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XIV.

Noch hatten sich die Brüder nicht entschließen können, den Nachlaß der Mutter zu ordnen, da aber die Zeit verstrich und Klaus seine Studien nicht länger unterbrechen konnte, so mußte auch dieser traurige Schritt gethan und die kleine Häuslichkeit aufgelöst werden. Die eigenen Möbel – sie bestanden nur in Bett, Liegsessel, Krankenwagen und einer Badeeinrichtung – welche Ines stets mit sich auf Reisen geführt hatte, sollten ebenso wie ihre Koffer und sonstigen Effekten nach Lichtenhagen geschafft werden.

Lina erhielt Kleider und Wäsche, und Josef öffnete soeben die kleine Schmuckschatulle, um noch ein wertvolleres, passendes Andenken für die treue Dienerin herauszusuchen.

Als er den atlasgepolsterten Deckel zurückschlug, fiel sein Blick auf einen geschlossenen Brief, welcher zu oberst auf den verschiedenen Etuis lag.

»An meinen Sohn Josef. – Nach meinem Tode zu öffnen.«

Aufs höchste überrascht und betroffen nahm Josef das letzte Vermächtnis der Mutter empor. Sein umflorter Blick weilte voll tiefen Schmerzes auf den geliebten Schriftzügen, und seine Hände bebten, kaum vermochte er das Siegel zu lösen.

Dann sank er schwer in den Sessel vor dem Schreibtisch nieder und las:

»Mein einzig geliebter Sohn!

Wenn meine Lippen für ewig verstummt sind und Dir keine Worte zärtlicher Liebe mehr sagen können, sollen diese Zeilen statt meiner zu Dir reden und Dir den letzten Gruß und den Segen Deiner Mutter bringen. Lange habe ich mit mir gekämpft, ob ich Dir schon bei Lebzeiten eine Mitteilung machen solle, welche ich gewissermaßen als Geheimnis vor Dir bewahrte; Dein überraschender Entschluß, Kleriker zu werden, ließ mich schweigen, denn für einen Mönch oder Geistlichen hatte meine Mitteilung keinen Wert. Gelangt dieselbe nach meinem Tode in Deine Hände, so ist nur einer Pflicht genügt; ich verhehle Dir aber nicht, mein Josef, daß mein heißestes Gebet täglich zu Gott fleht, daß Du nach Ablauf der drei Probejahre mir und der Welt zurückgeschenkt werden mögest. Gott verzeihe mir die Sünde – aber ich bin überzeugt, daß der Beruf eines Priesters Dich für die Dauer nicht befriedigen kann. Das Mutterauge sieht scharf, und das meine blickte in des Sohnes Herz. So ist es mir plötzlich wie eine seltsame Vorahnung, als ob dieser Brief noch zur rechten Zeit in Deinen Besitz gelangen würde. Laß mich beichten, Josef. Als ich meine zweite Ehe mit Sterley einging, that ich es um Deinetwillen. Während meiner ersten Ehe hatte ich nur an mein Glück, nicht aber an das meines Kindes, nur an die Gegenwart und nicht an die Zukunft gedacht. Ich hatte weder gespart noch gesorgt für Dich. Das wollte ich in der zweiten Ehe gut machen. Ich dachte nicht mehr an mich, mein Josef, mein Leben war abgeschlossen; ich versagte mir alles Überflüssige, um für Dich zu sparen. Und es gelang mir. O, wie schwer wiegen in dem Hause eines Millionärs all die Brosamen, welche sonst sorglos in den Wind gestreut werden! Ich sammelte sie zu einem goldenen Berg. Mit den Jahren wuchsen sie zu einem beträchtlichen Vermögen heran, dessen Vorhandensein mich mit Ruhe und Zufriedenheit erfüllte, wähnte ich doch, daß der Besitz Lichtenhagen ohne Privatvermögen nicht gehalten werden könne. In diesem Briefe eingeschlossen liegt das Verzeichnis der Wertpapiere, welche als mein persönliches Eigentum in Bern auf der Nationalbank liegen. Die Depositenscheine befinden sich in dem versiegelten Packet zu unterst in diesem Kasten, ebenso alles Andere, was zur Hebung des Kapitals erforderlich ist.

