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VIII.

Zwei Jahre waren vergangen.

Josef befand sich in K–burg und fühlte sich seinen Briefen nach zu urteilen, glücklich und zufrieden. Allerdings starrte Ines oft gedankenversunken auf die Zeilen, aus welchen sie viel mehr las, als der Schreiber wohl ahnte.

Durch all die eifrigen, beinahe allzu dringlichen Versicherungen, daß er hier die gesuchte Ruhe und eine ihn hoch befriedigende Thätigkeit gefunden, klopfte dennoch ein junges Menschenherz, an welchem ein heimlicher Gram nagte, in welchem ein ungestilltes Verlangen brannte.

Alle Einsamkeit, alles Studieren, alles Beten konnte die Erinnerung nicht löschen, und irgend ein geheimnisvolles Etwas in dieser Erinnerung quälte den jungen Kleriker noch ebenso, wie ehemals den Studenten.

Was aber war es – ? Was!?

Ines war krank, kränker wie je, und die rapide sinkenden Körperkräfte hatten auch den Geist ermatten lassen.

Sie hatte den Scharfblick verloren, eine müde Indolenz bemächtigte sich der Dahinsiechenden. Ihr Leben lag hinter ihr wie ein Traum, sie wischte die unangenehmen Jahre aus demselben fort, wie man eine störende Zeichnung löscht und klammerte sich mit all ihren Gedanken an eine Zeit, welche die Verkörperung alles Glückes für sie bedeutete.

Und in dem milden Dämmerlicht seiner Vergangenheit ging die Gegenwart unter. Selbst das Schicksal ihres Sohnes war nicht mehr die brennende Frage, welche sie ehemals Tag und Nacht beschäftigte. Sie hatte sich überzeugt, daß alles Menschenwerk nur unvollkommenes Stückwerk ist, daß unser Bemühen und unsere Plane Dunstgebilde im Hauch des Ewigen sind.

Sie hatte sieben Jahre an dem vermeintlichen Glück ihres Kindes gearbeitet, da kam Gottes Hand und stürzte über Nacht, was sie während dieser langen Zeit voll Fleiß und Opfermut ausgebaut.

»Meine Wege sind nicht eure Wege!« spricht Gott der Herr.

Nun hat sie den Lebensweg ihres Kindes ihm anheim gestellt.

Was ihr ein Unglück dünkt, wandelt sich unter der Führung des Herrn wohl zum Glück. Mag Josef darum ein Priester werden oder nicht, seine Mutter wird seine Pläne nicht mehr beeinflussen und nicht mehr zu kreuzen suchen.

Die Hände im Schoß gefaltet, wie ein bleiches, wesenloses Traumgebild liegt die Kranke in dem bequemen Rollstuhl, welchen sie kaum noch verläßt. Ihr Haar glänzt wie unter dem Rauhreif, welcher eine Blume traf.

Noch immer eine ideale Erscheinung, zart wie ein Hauch, vornehm und elegant bis in jede Regung ihrer wachsbleichen Fingerspitzen, träumt sie mit tief umschatteten, weit offenen Augen in den blauen Sonnenhimmel empor, welcher sich über Montreux und seinem leuchtenden See wölbt.

Die Alpen ragen voll stiller Majestät in die Sonnenglut empor, das Thal hat sein schimmernd weißes Narzissengewand abgestreift und sich in den duftig tiefgrünen Mantel des Juli gehüllt, berauschende Duftwogen strömen aus dem Garten der Printanière empor, in deren reizender Stille die Freifrau von Torisdorff Wohnung genommen.

Hierher hat man die Kranke vor dem allzu tropischen Klima Italiens geflüchtet, und nun steht ihr Rollstuhl auf dem großen, überschatteten Balkon, welcher ihre stille, einsame Welt bedeutet.

Niemand kennt sie in der Villa und auch sie kennt keinen.

Sie weiß nicht einmal, wer außer ihr unter diesem Dache wohnt.

Sie sieht niemand und wird nicht gesehen, weltfern, abgeschlossen von allem Verkehr, welkt sie einsam dahin. Wie eine Blüte, für welche der Herbst gekommen.

