brinken sofort drahten, dass es seinem einzigen Neffen leider nicht erlaubt wurde, an sein Sterbebett zu eilen, um ihm die müden Augen zudrücken zu können.«

Er verbeugte sich, machte eine Wendung zur Türe hin. Aber der General hielt ihn zurück, wie er erwartet hatte. »Wer ist Ihr Herr Onkel?« fragte er zögernd.

Frank Braun wiederholte den Namen und die schönen Titel, nahm dann das Telegramm aus der Tasche und reichte es hinüber. »Mein armer Onkel versuchte in Berlin eine letzte Rettung, leider ist die Operation sehr unglücklich verlaufen.«

»Hm!« machte der Kommandant. »Fahren Sie, junger Mann, fahren Sie sofort. Vielleicht ist doch noch Hilfe möglich.«

Frank Braun machte eine Jammermiene, sagte: »Das steht nur bei Gott. Wenn mein Gebet da etwas nützen könnte – –« Er unterbrach einen schönen Seufzer und fuhr fort: »Ich danke gehorsamst, Exzellenz. – Ich habe noch eine Bitte.«

Der Kommandant gab ihm das Telegramm zurück. »Welche?« fragte er.

Und Frank Braun platzte heraus: »Ich habe kein Reisegeld. Ich möchte Exzellenz bitten, mir dreihundert Mark zu leihen.«

Der General sah ihn an, misstrauisch genug: »Kein Geld – hm – so – also kein Geld? – Aber gestern war doch der Erste? Wechsel nicht eingetroffen – was?«

»Wechsel prompt eingetroffen, Exzellenz,« erwiderte er rasch. »Aber: ebenso prompt in der Nacht verjeut!«

Da lachte der alte Kommandant. »Ja, Ja, das ist zur Sühne Ihres Verbrechens, Sie Missetäter! Also dreihundert Mark brauchen Sie?«

»Jawohl, Exzellenz! Mein Onkel wird sich gewiss sehr freuen, wenn ich ihm mitteilen darf, dass Exzellenz mir aus der Patsche geholfen haben.«

Der General wandte sich, ging zum Arnheim, öffnete ihn und entnahm drei Scheine einer kleinen Kasse. Er reichte seinem Gefangenen Feder und Papier und liess sich einen Schuldschein ausstellen; dann gab er ihm das Geld. Frank Braun nahm es mit einer leichten Verbeugung. »Danke gehorsamst, Exzellenz.«

»Keinen Dank!« sagte der Kommandant. »Reisen Sie glücklich und kommen Sie pünktlich zurück. Und dann – empfehlen Sie mich ergebenst Seiner Exzellenz.»

Noch einmal: »Danke gehorsamst, Exzellenz.« Dann eine letzte Verbeugung und er war draussen. Er sprang die sechs Stufen der Vordertreppe mit einem Satz hinab, musste sich fest zusammennehmen, dass er nicht einen lauten Juchzer ausstiess.

»So, dass wäre gelungen.« – Er rief einen Wagen an, fuhr hinüber nach Ehrenbreitenstein zum Bahnhofe.

Er blätterte im Fahrplan, fand, dass er noch drei Stunden zu warten hatte. Er rief den Burschen, der mit dem Koffer wartete, befahl ihm, schleunigst hinaufzulaufen und den Fähnrich von Plessen herunterzuschicken zum »Roten Hahnen«.

»Aber bring den richtigen, Schorsch!« schärfte er dem Soldaten ein. »Den jungen Herrn, der erst unlängst kam, den, der die Nummer Sechs auf dem Rücken trägt. – Da, warte noch! Dein Groschen hat Zinsen getragen.« Er warf ihm ein Zehnmarkstück zu.

Er ging in das Weinhaus, überlegte lange und bestellte ein ausgesuchtes Nachtmahl. Sass am Fenster, blickte hinab auf die Sonntagsbürger, die am Rhein wandelten.

Endlich kam der Fähnrich. »Na, was ist los?«

»Setz dich,« sagte Frank Braun. »Halt's Maul. Frag nicht. Iss und trink und sei froh.« Er gab ihm einen Hundertmarkschein. »So, die Zeche wirst du zahlen. Der Rest ist für dich. – Und sag denen droben, ich sei nach Berlin gefahren – mit Urlaub! – Aber ich würde ihn wohl überschreiten, käme erst Ende der Woche zurück.«

Der blonde Fähnrich starrte ihn an, voll ehrlicher Bewunderung. »Sag nur – wie hast du denn das angefangen?«

»Mein Geheimnis,« sagte Frank Braun. »Aber es würde euch auch nichts nützen, wenn ich's euch verriete. Auf den Bluff fällt auch die gutmütigste Exzellenz nur einmal herein. Prosit!«

– Der Fähnrich brachte ihn zum Zuge, hob ihm den Koffer hinein, winkte dann mit dem Hut und dem Taschentuch. Frank Braun trat zurück vom Fenster, vergass in demselben Augenblick den kleinen Fähnrich und all seine Mitgefangenen und die ganze Festung. Er sprach mit dem Schaffner, streckte sich lang aus in seinem Halbcoupé. Machte die Augen zu, schlief.

Der Schaffner musste ihn tüchtig schütteln, bis er aufwachte. »Wo sind wir denn?« fragte er schlaftrunken.

»Gleich Bahnhof Freidrichstrasse.«

Er suchte seine Sachen zusammen, stieg aus, fuhr zum Hotel. Liess sich ein Zimmer geben, badete, wechselte die Kleider. Ging dann hinunter zum Frühstückszimmer.

In der Tür schon kam ihm Dr. Petersen entgegen.

»Ah, Sie sind da, lieber Herr Doktor!« rief er. »Wie sich Exzellenz freuen werden!«

Exzellenz! Wieder: Exzellenz! Diese drei »E's« taten ihm ordentlich weh in den Ohren. »Wie geht es denn meinem Onkel?« fragte er. »Besser?«

»Besser?« wiederholte der Arzt. »Wieso besser? Exzellenz sind doch nicht krank!«

»So, so,« sagte Frank Braun. »Nicht krank?! Schade, ich dachte, der Onkel läge im Sterben.«

Dr. Petersen sah ihn verwundert an: »Ich verstehe Sie gar nicht –«

Er unterbrach ihn: »Ist auch nicht nötig. Es tut mir nur leid, dass der Geheimrat nicht im Serben liegt. Das wäre doch sehr nett! Da würde ich ihn doch beerben, nicht wahr? Vorausgesetzt, dass er mich nicht enterbt hat. – Was auch möglich ist – sogar höchst wahrscheinlich.« Er sah den verblüfften Arzt vor sich stehn, weidete sich einen Augenblick an seiner Verlegenheit. Dann fuhr er fort: »Aber sagen Sie mir doch, Doktor, seit wann ist denn mein Onkel eigentlich Exzellenz?«

»Seit vier Tagen, bei Gelegenheit –«

Er unterbrach ihn: »Seit vier Tagen also! Und wie viele Jahre sind Sie jetzt bei ihm als – als – rechte Hand?«

»Nun, das mögen nun wohl zehn Jahre sein,« erwiderte Dr. Petersen.

»Und zehn Jahre lang haben Sie nun zu ihm ›Geheimrat‹ gesagt und ihn mit Sie angeredet. Nun aber, in den vier Tagen, ist er so völlig schon Exzellenz für Sie, dass Sie selbst ihn nicht einmal anders denken können, als in dritter Person Pluralis.«

»Erlauben Sie, Herr Doktor,« sagte der Assistenzarzt, eingeschüchtert und betreten – »erlauben Sie – wie meinen Sie das eigentlich?«

Aber Frank Braun nahm ihn unter den Arm, führte ihn zum Frühstückstisch. »Oh, ich meine, Doktor, dass Sie eben ein Mann von Welt sind! Einer, der Formen hat und Manieren. Einer, der einen angeborenen Instinkt hat für wirkliche Bildung. – So mein ich's. – Und nun, Doktor, wollen wir frühstücken, und Sie erzählen mir, was Sie ausgerichtet haben inzwischen.«

Befriedigt setzte sich Dr. Petersen nieder, durchaus ausgesöhnt, beglückt beinahe. Dieser junge Referendar, den er noch als kleinen Schulbuben gekannt hatte, war ja freilich ein Windhund, war ein rechter Durchgänger. – Aber er war doch immer der Neffe – von Exzellenz.

Der Assistenzarzt mochte ein Sechsunddreissiger sein, er war mittelgross. Und Frank Braun dachte, dass alles »mittel« sei an diesem Menschen. Nicht gross und nicht klein war seine Nase, nicht hässlich und nicht hübsch sein Gesicht. Er war nicht mehr jung und noch nicht alt, seine Haarfarbe hielt genau die Mitte zwischen dunkel und hell. Nicht dumm und nicht klug war er, nicht gerade langweilig und doch nicht unterhaltend; seine Kleidung war nicht elegant und doch auch nicht ordinär. So der gute Durchschnitt war er, in allem: das war der rechte Mann, den der Geheimrat brauchte. Ein tüchtiger Arbeiter, gescheit genug, um alles zu begreifen und alles zu leisten, was man von ihm verlangte, und doch nicht so intelligent, um darüber hinauszugehen, klar hineinzublicken in das bunte Spiel, das sein Herr spielte.

»Wieviel Gehalt bekommen Sie eigentlich bei meinem Onkel?« fragte ihn Frank Braun.

»Oh, nicht gerade sehr glänzend – aber doch recht reichlich,« war die Antwort. »Ich kann schon zufrieden sein. Zu Neujahr habe ich wieder vierhundert Mark Zulage erhalten.« Er bemerkte mit einer gewissen Bewunderung, dass der Herr Neffe sein Frühstück mit Obst begann, einen Apfel ass und eine Handvoll Kirschen.

»Was für Zigarren rauchen Sie?« inquirierte der Referendar.

»Was ich rauche? – So eine Mittelsorte, nicht zu stark –« Er unterbrach sich. »Aber warum fragen Sie das eigentlich, Herr Doktor?«

»Nur so,« sagte Frank Braun. »Es interessierte mich eben. – Aber nun erzählen Sie mir, was Sie eigentlich schon getan haben in dieser Sache. Hat Ihnen der Geheimrat seine Pläne mitgeteilt?«

»Gewiss,« nickte Dr. Petersen stolz, »ich bin der einzige, der darum weiss – ausser Ihnen natürlich. Der Versuch ist von allerhöchster wissenschaftlicher Bedeutung.«

Der Referendar räusperte sich. »Hm – meinen Sie?«

»Ganz zweifelsohne,« bekräftigte der Arzt. »Und es ist geradezu genial, wie Seine Exzellenz es herausklügelten, jede Möglichkeit einer eventuellen Anfeindung von vornherein zu ersticken. Sie wissen ja, wie vorsichtig man sein muss, wie wir Ärzte immer wieder von einem törichten Laienpublikum angegriffen werden, wegen so vieler, doch so absolut notwendiger Versuche. Da ist die Vivisektion – Gott, die Leute werden ja krank, wenn sie nur das Wort hören. Alle unsere Experimente mit Krankheitserregern, Impfungen und so weiter, sind der Laienpresse schon ein Dorn im Auge, obwohl wir doch fast nur mit Tieren arbeiten. Nun erst, wo es sich um künstliche Befruchtung handelt und wo Menschen in Frage kommen! – Da fanden Exzellenz das einzig Mögliche: einen hingerichteten Mörder und eine eigens für diesen Zweck bezahlte Dirne. Sagen Sie selbst: für ein solches Material wird auch der humanitätsduseligste Pastor sich nicht gerne einsetzen wollen.«

»Ja, es ist grossartig,« bestätigte ihm Frank Braun. »Sie haben wirklich recht, wenn Sie die Kapazität Ihres Herrn Chefs so anerkennen.«

Dr. Petersen berichtete dann, dass Seine Exzellenz mit seiner Hilfe in Köln verschiedentlich Versuche gemacht hätten, die geeignete Frauensperson herbeizuschaffen, leider ohne jeden Erfolg. Es habe sich herausgestellt, dass in den Bevölkerungsklassen, aus denen diese Geschöpfe hervorzugehen pflegten, ganz absonderliche Begriffe über die künstliche Befruchtung bestehen müssten. Es sei ihnen beiden beinahe unmöglich gewesen, den Weibern überhaupt nur beizubringen, um was es sich eigentlich handle, geschweige denn, die eine oder die andere zu bewegen, auf den Handel einzugehen. Obwohl Seine Exzellenz das Äusserste aufgeboten hätten an Beredsamkeit, obwohl auch er immer wieder ihnen vor Augen gehalten habe, dass einmal gar nichts Gefährliches dabei sei, dass zweitens sie doch ein recht schönes Stück Geld verdienen würden und dass sie drittens der medizinischen Wissenschaft einen sehr grossen Dienst erweisen würden.