Solltest Du, was ich inständig hoffe, den Beruf als Kleriker aufgeben und Lichtenhagen übernehmen, so wird Dir diese Erbschaft hochwillkommen sein, bleibst Du hingegen im Kloster oder wirst Du Weltgeistlicher, so daß eine legitime Nachkommenschaft ausgeschlossen ist, bestimme ich, daß mein hinterlassenes Vermögen an meinen Stiefsohn Klaus fällt, welchem Du dann wohl auch das Gut überlassen wirst. Ich betone noch einmal, daß besagtes Vermögen mein persönliches Eigentum ist, es sind die Ersparnisse von meinem Nadel- und Wirtschaftsgelde, sowie die Geschenke, welche James mir machte. Ich habe es für Dich gesammelt, und mein Segen ruht darauf. Walte Gott, daß es Segen bringe!«

Josef ließ das Briefblatt sinken, es wogte und wallte vor seinen Augen, alle Buchstaben tanzten wirr durcheinander.

Fassungslos, aufs höchste erregt, schlug er die Hände vor das Antlitz. »Mutter, Mutter, das thatest du für mich?«

Und dann kam es über ihn wie ein Rausch, wie ein Taumel ungeheuerster Aufregung. Ein Wunder hat sich begeben!

Er ist der Besitzer eines bedeutenden Vermögens geworden, er hat plötzlich Kapital in Händen, er vermag es aus eigener Kraft, die Kohlenlager von Lichtenhagen zu erschließen!

Diese Erkenntnis blendet ihn, läßt ihn bis zum tiefsten Herzensgrund erzittern, und als sich just die Thüre öffnet und Klaus über die Schwelle tritt, wirft sich Josef mit glühenden Wangen an seine Brust und schluchzt laut auf: »Lies, mein Bruder! Lies Klaus, was diese Stunde uns ermöglicht!«

Thränen glänzten an seinen Wimpern, ein wundersames Gemisch von tiefster Wehmut und Rührung, sowie von himmelhochjauchzender Dankbarkeit trieb sie in seine Augen. Wie ein Feuerstrom rann es durch seine Glieder, Er breitete die Arme aus wie einer, welcher durch Wetter und Frühlingssturm mühsam sich durchkämpfend, endlich des Lenzes lachende Gefilde vor sich sieht, wie einer, welcher die Welt anschaut, als habe sie ihm ihre verschlossenen Pforten neu aufgethan, wie einer, welcher mit blinden Augen irrend und ringend nach dem rechten Wege suchte und endlich ihn vor sich sieht, eben und sonnig wie eine Verheißung unendlich großen Glückes!

Auch Klaus empfand eine unbeschreibliche Herzensfreude bei diesem jähen Wandel der Geschicke, und Arm in Arm, mit leuchtenden Äugen schritten die beiden jungen Männer in dem kleinen Zimmer auf und nieder, die ersten, notwendigsten Schritte für die nächste Zukunft beratend.

»Ich kenne jetzt keine Zweifel und keine Unentschlossenheit mehr!« atmete Josef auf, »Die Frühlingsstürme meines jungen Lebens haben mich lange und grausam genug geschüttelt, nun ist ihre Macht zu Ende, auch sie weichen einem Wonnemond der Erlösung! Ich kehre nicht wieder nach K – burg zurück, ich scheide von einem kurzen Wahn, welcher für mich ein trügerischer war! Und dann eile ich nach Lichtenhagen, in rastlosem Fleiß die Hände zu rühren! Segnet der Allmächtige unser Werk, erweisen sich die Kohlenlager thatsächlich als Goldgruben, so sollen bald die Thränen derer trocknen, an welche wir eine so große Schuld abzuzahlen haben!«

