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XXII

Noch nie im Leben war Salome so überrascht gewesen, wie in diesem Augenblick. Sie saß regungslos und starrte noch immer auf den Fleck, wo Siegfried soeben gestanden. Er war eifersüchtig! War er es wirklich?

Wie ein Taumel des Entzückens überkam es die junge Frau. – Er hatte sich verraten, er liebte sie doch, und seine Gleichgültigkeit war nur Komödie, nur ein Mittel zum Zweck! – – Und das hatte er so lange Wochen durchführen, es über das Herz bringen können, sie derart zu quälen? – Warte du Bösewicht! Dafür sollst du gestraft werden!

Er sah den Brief nicht an, als er merkte, daß er aus der Rolle gefallen war. Stolz und gleichgültig warf er ihn auf den Tisch zurück – aber er hätte doch gewiß gar viel darum gegeben, wenn er ihn gelesen oder den Schreiber gekannt hätte.

Salome stützte das Köpfchen in die Hand und lachte mit strahlenden Augen vor sich hin.

Er vermutete ein Billet von Elten. Pfui! Wie abscheulich, ihr womöglich eine heimliche Korrespondenz mit dem widerwärtigen Menschen zuzutrauen! Darüber müßte sie eigentlich böse sein, wenn es nicht ein gar zu beglückendes Zeichen von Eifersucht wäre!

O wie sie jubeln möchte! Die ganze Welt war ihr nie so sonnig und wonnig vorgekommen, wie in diesem Augenblick! – Ein Gefühl des Übermuts überkam sie –- »wohin mit der Freude?!«

Das Bewußtsein, nun etwas zu lernen und künftighin etwas leisten zu können, hatte sie just heute schon mit stolzem Frohsinn erfüllt. Sie kostete das süße Selbstbewußtsein, ihre Pflicht zu tun, sich nützlich zu machen, den Anforderungen, die man an sie stellte, gerecht zu werden. Das gab ihr eine nie gekannte Sicherheit und Zufriedenheit. Sie brauchte sich nicht mehr vor Siegfried zu schämen; noch eine kurze Lehrzeit und sie würde kein wesenloses Bild mehr im Hause ihres Mannes sein.

Sie atmete auf wie von Lasten befreit und empfand es jetzt erst, wie unglücklich sie sich zuvor gefühlt hatte. Und doch gab es Frauen auf der Welt, die als Tagediebinnen das Gnadenbrot im Hause ihres Mannes essen und eine solche entwürdigende Stellung gelassen ertrugen. Die mußten weder Ehr- und Pflichtgefühl, noch die wahre, echte Liebe für den Gatten kennen. Sie breitete die Arme weit aus und lachte ihrem rosigen Spiegelbilde zu. – »Du da drinnen! – Frau Salome! Er liebt dich doch! – Er ist dennoch eifersüchtig ... so sinnlos eifersüchtig, daß er dir sogar Liebesbriefe von Elten zutraut!!«

Und das blonde Köpfchen nickte mit strahlenden Augen aus dem Glase heraus und kicherte. »So mußte es kommen, das verdiente der böse Schelm! – Welch ein ›lustig Weib‹ ist aus mir geworden! Es kribbelt mir in allen Fingern, ihn einmal weidlich zu necken! Ich bin ja so froh! – Was soll ich tun mit ihm, daß er sich ganz verraten muß? –- Ihn vor allen Dingen mit meinem Küchengeheimnis quälen ... und dann ... ja was noch?«

Sie sann und sann und, plötzlich kam ihr ein toller Gedanke, sie klatschte vor Vergnügen in die kleinen Hände. – Ja, das war eine großartige Idee! Heute nachmittag gab ja Tante Sidonie die vielbesprochene Kaffeegesellschaft. Alle Damen würden bei ihr versammelt sein, und Siegfried sicher in dieser Zeit das Zimmer hier betreten, um eine kleine Siesta zu halten. Er würde den ominösen Brief unverändert auf seinem Platz liegen sehen, und er wird nicht widerstehen können, einen Blick hineinzutun. War er wirklich eifersüchtig, so kannte er keine Skrupel, sondern hegte nur den einen Wunsch, klar zu sehen. Er würde den Brief lesen – aber nicht den harmlosen der Frau Doktorin, der darin steckte, sondern einen anderen, der ihm alles sagen sollte, was der Schlingel zu hören verdiente. – Das sollte ein Spaß werden!

