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XXIII

Man trank den Kaffee auf der Veranda.

Die Wettermacher mußten sich wohl ganz und gar in der Zeit verrechnet haben, denn niemand in der kleinen Frühstücksrunde entsann sich eines Aprils, der derart sommerlich geartet war wie der heurige.

Die Damen trugen helle Kleider, die Herren hatten es sich in leichten Tennisanzügen bequem gemacht und rauchten behaglich ihre Zigarren, während die Damen sich eine Handarbeit geholt hatten und vergnüglich an der Unterhaltung teilnahmen. Da der Landrat heute zu Hause bleiben konnte, war die Frühstücksstunde länger als gewöhnlich ausgedehnt. Es gab nicht leicht etwas Gemütlicheres, als dieses Beisammensitzen in der köstlich warmen, blütendurchdufteten Luft, inmitten einer Natur, über die der Lenz seine Schönheit in verschwenderischster Pracht ausgegossen hatte. Ganz besonders heiter war Salome.

Sie schien recht oft aus dem Tokayerglase ihres Vaters genippt zu haben, wenigstens führte Rose lachend ihre übermütige Laune daraufhin zurück.

So eifrig sie auch an dem Monogramm in dem zarten Spitzentuch stickte, ihr Blick flog doch oft genug, wenn auch unbemerkt, zu ihrem Manne hinüber, der, im Gegensatz zu ihr, ernster als gewöhnlich dreinschaute und selbst über den schönsten Pavianskaffeewitz nur zerstreut lachte.

Dahingegen schauten sowohl er, wie auch der Major jedesmal mit scharfem Blick auf, wenn das Rollen eines Wagens von der entfernten Chaussee herübertönte.

Oh, Salome wußte wohl, nach wem er ausschaute! Und sie biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzulachen über ihren herrlichen Witz.

»Hermann, der unbekannte Gott!« der Entführer seiner Frau, wurde von ihm erwartet, darum blieb er auch heute zu Hause. – Wen er sich wohl darunter vorstellt?

Vielleicht einen Verehrer aus Lausanne!

Ihr erster Gang nach dem gestrigen Kaffee hatte ihrem schönen Skriptum in dem Logierzimmer gegolten. Sie warf sich in einen Sessel und schüttelte sich vor Lachen, denn mit Genugtuung hatte sie bemerkt, daß es von dem Tisch verschwunden war. Glücklich in dem Gedanken, daß ihr Streich gelungen sei, lachte sie still vor sich hin. Aber Hermann, mein Rabe, kam nicht.

Wie sollte er auch am hellen, lichten Tage! Romeo hing die Strickleiter auch erst im Mondenschein an. Die Nadel zitterte in Salomes Hand; sie lachte ganz plötzlich laut auf und behauptete, Miß Dollys Affenpinscher gleiche der einen Bergratstochter, die habe auch ihre großen Zähne so gefletscht, als sie von den Käsemaden schwärmte.

Plötzlich ließ der Major die Zeitung sinken. »Gräßlich, wie der Irrsinn in der Welt überhand nimmt!« sagte er beinahe feierlich. »Überall müssen neue Anstalten gebaut werden, Und nun kommt solch ein Unglück gar noch in unsrer Familie vor!«

Alle Köpfe hoben sich mit verdutzten Blicken. »In unsrer Familie?!«

Selbst Salome sah ernst aus. »Was heißt das, Papa?«

Welfen staubte bedächtig die Zigarre ab, und Mamsell, die Wulf half, den Frühstückstisch abdecken, wurde ganz blaß und preßte jählings einen Teller mit Honigresten gegen die Brust.

»Ihr wißt's noch nicht?« forschte der Hausherr.

»Nein!« Tiefe Stille.

»Der arme Vetter Eylau aus Berlin.«

»Männe Eylau?! – Barmherziger Himmel!«

»Ein bißchen verdreht war er immer!« nickte der Landrat.