»Josef!« Mit bebenden Armen umschlang Klaus seinen Nacken. »Das willst du wahrlich thun? Du willst dein Geld und Gut opfern, um den Makel von Vaters Namen zu waschen, welchen Betrug und Schlechtigkeit anderer ihm aufgebürdet? O Josef – wie soll ich dir solch einen Edelmut, solch eine Seelengröße danken?! Sieh, ich will dir nun gestehen, warum ich in deinen Augen so ehrvergessen war, die Einkünfte von Lichtenhagen für meine Studien anzunehmen, – ich wollte ein berühmter Mann werden, ein Makart, ein Menzel, deren Pinsel schließlich zum Zauberstab wird, welcher die Schatzkammern eines Sesam öffnet! Bei Gott, Josef, ich dachte dabei nicht an mich selbst, an Ruhm und Wohlleben; ich dachte an meinen armen Vater, dessen Ehre die Welt steinigt, der gebrandmarkt im Grabe liegt! Wie trostlos und peinigend war der Gedanke für mich, daß vielleicht erst ein halbes Menschenalter verstreichen müßte, ehe ich den durch die Firma geschädigten Menschen ihr verlorenes Geld zurückgeben könnte! Aber ich verzagte trotzdem nicht, und nun kommst du, mein Josef, und bringst mir Hilfe, wo ich sie am wenigsten vermutete! Gott lohne es dir! Und kann ich jemals im Leben dir zu Diensten sein, fordere alles von mir, alles, ich gebe es und bleibe dennoch dein Schuldner!«

Nie war die Freundschaft und gegenseitige Zuneigung der Stiefbrüder eine herzlichere gewesen als in diesen Tagen, wo ein gemeinsames Ideal beider Seelen erfüllte, wo sie Hand in Hand auf einem Wege ein und demselben edlen und hohen Ziele entgegenstrebten.

Josef richtete ein Schreiben an den Bischof und zeigte ihm seinen Entschluß an, aus der Reihe der Kleriker austreten zu wollen, und nachdem er den inhaltschweren Brief abgesandt, stieg er zum erstenmale wieder empor in die stille Waldeinsamkeit, an all den trauten Platzen seliger Erinnerung eine ernste Herzensfeier zu halten. Wie wunderbar verwandelt stand er jetzt an derselben Stelle, wo er vor wenigen Wochen noch als unstäter, ruheloser, gequälter Mann, bar aller Hoffnung, ohne jeden Glauben an sich selbst und seine Zukunft zusammenbrach. Damals stand er noch mitten in dem tosenden Kampfe mit den Frühlingsstürmen, welche seinen Lebensbaum schüttelten; heute hat er die finsteren Mächte bezwungen, er hat sich selber und sein innerstes Wesen, den ehedem so unverständlichen Durst seiner Seele nach Frieden und segenbringendem Wirken verstehen gelernt.

Es ist still um ihn her und in ihm geworden, die wohlthuende, gesegnete Stille, welche der Lenz atmet, wenn sich der Blütenkelch aus dem Dunkel der Knospe gerungen, wenn die Zeit angebrochen, wo die keimende Saat der Ernte entgegenreift.

Wie schwer ist es ihm geworden, den Weg zu finden, welchen Klaus seit Anbeginn vor Augen gesehen. Bringt denn nicht ein jeder Lebensfrühling seine Stürme mit sich?

Nein! So viele Menschen wie da wandeln, so viel verschiedene Wege, so viel verschieden Wetter! Hier Sonnenschein vom frühen Morgen bis zum späten Abend, – dort Sturm und Ungemach, Hagel und Frost, Hitze und Kälte!

– Und dennoch ein Winterschnee für alle, – ein Ziel und Ende.

