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XXIV

Währenddessen hatte sich die Familie von Welfen wieder in dem Gartensalon versammelt und lauschte voll stummen Entsetzens auf das Wüten des Unglücklichen, dessen Schreien und Poltern deutlich durch die Wand zu vernehmen war.

Salome sprach in ihrer Todesangst ein Stoßgebet ums andere – Rose sah zum erstenmal im Leben bleich wie eine Kalkwand aus, und Frau von Welfen trocknete die überströmenden Augen. Auch die Herren blickten ernst darein, ließen in ihrer Aufregung die Zigarre ausgehen und berechneten im stillen, wann wohl der herantelegraphierte Doktor als rettender Engel erscheinen könne.

»Wie bringen wir ihm nur während der Zeit etwas Essen bei?« stöhnte Frau Dora, »wir können doch den Unglücklichen nicht verhungern lassen!« Alle möglichen und unmöglichen Vorschläge wurden gemacht. Keiner war annehmbar. »Ich weiß es!« sagte Rose, »es ist ja der alte Speiseaufzug in dem Zimmer, den lassen wir in die Küche herunter, stellen das Essen drauf und lassen es nach oben fahren!«

»Unmöglich! Er müßte dazu die Schranktür öffnen und dazu hat er keine Überlegung mehr. Außerdem sind die Abteilungen aus dem Aufzug herausgenommen!«

»Je nun, Kinder, ängstigt euch nicht um solche Dinge! Der Doktor aus Feldheim ist jedenfalls in ein paar Stunden hier, und unter dessen Anleitung werden wir den armen Männe schon behandeln können. Außerdem tritt meistens nach der Tobsucht ein Zustand völliger Erschöpfung ein. Hört ihr? Es ist plötzlich still!«

»Ja, ganz still! – Ich höre nichts mehr!«

»Er beruhigt sich!«

»Vielleicht hat sich der Unglückselige den Schädel eingerannt!«

»Entsetzlich!«

»Um Himmels willen, sage so etwas nicht!«

»Unsinn! Die kalte Dusche hat ihn ernüchtert und abgekühlt. Eine vortreffliche Idee von Bachmann; die Todesangst machte ihn gewitzigt!«

»Aber vielleicht liegt er doch in seinem Blute – mit zerschmettertem Schädel – und keiner kommt dem Sterbenden zu Hilfe!«

Salome schrie auf und drückte voll Grauen beide Hände gegen die Ohren, »Ich komme um! Ach ich kann kaum noch atmen ... solch ein Gedanke ... Hier im Hause so schreckliches –«

»Nein, er lebt! Er geht umher ...« Der Landrat stand an der Wand und drückte das Ohr gegen die Tapete – ich höre ihn ganz deutlich ... jetzt kracht das Bett ...«

»Gott sei Lob und Dank, er legt sich zur Ruhe!«

»Er wird schlafen! Nun ist die Gefahr für eine lange Zeit vorüber!«

Alle atmeten auf wie von Zentnerlasten befreit. Man saß noch ein Weilchen im flüsternden Gespräch, dann sah der Major nach der Uhr. »Es bleibt still, er ist fraglos in den lethargieähnlichen Zustand verfallen – der hält viele Stunden – oft tagelang an. Kommt, Kinder, laßt uns zu Tisch gehen, ich habe trotz all der Aufregung doch einen barbarischen Hunger!«

»Ach, wie kann man in solch einem Zustand essen!« wehklagte Salome – »mir ist ganz übel vor Angst!«

»Was da! Dein leerer Magen knurrt!« – schüttelte Siegfried den Kopf – »komm – ich führe dich zu Tisch!«

»Rose – schelle Wulf! – Es soll angerichtet werden!«

«Ich helfe Ihnen schellen –« versuchte Joachim zu scherzen, »wir ziehen ja stets an einem Strick!«

Aber der Scherz weckte nur ein wehmütiges Lächeln auf dem blassen Gesichtchen der jungen Dame.

Nach dem Essen schlug Herr von Welfen vor, um die erregten Gemüter zu beruhigen, solle jeder sich zurückziehen und eine kleine Siesta halten. Aber er stieß auf Widerspruch. Die jungen Herren hielten es für notwendig, das »Gefängnis« zu bewachen. »Man kann nicht wissen, was passiert!« meinte der Landrat.