Hastig holte die junge Frau ihre Schreibmappe herzu, wählte einen rosa Bogen und setzte sich mit glühenden Wangen an die Arbeit.

Vor allen Dingen mußte sie die Schrift verstellen. Sie malte und kratzte mit der Feder die fremdartigsten Buchstaben und schrieb:

»Geliebte! Teuerste!

Namenlose Sehnsucht nach Dir verzehrt mich! Ich habe alles Herzeleid vergessen, das Du mir durch Deine Heirat zugefügt, denn ich weiß, Du bist unglücklich! Du leidest. – Ich hörte alles; wie Dein herzloser, gefühlloser Tyrann von einem Mann Dich kalt und gleichgültig behandelt, wie er schon seit Wochen neben Dir hergeht, kaum noch einen Blick, noch einen Händedruck für Dich hat! Und warum? Weil Du zartes, minnigliches Prinzeßchen Dich für zu gut hältst, um grobe Mägdearbeit zu tun! – Anstatt durch Liebe und zärtlichste Vorstellungen Dich seinem Wunsche geneigt zu machen, spielt er sich auf den Barbaren hinaus. Sein ist die Schuld, wenn er Dich, holde Frühlingsblüte, dem Sturm aussetzte, der Dich nun doch an meine Brust weht. – Ja ich komme! Ich komme als Retter und Befreier! – Ich werde Deine Ketten brechen und Dich von einem Manne erlösen, der Dich Kleinod nicht zu würdigen weiß und nicht verdient! – Ich komme, sobald ich alles vorbereitet habe. – Wenn Du willst, entführe ich Dich! – Bis dahin in Liebe – die selbstloser und zärtlicher ist als die Deines kaltherzigen Tyrannen. – Dein ewig treuer

Hermann!«

Ja, »Hermann« ist gut! »Hermann« ist Sammelname, so heißen sehr viele Leute auf der Welt!

Salome lachte, daß sie kaum noch die Feder halten konnte! »Hermann, der unbekannte Gott, muß herniedersteigen und Herrn Siegfried Moral predigen! Er muß ihn ängstigen und foppen, er muß Frau Salome helfen, diesen herrlichen Scherz ausführen! – Kann er etwas Schlimmes anrichten? Nein, unmöglich – es gibt ja gar keinen Hermann in Feldheim, weder dort noch in der Umgegend. Also vorwärts! Wie gut die Schrift aussieht! Es ist undenkbar, daß man sie als ihre Hand erkennen kann!«

Nun schnell den Brief in das Kuvert gesteckt ... und »guten Appetit« und »viel Vergnügen, Herr Landrat!«

Was würde er für Augen machen! Wie er auf Hermann den Raben warten und die Pistolen für den Entführer laden!

– Oh, es war ein kapitaler Scherz! Wie würden sie lachen, wenn alles sich nachher so harmlos aufklart!

So, hier auf dem Tisch ... ein wenig unter die Bücher geschoben ... finden würde er den Brief auf jeden Fall!

Und ausgelassen wie ein mutwilliges Kind, schmückte sich die junge Frau schöner und sorgsamer als je, wählte aus dem Strauß, welchen der Gärtner in das Zimmer gestellt, die schönsten Blüten und steckt sie an Haar und Brust,

Schon erklang die Tischglocke zum ersten Zeichen. Schnell noch einen Blick in die Küche, ob ihr Schmorbraten, der Rotkohl und der Fleischpudding noch ebenso lecker dreinschauten wie vorhin ... und dann zu Tisch!

Wenn sie nur ernst bleiben konnte! – Je nun, die kleine Tafelrunde war ja stets so lustig und guter Dinge, daß es genug Ursachen und Vorwand zum Lachen gab. Heute wird Salome ihr redlich Teil zu der allgemeinen Heiterkeit beitragen!

Und sie tat es. Tausend kleine Kobolde lachten ihr aus den Augen, und Siegfried, der anfänglich etwas wortkarg und verstimmt seiner Frau gegenübergesessen hatte, ließ sich anstecken und amüsierte sich mit.

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Zwar deuchte es Salome, es sei eine etwas nervöse Munterkeit, und sein Blick, der wieder und immer wieder, wie magnetisch angezogen, zu ihr herüberflog, drückte Mißtrauen und Argwohn aus. Er begriff nicht, warum seine kleine Frau urplötzlich so verwandelt war, und machte sich allerhand Gedanken darüber.