»Tatsächlich geisteskrank?«

»Unheilbar.«

»Gewiß überarbeitet?«

»Fraglos. Armer Junge. Steckt vielleicht schon in der Zwangsjacke, denn alle Anzeichen für Tobsucht sind vorhanden!«

Mamsell ließ vor Schreck den Honigteller fallen; er glitt sanft Miß Dollys Rücken herunter, und Wulf fing ihn noch geschickt auf.

»Grauenvoll! –«

»Woher weißt du es denn, Papa?«

»Brief.« – Welfen stieß das Wort kurz durch die Zähne hervor und paffte eine dicke Dampfwolke. Sein Blick zuckte zu zu Salome hinüber. Sie blieb auch jetzt ganz harmlos und sagte nur: »Sicherlich ist die Musik daran schuld, die fällt so auf die Nerven! Wo ist er denn jetzt, Papa?«

»Weiß nicht. Wohl möglich, daß er schon in einer Anstalt ist, manchmal haben ja aber gerade diese Kranken ein sehr feines Gefühl für ihre drohende Überführung und entwischen den Ärzten, die sie transportieren sollen!«

Mamsell trocknete sich mit der Schürze den Angstschweiß von der Stirn, sie graulte sich so furchtbar vor den Tollhäuslern.

In den Hof rollte ein Wagen.

»Wer kommt denn? – Vielleicht der Doktor?«

Alles schaute und lauschte.

Stimmen wurden laut, Schritte klangen auf dem Kies, und um die Ecke des Hauses bog eine hohe, hagere Jünglingsgestalt im wehenden grauen Havelock, gefolgt von Bachmann.

Der Fremde blickte zur Veranda herauf und schwenkte sehr ungestüm den Hut – gleicherzeit aber ein lauter Aufschrei der Frau von Welsen: »Da ist er! Vetter Eylau!«

Erschrocken sprang die ganze Gesellschaft auf. Die Damen mit gellendem Schreckensschrei, die Herren im ersten Moment fassungslos.

Am lautesten zeterte die Mamsell, sie ließ das ganze Kaffeebrett fallen, fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft und raste wie von bösen Geistern verfolgt, davon.

Vetter Eylau stand vor Entsetzen wie angewurzelt, Welfen aber flüsterte drohend durch die Zähne: »Ruhig! Keiner rührt sich vom Fleck und läßt den Unglücklichen ahnen, daß wir von seinem Zustand wissen. Wir haben jetzt kein anderes Mittel, als ihn durch List einzufangen! Also ruhig Blut!«

Und er schritt dem Gast eilig entgegen und reichte ihm herzlich die Hand. »Aber Männe! Du kleiner Schäker! Was sind denn das für Witze? Uns derart zu überraschen! Die Damen sind ja ganz nervös geworden über eine so unvermutete Erscheinung!!«

Eylau schüttelte lachend die dargereichte Hand. »Grüß dich Gott, lieber Onkel! Ja zum Teufel, überrasche ich denn? Ist etwa mein Brief mit der Anmeldung nicht eingetroffen?«

Frau von Welfen sah etwas blaß aus, aber sie begrüßte den Neffen auch sehr herzlich, und die anderen traten ebenfalls zaghaft herzu.

»Dein Brief? – Nein, ein Brief von dir ist nicht eingetroffen!«

»Seltsam –! Habe doch vorgestern abend geschrieben!«

»Nun, dann kann er noch nicht hier sein!« lachte der Major und klopfte dem jungen Mann beruhigend auf die Schulter. »Gestern war Sonntag! Also kommt er erst heute nachmittag mit der Post an!«

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Der Landrat trat mit Joachim herzu und bat, die Herren bekannt zu machen. Welfens scharfer Blick ruhte forschend auf dem Neffen, als er Borns Namen nannte, und die beiden Nebenbuhler sich die Hand reichten. Siegfried ahnte noch nicht den Entführer, den Wolf im Schafspelz in ihm.