Dem stimmte der Major bei. »Gut, rauchen wir zusammen unsern Tabak auf der Veranda!« nickte er. Frau von Welfen und Rose schliefen nie am Tage, sie setzten sich zu den Herren, und nur Salome fühlte sich gar zu elend und zog sich zu kurzer Ruhe auf ihr Zimmer zurück.

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Kaum hatte Wulf den Kaffee auf der Veranda serviert, als der Postbote die große Federtasche überreichte. Welfen öffnete.

»Hm ... nur ein Brief ... an mich ... von wem? Handschrift unbekannt!«

»Bitte öffnen!«

Er schnitt das Kuvert auf und begann zu lesen. Groß und starr wurde sein Blick. »Donnerwetter ... von Hermann!«

»Ah, richtig! Der verspätete Anmeldebrief!«

Der Major schüttelte betroffen den Kopf. »Undenkbar, es ist ja gar nicht seine Schrift –« und er zog einen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und hielt beide Bogen vergleichend nebeneinander.

»Nein – eine absolut fremde Schrift!«

»Hast du denn schon einen Brief von ihm?«

»Na, gewiß – hier, das denunzierende Schriftstück!«

»Welches?«

»Ei, seinen ersten Brief an Salome!«

»An Salome?«

»Nun ja, ich fing ihn zufällig ab, ehe sie ihn in die Hände bekam! Hier seht, lest – die ausgesprochene Schrift eines Wahnsinnigen, was durch den Inhalt bestätigt wird! – Da Siegfried! Ein Gottes Segen, daß ihn Salome nicht las!«

Allgemeines, starres Staunen.

»Und nur auf die Schrift hin erklärtest du ihn für verrückt, Papa?«

Born sprang erregt auf. »Dieser Brief ist eine Mystifikation! – Er stammt überhaupt nicht von Eylau! Er ist als infame Malice, als Ironie von irgendeinem Feldheimer Paviansweib verfaßt! Aus Rache!«

»Fraglos! Dieser Brief ist also tatsächlich der echte Eylausche, der andere muß ja ein Falsifikat sein!«

»Allmächtiger Gott – dann ist er ja aber gar nicht verrückt!«

»Kinder! Habt ihr den Ausbruch der Tobsucht vergessen?«

»Ja, das ist allerdings seltsam –!«

»Welch eine Verwirrung! Vielleicht hat er seine Hand nur in dem einen Brief verstellt?«

»Unmöglich! War der erste denn auch in Berlin aufgegeben, Papa?«

Der Major kraute sich den Kopf. »Teufel ja – ich habe das Kuvert als Fidibus verbraucht!«

»Aber du schneidest immer die Marke heraus?«

»Richtig – ich steckte sie hier in die Brusttasche! Wartet mal ... da ist sie ... vortrefflich – –«

»Weiter keine in der Tasche?«

»Nein – sie muß die richtige sein!«

Alle Köpfe neigten sich erregt zusammen.

»..ldheim« – buchstabierte der Landrat und rief voll Triumph: »Ich sage es ja – Feldheim! – Das ›F‹ und ›e‹ ist auf den Umschlag gedruckt! Also fraglos eine ganz nichtswürdige Mystifikation! Und sage Vater ... auf Wort ... Salome weiß nichts von dem Brief?«

»Nein, ich versichere dir! Ich fragte sie sofort aus, sie war absolut harmlos! Auch bekam ich den Brief aus Zufall zuerst in die Hand, weil er sich in ein Buch geschoben hatte!

»So! Nun, den lieben Schreiber will ich ermitteln! Sei so gut, mir den Brief zu überlassen, Papa?«

»Herzlich gern! Wenn er gefälscht ist, hat er gar keinen Wert für mich!«

»Aber Ernst! Kinder – ich beschwöre euch, wenn er nun gar nicht krank wäre?! Wenn ihn nur die verschlossene Tür, der Mangel an Wasser, die Dunkelheit, das Nichterscheinen der Dienstboten gereizt hatte?« – Frau Dora sagte es mit wahrhaft verzweifeltem Gesicht.

Die Herren lachten schallend auf. »Das wäre allerdings rasend! Ein Mißverständnis, das ja kaum gutzumachen wäre!!«

»Wie gut, daß du das Telegramm für Doktor Tassot an die Adresse der Frau Major Kielmann richtetest! Wenn er nun auch hinter Eylau hergereist sein sollte, erhalten wir doch hoffentlich durch die Inhaberin der Familienpension Nachricht, die irgendeinen Aufschluß gibt!«

Joachim kam zurück, er hatte an der Saaltür gelauscht und berichtete, der Herr Referendar schlafe noch und schnarche, daß man es durch sechs Mauern höre!