Josef blickt lächelnd auf die weite, herrliche, glückselige Gotteswelt hinab. Der heutige Tag hat ihn neu geboren.

Sehnsucht und stilles, gläubiges Entzücken schwellt sein Herz.

»Charitas!« flüsterte er – »Charitas!« – und durch das Laub geht ein leises Säuseln der Antwort, ein duftiger Hauch, als sei sie ihm nahe in all ihrer leuchtenden Schöne und Jungfräulichkeit. Nun liegt kein Abgrund mehr zwischen ihnen. Josef wird mit starken Händen eine Brücke darüber schlagen und den Weg zu der Geliebten finden!

Soll er ihr schreiben? All den seligen Wandel seines Geschicks?

Nein. Charitas bat ihn, es nicht zu thun. Empfängt sie den Brief nicht, gelaugt er in falsche Hände, kann er ihr ganzes Glück gefährden.

Er will der Zeit harren, bis er ihr keine Hoffnungspläne, sondern Thatsachen berichten kann. Noch sind die Kohlenlager von Lichtenhagen ein Buch mit sieben Siegel, – und ehe ihr Geheimnis nicht erforscht ist, darf er nicht handeln wie ein Mann, welcher für seiner Hände Arbeit des Herzens süßen Lohn erheischt.

Noch ist sein Nest auf keinen sicheren Grund gebaut, noch liegt ein unbestelltes Feld vor ihm, welches alle Kraft, alle Gedanken, alle Zeit eines Mannes beansprucht, um urbar gemacht zu werden.

Rauscht aber sein Lebensstrom zwischen breiten, sicheren Ufern ruhig und glatt dahin, ist das Werk im Gange und winkt der sichere Erfolg, – hat er ein sicheres Fundament für fremdes Glück gebaut – dann darf er auch an das eigene denken, und dann soll Charitas dieses Glückes lichter Engel sein!

Wird sie dieses Tages harren?

Ja, sie thut es; sie liebt ihn, sie ist treu.

Wie er an sich selbst und seine wandellose Liebe glaubt, so glaubt er auch an die, welche für ihn zum Inbegriff menschlicher Vollkommenheit geworden.

Hier, in der trauten Waldeinsamkeit ist er mit allen Gedanken, mit all der tiefen, innigen Sehnsucht seines Herzens bei ihr. Dann aber heißt es mit klarem Auge und festem Sinn die wirren Fäden lüften, welche sich vorläufig noch über seinen Weg spinnen.

Aufs neue geht es in den Kampf! Aufs neue werden Stürme ihn umbrausen; diesmal aber ist es nicht mehr jener Aufruhr der Natur, welcher dem »Werde!« vorangeht, sondern die Wetterschauer, welche ein Sommer voll Wachsen und Gedeihen mit sich bringt!

Und Josef schüttelt leuchtenden Auges das lockige Haar in den Nacken, und hebt und dehnt tiefatmend seine Arme, – er fühlt voll jauchzenden Mutes ihre Kraft und vertraut ihr.

– – – Etwa vierzehn Tage waren vergangen, als Joses Antwort aus K–burg erhielt.

Der Brief enthielt mehrere Schriftstücke. Als erstes fiel ihm ein Schreiben des Bischofs entgegen, welches an den Abt von K–burg gerichtet war, und welches Josef hochklopfenden Herzens las. Es lautete: »Hochwürdiger Herr Abt, Dechant und Stadtpfarrer! Josef Freiherr von Torisdorfs, Theologe der etc. etc. Diözese, ging vor kurzer Zeit anläßlich des Begräbnisses seiner Mutter nach Hause, von wo aus derselbe ein Bittgesuch an mich richtete, in welchem er aus unbekannten Gründen mir seinen Austritt anzeigt und um seine Entlassung bittet. Zum geistlichen Stande möchte ich niemand zwingen, weswegen ich Ew. Hochwürden bitte, obengenannten Bittsteller verständigen zu wollen, daß ich sein Bittgesuch als angenommen erachte und ihn aus der Klerik hiermit entlasse. Seine Zeugnisse und Dokumente kann er von dem Rektor, welchen ich heute ebenfalls verständigte, herausverlangen, wenn er die vom Seminar erhaltene Reverenda zurücksendet. Sonst bin ich, mich Ihren andächtigen Gebeten empfehlend, Euer Hochwürden wohlwollender Oberhirt …† Paul Aegidius m. p.«