Eylau versicherte mit höflichsten Worten, wie es ihn freue, den neuen Verwandten kennenzulernen, er habe sich seinerzeit herzlichst über die Verlobung gefreut und würde gern zur Hochzeit gekommen sein, wenn er sich nicht auf Reisen befunden hätte!

»Dieser Heuchler! Dieser Erzschelm!« dachte der Major ingrimmig, »wie er sich verstellen kann! Aber das ist so recht bezeichnend, wie schlau und raffiniert die Verrückten sind!«

Frau Dora bat, Platz zu nehmen. Wulf sammelte die Scherben von der Erde auf, und bekam Befehl, ein Frühstück für den Herrn Referendar zu servieren.

»Das bist du doch, Manne, nicht wahr?« fragte sie freundlich ihren Gast. »Dein Examen machtest du ehemals!«

»Allerdings, liebe Tante!« bejahte der junge Mann höflich und warf den grauen Havelock ab, seine lange, sehr dürre Gestalt erschien in gemäßigtem Gigerlkostüm, welches ihn wie ein Sack umschlotterte. »Ehe ich mich der Musik zuwandte, war ich schon die erste Staffel auf der Ministerleiter emporgeklettert.«

Er ließ sich nieder, und Welfen und Born drängten sich von jeder Seite geschickt neben ihn, während die Damen alle an einer Ecke des Tisches zusammenrückten. Die Herren bezogen die Wachtposten neben dem Tobsüchtigen.

»Und das Studium der Musik sagt dir zu?« fuhr Welfen fort.

Eylau zuckte die Achseln. »Es ist rasend anstrengend. Es konsumiert Nerven wie kein anderes – und ich muß leider selber eingestehen, daß ich in letzter Zeit sehr nervös und zerstreut geworden bin! Die kleinste Kleinigkeit regt mich auf!« Man wechselte allgemein sehr einverständnisvolle, scheue Blicke. – »Und die Stellung als Dirigent mußte ich aufgeben, weil ich tatsächlich nicht die Kraft hatte, die Anstrengungen zu bewältigen.

Tag und Nacht nur Noten, Melodien – Orchesterspektakel im Kopf, das war rein zum Verrücktwerden!«

»Ach Gott!« schrie Rose erschrocken auf, und Salome und Mißchen faßten sich krampfhaft bei der Hand.

»Sie haben schon selbständig dirigiert?« fragte der Landrat höflich. »Davon wußten wir ja nichts!«

Eylau machte ein paar heftige Bewegungen mit seinen langen Armen. »Das versteht sich, habe den Taktstock tapfer geschwungen!« lachte er, »man erzählt sich sogar eine Anekdote darüber! Als der erste Kapellmeister von dem Komitee die Anschaffung von fünfundzwanzig neuen Taktstöcken verlangte, wurde er ersucht, ein solch seltsam unbescheidenes Verlangen zu motivieren, er tat es in lakonischster Weise: ›Taktstock von Holz – Pult von Eisen – Eylau sehr nervös!‹ – – Ich hatte in der Tat in sehr kurzer Zeit fünf Taktstöcke zerhauen!!«

Allgemeine Heiterkeit, sogar die Damen gewannen es trotz ihrer Angst über sich, mitzulachen. Wulf deckte und trug das Frühstück auf, und hinter der Hausecke lugten die ängstlichen Gesichter des Küchenpersonals hervor, das den »verrückten Tollhäusler« sehen wollte.

»Na und sage mal, mein guter, alter Junge, wie kamst du auf die Idee, uns hier einmal zu besuchen?« forschte der Major gemütlich.