»Ist das auch ein schlimmes Zeichen?« fragte Rose ängstlich, was momentane Heiterkeit erregte.

»Wenn nur der Doktor eher kommt, als er aufwacht!« – brummte der Major, dem die Sache auch etwas beunruhigend wurde. »Der arme Teufel wird guten Hunger haben, wenn er sich gründlich ausgeschlafen hat, und doch kann man nicht riskieren, ihn früher loszulassen, ehe wir eine Garantie für seine Unschädlichkeit haben.«

Der Landrat saß schweigend zur Seite und starrte immer wieder auf den mysteriösen Brief des unbekannten Hermann. Die Sache ging ihm im Kopf herum. War es nur eine nichtswürdige und kleinliche Bosheit, die man seiner Frau und ihm antun wollte? Fraglos. Die Vorwürfe, die er indirekt zu hören bekam, trieben ihm das Blut in den Kopf. Sollte Salome sich wirklich über ihn beklagt haben? Vor fremden Menschen nie – davon war er überzeugt, aber die Frauen locken sich untereinander gar manche Äußerung ab, die von der Gemeinheit falsch ausgelegt und breitgetreten wird. – Oder sollte man ihn in Feldheim so scharf beobachtet und so streng verurteilt haben? – Lächerlich! – Vielleicht – oder versteckte sich hinter dem Pseudonym »Hermann« irgendein anderer Name, und ein Marder schlich heimlich um das Nest des Nachbarn. – Sollte das so unmöglich sein? – Gewiß nicht. Born deuchte es sogar, als kenne er den »Hermann«, der solcher galanten Abenteuer fähig war. – Aber er würde ihn entlarven. – Erwartete ihn Salome etwa? – War dies nicht der erste Brief, welchen man an sie schrieb? – Ein nie gekanntes Gefühl der Aufregung überkam Siegfried bei diesem Gedanken. Er biß die Zähne zusammen. Darum vielleicht ihre übermütige heitere Stimmung! – Wie ihm so heiß um das Herz wurde, wie es ihm glühend empor in die Schläfen stieg. Hatte er es doch vielleicht falsch angefangen, seine Frau zu erziehen? Hatte er das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte? Er zog finster die Brauen zusammen. Seine Schwiegermutter hatte recht, als sie ihn ehemals davor warnte; eine Frau läßt sich nicht mehr erziehen, sie hat die Kinderschuhe ausgetreten, es ist zu spät, ihr noch einen Schulmeister zu geben. – Nur die Liebe kann noch ihre Erzieherin sein. – Liebte ihn Salome noch, hatte sie ihn jemals geliebt? – – Nun, es würde sich zeigen. Wenn der Hermann kam, würde Siegfried zur Stelle sein, um zu sehen, ob sein Weib ihn erwartet hatte, und ob sie ihn willkommen hieß.

Er erhob das finster blickende Gesicht. »Ich bitte euch nochmals, Salome nichts von diesem Briefe zu sagen! Es liegt mir viel daran, die Sache aufzuklären, und ehe es geschehen, soll sich die kleine Frau nicht ärgern!«

Auf den Hof rollte ein Wagen.

Der Doktor! – Endlich! – Die Familie von Welfen eilte ihm aufgeregt entgegen, das Unerhörte und Unglaubliche zu berichten.

In der Küche hatten sich die Gemüter noch ebensowenig beruhigt wie im Salon. Mamsell fühlte sich ganz elend vor Angst und Aufregung, sie hatte eine Kanne voll recht starken Kaffees gekocht, um den gequälten Lebensgeistern wieder etwas aufzuhelfen, und dabei saß sie, die freundlich sanften Augen vor Grauen weit aufgerissen, und hörte den furchtbaren Geschichten zu, die Wulf von einem verrückten Unteroffizier zu erzählen wußte.

Die anderen Mägde rückten mit zitternden Gliedern herzu, vom Hof hatte sich das ganze weibliche Stallpersonal versammelt, nähere Erkundigungen über die Schauermär von dem Tollhäusler droben einzuholen – man hockte und stand mit furchtverzerrten Gesichtern um den Herd herum und lauschte dem Erzähler.