Seit vier Tagen ist Josef zum Besuch eingetroffen. Der Arzt hat ihm Mitteilung über den besorgniserregenden Zustand der Mutter gemacht und der junge Mann eilte unverzüglich zu der teuren Kranken, ihr den sehnlichsten Wunsch eines längeren Beisammenseins zu erfüllen.

Die ersten Tage saß er voll zärtlicher Liebe, die Freude des Wiedersehens in vollen Zügen genießend, neben dem Lager der Mutter, – wie viel gab es zu fragen, wie viel zu antworten! Und wenn die Lippe schwieg, so sprach doch das Auge all die Überfülle der Herzen aus.

Josef lebte nur für die geliebte Kranke, ihr kleines Reich auch zu seinem ausschließlichen Aufenthalt machend.

Voll Entzücken weilte Ines Blick auf dem stattlich schönen Sohn, bei welchem die Ähnlichkeit mit dem ritterlich eleganten Vater immer sprechender zu Tage trat.

Hoch und stolz aufgerichtet, kräftig entwickelt und in feinen Bewegungen voll ruhiger Sicherheit, glich er in nichts mehr dem blassen schmächtigen Jüngling von ehedem, sondern schien die Soldatennatur der Torisdorffs dennoch geerbt zu haben und sie selbst in Soutane und Cingulum nicht verleugnen zu können.

Die dunkelblaue Reverenda kleidete die schlanke Gestalt vortrefflich, das schmale, vornehme Antlitz mit dem tiefernsten, durchgeisteten Ausdruck schien die ideale Vorstellung zu verkörpern, welche sich der Leser von einem Ekkehardt bildet, und es gab in K–burg wohl manches Auge, welches voll warmherzigem Interesse der einnehmenden Erscheinung des jungen Klerikers folgte.

Ines seufzte oft heimlich und schmerzlich auf, daß diese herrliche Gestalt, welche in Uniform oder Tressenkleid sicher eine hervorragende Rolle auf dem Parquet gespielt haben würde, nun in klosterhafter Stille und Einsamkeit, freud- und lieblos dahinschwinden solle, aber sie blickte voll schwelgender Ergebung zum Himmel, und war andererseits auch Schwärmerin genug, die wehmütig ernste Poesie, welche gerade in dieser Priestererscheinung lag, schmerzlich süß im tiefsten Herzen zu empfinden.

Es war ein schwüler Tag gewesen.

Die Sommerhitze lastete auf dem blendenden Weinberggelände und der See flimmerte und kräuselte wie eine Schale voll kochenden Wassers, welcher heiße, lähmende Dünste entsteigen. Die Kranke fühlte sich besonders matt und ruhebedürftig und zog sich früher noch wie gewöhnlich zur Nachtruhe zurück.

Sie streichelte liebevoll die Hand des Sohnes.

»Du hast die ganzen Tage so still bei mir auf dem Balkon gesessen, Josi, und bist doch gewiß weite Spaziergänge und nervenstärkende Bewegung gewohnt! Wenn ich zum Schlafen gehe, fängt für andere Menschen erst die erquickende Zeit der Abendkühle und Erholung an. Willst du nicht auch einen Spaziergang machen, Darling? Sieh dir Montreux mit all seinem bunten Hotel- und Bazarleben an, es wird dich amüsieren und zerstreuen! Auch ein Gang nach Hotel Byron ist lohnend, und unser interessantes Visavis, Chillon, sahst du überhaupt noch nicht in der Nähe! Geh, du lieber, braver Krankenwärter, und erfrische dich in Gottes schöner Natur!«

Josef küßte die mageren, durchsichtig blassen Finger.