 

Die Kaffeegäste der Tante Sidonie waren für vier Uhr eingeladen, und präzise zu der befohlenen Stunde rollte ein großer Partienkremser heran, der die Blüte von Feldheim in den absonderlichsten Gestalten und Farben, sowie in den mannigfachsten Jahrgängen entlud.

Siegfried und Joachim standen verborgen hinter einem Parterrefenster und staunten das Sehenswerte an, Schilling noch mehr als der Landrat, denn diesem waren die Feldheimer Typen schon bekannt und gewohnt geworden.

Die Mode fand schwer Eingang in dem kleinen Städtchen, namentlich bei den älteren Generationen, die auch der Ansicht huldigten: »Was ich als Mädchen gepflegt und getan, nicht will ich's als Greisin entbehren!« – Die ältere Frau Rechtsanwalt emanzipierte sich schon eher einmal – sie hatte sich jetzt endlich – wenn auch noch widerwillig, zum Tragen eines Cul de Paris entschlossen – so wie er vor fünfundzwanzig Jahren Aufsehen in der Weit erregte. Damals erlaubte ihre Mutter der Sechzehnjährigen nicht, solche Modenarrheit mitzumachen – später wollte es der Gatte nicht, jetzt aber, wo diese beiden Unerbittlichen im Grabe lagen, konnte sich Frau Malwine den sehnlichsten Wunsch erfüllen.

Das schöne warme Wetter hatte die Damen zumeist veranlaßt, helle Gewänder anzulegen. Die Bergratstöchter hatten sogar »rosa« gewählt, doch versicherte Siegfried seinem Lauschgenossen: »Es ist die Abendröte, die die Fräulein markieren wollen.« Die Frau Apotheker trug noch ihren roten, goldbesetzten Baschlick, den ihr »gutes, liebes Tierchen« –- das war ihr Mann – auf der Hochzeitsreise in Frankfurt a. M. gekauft hatte, ein Prachtstück, das vor Zeiten sogar in dem Feldheimer Intelligenzblatt eingehend besprochen war. Von so etwas trennt man sich nicht. Die Rittmeisterin a. D. prangte sogar in Seide und tat sehr vornehm; sie trug einen Pompadour von außergewöhnlicher Größe am Arm.

»Heiliges Linksschwenkt – was mag sie in dem Schnappsack alles mit sich schleppen!« staunte Joachim.

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»Das kann ich Ihnen genau sagen, ich habe das Ding mal während eines Kaffees bei meiner Frau untersucht!« flüsterte Born. »Wenn sie kommt, hat sie ein Strickzeug, einen baumwollenen Seelenwärmer, ein Paar Gummischuhe, eine Schachtel Magnesia – sie leidet am Magen – eine gestrickte Kapuze, sowie die Brille und ein Flänschchen Ohrenwatte für den Heimweg bei sich, wenn sie geht, befinden sich nur noch der Strickstrumpf, die Schachtel und Brille – sowie sehr – sehr viel Kaffeekuchen darin!« Achim prustete los vor Lachen – er konnte es getrost, denn draußen hörte man ihn nicht. Alle Damen hatten die Eigentümlichkeit, stets a tempo zu sprechen – eine immer lauter als die andere, denn jede wollte zur Geltung kommen.

Man machte Knickse, die jedem Menuett zur Ehre gereicht hätten, nötigte sich eine Viertelstunde vor der Tür, wer zuerst eintreten solle, bis schließlich – Ehre wem Ehre gebührt – der Affenpinscher der Miß Howard den Anfang machte, und die dicke Apothekerin durch einen neckischen Stoß der Bergrätin ihm nachflog. Da war der Bann gebrochen, und jede drängte sich vor.

Tante Sidonie hatte nichts von der gewinnenden Begrüßungsfreude der Gastgeberin im Gesicht. Im Gegenteil, sie schien heute in Grobheit zu exzellieren, was man aus dem verlegen- erzwungenen Demutslachen der jeweilig Betroffenen entnehmen konnte.

»Tripp und trapp, klipp und klapp! Gott sei Dank, sie ziehen ab!« – rezitierte Schilling aufatmend, als sich der weibliche Heerhaufen, zu jedem Zungenmassaker und Wortgefecht bereit, die Treppe emporwand, nach dem Salon der Frau Professorin.