Eine habe gar laut geschrien: die ganze Wissenschaft könne ihr – Und sie habe einen sehr hässlichen Ausdruck gebraucht.

»Pfui!« sagte Frank Braun. »Wie konnte sie nur!«

Und da habe es sich dann ja sehr gut getroffen, dass Seine Exzellenz bei Gelegenheit des internationalen Gynäkologenkongresses nach Berlin hätten fahren müssen. Hier, in der Weltstadt, würde man ja zweifellos eine weit grössere Auswahl haben, auch sei anzunehmen, dass die Begriffe der in Frage kommenden Personen nicht ganz so beschränkt seien, wie in der Provinz. Dass man auch in diesen Kreisen weniger abergläubische Furcht vor dem Neuen und dafür mehr praktischen Sinn für den materiellen Vorteil und mehr ideelles Interesse für die Wissenschaft habe.

»Besonders letzteres!« unterstrich Frank Braun.

Und Dr. Petersen pflichtete ihm bei. Es sei ja unglaublich gewesen, auf welch veraltete Anschauungen sie da in Köln gestossen seien! Jedes Meerschwein, jede Äffin sei ja unendlich viel einsichtsvoller und vernünftiger, als diese Weibsstücke. Er habe ordentlich verzweifelt an dem überragenden Intellekt der Menschheit. Aber er hoffe, dass sein erschütterter Glaube hier wieder gefestigt würde.

»Ohne jeden Zweifel!« ermutigte ihn der Referendar. »Das wäre ja auch eine wahre Schande, wenn sich Berliner Dirnen ausstechen lassen würden von Äffinnen und Meerschweinen! – Übrigens, wann wird denn mein Onkel kommen? – Ist er schon aufgestanden?«

»Aber längst!« erklärte der Assistenzarzt eifrig. »Exzellenz sind bereits fort, haben gegen zehn Uhr eine Audienz im Ministerium.«

»Na, und dann?« fragte Frank Braun.

»Ja, ich weiss nicht, wie lange das dauern wird,« meinte Dr. Petersen. »Auf jeden Fall haben mich Exzellenz gebeten, ihn gegen zwei Uhr in der Kongresssitzung zu erwarten. Gegen fünf haben Exzellenz dann wieder eine wichtige Zusammenkunft hier im Hotel mit einigen Berliner Kollegen und um sieben sind Exzellenz zum Essen beim Rektor geladen. Vielleicht, Herr Doktor, könnten Sie zwischendurch –«

Frank Braun überlegte. Im Grunde war es ihm ganz lieb, dass sein Onkel den ganzen Tag beschäftigt war, da brauchte er sich nicht um ihn zu bekümmern. »Wollen Sie meinem Onkel ausrichten,« sagte er, »dass wir uns um elf Uhr heute nacht hier unten im Hotel treffen wollen.«

»Um elf Uhr?« Der Assistenzarzt machte ein etwas bedenkliches Gesicht. »Ist das nicht etwas reichlich spät? Seine Exzellenz pflegen um diese Zeit schon zu Bett zu sein. Und gar nach einem so anstrengenden Tag.«

»Seine Exzellenz werden sich eben heute noch ein bisschen länger anstrengen müssen. Richten Sie das aus, Doktor,« entschied Frank Braun. »Die Stunde ist durchaus nicht zu spät für unsere Zwecke, eher zu früh – bestimmen wir also lieber zwölf Uhr. Wenn der arme Onkel so sehr abgespannt ist, kann er sich ja vorher ein bisschen ausruhen. – Und nun addio, Doktor – auf heute nacht.« Er stand auf, nickte kurz und ging weg.

Er biss die Zähne aufeinander; empfand in demselben Augenblicke, als er die Lippen schloss, wie kindisch, wie tollpatschig das alles gewesen war, was er dem guten Doktor vorgeschwatzt hatte. Wie klein war sein Spott gewesen, wie billig sein Witz! Er schämte sich fast. Alle Nerven und Sehnen schrien nach irgendeiner Betätigung – und er liess sie Disteln köpfen; sein Hirn sprühte in tausend Funken – und er schmiedete Studentenwitze!

Dr. Petersen sah ihm lange nach. »Er ist hochmütig,« sagte er zu sich selbst. »Nicht einmal die Hand hat er mir gegeben.« Er schenkte sich noch einmal Kaffee ein, mischte ihn hübsch mit Milch und schmierte bedächtig ein neues Butterbrot. Dann mit innerster Überzeugung: »Hochmut kommt vor dem Fall!«

Und, sehr befriedigt über seine gesunde bürgerliche Weisheit biss er in die weisse Semmel und hob die Tasse zum Munde.

 

Es war beinahe ein Uhr in der Nacht, als Frank Braun erschien. »Entschuldige, Oheim,« sagte er leichthin.

»Na, lieber Neffe,« erwiderte der Geheimrat, »hast uns lange genug warten lassen.«

Der Referendar sah ihn gross an. »Ich hatte weiss Gott Besseres zu tun, Onkel. Im übrigen wartest du ja nicht um meinetwillen, sondern nur wegen deiner Zwecke.«

Der Professor schielte zu ihm hinüber: »Junge –« begann er. Aber er beherrschte sich. »Na – lassen wir's. Ich danke dir, Neffe, dass du herkamst, mir zu helfen. Bist du nun bereit, mitzukommen?«

»Nein!« erklärte Frank Braun, blind in kindlichem Trotz. »Ich will erst noch einen Whiskysoda trinken, wir haben Zeit genug.« Das war nun seine Natur, alle Dinge auf die Spitze zu treiben. Feinfühlig, überempfindlich fast gegen jedes kleinste Wort, jeden leisesten Ton eines Vorwurfes, liebte er doch, jeden, mit dem er zusammentraf, auf das frechste zu brüskieren. Immer schrie er gröbste Wahrheiten heraus und konnte selbst nicht die sanfteste vertragen.

Er fühlte wohl, wie er den alten Herrn verletzte. Aber die Tatsache gerade, dass der Onkel verletzt war, dass er seine Dummenjungenmanieren so ernst nahm und tragisch – das gerade kränkte und beleidigte ihn. Er empfand es fast wie eine Herabsetzung, dass ihn der Geheimrat so gar nicht verstand, dass er nicht durchsah durch den blonden Trotzkopf, durch das bisschen lumpige Oberfläche. Und er musste sich dagegen wehren, ob er wollte oder nicht, musste noch einen halben Korsaren draufsetzen auf den, der schon da war. Musste die Maske noch fester ziehen und den frechen Weg gehen, den er auf dem Montmartre gefunden: épater le bourgeois.

Er leerte langsam sein Glas, erhob sich dann nachlässig, wie ein melancholischer Prinz, der sich langweilt. »Wenn es den Herren beliebt?« Seine Geste war von oben herab, wie zu etwas unendlich tief unter ihm Stehenden. »Eine Droschke, Kellner.«

Sie fuhren. Der Geheimrat schwieg, seine Oberlippe hing tief herab, seine dicken Tränensäcke lappten sich über die Wangen. Weit standen nach beiden Seiten die mächtigen Ohren ab, das rechte Auge leuchtete grünschillernd im Dunkel. ›Wie eine Eule sieht er aus,‹ dachte Frank Braun, ›wie eine hässliche alte Eule, die auf ihr Mäuschen lauert.‹

Dr. Petersen sass im Vordersitz, mit offenem Mund. Er begriff das alles gar nicht – dieses unglaubliche Benehmen des Neffen Exzellenz gegenüber.

Aber der junge Mann fand bald genug sein Gleichgewicht wieder. – Ach, wozu sich ärgern über den alten Esel?! Hat ja auch seine guten Seiten am Ende –

Er half dem Geheimrat aus dem Wagen. »Hier!« rief er. »Bitte einzutreten!«

›Café Stern‹ stand auf dem grossen Schilde, das die Bogenlampe bestrahlte. Sie traten ein, gingen durch die langen Reihen der kleinen Marmortische, durch eine Fülle schreiender und lärmender Menschen. Setzten sich endlich.

Hier war ein guter Markt. Viele Dirnen sassen herum, aufgetakelt, mit gewaltigen Hüten und bunten Seidenblusen. Riesige Massen von Fleisch, das auf den Käufer wartete, sich möglichst breit hinrekelte, wie in Schaufensterauslagen.

»Ist dies eines der besseren Lokale?« fragte der Geheimrat.

Der Neffe schüttelte den Kopf. »Nein, Ohm Jakob, durchaus nicht. Wir würden da kaum das finden, was wir nötig haben. Aber vielleicht ist selbst das noch zu gut – Wir brauchen die letzte Hefe.«

Hinten sass ein Mann im fettigen, abgeschlissenen Frack am Klavier. Spielte unaufhörlich einen Gassenhauer nach dem andern. Zuweilen gröhlten mit seinem Spiel ein paar Angetrunkene; dann kam der Direktor, wies sie zur Ruhe, erklärte, dass es das nicht gäbe in diesem anständigen Lokale.

Kleine Kommis liefen herum; ein paar gute Bürger aus der Provinz sassen am Nebentische, kamen sich sehr fortgeschritten vor und sehr unmoralisch in ihrem Geschwätz mit den dicken Dirnen. Und die unappetitlichen Kellner zwängten sich zwischen die Tische, brachten braune Saucen in Gläsern und gelbe in Tassen, die sie dann Bouillon nannten oder Mélange. Auch volle Schnapskaraffen, die jedes kleine Gläschen in Strichen markierten.

Zwei Weiber kamen an ihren Tisch, baten um einen Kaffee. Machten keine Umstände, setzten sich und bestellten.

»Die Blonde vielleicht?« flüsterte Dr. Petersen.

Aber der Referendar winkte ab. »Nein, nein, das ist gar nichts. – Ist nur Fleisch. Da behalten Sie besser Ihre Äffinnen.«

Eine Kleine fiel ihm auf, hinten im Raume. Sie war schwarz und ihre Augen kochten vor Gier. Er stand auf, winkte sie in den Gang. Sie machte sich los von ihrem Begleiter, kam auf ihn zu.

»Hör mal –« begann er. Aber sie sagte: »Heute nicht. Hab schon einen Kavalier. – Morgen, wenn du willst.«

»Lass ihn laufen,« drängte er. »Komm mit, wir gehen ins Separée.«

Das war verlockend. »Morgen – geht's nicht morgen, Schatz?« bat sie. »Kann wirklich nicht heute, es ist ein alter Kunde. Er zahlt zwanzig Mark.«

Frank Braun fasste ihren Arm: »Ich zahl viel mehr, sehr viel mehr, verstehst du! Du kannst dein Glück machen. Es ist nicht für mich – 's ist für den Alten dort. Und es handelt sich um eine bessere Sache.«

Sie stutzte, ihr Blick folgte seinem Auge, das auf den Geheimrat wies. »Der da?« sagte sie enttäuscht. »Und was wird der wieder verlangen?!«

»Lucy!« schrie der Mensch von ihrem Tisch.