»Ja, Onkelchen – ehrlich gestanden – kam das sehr plötzlich.« – Männe langte wacker zu und belegte sich ein Brot mit Schinken. – »Weißt du, wenn man als Rentier in der Residenz lebt, und viel verkehrt, klexen sich einem alle möglichen Freunde an, die man nie gerufen hat, und die man nicht wieder los wird – gleich den klassischen ›Geistern‹! So ging es mir mit einem jungen Doktor. Der Kerl lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen und nassauerte überall herum. Er hatte es auf mich ganz besonders abgesehen. Verschrieb mir ein paarmal Phenacetinpulver gegen meine Kopfschmerzen und seit der Zeit klebt er! Wo ich ging und stand, war der Herr Doktor hinter mir –« abermals wechselten die Umsitzenden sehr bedeutungsvolle Blicke – »ich mußte überall die Zeche bezahlen, und weil ich das anfangs gutmütig tat, zog der verfluchte Kerl sogar noch in dieselbe Pension, wo ich wohnte und wurde vollends mein Schatten!«

»Ein Irrenarzt?« flüsterte Rose schreckensbleich ihrem Nachbar Joachim zu, und dieser nickte.

»Na, ich sagte dem Monsieur endlich, als mir die Sache zu bunt wurde, ich müßte verreisen! – ›Wohin? – ich begleite Sie!‹ Na das fehlte mir noch. Zu Verwandten! ›Wo wohnen die?‹ Ich gab selbstverständlich eine falsche Adresse an, sagte in Schlesien, bei Breslau! ›Ach, das trifft sich brillant! In Breslau wohnt meine Großmutter, die ich gern besuchen möchte! Bester, teuerster Eylau, Sie müssen mich mitnehmen! Als Leibmedikus – als Kammerherrn – als Stiefelputzer – ganz egal, wenn ich nur mitkomme!‹ – Na, da saß ich schön in der Tinte; aber kurz entschlossen – ich überlistete ihn und kniff ihm aus. Hierher zu euch. – Wenn er mich hier auswittert, ginge es mit Teufelsspuk zu, denn ich habe alle Vorsichtsmaßregeln gebraucht. Hätte ich dem Kerl nur grob werden können! Aber dazu bin ich leider zu gutmütig, und darum beutete er mich aus. Na, Gott sei Dank, ich bin ihn los – und ihr habt mich dafür auf dem Halse! Prost meine Herrschaften! Auf Ihr Wohl!«

»Ich muß sofort an den Arzt telegraphieren!« raunte Welfen seiner Frau ins Ohr, und dann forschte er liebevoll, wie dieser gräßliche Mensch geheißen und wo er wohne.

Männe riß den Filzhut vom Kopf und knöpfte sein Jackett auf. »Puh, diese Hitze! – Ihr Damen habt es gut in euren leichten Kleidern! Oh, ich hasse die Hitze! Sie steigt mir gleich zu Kopf. Und dabei bin ich doch gar nicht dick. Übrigens, Kusinchen Salome – du bist eine reizende kleine Frau geworden – und du, liebe Rose, ein entzückendes Mädel! Ich bin Blumenfreund – ich bete das ewig Weibliche an! Und doch habt ihr mir noch nicht einmal eine Hand gegeben! Das war doch früher nicht so? – He?!« – und er streckte seine langen Arme rechts und links über den Tisch und bot den Kusinen die langfingrigen Hände.

Beide wichen entsetzt zurück. Aber Joachim hauchte Rose hinter dem Schnupftuche zu: »Um Gottes willen, reizen Sie ihn nicht!!« – worauf die Kleine ihm ihr zitterndes Händchen reichte.