»Nachher horchen wir!« schmunzelte der Landrat, »ich sage Ihnen, Schilling, es gibt nichts Spaßhafteres als Königin Klotz unter ihren Fröschen! – Habe schon alles vorbereitet. Über den Balkon können wir bequem in das Nebenzimmer gelangen, die Fenster stehen offen!«

»Das ist gut. Die Tür soll ja abgeschlossen werden!«

»Um so besser für die Überraschung. Und nun kommen Sie, wir wollen Kaffee trinken! Rose hat sich oben freigemacht, unter dem Vorwand, selber Waffeln backen zu wollen; sie kommt und leistet uns Gesellschaft!«

 

»Wenn muntre Reden ihn begleiten, so fließt der Kaffee munter fort!«

Die Frau Professorin hatte ihre Gäste hinauf in ihre »gute Stube« geleitet. Auch Salome betrat an der Seite ihrer Mutter zuletzt das Zimmer, und beide Damen wechselten einen überraschten Blick. In grellstem frischestem Königsblau prangten die ehedem so alten, verschlissenen Möbel, und Tante Sidonie prüfte mit triumphierendem Blick die Wirkung dieser Neuigkeit in den Gesichtern ihrer Hausgenossen. Dann teilte sie die Plätze aus, nicht wie gewöhnlich üblich streng nach Rang und Würden, sondern wie es ihr just in den Kram paßte. Zu allgemeinem, tiefinnerstem Staunen wurde Salome an ihre Seite beordert, und darüber machte die Frau Apotheker ein so schwer gekränktes Gesicht, daß Frau von Born kein anderes Mittel wußte, sie zu versöhnen, als daß sie schnell den königsblauen Sessel vor den Platz der würdigen Dame schob, und selber bescheiden auf einem Rohrstuhl niedersaß. Das rettete einigermaßen Ehre und Reputation.

Solange gegessen und getrunken wurde, war es ziemlich still; als aber eine der Damen nach der anderen sich mit dem windelförmig großen, selbstgestickten Taschentuch den Mund wischte, die Arbeit aus dem Pompadour nahm und guter Sitte gemäß Speise und Trank bis in den siebenten Himmel lobte, da begann das Büchlein der Unterhaltung zu plätschern, lebhafter und eiliger, immer toller sprudelnd, bis schließlich ein wahres Mühlengeknatter, unterbrochen von schrillen Lachtönen, durch das ehrbar stille Gutshaus von Jeseritz dröhnte. Man mußte es doch hören, wie gut sich die Damm amüsierten!

Plötzlich trat feierliche Stille ein. – Tante Sidonie erhob sich und kündigte den Herrschaften eine Vorlesung aus ihrem neuen, epochemachenden, naturwissenschaftlichen Werke an. Kolossaler Beifall. Der ganze Hofstaat schwamm in Entzücken, man überbot sich, das denkbar größte Interesse zu bezeigen.

»Über neue Forschungen auf dem Gebiete der Gliederfüßler, ihre Atmung durch Tracheen, über Parthenogenesis und Generationswechsel. Beginnend mit den Aptera bis zur Hemiptera, schließend mit den Rhynchota.«

»Wie unbeschreiblich interessant!« exaltierten sich die Damen, und der Bergrätin Jüngste preßte schwärmerisch die Hände gegen die flache Brust: »Gerade dafür habe ich mich stets begeistert! O diese Naturwissenschaft! Selbst eine Käsemade war mir immer ein interessantes, rätselhaftes Geschöpf!« Die Umsitzenden wechselten ein paar giftig ironische Blicke. Tante Sidonie aber schlug feierlich das Buch auf und begann mit monotoner Stimme zu lesen.

Alles lauschte voll Ehrerbietung, keine wagte sich zu rühren, der Respekt verbot sogar das Arbeiten. Steif und stumm, die Augen mit dem Ausdruck hilflosester Verständnislosigkeit auf die Leserin – oder in die Luft gerichtet, ließen die Schönen von Feldheim einen Schwall lateinischer Worte und unbegreiflicher Tatsachen über sich hingehen. Dazu war es drückend heiß in dem nicht allzugroßen Zimmer. Die Sonne prallte auf die Fenster und die vielen eng zusammengepferchten Menschen heizten an und für sich schon gewaltig ein.

Dazu das gleichmäßige Sprechen.