»Einen Spaziergang unternehme ich wohl gern, Mama, und da du mich hier nicht mehr gebrauchen kannst, folge ich deinem guten Rat, Im Thal ist es aber wohl noch allzu schwül und dumpfig, es zieht mich mehr hinauf in die Berge, wo die Freiheit wohnt!«

»Du mußt aber nicht zu weit gehen, daß du dich nicht verirrst.«

»Unbesorgt! Ich bleibe auf dem Weg, suche mir ein schönes Plätzchen und nehme ein Buch vor. Ich war erschreckend faul in diesen Tagen und doch macht die Dogmatika so viele Ansprüche an mich. So schlafe wohl, mein Herzensmutterchen, träume süß und ruhe gesund und ängstige dich nicht um deinen baumlangen Kerl von einem Sohn, welcher bei dieser Temperatur wahrlich keine Gelüste für weite Bergtouren verspürt!«

Wenige Minuten später stand er, ein Büchlein über Kirchenrecht und Seelenhirtentum in der Hand, auf dem Kiesplatz vor der Villa Printanière und überlegte, wohin er sich am besten wenden solle.

Seitlich auf einer unter Rosenbüschen versteckten Bank saß ein älteres Ehepaar, anscheinend in heftigem Wortwechsel, denn die scharfe Stimme der Dame klang im höchsten Diskant zu ihm herüber, während der kleine, etwas verwachsene Herr mit dem pergamentfarbenen Gesicht voll verbissener Wut leiser vor sich hin zu raisonnieren schien.

Mit einem instinktiven Gefühl höchsten Unbehagens wandte sich Josef ab.

Vor ihm lag, tiefer unten an der stattlichen Gartenmauer entlang führend, die Chaussee, bunt belebt von zahllosen Spaziergängern, Reitern, Wagen und Weinbergarbeitern. Es hastete, drängte, schob sich in farbigem Schwarm vorüber, Staubwolken wirbelten hinter einer Kavalkade eselreitender Engländer auf, und eine Pension junger Mädchen wand sich als Schlangenlinie, lachend und scherzend, jenseits des Eisenbahndamms am Ufer des Genfer Sees entlang.

Dieser Anblick eines lebensfrohen und üppigen Landschaftsbildes hätte wohl jeden anderen jungen Manu angelockt, sich in diese farbig heitere Gesellschaft zu begeben, und mit dem Strom von Lust und Scherz mitzuschwimmen.

Den weltfeindlichen jungen Kleriker berührte dieser Anblick jedoch unsympathisch, wie ihm jedwede Fröhlichkeit als frevler Übermut, jede vergnügte Miene als eine Larve für Leichtsinn und Treulosigkeit erschien.

Er konnte solche Gefühle des Frohsinns nicht mehr teilen, seit die Vergangenheit so schwer und qualvoll auf ihm lastete und ihm jede sorglose Stunde vergällte. Er empfand die Daseinswonne anderer Menschen wie einen Vorwurf gegen sich, der die Opfer des väterlichen Bankrotts im Elend und in der Verzweiflung belassen, anstatt ihre Thränen mit seinem Geld zu trocknen.

Dieser Wurm nagte noch immer an seinem Herzen und entfremdete ihn mehr und mehr einer Welt, welche ihm schließlich zum Zerrbild krankhafter Wahnvorstellung zu werden drohte. Mit düsterem Blick wandte er sich von der menschenbelebten Chaussee ab und blickte in das Blütenmeer des stillen Gartens hinein. Er schien seine Anlagen weit an dem klüftigen Berg empor zu schieben, wild romantisch lockten die Felsenbildungen zwischen den rankenden Gebüschen, durch welche sich, schäumend in schroff abstürzendem Lauf ein Bächlein zu schlängeln schien.

Welch ein tiefer, wonniger Frieden winkt da oben unter den rauschenden Baumkronen des Waldes! Welch einen Ausblick muß der Felsvorsprung gewähren, welcher sich, überwuchert von Brombeerranken durch das tiefe sammetige Grün schiebt! –

Hochaufatmend wandte sich Josef dem einsamen Weg zu und stieg rüstig bergan.

Anfänglich schlängelte sich der wohlgehaltene Sandweg des Gartens in mäßiger Steigung empor, Gebüsche von Laurostinos, wilden Rosen, Lebensbäumen und Tollkirschen, von Pyrus und starkduftendem Geißblatt, graziösen Mandelblütenzweigen und breitblätterigen Feigen säumten ihn, weiche Rasenflächen dehnten sich, von blühenden Blumen übersät, zu den Seiten, und dann ging die Kultur in anmutige Wildnis über, hochragendes Gebüsch bildete dichtere Gruppen, Felsgestein baute sich malerisch auf und dazwischen plätscherte und schäumte es voll kecker Wanderlust zu Thal, – das schmale Silberband des Bächleins, welches hoch von der Alpfirne niederflatterte!