»Ich komm schon,« antwortete sie. »Also nochmal – heute nicht. Morgen können wir darüber reden, wenn du willst. Komm hierher, so um diese Zeit!«

»Blödes Frauenzimmer!« flüsterte er.

Sie sagte: »Sei nicht bös! Er schlägt mich tot, wenn ich nicht mit ihm gehe heute. Er ist immer so, wenn er betrunken ist! – Komm morgen, hörst du? Und lass den Alten – komm allein. Brauchst auch nicht zu zahlen, wenn du nicht magst.«

Sie liess ihn stehen, lief zurück an ihren Tisch; Frank Braun sah, wie der schwarze Herr mit dem steifen Filzhut ihr erbitterte Vorwürfe machte. O ja, sie musste ihm schon treu bleiben – für diese Nacht.

Er ging langsam durch den Saal, betrachtete die Dirnen. Aber er fand keine, die ihm lasterhaft genug erschien. Da war überall noch ein letzter Rest bürgerlicher Ehrbarkeit, irgendein instinktives Sicherinnern der Zugehörigkeit zu irgendeiner Gesellschaft. Nein, nein, da war keine, die losgelöst war von allem, die frech und selbstbewusst ihren Weg ging: da seht – ich bin eine Hure.

Er hätte es kaum definieren können, was er eigentlich suchte. Es lag im Gefühl. Es musste so eine sein, dachte er, die dahergehört an ihren Platz und nirgend anders. Nicht eine, wie diese alle, die irgendein bunter Zufall hierher verschlagen hatte. Die geradesogut kleine Frauen hätten werden können, Arbeiterinnen, Dienstmädchen, Tippfräulein oder gar Telephondamen, wenn nur ihres Lebens Wind ein klein wenig anders geblasen hätte. Die nur Dirnen waren – weil sie des Mannes rohe Gier dazu machte.

Nein, nein, die er suchte, die sollte Dirne sein, weil sie nicht anders konnte, weil ihr Blut es so heischte, weil jeder Zoll ihres Leibes schrie nach immer neuen Umarmungen, weil, unter den Zärtlichkeiten des einen, ihre Seele sich schon sehnte nach des anderen Küssen.

Sie sollte Dirne sein, so wie er – Er stockte – ja was war er denn eigentlich?

Müde, resigniert schloss er seine Gedanken: nun, so wie er – ein Träumer war.

Er kehrte an den Tisch zurück. »Komm, Oheim, es ist hier nichts. Wir wollen ein Haus weiter gehen.«

Der Geheimrat protestierte, aber der Neffe hörte nicht darauf. »Komm Oheim,« wiederholte er. »Ich versprach dir, eine zu finden und ich finde sie.«

Sie standen auf, zahlten, gingen über die Strasse, immer weiter hinauf, dem Norden zu.

»Wohin?« fragte Dr. Petersen. Der Referendar antwortete nicht, schritt weiter, betrachtete die grossen Schilder der Kaffeehäuser. Endlich blieb er stehen.

»Café Trinkherr,« murmelte er. »Das wird das richtige sein.«

In diesen verschmutzten Räumen war verzichtet auf jede Talmieleganz. Freilich standen auch hier die kleinen weissen Marmortische, klebten die roten Plüschsofas an den Wänden. Brannten auch hier überall die elektrischen Birnen, schoben sich plattfüssige Kellner in klebrigen Fracks. Aber es machte den Eindruck, als ob das alles nichts anderes scheinen wollte, als es wirklich war.

Die Luft war elend verräuchert und stickig – aber was hier atmete, fühlte sich doch freier und wohler in dieser Luft. Legte sich keinen Zwang auf, gab sich, wie es eben war.

Am Nebentisch sassen Studenten, ältere Semester schon. Sie tranken ihr Bier, zoteten dazwischen mit den Weibern. Sie waren sattelfest alle, kannten sich aus; eine gewaltige Flut von Schmutz, lustig springend, ergoss sich aus ihren Lippen. Einer von ihnen, klein und dick, das Gesicht zerfetzt von unzähligen Schmissen, schien unerschöpflich. Und die Weiber wieherten, bogen sich, krümmten sich in schallendem Lachen.

Zuhälter sassen herum an den Wänden, spielten Karten. Oder hockten allein, starrten vor sich hin, pfiffen mit dem Spiel des betrunkenen Musikanten, tranken ihren Schnaps. Zuweilen kam, von der Strasse her, eine Dirne herein, schritt auf einen von ihnen zu, sprach ein paar rasche Worte und verschwand wieder.

»Das wird stimmen!« sagte Frank Braun. Er winkte dem Kellner, bestellte Kirschwasser, gab ihm den Auftrag, ein paar Frauen an den Tisch zu holen.

Vier kamen. Aber als sie sich setzten, sah er eine andere zur Tür hinausgehen. Eine grosse, starke Person in weissseidener Bluse; unter dem kleinen Girardihut quoll üppiges brandrotes Haar hervor. Rasch sprang er auf, stürzte ihr nach auf die Strasse.

Sie ging über den Fahrweg, lässig, langsam, die Hüften leicht wiegend. Bog zur Linken ab, trat in einen Torweg, über dem im Bogen ein rotes Glasplakat leuchtete. ›Festsäle zum Nordpol‹ las er.

Er schritt ihr nach über den schmutzigen Hof, betrat fast zugleich mit ihr den verräucherten Saal. Aber sie beachtete ihn nicht, blieb vorne stehen, blickte über die tanzende Menge.

Die schrie, johlte, riss weit die Beine auseinander – Männer und Weiber. Wirbelte herum, dass der Staub hochflog, heulte zur Musik die harten Worte des Rixdorfers. Schob sich quer durcheinander, wild, rauh und roh, aber sicher in diesem frechen Tanze, der auf ihrem eigenen Boden wuchs.

Die Craquette fiel ihm ein und die Likette, die sie droben auf Montmartre tanzten, und im Quartier Latin, auf der andern Seite der Seine. Leichter, graziöser, lachend und voll von Charme. Nichts davon lag in diesem Geschiebe, nicht ein kleiner Hauch von dem, was die Midinette ›Flou‹ nannte. Aber ein heisses Blut schrie aus dem gewaltigen Rasen des Rixdorfers, eine wilde Wut fast, die sich austobte durch den niedrigen Saal –

Die Musik schwieg, in schmutzigen, verschwitzten Fingern sammelte der Tanzmeister das Geld ein, von den Weibern, nicht von den Männern. Gab dann, ein Posa der Vorstadt, mit grossen Gesten zur Galerie hinauf das Zeichen zu einem neuen Tanze.

Aber die Menge wollte den Rheinländer nicht. Sie schrie hinauf zum Kapellmeister, brüllte ihn an, dass er abklappen solle. Die Musik spielte trotzdem weiter, kämpfte an gegen den Saal, sicher in ihrer Höhe hinter der Ballustrade.

Da drangen sie auf den Maitre. Der kannte seine Weiber und seine Kerle, hielt sie fest in der Hand, liess sich durchaus nicht einschüchtern durch trunkenes Geschrei oder drohend erhobene Fäuste. Aber er wusste auch, wann er nachgeben musste.

»Den Emil!« schrie er hinauf. »Spielt den Emil!«

Ein dickes Weib in gewaltigem Hute hob ihre Arme, schlang sie dem Tanzmeister um den staubigen Frack. »Bravo, Justav, dat haste jut jemacht!«

Wie Öl glitt sein Ruf über die tobende Menge. Sie lachten, drängten sich, schrien Bravo, schlugen ihn wohlwollend auf den Rücken oder stiessen ihn vor den Bauch. Dann, als der Walzer einsetzte, brach es los, kreischend und heiser:

»Emil, du bist eene Flanze,
Und so jefällst du mi–ir!
Jehst immer jleich uffs Janze
Und darum lieb ick di–ir!«

»Die Alma!« schrie einer mitten aus dem Saale.

»Häh, die Alma!« Er liess seine Partnerin stehen, sprang heran, griff die rothaarige Dirne am Arme. Ein kleiner, schwarzer Bursche, die glatte Pomadenlocke tief in die Stirne gekämmt, mit blanken stechenden Augen.

»Komm!« rief er. Fasste sie fest um die Taille.

Die Dirne tanzte. Frecher wie die anderen schritt sie den schiebenden Walzer, liess sich schneller herumwirbeln von ihrem Tänzer. Nach wenigen Takten schon war sie völlig im Tanze, warf die Hüften heraus, bog sich hin und zurück. Drängte den Leib vor, blieb mit dem Knie in steter Berührung mit ihrem Tänzer. Schamlos, gemein, in brutaler Sinnlichkeit.

Frank Braun hörte eine Stimme neben sich, sah den Tanzmeister, der mit einer gewissen Anerkennung der Dirne nachblickte. »Verdammt, wie det Aas den Steiss schwingt!«

O ja, sie schwang ihren Steiss! Schwang ihn höher und frecher, wie die »Baronin Gudel de Gudelfeld«, der »der Krone witziger Erbe« sein Lob zollte. Schwang ihn wie eine Flagge, wie ein sturmgefülltes Banner nacktester Sinnenlust.

›Sie ziert sich nicht,‹ dachte Frank Braun. Er folgte ihr mit dem Blick hin durch den Saal und zurück. Trat rasch auf sie zu, als die Musik schwieg, legte ihr die Hand auf den Arm.

»Erst zahlen!« lachte ihn der Schwarze an.

Er gab ihm ein Geldstück. Die Dirne betrachtete ihn mit raschem Blick, musterte ihn von oben bis unten. »Ich wohne nicht weit,« sagte sie, »kaum drei Minuten, in der –«

Er unterbrach sie. »Einerlei, wo du wohnst. Komm mit.«

– Derweilen bot im Café Trinkherr der Geheimrat den Frauen zu trinken an. Sie nahmen Sherry-Brandy und baten dann, dass er ihnen doch gleich ihre andere Zeche mitzahlen möge: ein Bier, und noch ein Bier und einen Pfannkuchen und eine Tasse Kaffee. Der Geheimrat zahlte; dann versuchte er sein Glück. Er habe ihnen einen Vorschlag zu machen, sagte er, und die, die wolle, möge zugreifen. Wenn aber, wie anzunehmen sei, auf seinen sehr vorteilhaften Vorschlag zwei eingehen wollten oder drei, oder gar alle vier – dann sollten sie darum würfeln.

Die hagere Jenny legte ihren Arm um seine Schulter. »Weesste, Alterchen, dann lassen wir lieber jleich knobeln, det is jescheiter! Denn ich und die Damens da – wir machen allet, wat du ooch für neue Zicken uff Lager hast!«

Und Elly, eine kleine mit blondem Puppenköpfchen, sekundierte ihr: »Wat meine Freundin macht, mach ick ooch. Da jibt et nischt! Streng solide fort Jeld!« Sie sprang auf, holte einen Würfelbecher. »Na, los Kinder, wer die Vorschläge von dem Ollen zu akzeptieren hat! – Max und Moritz wird jespielt.«

Aber die dicke Anna, die sie »die Henne« nannten, protestierte. »Ick habe immer Pech im Knobeln,« sagte sie. »Zahlste vielleicht Trostjeld, Onkelchen, für die, die nicht jewinnen?«

»Gewiss,« sagte der Geheimrat, »fünf Mark für jede.« Er legte drei dicke Silberstücke auf den Tisch.

»Du bis nobel!« lobte ihn Jenny. Und um das zu bekräftigen, bestellte sie noch eine Runde Sherry-Brandy.