Die dicke Apothekerin trocknete sich die Stirn – die anderen Damen folgten ihrem Beispiel. Der Schweiß rann in Strömen. Aber was half es? Man lauschte entzückt. Allzulange würde es ja nicht dauern! – Aber es dauerte lange – die harte Stimme klang rastlos weiter, wie eine Blechtrommel. Da hob die Bergrätin mit verzweifelter Grimasse das Taschentuch – sie gähnte. Und die Apothekerin sah es – und mußte rettungslos mitgahnen – und rechts und links hoben sich die Hände an den Mund. – Welche drückende Schwüle. – Die Rittmeisterin konnte sowieso keine Hitze ertragen, sie schlief regelmäßig in der Kirche ein, und jetzt deuchte es ihr, die Frau Professorin stände auf der Kanzel und predigte. Da gähnte auch die Doktorin neben ihr – ei, es wird ja nichts schaden, Frau Sidonie sah ja nicht auf – und nach zwei Minuten sank ihr Kopf vornüber, die Frau Rittmeisterin schlief.

Die Glückliche! Die Bergrätin wehrte sich auch nicht länger, sie mußte! – Auch ihr schönes Haupt neigte sich. – Ihre Töchter saßen zu weit entfernt, um sie knuffen oder treten zu können.

Und die Uhr tickte, und die Sonne brütete, und die Leserin machte keine Pause.

Plötzlich horchte sie erstaunt auf. Welch ein seltsam rasselnder, sägender Ton? – Sie stutzte. Da klang es wieder und abermals ... dröhnend laut und schrecklich.

Salome schüttelte bedenklich den Kopf – die Tante blickte über Buch und Brille auf. – Ja, was war denn das? – Wie in Dornröschens Schloß saßen rings ihre Vasallinnen und schliefen – schliefen tief und fest – ja, die Apothekerin schnarcht sogar wie ein Wachtmeister. Nur Salome – sie war die einzige, die andächtig gelauscht hatte.

Da überkam die Professorin der Zorn eines Moses, als er, ergrimmt über sein verderbtes Volk, die Tafeln des Gesetzes zur Erde schmetterte. Auch sie hob ihr Buch und knallte es voll heiligen Ingrimms auf den Tisch, daß alle Kaffeetassen hoch in die Luft flogen.

Ein gellendes Schreckensgeschrei. Die Damen fahren zu Tode entsetzt aus süßen Träumen auf – die Bergrätin zetert schlaftrunken: »Eine Explosion! – Dynamit!« – und trat ihrer Nachbarin vor Angst auf die Hühneraugen.

Gleicherzeit ein schallenes Gelächter nebenan. Born und Schilling standen auf der Schwelle und verneigten sich, »Wünsche wohl geruht zu haben!« sagte der Landrat, »liebe Tante, das Mädchen bringt die Bowle!«

Die Professorin erhob sich steif und feierlich. Ihr Antlitz zuckte in beleidigtem Stolz. – »Gut – andere Nahrung paßt auch nicht hierher, man soll die Perlen nicht vor die Säue werfen.« – Sprach's und trug ihr Buch davon ... die Damen saßen wie gelähmt. Etliche blickten beschämt in den Schoß, andere wollten ihre Verlegenheit hinter krähendem Lachen verbergen. Die Herren halfen über die fatale Situation hinweg, außerdem kam die süße Speise und Bowle. »Jetzt schon?« wunderte man sich.

Der Landrat sah sehr ernst aus. »Ja, denken Sie nur, meine Damen, Ihr Kutscher muß falsch beschieden worden sein! – Anstatt um acht Uhr, kam der Wagen schon jetzt. Ich bestimmte den Kutscher, noch die zwei Stunden zu warten, aber er behauptete, das könne er nicht – höchstens eine halbe Stunde bewilligt er!«

»Dann schnell mit dem Essen heran, daß sie wegkommen!« rief die Professorin mit harter Stimme und trat neben den Landrat. »Wie kommt ihr in das Nebenzimmer? Ihr habt gehorcht!«

»Allerdings. Wir hörten Sie vorlesen, da wollten wir nicht zu kurz kommen!«

»Nun – und ihr seid wach geblieben?«

»Selbstverständlich. Ich wollte gern die Schnitzer zählen, die Sie gemacht haben, teuerste Tante!«

»Hm ... und wie viele waren es?«

Siegfried zuckte die Achseln. »Je nun, Ihr Mann war ja ein bedeutender Gelehrter!«