Schrecklich war's, was der berichtete. Jeder Wahnsinnige bildet sich etwas anderes ein, was er wohl sei, und benimmt sich danach. So hatte der arme Unteroffizier von des Herrn Majors Bataillon viele Geschichten von den schwarzen Teufeln in Kamerun gelesen, und das hatte er sich zu Herzen genommen Nun bildete er sich plötzlich ein, er sei auch ein Menschenfresser, und das war für die anderen Leute ganz »verdraxt«, denn ganz plötzlich, ehe sich ein Soldat was versah, schmetterte die Tür auf, mit wildem Gebrüll stürzte der Unteroffizier in die Kammer, fiel über einen der ruhig Dasitzenden her und zerfleischte ihn mit den Zähnen, bis er den Geist aufgab – siehste du, Guste – so – hui – ju ju ju ju rrrr – und Wulf stürzte sich jählings auf eine der Maiden, mit wilden Negergeheul – und packte sie am Halse und fletschte die Zähne und biß zu ... so daß die ganze Schar mit gellendem Gezeter auseinanderstob und Guste platt auf dem Bauche lag vor Schreck.

Wulf aber richtete sich gelassen empor. »Dumme Gänse, was brüllt ihr denn so? – Ich wollte es euch ja bloß zeigen!« – – woraufhin sich das Zerstreute mit höflich verlegenem Lachen wieder sammelte.

Nur die Mamsell wischte sich den Angstschweiß von der Stirn und sagte voll milden Vorwurfs:

»Sie müssen es nicht so furchtbar natürlich veranschaulichen, Wulf – Sie sind ja doch nicht ein Schauspieler, der den Mohr von Venedig machen muß!!« – – Und wieder trank sie eine Tasse Kaffee.

Wulf aber fuhr fort: »Wenn er nun so zwischen uns hineinfuhr wie der Teufel auf eine arme Seele, dann hatte er so furchtbare Kräfte, daß ihn sechs Mann nicht halten konnten –«

»Huhuhu –-« heulte Guste, »wenn oben der nur nicht auch mal ausbricht!« – –

»Wie soll er denn! Die Türe und Fenster sind ja verschlossen!«

»So ein Toller bricht sie doch entzwei!«

»Wie er vorhin auf die Dielen haute, dachte ich schon, die Decke bräche herunter!«

»Wundern sollte es mich nicht, denn wie gesagt, die Verrückten stehen mit dem Gottseibeiuns im Bunde und fahren zur Not zum Schornstein hinaus.«

»Huhuhuhu«–schluchzte die Versammlung in die Schürzen und zitterte wie Espenlaub.

Währenddessen erwachte Eylau aus einem recht festen, wohltuenden Schlaf. Die Kompresse auf der Stirn war trocken geworden, aber die Stiche und die Migräne waren durch sie beseitigt. Eylau reckte und dehnte die Arme. Er mußte sich erst besinnen, wo er nun eigentlich sei, und als ihm die Erinnerung kam, philosophierte er über seine doch recht merkwürdige Lage und die höchst eigenartige Behandlung, die er als Gast in Jeseritz erfahren hatte. Entweder steckt ein schlechter Witz, oder irgendein Mißverständnis dahinter!« sagte er sich, und blickte ein wenig besorgt in dem großen, dämmerigen Raum umher. Die Läden waren noch fest geschlossen, doch befanden sich sternförmige Ausschnitte auf ihren Oberteilen, und diese ließen einen matten Dämmerschein in den Raum dringen.

Man wollte ihn fraglos hier gefangen halten, aber aus welchem Grunde? Mißtraute man ihm? Seit längeren Jahren hatte er die Verwandten nicht gesehen, und wie man sagte, hatten ihn seine neue Haarfrisur und der kurzgeschnittene Backenbart sowie seine neu aufgebesserten Zähne ganz bedeutend verändert.

Hm, möglicherweise vermutete man einen Schwindler in ihm, denn die Provinzler leisten sich die unglaublichsten Extravaganzen im Mißtrauen – anderenfalls aber sollte die ganze Sache einen Scherz vorstellen, freilich einen sehr derben, klotzigen Scherz, wie sie der biedere Landmann und die übermütigen Brautjüngferlein zeitweise in Szene zu setzen belieben!

Man wollte vielleicht sehen, wie sich der Mann aus der Residenz zu helfen wußte!

Also nachdenken und schlau zu Werke gehen, ohne allen Skandal diesmal, um die Aufpasser zu täuschen!