Welch eine Luft! –

Balsamisch und erquickend wehte sie um die Stirn, geschwängert von dem Duft bitterlich aromatischer Kräuter und herber Bergblumen, von dem weichen Hauch des Waldodems, welcher noch den Kuß der Sonne trägt!

Drunten dehnt sich gleich azurnem Grund, über welchen magische Silberlichter schießen, der See, und aus ihm empor wachsen die gewaltigen, imposanten Bergriesen, überhaucht von zartem Dunstschleier, gezeichnet mit rosigen, violetten und goldfarbenen Tinten, schattiert vom flaumweichen Taubengrau bis zu dem düsteren Dunkel gähnender Schluchten.

Rein und klar zeichnen sich die Konturen gegen den Himmel, welcher über den Savoyer Alpen wie eine fleckenlose Krystallkugel schwebt, – drüben aber – von Lausanne herauf – steigt eine blaugraue Wolkenwand, einen schmalen tiefdunklen Schatten auf den Spiegel des Sees werfend.

Josef steht still und schaut voll trunkenen Entzückens auf die Pracht vor seinen Blicken, welche so weit, so gewaltig, so göttlich schön ist, daß alles Menschentum wie ein Atom in solcher Unendlichkeit vergeht!

Kein Laut steigt zu ihm empor, welcher daran mahnt, daß Menschenwitz und Menschentücke dieses Paradies entweiht! Die Welt ist schön überall – wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual! –

Und hier wohnt weltferne, zauberhafte schöne Einsamkeit! –

Josef steht und schaut sich satt an dieser lichten Gotteswelt, und sein Herz wird groß und weit, es wachsen ihm Flügel und tragen es hoch empor in wonnesame Träume von Frieden und Glück. Welch eine Wehmut – welch eine Sehnsucht durchbebt ihn plötzlich? – Wie Heimweh überkommt es ihn, wie Heimweh nach dem Glück! – Wie ist er so allein! – Wie arm, wie elend in dieser reichen Welt.

O, daß seine Mutter hier neben ihm stünde! Daß er eine gleichgesinnte Seele fände, Worte des seligsten Empfindens, der reinsten Harmonie zu tauschen! Die Schönheit wird erst dann voll genossen, wenn die Lippe ihr Lob aussprechen kann, wenn zwei Menschenseelen in einem anbetenden Entzücken verschmelzen!

Seine Mutter!

Wie lange wird er noch in ihre Augen schauen können! Wie bald wird er das einzig Liebe, was ihm noch geblieben, dahingehen müssen, und dann – ist er ganz allein!

Ein tiefer, qualvoller Seufzer ringt sich von Josefs Lippen, er streicht mit der Hand angstvoll über die Stirn, er darf und will diesem Gedanken nicht Raum geben. Es ist genug des Schweren, welches sein Herz belastet.

Aber die Sehnsucht läßt sich nicht gebieten, die geheimnisvolle, wehmütige Sehnsucht nach dem Glück, welche in jedem Menschenherzen, und habe es sich noch so menschenfeindlich von der Natur abgeschlossen, wohnt.

Und so setzt er sich auf dem moosigen Felsen nieder und stützt das Haupt in die Hand, ohne das Lehrbuch aufzuschlagen, welches er mitgenommen.

Vor ihm liegt das paradiesisch schöne Land, über welches die ersten Schleier der Dämmerung wehen, und es hat für die selbstquälerische Art des jungen Mannes einen besonderen Reiz, sich der tiefen Melancholie dieser Einsamkeit hinzugeben. Die Gedanken ziehen hinter seiner Stirn wie ein Schwärm aufgescheuchter, schwarzer Vögel, welche mit ihren Schwingen die Sonne verdunkeln. Josef merkt es nicht, wie die Wolkenwand höher und höher an dem Himmel emporsteigt, wie sich die Flut des Sees immer dunkler färbt, wie ein leichter Windhauch durch die Wipfel streicht gleich einem Vorboten erlösend kühler Nacht.