»Ich trinke dich, himmlische Frühlingsluft! Die Rose, sie sei mein Becher! Es wallet empor ein berauschender Duft, ach ich fröhlicher, seliger Zecher!« sang Männe plötzlich mit schmetternder Stimme, hob abermals das Weinglas und leerte es. Dann fuhr er plötzlich mit den Händen nach dem Kopf: »Oh, diese verdammten Melodien! Immer spuken sie einem im Kopf herum – gleich kommen die Stiche! – Hätte keinen Wein trinken sollen, die Eisenbahnfahrt und die Extrapost hierher haben mich sowieso schon aufgeregt und nervös gemacht!«

Frau von Welfen erhob sich: »Dann wirst du gewiß gern ein wenig ausruhen wollen!« sagte sie hastig, »entschuldige mich einen Augenblick, ich will dein Zimmer zurecht machen lassen!«

»Wir helfen dir, Mama!« – Die Damen sprangen wie erlöst empor und drängten sich nach. Herr von Welfen aber flüsterte hastig seiner Frau zu: »Ein möglichst entlegenes Parterrezimmer – am besten den Saal – da kann er nicht viel demolieren!«

Und dann flüchteten Mutter, Töchter und Mißchen in das Haus.

Allmächtiger Gott, diese Angst! – Mamsell war ganz verzweifelt, das weibliche Küchenpersonal schluchzte hoffnungslos in die Schürzen. Mamsell hatte erzählt, was so ein Wahnsinniger schon angerichtet habe, das Haus in Brand gesteckt, die Menschen ermordet, alle Sachen kurz und klein geschlagen, und keiner könne solch einem Menschen beikommen! Nun wurde in dem Saal ein Bett aufgeschlagen und ein Waschtisch herzugebracht!

»Aber um Gottes willen kein Wasser in die Karaffen!« jammerte Mamsell. »Die Tollen können kein Wasser sehen, dann werden sie gleich wild! 's ist wie bei der Hundswut!«

»Alle Sachen aus dem Zimmer herausschaffen, die er demolieren könnte!«

»Schließe die Nebentüren ab und nimm die Schlüssel an dich, Salome!«

»Ach Gott, die Küche liegt gerade hier drunter! Wir werden den ganzen Spektakel am schrecklichsten hören!«

»Und er bekam schon die Stiche im Kopf!« rang Rose die Hände. »Das bedeutet sicher einen Ausbruch!!«

»Wenn er sich nur nicht mördert!« flüsterte Mißchen, »es darf nicht sein hier eine Messer oder Strick!!«

»Unbesorgt! Wenn wir ihn erst glücklich hier in das Zimmer hineingelockt haben, ist er ja sicher eingesperrt, und dann telegraphiert Papa an den Arzt – und wir lassen noch den Doktor aus Feldheim holen – –«

»Mama – sie kommen schon mit ihm! Sie kommen!«

Laut aufkreischend stürzten die Mägde und Mamsell zur Tür hinaus, die jungen Damen folgten in blinder Hast, und nur Frau von Welfen erwartete mit blassen Lippen den unheimlichen Gast.

Die Herren nahten heiter plaudernd.

»Eylau will sich gleich ein bißchen legen und noch vor Tisch etwas schlafen. Sein Kopfschmerz meldet sich, und dem möchte er rechtzeitig vorbeugen.«

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»Ach ja, liebe Tante, ich kann das Eisenbahnfahren gar nicht vertragen!« stöhnte Männe und wühlte die Hände in das Haar; »aber ich denke, ein Stündchen Ruhe macht alles wieder gut!«

»Ganz gewiß, mein armer Junge, lege dich nur hin und schlafe tüchtig aus!«

»Zum Essen brauchst du ja heute nicht zu kommen, wir heben dir auf! Vor allen Dingen schlafe!«

Dann zogen sich die Gastgeber zurück. Hoch aufatmend drehte der Major den Schlüssel herum und zog ihn ab. »So, der wäre besorgt und aufgehoben, nun schnell die Depesche aufgesetzt und Hilfe geholt.«

»Wenn man nur eine Zwangsjacke herbeischaffen könnte!«

»Zur Not telegraphieren wir um Hilfe in die nächste Irrenanstalt.«

Auf leisen Sohlen entfernte man sich.