»Was habe ich damit zu tun?«

»Alles, Sie haben das Buch von ihm abgeschrieben!«

Der Sprecher wollte derb sein, und war daher äußerst erstaunt über das strahlende Lächeln, das über der Professorin Züge glitt. »Hm ... das läßt sich hören. – Eine größere Anerkennung kann das Buch nicht finden. – Sie haben sich mit Ihren eigenen Worten geschlagen, Herr Neffe, und alles gut gemacht, was die Brut am Kaffeetisch dort gesündigt hat.«

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Kein Schmeicheln, kein Bitten und Betteln, kein noch so derbes Liebesgeständnis konnte Tante Sidonie versöhnen – sie blieb ihren Gästen gegenüber ein Marmorbild. – »Habe das Gesindel neulich schon durchschaut« – sagte sie zu Herrn von Schilling – »elende Erbschleicher, weiter nichts.«

Tante Sidonie gab auch das Signal zum Aufbruch, indem sie mit entsprechendem Blick die Weinflasche, aus der die Bowle nachgefüllt werden sollte, an sich heranzog, den Kork mit der flachen Hand fest einschlug und diktatorisch erklärte: »Weg damit, es trinkt niemand mehr.«

Da sahen sich die Namen mit wahren Armsündermienen an und fühlten sich entlassen. Sie erhoben sich, und das Knicksen begann von neuem. Plötzlich aber dröhnte abermals ein Gelächter durch das Zimmer. Der Landrat und Joachim warfen sich auf die nächsten Stühle und hielten sich die Seiten vor Vergnügen. »Kehrt, meine Damen! Kehrt!«

Das war eine schöne Bescherung! – Die neuen Aufbürstefarben, die Tante Sidonie so stolz in Anwendung gebracht, hatten sich bitter für den Tort gerächt, den die Feldheimer Namen ihrer Herrin angetan. – Jede der Schönen bewies das – en revers de la medaille! Wer auf den königsblauen Sesseln gesessen hatte, nahm die Farbe mit nach Hause!

Ein außerordentlicher Tumult erhob sich. Die schönen hellen Kleider, und dieser Anblick für die Herren! – Man vergaß den Abschied. Rückwärts zur Tür hinaus schassierend flüchteten die Holden nach dem Omnibus.

Die Hinterbliebenen aber konnten sich gar nicht fassen vor Heiterkeit, und der Landrat hat nie anders von diesem Fest erzählt, als wie von dem »Pavianskaffee!«

Der Kutscher hat nachher verraten, er habe noch nie im Leben so furchtbar schimpfen hören, als bei dieser Heimfahrt – und warum er zwei Stunden früher gekommen? – Ja, das ist für ewige Zeit ein Geheimnis zwischen ihm und den beiden Jeseritzer Herren geblieben.

Aber sein Schatz hat am nächsten Sonntag einen nagelneuen Hut in der Kirche aufgehabt.

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Währendessen hatte sich Herr von Welfen sehr gelangweilt. Zeitungen gab es heute nicht, die Frauenzimmer bei Tante Sidonie waren ihm zu »quatsch!« und spazierengehen mochte er in der Mittagssonne nicht. Da setzte er zunächst eine Annonce für das Jeseritzer Kreisblatt auf, und zwar im Interesse seiner Tochter Salome – so, wie er es mit ihr und Siegfried gestern abend besprochen hatte.

Ein neuer Diener wurde gesucht. – Was man auf gute Zeugnisse der Dienstboten geben kann, wußte jede Hausfrau und jeder Hausherr. Man lobte aus dem Hause hinaus, was man nicht wagte hinauszuwerfen. – Also auf Empfehlungen gab man nichts mehr, wie aber sollte man sich über die Leute orientieren? Durch die Handschrift! – Dreimal Heil der Graphologie, die die Menschenseele so durchscheinend klar dargelegt, wie die Röntgenstrahlen das geheimste Innere eines Menschenkörpers.

Und der Major setzte eine Annonce auf: »Gesucht für sogleich oder später ein sehr zuverlässiger, herrschaftlicher Diener mit besten Zeugnissen. Schriftliche Anmeldung zu richten an Herrn Major von Welfen, Jeseritz.«

Das war ein vortrefflicher Gedanke.

Morgen stand es im Blatt.

Dann brachte Wulf einen Brief, den der Kutscher des Damenomnibus abgegeben hatte.