Sie war es auch, die gewann. Sie nahm die drei Geldstücke und überreichte sie den Kolleginnen: »Da habt ihr euer Schmerzensgeld. Un nu, schiess los, oller Schieber: wie du mir hier siehst, bin ich zu allen Schandtaten bereit!«

»Also höre, liebes Kind,« begann der Geheimrat, »es handelt sich um eine allerdings etwas aussergewöhnliche Sache –«

»Hab dich man nich, jeliebter Jlatzkopp!« unterbrach ihn die Dirne. »Mir sind alle keene Jungfern mehr und die lange Jenny erst recht nich! Unser Herrjott hat ja allerhand komische Biester in seinem Tierjarten herumloofen – aber, wenn ma 'ne jute Praxis hat, lernt man alle Sauereien kennen. Mich wirste schwerlich wat Neuet beibringen.«

»Aber Sie missverstehen mich, liebe Jenny,« sagte der Professor, »ich verlange durchaus nichts Besonderes von Ihnen, wie Sie anzunehmen scheinen. Es handelt sich vielmehr um ein – rein wissenschaftliches Experiment.«

»Kenn ick!« gröhlte die Jenny. »Kenn ick! – Du bis en Doktor, wat Oller? – Ich hatte auch mal so eenen, der immer erst mit die Wissenschaft anfing – det sind de jrössten Schweine von allen! – Na Prost, Onkelchen, ick hab ja nischt dajejen. Bei mir kann ooch jeder uff seine Fasson selig werden!«

»Prosit,« trank ihr der Geheimrat zu. »Ich freue mich, dass du so vorurteilsfrei bist – da werden wir ja bald einig werden. Also kurz, liebes Kind, es handelt sich um den Versuch einer künstlichen Befruchtung.«

»Einer – wat?« fuhr das Mädchen auf. »Einer – – künstlichen – Befruchtung? Wat braucht et denn dazu für 'ne jrosse Kunst? – Dat pflegt doch im alljemeinen einfach jenug zu sein!«

Und die schwarze Klara grinste: »Mich wär jedenfalls 'ne künstliche Unfruchtbarkeit lieber!«

Dr. Petersen kam seinem Herrn zu Hilfe. »Darf ich einmal versuchen, ihr die Sache auseinanderzusetzen?« Und als der Geheimrat nickte, hielt er einen kleinen Vortrag über die zugrundeliegende Idee, über die bisher erzielten Resultate und über die Möglichkeiten für die Zukunft. Er betonte scharf, dass der Versuch völlig schmerzlos sei und dass sich alle Tiere, mit denen man bisher gearbeitet habe, stets sehr wohl dabei befunden hätten.

»Wat für Tiere?« fragte die Jenny.

Und der Assistenzarzt antwortete: »Nun Ratten, Affen und Meerschweinchen –«

Da fuhr sie auf. »Wat? Meerschweine? – En Schwein bin ick, meinswegen – sojar 'ne olle Sau! Aber ein Meerschwein – dat hat mir noch keiner jesagt! Und du, jlatzköppiger Igel, willst, dat ick mir von euch behandeln lassen soll wie en Meerschwein? – Nee, verstehste, det macht Jenny Lehmann nich!«

Der Geheimrat versuchte sie zu beruhigen, schenkte ihr einen neuen Schnaps ein. »So verstehe doch recht, liebes Kind –« begann er.

Aber sie liess ihn nicht ausreden. »Ick verstehe recht jenug!« rief sie. »Ick soll mir herjeben für Sachen, wofür ihr sonst schmierige Biester jebraucht! – Ruff uff'n Tiroler – und dann impfen mit so'n Serumdreck un mit Bazillen – – oder am Ende wollt ihr mir jar vivisezieren, wat?« Sie redete sich immer mehr hinein, wurde tiefrot vor Wut und Ärger. »Oder ick soll wohl irjend so'n Monstrum zur Welt bringen, damit ihr et uff'n Jahrmarkt sehen lassen könnt?! Ein Kind mit zwei Köppe und een Rattenschwanz, wat? Oder eins, wat halb wie ein Meerschwein aussieht? – Nu weess ick ooch, woher sie int Passagepanoptikum und bei Castan alle die villen Missjeburten herkriegen – ihr seid wohl Ajenten für die Brieder!!? – Und dazu soll ick mir herjeben, mir kinstlich von dir befruchten lassen? Pass uff, ollet Schwein – da haste deine kinstliche Befruchtung!« Sie sprang auf, bog sich über den Tisch, spie dem Geheimrat mitten ins Gesicht.

Dann hob sie das kleine Glas, trank es ruhig aus, drehte rasch um und ging stolz davon.

In diesem Augenblick erschien Frank Braun in der Türe, winkte ihnen herauszukommen.

»Kommen Sie her, Herr Doktor, kommen Sie schnell her!« rief ihm Dr. Petersen aufgeregt zu, während er bemüht war, den Geheimrat abzuwischen.

»Nun, was gibt's denn?« fragte der Referendar, als er an den Tisch trat.

Der Professor schielte ihn an, bitterböse, wie ihm dünkte. Die drei Dirnen schrien durcheinander, während Dr. Petersen ihm auseinandersetzte, was geschehen war. »Was soll man nun machen?« schloss er.

Frank Braun zuckte die Achseln. »Machen? – Nun gar nichts. Zahlen und gehen – sonst nichts. – Uebrigens habe ich gefunden, was wir brauchen.«

Sie gingen hinaus; vor der Türe stand die rothaarige Dirne, die mit ihrem Schirme eine Droschke heranwinkte. Frank Braun schob sie hinein, liess dann den Geheimrat und seinen Assistenzarzt einsteigen. Er rief dem Kutscher eine Adresse zu und kletterte zu den andern.

»Gestatten die Herrschaften, dass ich bekannt mache.« rief er. »Fräulein Alma – – Seine Exzellenz, Geheimrat ten Brinken – Herr Doktor Karl Petersen.«

»Bist du verrückt geworden?« fuhr ihn der Professor an.

»Aber durchaus nicht, Ohm Jakob,« sagte der Referendar ruhig. »Du wirst doch einsehen, dass Fräulein Alma, wenn sie sich längere Zeit in deinem Hause oder in deiner Klinik aufhält, sowieso deinen Namen erfährt, ob du's nun willst oder nicht.« – Er wandte sich an die Dirne. »Entschuldigen Sie, Fräulein Alma, mein Onkel wird nämlich schon ein bisschen alt!«

Er sah in dem Dunkel den Geheimrat nicht, aber er hörte gut, wie sich in ohnmächtiger Wut seine breiten Lippen aufeinanderpressten. Er empfand das angenehm, es deuchte ihn, dass der Onkel nun endlich losfahren müsse.

Aber er irrte sich. Der Geheimrat erwiderte ruhig: »So hast du dem Mädchen schon gesagt, um was es sich handelt? Und sie ist einverstanden?«

Frank Braun lachte ihm ins Gesicht. »Aber keine Ahnung! Ich habe nicht ein Wort davon gesprochen! Ich bin mit Fräulein Alma kaum hundert Schritt weit über die Strasse gegangen – habe kaum zehn Worte mit ihr geredet. Vorher – sah ich sie tanzen –«

»Aber Herr Doktor,« unterbrach ihn der Assistenzarzt, »da könnten wir ja, nach den Erfahrungen, die wir soeben wieder gemacht haben –«

»Lieber Petersen,« sagte der Referendar, sehr von oben herab, »beruhigen Sie sich. Ich habe mich eben überzeugt, dass dieses Fräulein das ist, was wir brauchen. Und ich denke – das genügt wohl.«

Die Droschke hielt vor einem Weinlokal. Sie traten ein. Frank Braun forderte ein Separée und der Kellner führte sie hinauf. Er hielt ihm die Weinkarte hin, der Referendar bestellte zwei Flaschen Pommery und eine Flasche Kognak. »Aber beeilen Sie sich!« rief er.

Der Kellner brachte den Wein und entfernte sich.

Frank Braun schloss die Türe. Dann trat er auf die Dirne zu. »Bitte, Fräulein Alma, legen Sie den Hut ab.«

Sie gab ihm den Hut; die wilden, von den Nadeln befreiten Haare quollen nach allen Seiten heraus über Stirn und Wangen. Ihr Gesicht zeigte die fast durchsichtige Farbe rothaariger Frauen, hier und da waren ein paar kleine Sommersprossen sichtbar. Die Augen schimmerten grün, kleine, blanke Zahnreihen leuchteten auf zwischen den dünnen bläulichen Lippen. Und über dem allen lag eine verzehrende, fast unnatürliche Sinnlichkeit.

»Ziehen Sie die Bluse aus,« sagte er. Sie gehorchte schweigend. Er löste die beiden Knöpfchen auf den Schultern und strich das Hemd hinunter. Man sah zwei fast klassisch geformte, nur ein wenig zu starke Brüste.

Frank Braun blickte zu seinem Onkel hinüber. »Das genügt wohl,« sagte er. »Das übrige könnt ihr ja so sehen. – Ihre Hüften lassen gewiss nichts zu wünschen übrig.« – Dann wandte er sich wieder zu der Dirne. »Ich danke Ihnen, Alma. Sie können sich wieder anziehen!«

Das Mädchen gehorchte, nahm den Kelch, den er ihr reichte und leerte ihn. Und er sah wohl zu, in diesen Stunden, dass ihr Glas nicht einen Augenblick leer stand.

Dann plauderte er. Erzählte von Paris, sprach von hübschen Frauen im Moulin de la Galette und im Elysée Montmartre. Beschrieb genau, wie sie aussahen, schilderte ihre Stiefelchen, ihre Hüte und ihre Kleider.

Und er wandte sich zu der Dirne. »Wissen Sie, Alma, es ist eine Schande, wie Sie herumlaufen! Bitte nehmen Sie mir das nicht übel. Können sich ja gar nirgends sehen lassen. – Waren Sie schon in der Union-Bar oder in der Arkadia?«

Nein, da war sie noch nicht gewesen. Nicht einmal in den Amorsälen. Einmal hatte sie ein Kavalier mitgenommen ins Alte Ballhaus, aber als sie wiederkommen wollte, allein, in der nächsten Nacht, war sie abgewiesen worden am Eingang. Ja, man müsste eben Toiletten haben –

»Natürlich muss man!« bestätigte Frank Braun. Und ob sie glaube, dass sie jemals hochkommen könne, da draussen vor dem Oranienburger Tor?

Da lachte die Dirne: »Ach, im Grunde ist's ja ganz gleich – Mann ist Mann!«

Aber er liess das nicht gelten. Erzählte ihr fabelhafte Geschichten, von Frauen, die ihr Glück gemacht hätten in den grossen Ballhäusern. Sprach von Perlenschnüren und von grossen Brillanten, erzählte von Equipagen, von Schimmelgespannen. Dann, plötzlich, fragte er: »Sagen Sie mal, wie lange laufen Sie nun so schon herum?«

Sie sagte ruhig: »Seit zwei Jahren, seit ich weg bin von Hause.«

Er fragte sie aus, holte stückweise aus ihr heraus, was er wissen wollte. Trank ihr zu, füllte immer von neuem ihr Glas. Und, ohne dass sie es merkte, goss er ihr Kognak in den Sekt.