Josef starrte schwer atmend auf die Zeilen nieder, er empfand den Riß, welcher mit diesem Briefe geschehen, wie einen körperlichen Schmerz.

Er deckte für einen Moment die Hand über die Augen und fühlte es erst jetzt, wie tief schon all sein Denken und Fühlen in dem damaligen Beruf Wurzel geschlagen hatte.

Dies Loslösen that weh, und Josef schämte sich nicht eines Gefühls von Heimweh, welches ihn beschlich. Aber er überwand es, er las den Brief Duncaczys, obwohl er sich im voraus sagen konnte, daß derselbe in diesem Augenblick keine geeignete Lektüre für ihn war. Ja, der treue, väterliche Freund machte ihm das Scheiden schwer, und dennoch deuchte es dem Lesenden, als spreche eine gewisse Resignation aus den Zeilen, als habe Duncaczy kaum noch auf die Rückkehr des jungen Mannes gerechnet. Er beklagte Josefs Austritt aus tiefstem Herzen, aber er zürnte ihm nicht. »Besser ein guter Soldat, als ein schlechter Priester!« sagte er zum Schluß, wohl in der Annahme, daß ein Torisdorff zur Fahne zurückstreben müsse. »Wer nicht den Beruf eines Seelenhirten gleich heiliger Mission empfindet, der soll weltlich bleiben, denn ein scheinheiliger und sittenloser Priester schadet der Kirche und Religion mehr als hundert Atheisten mit ihrer ehrlichen Gottesleugnung!«

Wieder und wieder las Josef diese Zeilen, und sein Auge leuchtete auf, und sein Herz ward still – was er am meisten gefürchtet, hatte Gottes Gnade ihm erspart – seine Freunde hatte er nicht verloren.

Noch einmal blickte er voll Wehmut auf die Reverenda, ehe er sie einpackte. Sie war eine jener dunklen Wolken gewesen, welche der Frühlingssturm vor die Sonne treibt – nun wich sie ihrem Glanz.

Auch dies war ein bitteres Scheiden, kein Tropfen seines Kelches ward dem jungen Mann erspart. Und als er, versunken in seine Gedanken, vor dem lieben, ernsten Kleide stand und seine Hand wie in zärtlichem Segensgruß immer wieder darüber hinstrich, da tönte plötzlich vor dem Fenster ein seltsames Geräusch, das scharfe Knirschen eines Spatens, welcher in die Erde stößt.

Josef zuckte empor, die Reverenda sank aus seinen Fingern in die Kiste nieder, das Papier raschelte darüber hin.

Torisdorff aber trat an das geöffnete Fenster, an dasselbe, von welchem aus er damals in die dunkle, blitzdurchzuckte Gewitternacht geschaut.

Der Gärtner grub drunten ein Beet um, Josef aber sah im Geiste wieder das wundersam prophetische Bild seines Glückes.

Nun verstand er es! Die Arbeit und die opfermutige Barmherzigkeit! Sie stehen vor ihm und winken ihn in das Leben zurück! Frische, klare Luft streicht um seine Stirn, und Josef hebt freudig das Haupt und schaut diesem neuen Leben voll mutiger Zuversicht entgegen!

Die Zukunft hat ihm ihre goldenen Thore weit aufgethan, und das Vergangene liegt hinter ihm wie ein schwerer Traum.