Währenddessen schritt Herr von Eylau langsam in seinem Zimmer auf und nieder. Staunend musterte er das große, kahle Gemach, das ein Speise- oder Tanzzimmer zu sein schien. Es war so gut wie gar nicht möbliert. Nur das Bett stand an der Wand, ein Stuhl daneben, seitlich der Waschtisch und am Fenster ein alter Korbsessel mit einem Rauchtischchen davor. Etliche Zeitungen lagen auf dem Fensterbrett. Seltsame Einrichtung für ein derart komfortables Gutshaus wie Jeseritz.

Allerdings war ja zur Zeit noch mehr Logierbesuch anwesend, und er, Eylau, kam überraschend. Tat er recht daran? – Ihm blieb wirklich kein anderer Ausweg, sich vor der klettenhaften Zudringlichkeit seines Verfolgers zu retten. Eigentlich hätte er dem Onkel die volle Wahrheit sagen sollen, daß er den Kerl für einen Hochstapler und Schlepper für eine geheime Spielhöhle hielt, aber dann hätte der gestrenge Moralist sofort die Nase gerümpft und gefragt: »Wie ist es möglich, daß ein anständiger junger Mann überhaupt in solche Gesellschaft hineingerät!«

»Du lieber Gott! – Wie kannte man hier in dem einsamen Jeseritz das Sodom und Gomorrha einer Großstadt?«

Der ehemalige Referendar schritt unruhig auf und nieder. – Er hatte noch keine Ruhe, um sich niederlegen zu können, seine Migräne war im Anzuge, das fühlte er.

Oh, diese Eisenbahn! Er hatte sie seit jeher gehaßt, und seine Nerven waren empfindlicher als je.

Sehr unangenehm, gleich als Patient hier im Hause aufzutreten. Das beste würde sein, er beugte den unleidlichen Kopfschmerzen vor, nahm ein Pulver, legte ein nasses Tuch auf den Kopf und versuchte zu schlafen.

Ruhig schien es ja im Hause zu sein, und im Garten klingelte weder die Pferdebahn, noch dröhnten die Lastwagen oder rasselten Droschken und Equipagen, nur die Vögel zwitscherten in dem Blütenmeer der Bäume!

Eylau trat an das Fenster und blickte entzückt in die Frühlingspracht hinaus. Er strich langsam mit der Hand über das farb- und fleischlose, schon jetzt von zahllosen Rinnen durchzogene Gesicht. Es lag zumeist der wehleidige Ausdruck verzärtelter Weichheit darin, etwas krankhaft Altes, das gewaltsam vertuscht werden soll. – Er tat gern forsch, aber er war es nicht –- im Gegenteil, er gehörte zu den ängstlichsten und mißtrauischsten Menschen, die es gab, und seine Sorge um sich selbst war die Wurzel seiner Nervosität. – Er entfloh nicht aus Geiz oder Widerwillen vor seinem zähen Freunde, sondern lediglich aus Angst. Er traute ihm nicht. Er witterte einen Dieb, einen Mörder in ihm, der ihn ausbaldowern wollte. Er war so leicht mißtrauisch und wurde dadurch furchtsam. Seine Phantasie malte ihm stets die schrecklichsten Möglichkeiten aus.

Auch jetzt, als er voll eitel Wohlbehagen in den Park hineinschaute, wand sich die Schlange durch das Paradies.

Er sah, wie Bachmann und ein alter Gartenarbeiter, die beschäftigt waren, den Rasen zu sprengen, ihn bemerkten, und wie sie sofort die Köpfe zusammensteckten und ganz sonderbare Mienen aufsetzten. Sie sprachen über ihn – und zwar nicht in wohlwollender Weise, das sah man.

Und nun kam noch ein Weib dazu – sie deuteten verstohlen nach seinem Fenster, und die Alte fuchtelte wie besessen mit den Armen durch die Luft, dann wieder stellte sie sich hin und glotzte ihn hinter einem Busch hervor an, wie man ein Ungeheuer mit haarsträubendem Entsetzen mustert.