Sie war nun bald zwanzig Jahre alt, stammte aus Halberstadt. Ihr Vater war ein biederer Bäckermeister, brav und sehr ehrbar, wie die Mutter, wie ihre sechs Geschwister. Sie – nun ja, gleich als sie von der Schule kam, ein paar Tage nach der Konfirmation, hatte sie sich mit einem Manne eingelassen – einem von Vaters Gesellen. Ob sie ihn liebgehabt habe? Aber gar nicht – das heisst: sonst gar nicht – nur, wenn –

Ja, und dann sei es ein anderer gewesen und wieder einer. Der Vater habe sie geschlagen und die Mutter auch, aber sie sei doch immer wieder fortgelaufen, die Nacht über weggeblieben vom Hause. Das sei so gegangen durch die Jahre – bis sie die Eltern eines Tages hinausgeworfen hätten. Da habe sie ihre Uhr versetzt und sei nach Berlin gefahren. Und nun sei sie eben da, seither –

Frank Braun sagte: »Ja, ja, das ist schon so.« Dann fuhr er fort: »Aber nun ist Ihr Glückstag gekommen heute!«

»So?« fragte sie. »Wieso denn?« Ihre Stimme klang heiser, wie unter Schleiern. »Mir ist ein Tag so lieb wie der andere – nur ein Mann, weiter brauch ich nichts!«

Aber er verstand wohl, wie er sie fassen konnte. »Aber Alma, Sie müssen doch zufrieden sein mit jedem Mann, der Sie will! – Möchten Sie nicht mal, dass es umgekehrt wäre? – Dass Sie jeden nehmen könnten, der Ihnen zusagte?«

Da leuchteten ihre Augen. »O ja, das möcht ich schon!«

Er lachte. »Na, und ist Ihnen noch niemand begegnet auf der Strasse, den Sie gerne möchten? Und der doch sich gar nicht kümmerte um Sie, ruhig weiterging? Wäre es nicht famos, wenn Sie mal wählen könnten?«

Sie lachte: »Dich, Bubi, möcht ich schon nehmen –«

»Mich auch,« stimmte er zu. »Und den und jenen – wen du gerade willst! – Das kannst du dir aber nur leisten, wenn du Geld hast. Und darum meine ich, hast du heute deinen Glückstag, weil du heute viel Geld verdienen kannst, wenn du magst.«

»Wieviel denn?« fragte sie.

Er sagte: »Geld genug, um dir die schönsten Toiletten kaufen zu können, um dir die Tore der besten und vornehmsten Ballsäle zu öffnen. – Wieviel? Sagen wir zehntausend – auch zwölftausend Mark.«

»Was?« rief der Assistenzarzt dazwischen. Und der Professor, der nicht entfernt an eine solche Summe gedacht hatte, schnalzte: »Ich finde, dass du etwas flott mit dem Gelde anderer Leute umgehst.«

Frank Braun lachte vergnügt: »Da hören Sie, Alma, wie der Herr Geheimrat ganz ausser sich ist über die Summe, die er dir geben soll. Aber ich sage dir: es kommt gar nicht darauf an. Du hilfst ihm – also soll er dir auch helfen. Ist's dir recht – fünfzehntausend?«

Sie sah ihn gross an: »Ja – aber was soll ich dafür tun?«

»Das ist's ja gerade, was so komisch ist,« sagte er. »Du brauchst eigentlich gar nichts zu tun. Nur ein wenig stillhalten, das ist alles. – Prosit, trink aus.«

Sie trank. »Stillhalten?« rief sie fröhlich. »Ich halte nicht gern still. Aber wenn's sein muss – für fünfzehntausend Mark. – Prost, Bubi!« Und sie leerte ihr Glas, das er gleich wieder füllte.

»Es ist nämlich eine grossartige Geschichte,« erklärte er. »Da ist ein Herr – ein Graf ist es – oder eigentlich ein Prinz. Ein bildhübscher Kerl, weisst du – er möchte dir schon gefallen. Aber leider wirst du ihn nicht sehen können – – sie haben ihn nämlich eingesperrt, und er soll nächstens hingerichtet werden. Der arme Kerl – im Grunde ist er so unschuldig wie du und ich.

Nur etwas jähzornig ist er – und so ist das Unglück passiert. Im Rausch bekam er Streit und da hat er seinen allerbesten Freund erschossen. Nun muss er sterben.«

»Und was soll ich dabei?« fragte sie schnell. Ihre Nüstern flogen, ihr Interesse für diesen seltsamen Prinzen war voll erwacht.

»Ja – siehst du,« fuhr er fort, »du sollst ihm helfen, seinen letzten Wunsch erfüllen –«

»Ja!« rief sie rasch. »Ja, ja! – Er will vorher noch einmal mit einer Frau zusammen sein, nicht wahr? Ich tu's, tu es gern – – und er soll mit mir zufrieden sein.«

»Bravo, Alma,« sagte der Referendar, »bravo, du bist ein tüchtiges Mädchen. – Aber die Sache ist nicht ganz so einfach. Pass gut auf, dass du's begreifst. Also, als er den Freund totgestochen hatte – totgeschossen, mein ich – lief er zu seiner Familie. Die sollte ihn schützen, ihn verbergen, ihm zur Flucht helfen. Das tat sie nun aber gar nicht. Sie wusste ja, dass er so ungeheuer reich sei, und dachte, nun sei eine günstige Gelegenheit, ihn bald zu beerben. Und darum rief sie die Polizei.«

»Pfui Teufel!« sagte Alma mit Überzeugung.

»Ja, nicht wahr,« fuhr er fort, »es war schrecklich gemein?! Er wurde also eingesteckt – – und was denkst du wohl, was der Prinz jetzt vorhat?«

»Sich rächen!« erwiderte sie prompt.

Er klopfte ihr beifällig auf die volle Schulter.

»Richtig, Alma, du hast deine Romane mit gutem Erfolge gelesen. Also er beschloss, sich zu rächen an dieser verräterischen Familie. Und das kann er nur tun, wenn er ihnen ein Schnippchen schlägt mit der Erbschaft. – So weit verstehst du's, nicht?«

»Natürlich versteh ich's,« erklärte sie. »Die lumpige Familie soll nichts kriegen. Geschieht ihr recht.«

»Wie aber das anstellen,« fuhr er fort, »das war die Frage! Doch nach langem Überlegen fand er den einzigen Weg: nur dann konnte die Familie um die vielen Millionen gebracht werden, wenn er selbst ein Kind hätte!«

»Hat der Prinz denn eins?« fragte sie.

»Nein,« antwortete er, »er hat eben leider keins. Aber er lebt ja noch. Kann noch eins zeugen –«

Ihr Atem flog, ihre Brust hob sich rasch. »Ich begreife –« rief sie, »ich soll ein Kind von dem Prinzen bekommen.«

»Das ist es!« sagte er. »Willst du's?«

Und sie schrie: »Ja, ich will!« Sie warf sich zurück in den Sessel, streckte die Beine lang von sich, öffnete weit die Arme. Eine schwere rote Locke löste sich, fiel hinab auf den Nacken. Dann sprang sie auf, leerte wieder ihr Glas. »Heiss ist's hier.« sagte sie. »Sehr heiss!« – Sie riss ihre Bluse auf, fächelte sich mit dem Taschentuche. Hielt ihm dann ihr Glas hin. »Hast du noch was? Komm, wir wollen auf den Prinzen trinken!«

Die Gläser stiessen zusammen. »Eine nette Räubergeschichte erzählst du da,« zischte der Geheimrat seinem Neffen zu. »Ich bin neugierig, wie du wieder heraus willst.«

»Hab keine Angst, Ohm Jakob,« gab er zurück, »es kommt noch so ein Kapitel.« Wandte sich dann wieder zu der roten Dirne. »Also, das ist abgemacht, Alma, du hilfst uns. Aber nun ist noch ein Haken dabei, den ich dir erklären muss. Der Baron sitzt, wie du weisst –«

Sie unterbrach ihn: »Der Baron –? Ich denke, es ist ein Prinz?«

»Natürlich ist er ein Prinz,« verbesserte Frank Braun. »Aber wenn er inkognito ist, nennt er sich nur Baron – – das ist so Mode bei den Prinzen. Also, Seine Hoheit der Prinz –«

Sie flüsterte: »Ist er Hoheit?«

»Jawohl,« rief er. »Kaiserliche und Königliche Hoheit! Aber du musst schwören, dass du nicht drüber redest – zu keinem Menschen. – Also der Prinz schmachtet nun im Kerker und wird aufs allerstrengste bewacht. Kein Mensch darf zu ihm, nur sein Rechtsanwalt. Es ist also ganz unmöglich, dass er noch einmal mit einer Frau zusammen sein könnte, ehe sein letztes Stündlein naht.«

»Ah!« seufzte sie. Ihr Interesse für den unglücklichen Prinzen war sichtlich gemindert.

Aber Frank Braun achtete es nicht. »Da« – deklamierte er unbeirrt mit vollklingendem Pathos – »in seines Herzens schrecklicher Not, in seiner furchtbaren Verzweiflung und seinem unstillbaren Durste nach Rache gedachte er plötzlich an die seltsamen Versuche Seiner Exzellenz des Wirklichen Geheimen Rates Professor Doktor ten Brinken, dieser strahlenden Leuchte der Wissenschaft. Der junge, schöne Prinz, der nun in seines Lebens Lenz der Welt Valet sagen muss, erinnerte sich noch gut aus seiner goldenen Knabenzeit des gütigen alten Herrn, der ihn pflegte, als er den Keuchhusten hatte, und der ihm damals mehrmals Bonbons geschenkt hatte. – Da sitzt er, Alma, sehen Sie ihn sich an: das Werkzeug der Rache des unglücklichen Prinzen!« Und er wies mit einer grossartigen Gebärde auf seinen Onkel.

»Dieser würdige Herr da«, sprach er weiter, »ist seiner Zeit um einige Meilen vorausgegangen. – Wie Kinder zur Welt kommen, weisst du, Alma, und du weisst auch, wie sie gemacht werden. Aber du kennst nicht das Geheimnis, das dieser Wohltäter der Menschheit entdeckte: Kinder zu zeugen, ohne dass Vater und Mutter sich überhaupt nur sehen. Der edle Prinz wird ruhig weiter in seinem Kerker klagen – oder auch schon im kühlen Grabe ruhen, während du, Mädchen, unter der gütigen Hilfe dieses alten Herrn und unter der sachkundigen Assistenz des braven Doktor Petersen zur Mutter seines Kindes wirst.«

Alma starrte zu dem Geheimrat hinüber – – dieses plötzliche Quiproquo, dieses unheimliche Vertauschen eines schönen, edlen, todgeweihten jungen Prinzen gegen einen alten und sehr hässlichen Professor gefiel ihr gar nicht.

Frank Braun bemerkte es wohl, begann eine neue Suada, um ihre Bedenken zu ersticken. »Das Prinzenkind, Alma, dein Kind – muss natürlich in äusserster Verborgenheit zur Welt kommen. Und muss streng verborgen bleiben, bis es herangewachsen ist, um es vor den Nachstellungen und Intrigen der bösen Familie zu schützen. Es ist natürlich auch ein Prinz – wie der Vater!«

»Mein Kind wird ein – Prinz!?« flüsterte sie.

»Ja, natürlich!« bestätigte er. »Oder vielleicht eine Prinzess, das kann man nicht wissen. Es wird Schlösser haben und grosse Güter und viele Millionen Geld. – Aber du darfst ihm später keine Steine in seinen Weg legen, darfst ihm dich nicht aufdrängen wollen und es kompromittieren.«

Das sass; die dicken Tränen liefen ihr über die Wangen. Oh, sie fühlte sich schon in ihrer Rolle, empfand jetzt schon dieses stille, schmerzhafte Entsagen für das geliebte Kind. – Sie war eine Dirne – aber ihr Kind war ein Prinz! Wie durfte sie ihm nahen? O sie wollte schweigen und dulden und ertragen – nur beten für ihr Kind. Nie sollte es wissen – wer seine Mutter war –

Ein heftiges Schluchzen ergriff sie, schüttelte ihren Leib. Sie warf sich über den Tisch, vergrub den Kopf in die Arme, weinte bitterlich.

Liebkosend, zärtlich fast, liess er seine Hand über ihren Nacken gleiten, streichelte ihre wilden, aufgelösten Locken. Er schmeckte wohl das Zuckerwasser der sentimentalen Limonade, die er selbst gemischt. Und nahm sie doch ernst in diesem Augenblick. »Magdalena,« flüsterte er. »Magdalena –«

Sie richtete sich auf, streckte ihm die Hand entgegen. »Ich – verspreche es Ihnen – dass ich mich nie aufdrängen will, nie wieder etwas von mir sehen und hören lasse. – Aber – aber –«

»Was denn, Mädchen?« fragte er leise.