Eylau kletterte leise aus dem Bett und schaute sich um. Seine Augen gewöhnten sich an das Zwielicht. »Das beste ist« – überlegte er – »ich lasse mir Zeit und Mühe nicht verdrießen, sondern schneide mittels meines Taschenmessers das Türschloß aus! Laß sehen, ob das möglich ist!«

Er schritt ganz sacht und leise zur Wand und tastete sich an derselben vorwärts.

Plötzlich ... was war das? – Er fühlte einen Schlüssel. – Hallo – hier auch eine Tür! Hatte er sich womöglich vorhin in der rechten Tür geirrt und ganz ohne Grund und Ursache einen solchen Heidenlärm vollführt, der das ganze Haus entsetzte? Das wäre ja ein kapitaler Scherz!

Er drehte den Schlüssel herum, richtig, er schloß und die Tür öffnete sich. – Aha, eine Doppeltür. Jenseits der dicken Wand war die zweite, durch deren Augen das helle Tageslicht schimmert!

Gott sei Dank – und Triumph!! Er war erlöst. Hastig trat er einen Schritt in den dunklen Zwischenraum hinein – gleicherzeit einen gellenden Schrei des Entsetzens ausstoßend!

Der Boden unter seinen Füßen wankte – und mit lautem Gekrach sauste er in Blitzesschnelle hinab in einen dunklen Abgrund, daß ihm vor Schreck Hören und Sehen verging. Das war in dem Augenblick, als Wulf in der Küche von dem tollen Unteroffizier erzählte und just sprach: »Die Verrückten haben sich alle dem Teufel verschworen! Sie sind behext worden und behexen nun wiederum andere, und darum verstehen sie sich auf allerhand Zauberspuk, sie klettern an steilen Wänden hinauf auf das Dach, sie stampfen auf die Erde und fahren in Rauch und Schwefeldampf in die Unterwelt« – –

Gerade wie er das sagte, krachte es und dröhnte es seitlich an der Wand, ein wahres Höllengepolter erhob sich, noch ein dröhnender Knall, und ein mit Arm und Bein zappelnder Mann flog mit entsetzlich langen, weißen Fangarmen unter lautem Schrei mitten in die Küche hinein.

Er taumelte vorwärts, stieß Wulf derb zur Seite und flog der Guste mit solcher Vehemenz in den Rücken, daß sie vornüber schoß und die Mamsell in wuchtigem Fall vom Stuhle riß. Einen Augenblick knäulten sich die drei als ein undefinierbares Etwas auf der Erde, dann aber erhob sich ein wahrer Höllenlärm wildester Todesangst.

Wie rasend stürzten alle nach der Tür. »Der Verrückte ist los! Der Verrückte ist ausgebrochen!!« – gellte es, die Holzpantoffeln klapperten und flogen weit ab von den Füßen; sich gegenseitig über den Haufen rennend, drängten die Mägde in sinnloser Flucht hinaus.

Guste war stets ein dickes, faules und sehr langsames Frauenzimmer gewesen, in diesem Augenblick aber war sie, behend wie eine Katze, wieder auf den Füßen – stützte sich noch einmal recht kräftig mit der Faust auf Eylaus Magen und kratzte dann aus, daß der Estrich noch lange Zeit die Schrammen ihrer Nagelschuhe aufwies. So schnell war sie noch nie im Leben vom Fleck gekommen.

Die Mamsell war im ersten Augenblick wie gelähmt vor Entsetzen, aber dann verlieh auch ihr die Todesangst Flügel. Sie raffte – schreiend wie am Spieß – die Röcke zusammen, voltigierte über den Referendar hinweg und gewann mit flatternden Haubenbändern, mehr tot als lebendig, die Tür.

Eylau aber lag einen Moment wie betäubt. Er stieß einen gurgelnden Laut aus, als ihm Gustes Faust in den Magen fuhr – dann sah er wie im Schwindel die alte Mamsell über seine langen Beine hinwegsetzen und richtete sich stöhnend auf, wie ein Mondsüchtiger seine Umgebung anstarrend.

Alle Wetter, wo war er hingeraten? In die Küche – und dort an der Wand ... Blitz und Knall, der Speiseaufzug! ...

Er wollte eigentlich lachen, aber die Knochen taten ihm zu weh. Er sammelte ächzend seine Glieder und prüfte sie. Püffe und Stöße genug, aber ernste Verletzungen anscheinend nicht! Und der Schrecken!!