Was sollte das bedeuten? Eylau fuhr schon wieder ganz nervös empor und suchte nach einem Spiegel, ob er irgendetwas Absonderliches an sich habe? –- Eine schwarzgefärbte Nase oder dergleichen ...! Aber er fand keinen Spiegel in dem Zimmer.

Warum waren alle Menschen so wunderlich? Die ganze Frühstücksgesellschaft benahm sich so eigentümlich, und die Dienerschaft war vollends wie von Sinnen! Seine Schienbeine taten ihm noch weh von dem Kaffeebrett, das das alte Trampeltier von einer Mamsell dagegengefeuert hatte. So etwas furchtbar Außergewöhnliches konnte doch ein überraschender Besuch auf dem Lande nicht sein! – Je nun, mochte es sein wie es wollte, Aufregung und Nachdenken verschlimmerten die Migräne.

Eylau nahm ein Pulver und wollte einen Schluck Wasser hinterher trinken. Aber die Flasche war leer. »Tolle Wirtschaft!« brummte er. Und nun legte er sich sein Taschentuch als Kompresse zurecht und wollte es in kaltes Wasser tauchen.

Er hob die Waschkanne. Sie war federleicht und ungefüllt.

»Verfluchte Wirtschaft! Können doch wissen, daß man sich als erstes nach der Reise wäscht! – Aber die Dienstbolzen scheinen hier eine nette Sorte zu sein!« – Dabei fühlte er, wie ihm Ärger und Erregung das Blut nach dem Kopfe trieben, wie seine Galle bereits anfing zu arbeiten.

Er sah sich nach einer elektrischen Klingel um. Is nich – umsonst! – Vielleicht ein Klingelzug? Auch nicht. – Na dann nur zur Tür hinausgerufen!

Er gewann mit großen Schritten die Schwelle und drückte auf die Klinke.

»Na? – Zum Teufel Donnernw... wie geht denn dies verdammte Schloß auf? Er ratterte – drückte – schob daran ... umsonst. Die Tür öffnete sich nicht. – Die Zornesröte auf seiner Stirn vertiefte sich.

Er nahm die Faust und klopfte. – Erst leise, dann lauter – schließlich donnerte und paukte er gegen die Tür.

Horch? – Huschten da draußen nicht Schritte? Jawohl, man hörte ihn und kam – aber man öffnete nicht. War denn die ganze Gesellschaft hier übergeschnappt?

»Bedienung! ... heda! ... Bedienung!« er schrie es aus Leibeskräften, und dann holte er den Stiefelknecht und paukte gegen die Tür, daß das morsche Holz in allen Fugen ächzte.

Draußen aber stand das ganze Personal an der Treppe und lauschte mit angstverzerrten Gesichtern, und Wulf meldete soeben den Herren auf der Veranda, daß die Tobsucht bei dem unglücklichen Herrn Referendar ausbreche.

»Sind die Fenster verwahrt, daß er nicht von dort ausbrechen kann?« fragte der Landrat hastig.

»Nein – daran hatte niemand gedacht!«

»So müssen die Außenläden vor!«

»Aber wie?«

»Es sind drei Fenster! Wir schleichen uns heimlich heran, lösen die Riegel leise und schlagen die Läden a tempo zu!«

»Ja, das ist das einzige! Gütiger Himmel, hört doch, wie der Unglücksmensch spektakelt! Es ist furchtbar! Die armen Damen!!«

Die drei Herren stürmten um das Haus herum und schlichen unter die Fenster.

Bachmann kam ihnen, zitternd vor Angst, entgegen.