Sie fasste seinen Arm, fiel vor ihm auf die Knie, schlug laut aufschlagend ihr Haupt in seinen Schoss.

»Nur eines – nur eines!« rief sie. »Darf – darf ich es nicht manchmal sehen? Nur von weitem – oh, nur ganz aus der Ferne –?«

»Bist du nun endlich fertig mit deiner kitschigen Komödie?« warf ihm der Geheimrat zu.

Frank Braun sah ihn wild an – gerade weil er genau fühlte, wie recht sein Onkel hatte, gerade darum empörte sich sein Blut. Er zischte hinüber: »Schweig, alter Narr! – Siehst du denn nicht, wie schön das ist?« Und er beugte sich hinab zu der Dirne. »Doch, Mädchen, du sollst ihn sehen, deinen jungen Prinzen. Ich werde dich mitnehmen, wenn er einst ausreitet vor seinen Husaren. Oder ins Theater, wenn er oben in der Loge sitzt – da sollst du ihn sehn –«

Sie antwortete nicht, aber sie presste seine Hände und mischte Küsse in ihre Tränen.

Dann richtete er sie langsam auf, setzte sie behutsam nieder, gab ihr wieder zu trinken. – Ein grosses Glas voll, das zur Hälfte Kognak enthielt.

»Willst du also?« fragte er.

»Ja,« sagte sie leise, »ich will. – Was soll ich tun?«

Er besann sich einen Augenblick. »Zuerst – zuerst – wollen wir einen kleinen Vertrag aufsetzen.« Er wandte sich an den Assistenzarzt. »Haben Sie Papier da, Doktor? Und eine Füllfeder? – Gut! So schreiben Sie. Schreiben Sie alles gleich zweimal, wenn's beliebt.«

Er diktierte. Sagte, dass die Unterzeichnete für den Versuch, den Seine Exzellenz ten Brinken zu machen beabsichtige, sich freiwillig zur Verfügung stelle. Dass sie fest verspreche, allen Anordnungen dieses Herrn pünktlich Folge zu leisten. Dass sie weiter, nach der Geburt, allen Ansprüchen auf das Kind völlig entsage. Dafür verpflichte sich Seine Exzellenz sogleich fünfzehntausend Mark in ein Sparkassenbuch auf den Namen der Unterzeichneten einzuzahlen und ihr dieses Buch nach der Entbindung zu übergeben. Er verpflichte sich ferner, bis zu diesem Zeitpunkte für ihren Unterhalt alle Kosten zu tragen, ihr dazu ein monatliches Taschengeld von hundert Mark bis dahin zu gewähren.

Er nahm das Blatt, las es noch einmal laut vor. »Es steht ja nichts von dem Prinzen darin?« sagte sie.

»Natürlich nicht,« erklärte er, »kein Wort. Das muss strengstes Geheimnis bleiben.«

Das sah sie wohl ein. Aber da war noch etwas, das sie beunruhigte. »Warum –« fragte sie, »warum nehmt ihr gerade mich? Für den armen Prinzen würden doch gewiss alle Frauen gern tun, was sie könnten.«

Er zögerte. Diese Frage kam ihm ein wenig unerwartet. Aber er fand eine Antwort. »Ja, weisst du,« begann er, »das ist – so: – Des Prinzen Jugendliebe nämlich war eine wunderschöne Gräfin. Er liebte sie, mit all der Glut, mit der nur ein echter Prinz zu lieben imstande ist. Und sie liebte den schönen, edlen Jüngling nicht weniger. Aber sie starb.«

»Woran starb sie?« warf Alma dazwischen.

»Sie starb an – an den Masern. – Und diese schöne Geliebte des edlen Prinzen nun hatte gerade so goldrote Locken wie du. Sah überhaupt genau so aus wie du. – Das ist nun des Prinzen letzter Herzenswunsch, dass die Mutter seines Kindes Ähnlichkeit haben möchte mit der Geliebten seiner Jugend. Er gab uns ihr Bild mit, beschrieb sie uns genau: so suchten wir in ganz Europa herum, aber wir fanden die Rechte nicht. – Bis wir heute abend dich sahen.«

Sie lachte geschmeichelt. »Seh ich der schönen Gräfin wirklich so ähnlich?«

»Wie zwei Sternschnuppen!« rief er. »Ihr hättet Schwestern sein können. – Übrigens werden wir dich photographieren lassen; wie wird sich der Prinz freuen, wenn er dein Bild sieht!«

Er reichte ihr die Feder hin. »So, Kind, nun unterschreib!«

Sie nahm das Blatt und setzte an. »Al–« schrieb sie. Sie unterbrach sich. »Da ist ein dickes Haar in der Feder.« Sie nahm die Serviette und reinigte die Feder damit.

»Verflucht –« murmelte Frank Braun, »da fällt mir ein, sie ist ja noch nicht majorenn. Eigentlich müssten wir auch des Vaters Unterschrift haben. – Ach was – für den Vertrag da wird's genügen. – Schreib nur!« rief er laut. – »Wie ist übrigens deines Vaters Name?«

Sie sagte: »Mein Vater ist der Bäckermeister Raune in Halberstadt.«

Und sie schrieb, mit steilen unbeholfenen Zügen ihres Vaters Namen.

Frank Braun nahm ihr das Blatt aus der Hand. Liess es sinken und hob es wieder hoch. Starrte es an.

»Bei allen Heiligen!« rief er laut. »Das – das ist – –«

»Nun, was gibt es, Herr Doktor?« fragte der Assistenzarzt.

Er reichte ihm den Vertrag herüber. »Da – da – sehen Sie sich die Unterschrift an.«

Dr. Petersen blickte auf den Bogen. »Nun?« fragte er verwundert. »Was soll's? Ich finde nichts Merkwürdiges dabei.«

»Nein, nein, natürlich nicht, Sie nicht!« rief Frank Braun. »Geben Sie den Kontrakt dem Geheimrat. So – nun lies, Ohm Jakob!«

Der Professor betrachtete die Unterschrift. Das Mädchen hatte vergessen, ihren Vornamen zu Ende zu schreiben: Al Raune stand auf dem Blatt.

»Allerdings – ein merkwürdiger Zufall,« sagte der Professor. Er faltete den Bogen sorgfältig zusammen und steckte ihn in die Brusttasche.

Aber sein Neffe rief: »Ein Zufall? – Gut – meinetwegen ein Zufall. – Alles was merkwürdig ist und geheimnisvoll – ist ja ein Zufall für euch!« Er schellte dem Kellner. »Wein, Wein!« schrie er. »Gebt mir zu trinken. – Alma Raune – Al Raune auf dein Wohl!«

Er setzte sich auf den Tisch, lehnte sich hinüber, dem Geheimrat zu.

»Erinnerst du dich, Ohm Jakob, des alten Kommerzienrates Brunner aus Köln? Und seines Sohnes, den er Marco nannte? Er war mit mir zusammen auf einer Schulklasse, obwohl er ein paar Jahre älter war. Das war ein Witz, dass ihn der Vater Marco nannte, so dass sein Junge nun als Marco Brunner durchs Leben lief! – Nun kommt der Zufall. Der alte Kommerzienrat ist der nüchternste Mensch auf der Welt und so ist seine Frau, so sind alle seine Kinder. – Ich glaube, in ihrem Hause am Neumarkt wurde nie etwas getrunken, als Wasser und Milch, Tee und Kaffee. – Aber der Marco trank. Trank schon, als er noch Sekundaner war – oft genug brachten wir ihn betrunken nach Hause. Dann wurde er Fähnrich, auch Leutnant – da war's aus. Er trank, trank immer mehr, machte Dummheiten und wurde weggejagt. Dreimal hat ihn der Alte in Entziehungsanstalten gebracht und dreimal kam er heraus und war in wenigen Wochen ein noch schlimmerer Säufer wie jemals. Und nun kommt der weitere Zufall: er, Marco Brunner, trank – Marcobrunner. Das wurde seine fixe Idee, er lief in alle Weinhäuser der Stadt, suchte seine Marke, reiste herum am Rhein, trank auf, was er fand von seinem Weine. Er konnte sich's leisten, da er sein eignes Vermögen hatte von der Grossmutter her. ›Hallo!‹ schreit er im Delirium. ›Marcobrunner wird Marco Brunner vertilgen! Warum? Weil Marco Brunner Marcobrunner vertilgt!‹ Und die Leute lachten über seinen Witz. – Alles ein Witz, alles ein Zufall – wie das ganze Leben ein Witz und ein Zufall ist! – Ich weiss aber, dass der alte Kommerzienrat viele Hunderttausende drum geben möchte, wenn er nie diesen Witz gemacht hätte – weiss auch, dass er's sich nie verzeihen wird, dass er seinen armen Jungen Marco nannte und nicht Hans oder Peter. – Trotzdem – es ist ein Zufall, ein sehr närrischer grotesker Zufall – wie dies Geschreibsel des Prinzenbräutchens.«

Das Mädchen war aufgestanden, hielt sich trunken mit der Hand am Stuhle. »Ein Prinzenbräutchen –«

lallte sie. »Holt mir den Prinzen ins Bett!«

Sie nahm die Kognakflasche, goss ihr Glas hoch voll. »Den Prinz will ich, hört ihr nicht? Auf dein Wohl, zuckersüsser Prinz.«

»Er ist leider nicht da!« sagte Dr. Petersen.

»Nicht da?« lachte sie, »nicht da? So soll es ein anderer sein! Du – oder du – oder du, Alterchen! Einerlei – irgendein Mann!« Sie riss ihre Bluse herunter, streifte die Röcke ab, löste das Mieder, warf es krachend gegen den Spiegel. »Einen Mann will ich – kommt doch alle drei! Holt herein von der Strasse, wen ihr wollt!«

Das Hemd glitt herab, nackt stand sie vor dem Spiegel, presste mit beiden Händen ihre Brüste hoch. »Wer will mich?« rief sie laut. »Hereinspaziert – alle zusammen! Kost' keinen Pfennig heute, weil Festtag ist – für Kinder und Soldaten die Hälfte.« Sie breitete die Arme aus, umarmte die Luft. »Soldaten –« schrie sie, »Soldaten – ein ganzes Regiment will ich haben.«

»Schäm dich,« sagte Dr. Petersen, »passt das für eine Prinzenbraut?« – Aber gierig hingen seine Blicke an ihren starken Brüsten.

Sie lachte. »Ach was – Prinz oder nicht Prinz! Jeder, der will, soll mich haben! Meine Kinder sind Hurenkinder – die kann ein jeder machen – Bettler und Prinz!«

Ihr Leib hob sich, ihre Brüste reckten sich, den Männern zu. Heisse Lust jauchzte ihr weisses Fleisch, geile Gier strömte ihr Blut durch die blauen Adern. Und ihre Blicke und ihre bebenden Lippen, und ihre verlangenden Arme und fordernden Beine und ihre Hüften und Brüste schrien die wilde Sehnsucht: Empfangen – empfangen! Keine Dirne mehr schien sie – war, aller Hüllen entblösst, frei aller Fesseln, des Weibes letztes, gewaltiges Urbild: nur Geschlecht vom Scheitel zur Sohle.

»Oh, sie ist die Rechte!« flüsterte Frank Braun. »Mutter Erde – die Mutter Erde –«

Ein rasches Zittern überfiel sie. Ihre Haut fröstelte. Die Füsse schwer schleppend schwankte sie auf das Sofa zu.

»Ich weiss nicht recht, was mir ist,« murmelte sie, »das dreht sich alles!«

»Hast einen Schwips,« sagte der Referendar rasch. »Da trink und dann schlaf dich aus.« Er führte ihr wieder ein volles Glas Kognak zum Munde.