 

Der Schnellzug fuhr in die große Glashalle der Residenz ein, und Josef betrat wiederum die Stadt, von welcher er für ewige Zeiten hatte Abschied nehmen wollen.

Wie anders wür alles gekommen.

Hochaufgerichtet, voll strahlender Freudigkeit schritt er durch die Straßen, und die Leute sahen überrascht in das schöne, energische Antlitz, welches so gar nichts von der Unzufriedenheit, dem Mißmut und der Nervosität des fin de siècle an sich hatte, sondern mit so hellen Blicken um sich sah, als habe er mit dem Glück einen ewigen Kontrakt geschlossen!

Und das hatte er auch!

Die Bohrungen hatten in Lichtenhagen stattgefunden, uud die Kohlenlager erwiesen sich als derart umfangreich, daß ihr Besitzer sich schon jetzt als sehr reicher Mann betrachten konnte.

Der junge Freiherr entwickelte eine fieberhafte Thätigteit, um die Bergwerksanlagen zu schaffen und so bald wie möglich in Betrieb zu setzen. Ein ungeheures Leben und Treiben begann in dem ehedem so stillen Lichtenhagen, und es deuchte Josef eine besondere Annehmlichkeit, daß das alte Gutshaus weit ab von all dem Getriebe lag, welches sich hauptsächlich auf dem Vorwerk Krembs entwickelte. Von früh bis spät war Torisdorff auf dem Arbeitsfelde thätig.

Er beaufsichtigte die Bauten, welche aufgeführt wurden, er stand dem Ingenieur zur Seite, ja er griff oft mit heißen Wangen selber zu Hacke und Schaufel, um persönlich Hand an das Werk zu legen.

Die Geschäfte führten ihn oft in die Residenz, so wie heute, wo er eilig durch die Anlagen schritt, welche der Spätherbst bereits entblättert hatte.

Die Luft pfiff ihm bitterkalt entgegen, kleine frierende Kinder trollten an ihm vorbei, die Händchen in die Schürze gewickelt, Ohren und Nase rot gefroren.

Die Wolken hingen so grau und schwer an dem Himmel, als wollten sie jeden Augenblick ein Schneegestöber herabschütten, und Josef gedachte der schweren Zeit, welche jetzt für die Armut hereinbrach.

Er seufzte tief auf, eine sehnende Ungeduld erfaßte ihn.

Ach, daß er schon jetzt hätte helfen können, daß er schon jetzt die Not derer zu lindern vermochte, welche der Bankrott der Firma Sterley zu Bettlern gemacht.

Seit dem Tode seiner Mutter ward nur die Hälfte der Lichtenhagener Rente von Klaus verbraucht, der Teil der Verstorbenen stand ihm zur Verfügung, und wie sicher voraus zu sehen war, genügte das ererbte Barvermögen vollständig zur Deckung des Betriebskapitals.

Ein jäher Gedanke durchzuckte den Freiherrn.

Mit dieser disponiblen Rente ließen sich gar viele Wohlthaten erweisen und mancher dringlichen Not könnte dadurch schon gesteuert werden.

Wahrlich, da ist keine Zeit zu verlieren!

Schnell entschlossen bog Josef in eine Querstraße ein, wo ehemals der eine der Konkursverwalter gewohnt hatte.

Richtig, noch glänzte das Weiße Porzellanschild mit Namen und Titel zur Seite der Hausthür, und Torisdorff betrat hastig den hohen, kasernenartigen Bau, dessen schmaler Hof mit den Hintergebäuden schon auf den ersten Blick all das Elend der Großstadt und ihrer kleinen Leute spiegelt.

Rechtsanwalt Hagborn empfing den jungen Gutsbesitzer etwas überrascht, und, wie es Josef schien, nicht mit dem verbindlichsten Gesicht.