»Alle guten Geister, Herr Major – hören Sie ihn?!«

»Schnell zurück auf Ihren Platz, Bachmann! Beobachten sie die Fenster, und sowie Sie sehen, daß er eines öffnen will, geben Sie uns ein Zeichen!«

Bachmann stürzte zurück auf den Rasen, neben seine Spritze und starrte auf die Fenster. Welch ein Höllenspektakel in dem Saal – jetzt klirrten auch schon Scherben!! –

Währenddessen empörte sich Eylau immer mehr gegen eine derartig nichtswürdige Behandlung. »Oh, ich will euch schon zwingen, mich zu hören!« dachte er, knirschend vor Wut, »ich will euch lehren, einen Gast zu ehren!« – und dabei nahm er Waschkanne und Waschbecken und schmetterte sie gegen die Tür. »Aufmachen!! – heda!! – verfluchtes Gesindel von Dienstboten! Aufmachen! – Onkel!! – Onkel!! – Hilfe!!!«

Aber es rührte und regte sich nichts, obwohl er deutlich Stimmengetuschel und Schritte von der Treppe her vernahm. Was tun? – Abwechslungshalber einmal aus dem Fenster schreien. – Vielleicht »Feuer!« – Das zog am Ende! – Und Eylau sprang mit ein paar mächtigen Hechtsätzen nach dem Mittelfenster, stieß den Riegel zurück und öffnete. In demselben Augenblick aber, als er sich hinausbeugen will, um Bachmann, dem Hornochsen, der wie angewurzelt dastand und herüberglotzte, zuzurufen, tat der Teufelskerl einen Pfiff durch die Zähne, richtete wie ein Besessener den Schlauch der Gartenspritze gegen ihn und – hui – brrrrrr – sauste ihm der kalte Strahl ins Gesicht, daß er hinten über taumelte und jählings auf der Erde saß!

Er stieß einen Wutschrei aus und wollte sich aufraffen, da knallte es plötzlich dreimal nacheinander, als ob Kanonen losgeschossen würden – ein Krach und Herr von Eylau saß im Dunkeln.

Himmelschockbombenelement!! – – Was war denn das? – Ah ... perfide! – rasende – himmelschreiende Gemeinheit! – Man hatte von außen die Fensterläden geschlossen.

Er war in ein Narrenhaus geraten – fraglos.

Ächzend rappelte er sich von der Erde auf. Das Wasser triefte ihm vom Kopf herunter, sein Anzug war quatschenaß, und der Fußboden schwamm.

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»Na – Wasser habe ich wenigstens!« philosophiert der maltraitierte Logierbesuch, der plötzlich sehr ruhig und todesmatt in der Dunkelheit hineinstarrte, »aber man hat eine merkwürdige Art hier im Hause, es zu servieren!«

Die Kälte auf dem Kopfe tat ihm wohl; das Taschentuch saugte sich am Anzug und von der Erde die Feuchtigkeit ab, »So, eine Kompresse haben wir auch; nun heißt es, sich in Geduld fassen, bis das Gutshaus von Jeseritz den abhanden gekommenen Verstand seiner Bewohner wieder gewinnt.«

Mit Gewalt richtete er hier nichts aus, das sah er ein. – Auch fühlte er sich wie zerschlagen an allen Gliedern; das Spektakelmachen hatte ihn furchtbar angestrengt, solche Übungen war er nicht gewohnt, und hier hatte er sich abgetobt, als habe er den Veitstanz. – Wenn nur das Bett nicht auch etwas von der Spritze abbekommen hatte!

Langsam schlurrend tastete sich Hermann mein Rabe nach der Lagerstatt.

Nein, sie war trocken. Gott sei Dank! Mechanisch streifte er den Rock ab, legt die Kompresse auf seine hämmernde Stirn und streckte sich aus dem Lager aus. – Mochte kommen, was da wollte – ihn schreckte und störte nichts mehr – er mußte schlafen. Tuck ... tuck ... tuck ... tropft das Wasser vom Fensterbrett und ein Tropfen rollte ihm aus dem Haar recht kalt ins Ohr hinein – Eylau schüttelte sich mit einem Märtyrerlächeln, seufzte tief und schmerzlich auf und schloß die Augen. Nur schlafen – schlafen!


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