»Ja – schlafen möcht ich –« stotterte sie. »Schläfst mit mir, Junge?«

Sie warf sich lang auf das Sofa, streckte beide Beine in die Luft. Lachte hell auf, schluchzte dann laut. Weinte endlich still vor sich hin, warf sich auf die Seite, schloss die Augen.

Frank Braun schob der Schlafenden ein grosses Kissen unter den Kopf, deckte sie zu. Er bestellte Kaffee, ging ans Fenster und öffnete es weit. Aber er schloss es wieder im Augenblick, als der junge Morgen hell hereinbrach.

Er wandte sich um: »Nun, meine Herren, sind Sie zufrieden mit diesem Objekt?«

Dr. Petersen sah die Dirne an mit bewundernden Blicken. »Ich glaube, sie wird sich sehr gut eignen,« meinte er. »Wollen Exzellenz gütigst die Hüften betrachten – – sie ist wie prädestiniert für eine tadellose Geburt.«

Der Kellner kam und brachte den Kaffee. Frank Braun befahl ihm: »Telephonieren Sie zur nächsten Unfallstation. – Man soll eine Tragbahre herschicken. – Die Dame ist recht krank geworden.«

Der Geheimrat sah ihn erstaunt an: »Was soll das?«

»Das soll heissen –« lachte sein Neffe, »dass ich Nägel mit Köpfen mache, Ohm Jakob. Soll heissen, dass ich für dich denke, und, wie mich deucht, gescheiter als du. Bildest du dir denn ein, dass dies Mädchen, wenn es wieder nüchtern ist, auch nur einen Schritt mit dir gehen würde? – Solange ich sie trunken mache, mit Worten und mit Wein, immer wieder von neuem, so lange mag's am Ende gehen. Aber euch beiden Helden läuft sie an der nächsten Strassenecke davon, trotz allem Geld und allen Prinzen der Welt! – Und darum heisst es jetzt zufassen. Sie, Dr. Petersen, werden, wenn die Bahre kommt, das Mädchen sofort zum Bahnhof schaffen lassen. Der Frühzug geht, wenn ich nicht irre, um sechs Uhr, den werden Sie benutzen. Sie werden ein ganzes Coupé nehmen und Ihre Patientin dort hinbetten. Ich denke, sie wird nicht aufwachen, sollte sie es doch tun, so geben Sie ihr etwas Kognak. Sie mögen ja ein paar Morphiumtropfen noch hineintun. Auf diese Weise werden Sie am Abende bequem in Bonn sein – mit Ihrer Beute. Telegraphieren Sie, dass die Equipage des Geheimrats Sie am Bahnhof erwartet, schaffen Sie das Mädchen in den Wagen und bringen Sie sie zu Ihrer Klinik. – Ist sie einmal dort, wird sie nicht so leicht wieder loskommen – dazu haben Sie ja Ihre Mittel und Wege.«

»Aber, verzeihen Sie, Herr Doktor,« wandte der Assistenzarzt ein, »das sieht ja beinahe so aus, wie eine gewaltsame Entführung.«

»Ist es auch,« nickte der Referendar. »Übrigens ist ja Ihr bürgerliches Gewissen salviert: Sie haben den Kontrakt! – Und nun reden Sie nicht lange herum – tun Sie, was man Ihnen sagt.«

Dr. Petersen wandte sich an seinen Chef, der schweigend und brütend mitten im Zimmer stand. Ob er erste Klasse nehmen könne? Und welches Zimmer man dem Mädchen einräumen solle? Ob es nicht zu empfehlen sei, noch einen besonderen Wärter zu nehmen? Und ob –

Währenddessen trat Frank Braun zu der schlafenden Dirne. »Schönes Mädchen,« murmelte er. »Wie brennende Goldnattern kriechen deine Locken.« Er zog einen schmalen Goldreif vom Finger, der eine kleine Perle trug. Nahm ihre Hand und streifte ihn an. »Da nimm: Emmy Steenhop gab mir den Ring, als mich ihr Blütenzauber vergiftete. Sie war schön und stark und war wie du eine seltene Dirne! – Schlafe, Kind, träume von deinem Prinzen und deinem Prinzenkind!« Er beugte sich und küsste leicht ihre Stirn –

– Die Träger kamen mit der Krankenbahre. Sie betteten die schlafende Dirne, zogen sie notdürftig an, deckten sie warm zu mit wollenen Decken, trugen sie hinaus. ›Wie eine Leiche‹, dachte Frank Braun.

Dr. Petersen verabschiedete sich, ging ihnen nach.

Nun waren die beiden allein.

Einige Minuten verstrichen, keiner von ihnen sprach. Dann ging der Geheimrat auf seinen Neffen zu.

»Ich danke dir,« sagte er trocken.

»Durchaus keine Ursache,« erwiderte der Neffe. »Ich tat's nur, weil mir's selbst Spass machte und mir eine kleine Abwechslung war. Ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass ich es für dich tat.«

Der Geheimrat blieb dicht vor ihm stehen, drehte seine Daumen übereinander. »Das dachte ich mir wohl. Uebrigens möchte ich dir noch eine Mitteilung machen, die dich interessieren dürfte. Mir ist da vorhin, als du von dem Prinzenkind schwatztest, ein Gedanke gekommen. Ich werde, wenn das Kind zur Welt kommen sollte, es adoptieren.« Er lächelte schleimig: »Du siehst, lieber Neffe, dass deine Theorie nicht so ganz unrecht war: dies kleine Alraunwesen nimmt dir, ehe es noch gezeugt ist, schon ein hübsches Vermögen weg. Ich werde es zum Erben einsetzen. Ich sage dir das nur, um dich vor unnützen Illusionen zu bewahren.«

Frank Braun fühlte den Hieb; er blickte seinem Onkel offen ins Auge. »Ist gut, Ohm Jakob,« sagte er ruhig. »Es wäre wohl über kurz oder lang doch so gekommen, dass du mich enterbt hättest, nicht wahr?«

Aber der Geheimrat hielt seinen Blick aus, antwortete nicht.

Da fuhr der Referendar fort: »Nun, dann wäre es vielleicht gut, wenn wir die Stunde benutzen würden, um unsere Rechnung miteinander abzumachen. – Ich habe dich oft geärgert und gekränkt – dafür hast du mich enterbt: so sind wir quitt. Aber du wirst zugeben: den Gedanken da – hast du von mir. Und dass du ihn nun ausführen kannst, hast du auch mir zu verdanken. Nun gut – dafür bist du mir wohl eine kleine Erkenntlichkeit schuldig. Ich habe Schulden –«

Der Professor horchte auf. Ein rasches Grinsen huschte über sein Gesicht. »Wieviel?« fragte er.

Frank Braun antwortete: »– Nun – es geht! Einige zwanzig Mille mögen es wohl sein.«

Er wartete, aber der Geheimrat liess ihn ruhig warten.

»Nun?« fragte er ungeduldig.

Da sagte der Alte: »Wieso – nun? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir diese Schulden bezahlen würde?«

Frank Braun starrte ihn an, das heisse Blut schoss ihm in die Schläfen. Aber er bezwang sich. »Ohm Jakob,« sagte er und seine Stimme zitterte, »ich würde dich nicht bitten, wenn ich es nicht müsste. Einige meiner Schulden sind dringend, sehr dringend sogar. Es sind Spielschulden dabei, Ehrenscheine.«

Der Professor zuckte die Achseln: »Du hättest eben nicht spielen sollen –«

»Das weiss ich recht gut,« antwortete sein Neffe. Noch immer hielt er an sich, mit Aufbietung all seiner Nerven. »Gewiss hätte ich es nicht tun sollen. Aber nun tat ich's – und nun muss ich zahlen. Noch etwas – ich kann meiner Mutter nicht mehr kommen mit diesen Sachen. Du weisst so gut wie ich, dass sie mehr für mich tut, als sie kann; dazu hat sie erst – unlängst – meine Affären geregelt. Zudem ist sie jetzt krank – – kurz, ich kann es nicht tun und ich tu's nicht.«

Der Geheimrat lächelte, bittersüss: »Das tut mir ja sehr leid für deine arme Mutter, aber es kann mich durchaus nicht bewegen, meinen Entschluss zu ändern.«

»Ohm Jakob!« rief er, ausser sich über diese kalte höhnische Maske. »Ohm Jakob, du weisst nicht was du tust. Ich bin auf der Festung ein paar Mitgefangenen einige Tausende schuldig und ich muss sie bezahlen zum Ende der Woche. Ich habe weiter eine Reihe jämmerlicher Schulden an kleine Leute, die mir geborgt haben auf mein gutes Gesicht hin – ich kann sie nicht betrügen. Ich habe auch den Kommandanten angepumpt, um hierher reisen zu können –«

»Den auch?« unterbrach ihn der Professor.

»Ja, den auch!« wiederholte er. »Ich habe ihm vorgelogen, dass du sterbenskrank seiest und ich dir nahe sein müsste in deiner letzten Stunde. Daraufhin gab er mir die Lappen.«

Der Geheimrat wiegte den Kopf hin und her. »So – das hast du ihm erzählt? – Du bist ja ein wahres Genie im Pumpen und im Schwindeln. – Das muss nun endlich ein Ende haben.«

»Heilige Jungfrau!« schrie der Neffe. »So nimm doch Vernunft an, Ohm Jakob! Ich muss das Geld haben – ich bin verloren, wenn du mir nicht hilfst.«

Da sagte der Geheimrat: »Nun – der Unterschied scheint mir nicht eben gross zu sein. Verloren bist du ohnehin – ein anständiger Mensch wird nie aus dir werden.«

Frank Braun griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Und das sagst du mir, Onkel, du?«

»Gewiss,« erklärte der Professor. »Wofür hast du denn dein Geld weggeworfen? – Immer nur auf die lumpigste Art und Weise.«

Da warf er ihm ins Gesicht: »Mag sein, Onkel – Aber nie hab ich Geld eingesteckt auf die lumpigste Weise – – wie du.«

Er schrie und es schien ihm, als ob er eine Reitpeitsche schwinge und sie niedersausen lasse, mitten in des Alten hässliches Gesicht. Er fühlte, wie sein Hieb traf – aber er fühlte auch, wie er durchschnitt, rasch, ohne Widerstand, wie durch Schaum, wie durch klebrigen Schleim –

Ruhig, fast freundlich, erwiderte ihm der Geheimrat: »Ich sehe, dass du noch recht dumm bist, mein Junge. – Erlaube deinem alten Onkel, dir einen guten Rat zu geben, vielleicht wird er dir etwas nützen im Leben. Wenn man etwas will von den Leuten, so muss man schon eingehen auf ihre kleinen Schwächen, merk dir das. Ich gebrauchte dich heute: du wirst mir zugeben, dass ich darum manches einsteckte, das du mir hinwarfst. Aber du siehst, dass es half. Nun habe ich, was ich von dir wollte. Jetzt ist es anders – du kommst, um mich zu bitten, aber du denkst nicht daran, den unteren Weg zu gehen. – Nicht, lieber Neffe, dass ich glaubte, dass es dir etwas genützt hätte – bei mir. O nein! – Aber vielleicht wird es dir bei andern einmal nützen – dann wirst du mir dankbar sein für den guten Rat.«

Frank Braun sagte: »Onkel, ich ging den unteren Weg. Tat es – zum erstenmal im Leben; tat es, als ich dich bat – so bat, wie es geschah. – Und – ich werde ihn nie wieder gehen. Was willst du denn – soll ich mich noch mehr – demütigen vor dir? – Komm, lass es nun genug sein – gib mir das Geld.«

Da sprach der Geheimrat: »Ich will dir einen Vorschlag machen, Neffe. Versprichst du mir, ruhig zuzuhören? Nicht wieder aufzubrausen, was es auch sein möge?«

Er sagte fest: »Ja, Ohm Jakob.«

»So höre. – Du sollst das Geld haben, das nötig ist, dich zu rangieren. Sollst auch mehr haben – wir werden einig werden über die Summe. Aber ich gebrauche dich – gebrauche dich zu Hause. Ich werde es durchsetzen, dass du dorthin versetzt wirst, auch dass dir der Rest deiner Festungshaft geschenkt wird.«

»Warum nicht?« antwortete Frank Braun. »Es ist mir völlig gleich, ob ich hier bin oder dort. Wie lang soll's dauern?«

»Ein Jahr etwa. Nicht einmal ganz so lange,« antwortete der Professor.