»Darf ich Ihre Zeit für einen Augenblick in Anspruch nehmen, Herr Rechtsanwalt?«

Der alte Herr wies höflich auf einen Sessel. »Ich darf Ihnen gratulieren, Herr vou Torisdorff!« sagte er mit einem seltsamen Zug um die Lippen. »Die Zeitungen melden von neuentdeckten Kohlengruben in Lichtenhagen, welche ungeheure Reichtümer bergen sollen! Nun, da werden die Verluste, welche Sie durch die Insolvenz der Firma Sterley erlitten haben, schnell wieder ausgeglichen sein!«

»Das hoffe ich zu Gott, daß ich alle Verluste, welche die Gläubiger meines Stiefvaters betroffen haben, mit der Zeit daraus decken kann!«

Der Rechtsanwalt horchte hoch auf. »Wie, Herr von Torisdorff, Sie beabsichtigen –?«

»Die Schuld meines Vaters abzutragen, Herr Hagborn, und heute bereits einen schwachen Anfang damit zu machen, ist die Veranlassung zu meinem Besuch.« Josef streifte die Handschuhe ab, und begann, mit einer gewissen Hast seine Pläne klar zu legen, und je länger er sprach, desto heller glänzten ihn die Augen des alten Herrn unter den weißbuschigen Brauen an. Seine ganze Haltung, sein ganzes Wesen war plötzlich verwandelt, und als er Josef schließlich beide Hände entgegenstreckte, ihm mit warmen Worten seine herzliche Freude und Anerkennung über solch edles Vorhaben auszusprechen, da lag ein solcher Respekt in seiner Haltung, als habe sich vor ihm aus dem unscheinbaren und beinahe mit Nichtachtung begrüßten Gast urplötzlich ein Mann entpuppt, vor welchem man den Hut bis auf die Erde zieht,

»Gewiß, es wird mir ein leichtes sein, sehr verehrter Herr von Torisdorff, Ihnen die genaue Liste über die Gläubiger des Mister Sterley zu verschaffen, welche viel – ja zumeist wohl alles durch den Bankrott verloren haben. O, es war ein namenloses Elend damals. Ich bin an dergleichen Scenen gewöhnt; aber ich werde es nie lernen, kaltblütig dreinzuschauen, wenn die Witwen und Waisen vor mir Thränen der Verzweiflung weinen!

Ja, da werden Sie manch unglückselige Existenz wieder erträglich gestalten können! Und was die Rente betrifft – so, ich weiß jetzt schon gar manche, welchen eine jährliche Unterstützung wie ein Geschenk des Himmels kommen würde! Schon die Geheimrätin hier im Hinterhaus! Du lieber Gott – sie haben damals auch das ganze Vermögen durch Sterley verloren! Der alte Herr starb infolge der Aufregungen an einem Schlaganfall, und die beiden Damen, Mutter und Tochter, blieben im äußersten Elend zurück.«

»Und die Damen wohnen hier im Hinterhause?«

»Und wie wohnen sie! Daß Gott erbarm! Ehemals eine Bel-Etage und allen Luxus – und nun kaum ein Kämmerchen und trocken Brot! Die Mutter versteht keine Handarbeiten und darf auch ihres Leberleidens wegen nicht viel sitzen, da geht sie als Kochfrau zu kleineren Leuten. Wie oft gibt's aber da Taufe oder Hochzeit! Es ist beim besten Willen nichts zu verdienen!«