Er rieb sich die Schienbeine, den Magen und en revers de la medaille, wobei sein Blick auf die Kaffeetasse der Mamsell fiel. Gott sei Lob und Dank, er war am Umsinken vor Hunger und Durst und dazu noch die Magenmassage von dem dicken Bauerntrampel! Er ergriff die Tasse und trank – das stärkte seine Lebensgeister. Nun lachte er und freute sich, daß er seinem Gefängnis entronnen war. Wenn man ihn hier einsperrte, war es nicht so bedenklich, die Speisekammer befand sich nebenan.

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Ganz erschöpft sank er vor der Kaffeetasse auf den Stuhl.

»Der Verrückte ist los! Der Verrückte ist ausgebrochen!« – So gellte und zeterte es auf dem Hof und alarmierte das ganze Haus.

Er hob betroffen lauschend den Kopf. Für einen Verrückten hatte man ihn gehalten? – Für einen Verrückten!! Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, nun begriff er alles!

Wie aber konnte ein so haarsträubendes Mißverständnis kommen?

Nun, es würde und mußte sich ja aufklären.

Männe war kein übelnehmischer, sondern ein sehr tolerant denkender Mensch, und er hatte Sinn und Verständnis für Humor. Das namenlos Komische seiner Situation wurde ihm nun erst völlig klar, er lehnte sich in den Stuhl zurück und lachte, lachte, daß ihm die Tränen über die Wangen rollten.

Da eilten hastige Schritte herzu. Der Onkel, der Landrat, Schilling und ein fremder Herr erschienen in der Tür und starren sprachlos auf den so äußerst vergnügten Kaffeetrinker.

»Hermann!« –

»Befehl, lieber Onkel? ... Hahahaha! Nach meiner Reise durch die Luft hältst du mich gewiß erst recht für verrückt!« Und schluchzend vor Lachen erhob er sich, schritt den Herren entgegen und sagte: »Unbesorgt, ich bin Gott sei Lob und Dank bei völlig gesundem Verstande, wenn eure eigenartige Gastfreundschaft mich auch leicht hätte darum bringen können!«

Der Major hatte noch nie im Leben so verlegen ausgesehen, wie in diesem Augenblick. Er reichte dem Neffen beide Hände und drückte sie schier krampfhaft: »Verrückt ... wir dich für verrückt halten?« stotterte er: »Wer sagt solchen Unsinn?«

Eylau lachte noch mehr. »Ei, erstens das gesamte Küchenpersonal und zweitens euer aller Benehmen! Nun sage, bitte, um Himmels willen, bester Onkel, wie seid ihr auf diese unerhörte Idee gekommen?«

»Aber lieber Junge, du hast in deinem Zimmer derartig getobt, daß man wirklich –«

»Getobt? Allerdings – aber Hand aufs Herz, lieber Onkel, hättest du nicht vielleicht noch ärger getobt, wenn du dich waschen willst, und kein Wasser vorfindest, wenn du die Tür öffnen willst und bemerkst, daß du eingeschlossen bist, wenn du nach der Dienerschaft rufst und es kommt niemand, obwohl draußen Schritte und Stimmen deutlich zu hören sind! Wenn du schließlich solch empörender Behandlung durch einen Ruf nach der Herrschaft ein Ende machen willst und behufs dessen das Fenster öffnest, als Empfang aber einen Wasserstrahl ins Gesicht erhältst und dich plötzlich in ägyptischer Finsternis befindest – pardon, meine Herren, daß ich demzufolge noch in Hemdsärmeln bin, aber mein Rock trieft noch wie ein Schwamm!«

Der fremde Herr hatte schon während der ganzen Beschreibung solcher Leiden gelacht, daß er sich die Tränen trocknen mußte – jetzt legte er die Hand auf die Schulter Welfens und sagte voll größter Heiterkeit: »Nehmen Sie es mir nicht übel, verehrtester Herr Major, aber bei einer solchen Behandlung tobt selbst der Vernünftigste. Darf ich übrigens bitten, mich bekannt zu machen?«

Welfen nannte die Namen, und Eylau fragte voll Humor: »Man hat Sie mit einer Zwangsjacke zu Hilfe telegraphiert? – Auf Wort – die Jacke wäre mir momentan recht willkommen, denn ich fange an wie ein Schneider zu frieren!«

»Um Himmels willen, Verehrtester, ich besorge Ihnen sofort einen Rock!« rief Schilling mit dunkelrotem Kopf und stürmte davon.