Eine Schusterrechnung. »Hm, ob das der Meister selber geschrieben hat? Wollen doch gleich mal nachsehen, was hinter dem Kerl steckt! – Seine Preise kommen mir hoch vor – wenn sich in der Schrift Anzeichen für Habgier, Gewissenlosigkeit und Verschlagenheit vorfinden, ist der Monsieur ein Betrüger und übervorteilt seine Kunden!«

Mit großem Eifer und dem Behagen eines Menschen, der sich in der Lage sieht, hinter die Schliche eines andern zu kommen, trat der alte Herr an den Schreibtisch.

Wo lag sein Handbuch der Graphologie? ... Nicht da? ... Hm, richtig, Salome hatte es sich gestern geholt, um etwas nachzuschlagen. – Würde noch droben in ihrem Zimmer liegen.

Welfen schritt hinaus, die Treppe hinauf in die Logierstube des Bornschen Ehepaares.

Er blickte umher. Ah, da lag es ja auf dem Tisch. –

Nebenan plötzlich ein furchtbares Geschrei und Gepolter in Tante Sidoniens Zimmer.

Gewiß war jemand mit dem Stuhl durchgekracht! – Vielleicht sonst ein Malheur – er mußte doch nachsehen! –- Hastig raffte er das Buch auf und eilte damit auf den Korridor. Da schlug ihm schon eine Lachsalve entgegen, und Siegfried schien auch dabei zu sein, denn er rief: »Wünsche wohl geruht zu haben, meine Damen!« – Na ja, wahrlich war das wackelbeinige Sofa mit der dicken Apothekerin und der Frau Rittmeister zusammengebrochen, und schadenfroh schmunzelnd zog sich Welfen wieder in sein Zimmer zurück.

Er setzte sich in einen Sessel und schlug den Crépieux auf. – Ein Brief fiel ihm entgegen, er hatte sich zwischen die Blätter des Buches geschoben.

»Wetter ja – ein Brief? – Etwa an mich?« Und mechanisch schlug er das steife Papier auseinander.

Er stutzte. Welch eine wunderliche Schrift! Der reine Krikelkrakel! Ein Buchstabe hoch, einer niedrig, einer dick, einer dünn – keiner hing an dem andern, dieser ist deutsch, jener lateinisch geschrieben! Die großen Buchstaben waren am wunderlichsten. Weit ausfahrende Linien, Striche, Schnörkel. Alle Zeichen unter der Linie weitgebaucht oder völlig verkrümmt. Das Ganze sah aus, als sei ein Sturmwind durch die Schrift gefahren, so windschief hing sie auf dem Papier.

So etwas hatte Welfen noch nie in seinem ganzen Leben gesehen!

Wer war denn der Schreiber? – »Hermann?« Wer hieß Hermann? Er kannte keinen dieses Namens, doch ja – Neffe Hermann in Berlin, der Sohn seines Stiefbruders, hm. Aber der hatte doch früher ganz anders geschrieben! Allerdings schon lange her, daß der Junge von sich hören ließ. Er war wütend beleidigt, weil ihm der liebe Onkel einst eine tüchtige Ohrfeige gehauen hatte, und zwar von Gottes und Rechts wegen, denn er hatte Salome küssen wollen! – Ein Primaner, und sie noch nicht mal in der Pension gewesen! Na, er hatte ihm die verliebten Mucken ausgetrieben, und seit der Zeit maulte er. Wollte erst Jurist werden – dann sattelte er um und studierte plötzlich Musik. Hm ... und nun meldete sich der Schlingel plötzlich wieder. – Was wollte er?

Der Major beginnt zu lesen. Er schüttelte immer besorgter den Kopf: »Verrückt! Total verrückt!« Und wie er das Wort aussprach, durchzuckte ihn ein lähmender Schrecken.

Diese Schrift! Der verworrene, sinnlose, überspannte Inhalt der Zeilen ... kein Zweifel mehr, der Unglücksjunge ist verrückt geworden!

So etwas soll ja bei den Musikern öfters vorkommen, sie fiedeln und komponieren sich das bißchen gesunden Menschenverstand weg!

Armer Hermann! So jung, und so hoffnungsfreudig, und nun so!

Das kam davon, wenn die Söhne so ohne alle elterliche Sorge aufwachsen mußten. Der »Männe« war stets eine verdrehte Schraube, erst schauderhaft verhätschelt und verzärtelt von der Mama, und als die gute Seele starb, noch mehr verwöhnt von dem Vater, und als auch dieser die Augen schloß, da stand das Muttersöhnchen und wußte sich nicht allein die Krawatte zu binden! Und so einen laschen Bengel nun allein in die Welt und das Leben hinaus! – Erst studiert – ewig lange – dann umgesattelt – na, man hätte ihm nur Onkel Welfen zum Vormund geben sollen, der hätte vielleicht noch was aus ihm gemacht, aber so ging die Sache naturgemäß schief.