»Und die Tochter?«

»O, Fräulein von Damasus ist eine ganz reizende, junge Dame! Ein herziges, kleines Wesen, welches von ihrer früheren Gesanglehrerin unentgeltlich weiter unterrichtet wird. Sie soll zur Bühne, ein anderes Auskommen wissen sie nicht, denn seit zwei Jahren suchen wir umsonst eine Stelle als Kinderfräulein für sie, – alle nehmen Anstoß an der adligen Geheimratstochter und meinen: so ein verwöhntes Dämchen paßt nicht zu uns! – Verwöhnt! Du lieber Gott, das hat sie längst vergessen! Und nun das feine, liebe Ding auf die Bühne! An einem guten Theater kommt sie doch nicht gleich an, also heißt es, erst in die Hefe untertauchen, und was das in einer Großstadt besagen will, wissen Sie, Herr von Torisdorff. Sie wird moralisch gemordet! Und dieser Gedanke frißt an dem Herzen der alten Dame und bringt sie schier zur Verzweiflung. Aber der Hunger thut weh...«

Josef war aufgesprungen und durchmaß voll höchster Erregung das Zimmer.

»Unmöglich! Es darf nicht sein! Da muß Abhilfe geschaffen werden, ehe es zu spat ist! Die entsetzliche Verantwortung – um keinen Preis darf es geschehen!« Und er preßte die Hand gegen die Stirn und seine Augen irrten wie in hilflosem Suchen durch das kleine Arbeitszimmer.

Plötzlich blieb er vor Hagborn stehen und blickte ihm forschend in die Augen.

»Glauben Sie wohl, Herr Rechtsanwalt, daß die Geheimrätin eine Stelle als Hausdame annehmen würde?«

»Mit Kußhand! Es heißt nur, eine finden!«

»Sie ist gefunden. Ich empfinde die Einsamkeit und Unwohnlichkeit des alten Lichtenhagener Hauses sehr unangenehm, ich wollte schon in der Zeitung eine ältere Wirtschafterin suchen, da die jetzige mir nicht zusagt. Es würde doppelt angenehm für mich sein, eine gebildete Dame zur Führung des Haushaltes zu gewinnen, und könnte Frau von Damasus bei mir bleiben, bis ich in der Lage bin, ihr das verlorene Vermögen zurückzuzahlen.

»Herr von Torisdorff! Diesen Gedanken gab Ihnen der barmherzige Gott ein!« jubelte der alte Herr, stürmisch die Hände des Sprechers fassend. »Die unglückliche Frau wird Ihnen auf den Knien danken! Aber die Tochter? Fräulein Rothtraut, was wird aus ihr?«

»Nun, sie begleitet die Mutter, sie geht ihr im Haushalt hilfreich zur Hand! Die Damen sind ja völlig ungeniert in dem Haus! Ich bin fast den ganzen Tag in Krembs draußen, werde mir jetzt eine provisorische kleine Wohnung im Inspektorhaus einrichten, um durch das viele Hin- und Herreiten nicht zu viel Zeit zu verlieren! Platz ist also mehr als genug, und wenn sie sechs Töchter mitbrächte!«

Der Rechtsanwalt sah wie verklärt aus. »Gott im Himmel, welch ein Glück, welch ein unerwartetes Glück! Was wird meine Frau sagen, die liebt die Damen so sehr; kommen Sie, lassen Sie uns gleich hinüber gehen, teuerster Herr von Torisdorff, solch eine Freude darf man den Armen keine Minute vorenthalten.«

Josef wich zögernd zurück. Wie ein Zug der Verlegenheit schlich es in sein Gesicht. »Mein Besuch würde den Damen vielleicht peinlich sein, bester Herr Hagborn, und bitte ich Sie um die Güte, die Angelegenheit allein mit der Geheimrätin zu ordnen. Freie Wohnung, ein Gehalt ... ja wieviel beträgt das? Ich bin absolut unerfahren darin! Bitte erkundigen Sie sich und bestimmen Sie alles Nähere! Wenn die Damen einwilligen, bitte ich um Nachricht in das Monopol-Hotel. Übermorgen reise ich zurück und würde mich freuen, wenn sich die Damen mir anschließen würden. Vielleicht läßt es sich arangieren, es wäre mir lieb!« – Noch ein kurzes, herzliches Lebewohl, und Josef stürmte mit hämmernden Pulsen die Treppe hinab.


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