»Kommt bitte vor allen Dingen hinauf in das Zimmer!« bat Welfen – »ich weiß wahrhaftig gar nicht, wie ich das unglückselige Mißverständnis aufklären soll! – Siegfried –laß vom ›Besten‹ aus dem Keller bringen ... in den Gartensalon ... wir wollen diesen gräßlichen Tag und jedwede Erinnerung daran ersäufen und dann, du armes Opferlamm, du Unschuldsengel von einem Männe, sollst du die ganze Konfusion aufgeklärt bekommen!«

»Wenn ich auch um etwas zu essen bitten dürfte« – verneigte sich der Referendar mit freundlich mildem Dulderlächeln – »ich habe das Mittagbrot überschlagen dürfen ...!«

Wieder ein schallendes Gelächter. Welfen gewann seinen Humor zurück: »Du sollst ein Diner serviert bekommen, du armer Orpheus in der Unterwelt, Donnerwetter ja ... in dem Speiseaufzug bist du hier herabgefahren ... verdeiwelte Idee!«

»Auf diesem sonst recht ungewöhnlichen Wege!«

»Sie müssen dann mal nach der Mamsell sehen, lieber Doktor! Ich glaube, die arme Person hat Krämpfe vor Schreck!«

»I wo! Da hinten äugt ja das ganze Chor der Rache durch die Fenster!«

Schilling kam mit einem Rock zurück, Welfen nahm Eylau von der einen – Schilling ihn von der andern Seite unter den Arm und beide führten ihn im Triumph über den Hof nach dem Herrenhause.

Welch eine urfidele Nachfeier zu der Tragikomödie!

Der Wein perlte in den Gläsern, und Welfen erklärte mit kurzen Worten das Mißverständnis. Siegfried aber wies mit ernstem Gesicht den geheimnisvollen Brief vor und sagte: »Ich verspreche Ihnen auf Ehrenwort, Vetter Eylau, daß ich Ihnen jedes Wort, das in diesem Schreiben enthalten ist, verzeihen will, wenn Sie mir ehrlich die Wahrheit sagen, ob Sie der Verfasser desselben sind!«

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Männe starrte das seltsame Schriftstück staunend an. »Das soll ich geschrieben haben? Nein, lieber Born, mein heiliges Ehrenwort darauf, ich sehe diesen Brief soeben zum erstenmal im Leben! Wie sollte ich darauf kommen, solch einen Wahnsinn zu schreiben? Ich habe ja niemals mit Cousine Salome korrespondiert, ich ahne nichts von Ihrem Eheleben, das, so Gott will, in diesem Schreiben nur verunglimpft wird, und wenn es Sie beruhigt, so will ich Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, daß ich glücklicher Bräutigam bin und es Ihnen in kurzer Zeit schwarz auf weiß unterbreiten werde!«

»Also doch eine Mystifikation von einem lieben Feldheimer Freunde!« grollte Born mit schweren Wetterwolken auf der Stirn, »aber bitte das Thema jetzt fallen zu lassen – die Damen kommen!«

»Und sagen Sie, lieber Doktor, Sie halten ihn also tatsächlich für gesund?« flüsterte Welfen.

»So gesund wie Sie und mich!«

»Donnerwetter, und nun habe ich an den Kerl, den Doktor Tassot telegraphiert!«

Eylau hörte den Namen und schnellte herum. »Tassot? Was ist mit dem Menschen?«

»Männe! – Lieber bester Männe, wir hielten ihn für einen Irrenarzt, der dich bewachen sollte, darum benachrichtigte ich ihn von deinem Aufenthalt!«

Einen Augenblick stand der Referendar wie versteinert vor Schreck, dann fuhr er mit den beiden großen Händen voll Entsetzen nach seinem Haupt. »Onkel – um alles in der Welt – das ist ja furchtbar! Nun werden wir den unheimlichen Kerl in Wochen nicht wieder los, denn deine Depesche hält er für eine Einladung, oder legt sie wenigstens so aus! – Und los werden wir ihn nicht – höchstens mit brutaler Gewalt! –- Anpumpen tut er uns alle – und jeden Abend muß gespielt werden, Kümmelblättchen – meine Tante – deine Tante – und er gewinnt immer! Ich bin fest überzeugt, daß er der abgefeimteste Bauernfänger ist!«

Der Major sah schon jetzt vor zorniger Erregung dunkelrot aus. »Ich bin doch Herr in meinem Hause! Ich spiele nicht! – Ich werfe den Menschen hinaus!«

»Ach Onkel – du kennst ihn noch nicht! Seine bestrickende Liebenswürdigkeit läßt einen gar nicht zum Grobwerden kommen!«

»Ich werde aber grob!«

»Es hilft nicht viel!«

»Wenigstens gibt es namenlose Aufregungen und Ärger!« seufzte Frau Dora.