»Einverstanden,« sagte der Referendar. »Was hab ich zu tun?«

»Ah, nicht viel,« erwiderte der Alte. »Auch ist's eine kleine Nebenbeschäftigung, die du gewohnt bist und die dir nicht schwerfällt!«

»Was also?« drängte er.

»Sieh, mein Junge,« fuhr der Geheimrat fort, »ich werde eine kleine Hilfe gebrauchen, für dieses Mädchen, das du mir da angeschafft hast. Du hast ganz recht: sie wird uns fortlaufen. Sie wird sich unsäglich langweilen in der Zeit des Wartens und gewiss versuchen, sie abzukürzen auf ihre Weise. Nun aber überschätzt du unsere Mittel, sie halten zu können. Das geht natürlich sehr gut und bequem in jeder Privatirrenanstalt, in der man einen Menschen viel sicherer bewachen kann, als im Zuchthaus oder Gefängnis. Leider sind wir aber gar nicht darauf eingerichtet. Ich kann sie doch nicht in das Terrarium sperren mit den Fröschen, oder in die Käfige zu den Affen oder Meerschweinchen, nicht wahr?«

»Gewiss nicht, Onkel,« sagte der Referendar. »Du musst etwas anderes finden.«

Der Alte nickte: »Ich habe gefunden, was nötig ist. Wir müssen etwas haben, das sie festhält. Nun scheint mir aber mein Doktor Petersen nicht die geeignete Persönlichkeit zu sein, um auf längere Zeit ihr Interesse zu fesseln, ich meine, er wird ihr kaum für eine Nacht genügen. Ein Mann aber muss es wohl sein: ich habe daher an dich gedacht –«

Frank Braun presste die Stuhllehne, als wollte er sie zerbrechen. Sein Atem ging tief. »An mich –« wiederholte er.

»Ja, an dich,« fuhr der Geheimrat fort. »Es scheint das eines der wenigen Dinge zu sein, zu denen du zu gebrauchen bist. Du wirst sie halten können. Wirst ihr immer von neuem irgendeinen Blödsinn vorerzählen – – da hat deine Phantasie endlich einmal einen vernünftigen Zweck. Und in Ermangelung ihres Prinzen wird sie sich in dich verlieben – du wirst also auch ihre sinnlichen Bedürfnisse befriedigen können. Wenn ihr das nicht genügt, so hast du ja gewiss Freunde und Bekannte genug, die sehr gern die Gelegenheit wahrnehmen werden, einmal auf ein paar Stunden mit so einem hübschen Geschöpf zusammen zu sein.«

Der Referendar keuchte, seine Stimme klang heiser. »Onkel,« sprach er, »weisst du, was du verlangst? Ich soll der Geliebte dieser Dirne werden, während sie des Mörders Kind trägt? Soll dazu ihr Zuträger sein, soll sie jeden Tag neu verkuppeln – ich soll –«

»Gewiss,« unterbrach ihn der Professor ruhig. »Ich weiss es recht gut. Es scheint das einzige zu sein auf dieser Welt, wozu du gut bist, mein Junge.«

Er antwortete nicht. Er fühlte diese Streiche, fühlte, wie seine Wangen tiefrot wurden, wie seine Schläfen heiss glühten. Es war ihm, als brannten quer durch sein Gesicht diese langen Striemen, die des Onkels scharfe Peitsche schlug. Und er empfand es gut: o ja, der Alte hatte seine Rache.

Der Geheimrat merkte es wohl, ein zufriedenes, triefendes Grinsen legte sich breit über seine hängenden Züge. »Überleg es dir in aller Ruhe, Junge,« sagte er langsam. »Wir brauchen uns ja nichts vorzumachen, wir beide, du und ich, Können die Dinge beim rechten Namen nennen: ich will dich engagieren als – Zuhälter für diese Dirne.«

Frank Braun fühlte: nun liegst du am Boden. Hilflos, völlig wehrlos, elend nackt. Kannst dich nicht rühren. Und der hässliche Alte tritt dich mit schmutzigem Fuss, speit in deine klaffenden Wunden seinen giftigen Speichel –

Kein Wort fand er. Er wankte, taumelte. Irgendwie kam er die Treppe hinab. Stand auf der Strasse, starrte in die helle Morgensonne.

Er wusste kaum, dass er ging. Hatte das Empfinden, dass er daläge, lang in der schmutzigen Gosse, niedergeworfen durch einen dumpfen, furchtbaren Schlag auf den Kopf –

Was es war, wusste er kaum mehr. Er schlich durch die Strassen, kroch dahin durch Jahrhunderte. Blieb stehn vor einer Litfasssäule, las die Theateranzeigen, die Plakate. Aber er sah nur Worte – verstand nichts.

Dann fand er sich am Bahnhofe. Er ging an den Schalter, verlangte ein Billett.

»Wohin?« fragte der Beamte.

Wohin? – Ja – wohin denn? Und er war erstaunt, wie er seine eigene Stimme hörte: »Coblenz.«

Er suchte aus allen Taschen das Geld zusammen.

»Dritter Klasse,« rief er. Dazu langte es noch.

Er stieg die Treppe hinauf zum Perron, da erst bemerkte er, dass er ohne Hut war. – Er setzte sich auf eine Bank und wartete.

Dann sah er, wie sie eine Bahre hinauftrugen, sah hinter ihr Dr. Petersen kommen. Er rührte sich nicht von seinem Platze, es war ihm, als ob das alles gar nichts zu tun habe mit ihm. Er sah, wie der Zug einlief, beobachtete, wie der Arzt ein Abteil erster Klasse öffnen liess, wie die Träger vorsichtig die Last hineinhoben.

Und, hinten am letzten Ende des Zuges, stieg er ein.

Irgendein Lachen krampfte sich in seine Kinnbacken. »So ist es recht –,« dachte er. »Dritte Klasse – das passt für den Knecht, für den – Zuhälter.«

Aber er vergass es wieder, wie er dasass auf der harten Bank. Drückte sich eng in seine Ecke, starrte auf den Fussboden.

Und dieser dumpfe Druck wich nicht von seinem Kopf. Er hörte den Namen der Stationen rufen; manchmal schien es ihm, als ob drei, vier, gleich hintereinander kämen, als ob dieser Zug dahinsause, wie der Funke durch die Drähte da zur Seite. Und dann wieder lag eine Ewigkeit zwischen einer Stadt und der andern –

In Köln musste er umsteigen, warten auf den Zug, der den Rhein hinauffuhr. Aber es deuchte ihn keine Unterbrechung, er merkte kaum den Unterschied, ob er dasass auf der Bank oder im Zuge.

Dann war er in Coblenz, stieg aus, lief wieder durch die Strassen. Die Nacht brach herein, da besann er sich, dass er doch hinauf wollte auf die Festung. Und er ging über die Brücke, stieg im Dunkel den Fels hinauf, den schmalen Fussweg der Gefangenen, durch das Unterholz.

Plötzlich war er oben. Fand sich auf dem Kasernenhof, dann in seinem Zimmer, auf dem Bette sitzend.

Jemand kam den Gang entlang. Trat hinein ins Zimmer, die Kerze in der Hand. Es war der starke Marinearzt, Dr. Klaverjahn.

»Hallo!« rief er in der Tür. »Da hat also der Feldwebel doch recht gehabt! Schon zurück, Bruder? Na, komm gleich rüber – der Rittmeister hat die Bank.«

Frank Braun rührte sich nicht, hörte kaum, was der andere sprach. Da fasste ihn der an der Schulter, schüttelte ihn tüchtig. »Willst wohl schon einschlafen, Murmeltier? – Mach keine Dummheiten, komm mit!«

Frank Braun sprang auf, irgend etwas war da, das ihn hochriss. Er griff einen Stuhl, hob ihn, trat einen Schritt näher. »Geh hinaus,« zischte er, »geh hinaus, du Schuft!«

Dr. Klaverjahn sah ihn dicht vor sich stehn. Blickte in diese bleichen, verzerrten Züge, dieses stiere, drohende Auge. Es erwachte alles, was noch in ihm war von einem Arzt, liess ihn im Augenblicke die Lage erkennen.

»Steht es so?« sagte er ruhig. – »Entschuldige bitte –« Dann ging er.

Frank Braun stand eine Weile, immer den Stuhl in der Hand. Ein kaltes Lachen hing um seine Lippen. Aber er dachte nichts, gar nichts.

Er hörte ein Klopfen an der Tür, hörte es wie in unendlicher Ferne. Dann schaute er auf – der kleine Fähnrich stand vor ihm.

»Bist du wieder da?« fragte er. »Was fehlt dir?« – Er erschrak, lief dann zurück, als der andere nicht antwortete, kam wieder mit einem Glas und einer Flasche Bordeaux. »Trink. Es wird dir guttun.«

Frank Braun trank. Er fühlte, wie ihm der Wein in die Pulse drang, fühlte, wie seine Beine zitterten, zusammenzubrechen drohten unter ihm. Er liess sich schwer auf das Bett fallen.

Der Fähnrich stützte ihn. »Trink!« drängte er.

Aber Frank Braun winkte ab. »Nein, nein,« flüsterte er. »Es macht mich trunken.« Er lächelte schwach. »Ich glaub nämlich – ich habe noch nichts gegessen heute –«

Ein Lärm drang herüber, ein lautes Lachen und Schreien.

»Was machen sie?« fragte er gleichgültig.

Der Fähnrich antwortete: »Sie spielen. Es sind zwei neue gekommen gestern.« Dann griff er in seine Tasche. »Ich habe übrigens ein Telegramm für dich angenommen, eine Gelddepesche mit hundert Mark. Sie kam heute abend. Da!«

Frank Braun nahm das Blatt, aber er musste es zweimal lesen, ehe er es verstand.

Sein Onkel schickte ihm hundert Mark, liess dabei melden:

»Bitte als Vorschuss zu betrachten.«

Er sprang auf mit einem Satz. Der Nebel riss, ein roter Blutregen ging nieder vor seinen Augen –

Vorschuss! Vorschuss? Für – ja für diese – Beschäftigung, die ihm der Alte anbot. Oh – dafür!

Der Fähnrich hielt ihm den Schein hin: »Hier ist das Geld.«

Er griff den Schein. Er fühlte, wie er ihm die Fingerspitzen verbrannte, und dieser Schmerz, den er rein physisch empfand, tat ihm fast wohl. Er schloss die Augen, liess diese sengende Glut in die Finger steigen, in die Hand und hinauf in den Arm. Liess sich versengen bis auf der Knochen Mark von diesem letzten, infamsten Schimpf –

»Gib her!« rief er. »Gib mir Wein!« Und er trank, trank, es schien ihm, als lösche der dunkle Wein alle zischenden Gluten.

»Was spielen sie?« fragte er. »Bac?«

»Nein,« sagte der Fähnrich. »Sie knobeln. Lustige Sieben.«

Frank Braun nahm seinen Arm. »Komm – wir wollen hinübergehen!«

Sie traten in das Kasino.

»Da bin ich!« schrie er. »Hundert Mark auf 145 die Acht.« Und er warf seinen Schein auf den Tisch.

Der Rittmeister zog den Becher. Es war Sechs –

 


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