Also verrückt! Der Männe verrückt! Schauderhaft. Der Major schleppte alle graphologischen Bücher zusammen und forschte darin nach der Wahrheit seiner trüben Ahnung. –

Da, es stimmte; er las die schrecklichsten Dinge aus der beinahe unheimlichen Schrift des armen Neffen. Und dann saß er da und dachte über das Unheil nach.

Er wollte herkommen und Salome entführen. Das arme Wurm, davon durfte sie natürlich nichts ahnen. Ob er Siegfried in Kenntnis setzte? – Aber freilich einer von ihnen mußte ja den Brief schon gelesen haben, denn er war erbrochen. Zuerst mußte er also das Terrain sondieren.

Oben gab es abermals ein furchtbares Hallo – und dann stürmten die Damen wie die wilde Jagd die Treppe hinab zum Wagen. Teufel, Donner, wie sahen sie denn von rückwärts aus? – Welfen setzte flink den Kneifer auf und dann schüttelte er sich vor Lachen, ja er vergaß sogar den armen, verrückten Hermann und eilte in Tante Sidoniens Zimmer hinauf, wo er die Familie halb aufgelöst vor Heiterkeit antraf.

Frau Dora und Salome stürmten soeben den Gästen nach, um so gut es ging, die Abschiedshonneurs zu machen.

Als sich der Sturm etwas gelegt hatte, zupfte Papa Ernst seinen Schwiegersohn am Arm. »Du ... Siegfried!«

»Was denn, Vater? Ach, ich bin halb tot vor Lachen!«

»Sage mal, hast du heute in eurem Zimmer einen Brief gelesen, der an Salome adressiert war?«

Der Landrat hörte nur mit halbem Ohr, er lauschte mehr auf die Witze, die Rose und Joachim über die Paviane machten.

»Hm ... habe ihn in der Hand gehabt – wollte gerade lesen, aber dann überlegte ich mir, daß mich die Briefe meiner Frau nichts angehen!... Höre mal, Rose – ihr habt um den Möbelstempel gewußt, sonst hatte sich doch wohl auch eine von euch auf solch einen perfiden Abklatschsessel gesetzt!«

Der Major nickte vor sich hin. »Also Siegfried hat den Brief fraglos geöffnet, aber glücklicherweise nicht gelesen. fragt es sich, ob Salome schon Kenntnis davon genommen!«

Er schritt die Treppe hinab und begegnete seiner Tochter an der Haustür.

Sie lehnte ihr glühendes Gesichtchen an seine Schulter und schluchzte vor Lachen.

»Ja, Prinzeßchen, es sah sehr komisch aus. Aber höre mal, was ich dich fragen wollte ... hast du eigentlich mal wieder Nachricht von Vetter Eylau gehabt?«

»Vetter Eylau? – Aus Berlin?« – Salome blickte ihn mit großen Augen erstaunt an. »Nein! Wir korrespondieren ja gar nicht miteinander! Wie kommst du darauf?«

»Ich meinte nur so! ... Hm ...« und er blickte dem Liebling scharf prüfend in das unschuldige Gesicht. »Nein, sie war vollkommen harmlos; derartig konnte man sich gar nicht verstellen. Also sie ahnte nichts von dem Schrecklichen, daß ein verrückter Mensch sich einbildete, sie sei unglücklich, und die fixe Idee hatte, sie zu entführen! Und sie durfte auch nichts davon wissen.«

Vorläufig sollte auch Siegfried ahnungslos bleiben, und erst wenn der Unglückliche wirklich hier auf der Bildfläche erscheint, so war es an der Zeit, ihn zu warnen. Vor allen Dingen mußten Maßregeln getroffen werden, den gefährlichen Kranken so schnell wie möglich unter ärztlicher Aufsicht zurückzutransportieren. Vielleicht war der Brief auch nur in einem Moment geistiger Verirrung entstanden, und in der nächsten Stunde wußte der Schreiber nichts mehr von ihm!

Also abwarten, ob er überhaupt kam.

Nachher, beim Abendbrot oder morgen beim Frühstück würde er die Familie auf den unheimlichen Gast vorbereiten, denn daß er verrückt war, mußten sie schon um der allgemeinen Sicherheit willen wissen.

 


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