Wulf meldete, daß das Essen serviert sei.

»Ach, mir ist der Appetit völlig vergangen!« stöhnte Männe. »Onkel, ich bin kein feiger Kerl – aber vor dem Tassot zittere ich!«

Welfen schaute schweigend vor sich hin, aber er gestikulierte so lebhaft, als würfe er den Unliebsamen schon jetzt im Geiste zum Haus hinaus.

»Und all diese Aufregung wegen jenes rätselhaften Briefes!« seufzte Rose.

Dem Landrat schien die Ankunft Tassots am unangenehmsten zu sein. »Es ist unmöglich, ganz unmöglich, daß wir diesen fragwürdigen Herrn hier im Hause aufnehmen! Ihr wißt, wie ich in diesem Punkte denke! Es kann uns selber die Ehre kosten! ›Sage mit wem du umgehst, dann sage ich dir, wer du bist‹!«

Der Major wurde immer aufgeregter.

»Er wird überhaupt nicht angenommen! – Zur Not reisen wir sämtlich ab!«

»Nach Thüringen?« – fragte Joachim leise, mit tiefem Seufzer.

»Meinetwegen selbst nach Ruhla!«

»Herr Major – eine Depesche!« meldete Bachmann eilig von dem Garten her über die Veranda kommend.

»Eine Depesche! – Selbstverständlich von ihm!«

»Heute abend ist er hier!«

»Alle guten Geister!«

Und dann tiefe Stille. Der Major war so erregt, daß er das Papier kaum öffnen konnte. Er las – und plötzlich stieß er einen Seufzer aus, knäulte das Papier wie in tollem Übermut zusammen und warf es dem Neffen an den Kopf. – »Da haste deinen sauberen Busenfreund!« rief er lachend.

»Was ist mit ihm?«

»Lesen Sie, Eylau!«

»Sage doch Papa – kommt er?«

Der Referendar glättete eilig das Papier und las murmelnd: »Doktor Tassot soeben als Hochstapler verhaftet. –- Große Aufregung im ganzen Hause. Hat falschen Namen geführt. – Frau Major Kielmann.«

»Ich sage es ja! Ich ahnte es ja!« stöhnte Männe, dann aber warf er in jubelnder Freude die Arme hoch und atmete erleichtert auf:

»Gott sei Lob und Dank! Da kam die Polizei zur rechten Zeit.«

»Also faktisch ein Schwindler!« rief der Landrat.

»Himmel, welch ein Segen, daß der Kerl nicht gar bei uns hier dingfest gemacht wurde!« – Große allgemeine freudigste Erregung. Die übermutsfrohe Laune kam zurück.

»So, Kinder – nun wollen wir diesen bösen Tag, der so gut endete, mal gründlich feiern!«

Salome und Tante Sidonie erschienen in der Tür. Sie standen betroffen bei dem jubelnden Halloh still.

Frau von Born sah verweint aus, die Professorin böse: »Nette Zustände hier im Hause!« schimpfte sie gewohnheitsmäßig los, »und niemand macht mir Mitteilung davon – niemand warnt mich! Es ist eine Unverschämtheit! Wo ist denn der verrückte Herr Neffe – he?«

»Hat die Ehre hier vor Ihnen zu stehen, Frau Tante!«

Sie musterte ihn ingrimmig. »Hätten auch zu Hause bleiben können, Hermann, anstatt hier das ganze Gut auf den Kopf zu stellen. Sind so schon zu viele Menschen hier! Ich kann solch eine Besuchskolonie in den Tod nicht leiden!«

Siegfried bot der Grollenden galant den Arm. »Nun, dann wäre es das einfachste, liebe Tante, Sie packten morgen die Koffer und reisten ab, dann ist sofort ein Gast weniger in Jeseritz! Und nun darf ich wohl bitten, meine Herrschaften, ›Polonäse nach dem Eßzimmer.‹«

»Hm!« sagte die Tante verdutzt.

»Hurrah! Avanti! – Polonäse! – Musik!« jubelte es im Kreise, und in wahrer Karnevalstimmung, selber den Marsch singend, zog die fröhliche Gesellschaft nach dem Speisesaal.

 


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