Immer sehnsuchtsvoller und todtrauriger brennt das Herz in seiner Brust, und die Vereinsamung, das bleiche, leisschluchzende Weib, steht neben ihm und legt ihm die Hand auf das Haupt, schwer – schwer, wie Bergeslasten empfindet er sie, niederdrückend – als zwinge ihn schon jetzt unsichtbare Gewalt hinab in das kühle Kämmerlein, wo einzig der Frieden und die Vergessenheit wohnen.

Da bebt er unwillkürlich zusammen und blickt verwirrt auf.

Wetterleuchtend zucken die Blitze durch die fernen Wolkenmassen, und ganz in der Nähe klingt es plötzlich durch die schwüle Stille, – eine Stimme – weich, klagend, unbeschreiblich traurig und schmerzdurchbebt.

Wie kleine, goldene Hämmerlein schlagen die süßen Töne an sein Herz, so deutlich in der klaren Bergluft, daß er ein jedes Wort versteht. Wie ein Schauer voll wonnigen Wehes überrieselt es ihn, atemlos lauschend hebt er das Haupt.

»Aus der Heimat, hinter den Blitzen rot
Da kommen die Wolken her.
Aber Vater und Mutter sind lange tot.
Es kennt mich dort keiner mehr!
Wie bald, wie bald kommt die stille Zeit,
Da ruhe ich auch, uud über mir
Rauschet die schöne Waldeinsamkeit
Und keiner kennt mich mehr hier!«

Leise, wie in Thränen erstickt, verklingt die Stimme, und Josef nickt wehmütig vor sich hin, tiefatmend, wie befangen von unsichtbarem Zauber.

Tiefe Stille, nur leis zirpende Laute im Gras, nur ein feines Blattgeflüster im Wind,

Josef macht eine unruhige Bewegung.

Warum singt sie nicht weiter?

Diese Stimme – diese traurigen Klänge thun ihm so wohl, sie lassen verwandte Saiten in seinem Herzen erzittern, – sie sprechen voll weicher Innigkeit just das aus, was er empfindet.

Horch, – abermals erklingt es so weh, so namenlos betrübt, daß es ihm durch Mark und Bein geht:

»Verlassen! verlassen – verlassen bin i –
Wie der Stein auf der Straßen –

Welch eine Melodie! welch eine schlichte Wahrheit, welch ein Empfinden zittert durch sie hin!

Josef lehnt das Haupt zurück und schließt die Augen.

Seine Hände ruhen gefaltet im Schoß, und seine Seele trinkt in tiefen, durstigen Zügen die wundersame Tröstung, Welche in solch gemeinsamem Herzeleid liegt.

»Da setz i mi nieder –
Und wein' mi recht aus! –«

Ja, weinen! – weinen! Auch ihm ist es plötzlich, als perle es heiß an seinen Wimpern, und doch ist ihm seit Jahren nicht so wohl gewesen, wie in diesem Augenblick.

Es liegt eine göttliche, geheimnisvolle Gewalt in der Musik. Sie webt unsichtbare Fäden von einem Menschenherz zu dem andern, – sie eint in süßer Harmonie, was sich ewig fern gestanden, sie führt einander zu, was sich fremd ist, sie überbrückt den Abgrund, welcher zwischen zwei schmerzgequälten Herzen gähnt und läßt sie voll heißen Empfindens zusammenschlagen in der einen großen, heilig leuchtenden Flamme innigen Verstehens. –

»O singe, singe weiter!« möchte Josef voll leidenschaftlicher Erregung rufen! »Wen möchten deine Lieder und Klagen tiefer ergreifen wie mich?« – Aber die süße Stimme ist verhallt, es bleibt still, nur fernher plätschert der geschwätzige Bach und durch die Laubkronen säuselt es wie ein Abendsegen, Das Haupt in beide Hände gestützt, verharrt Josef in regungslosem, sehnsüchtigem Lauschen. Noch klingt das Gehörte in seinem Herzen nach und erfüllt ihn mit unbeschreiblichen Wonnen der Wehmut.

Das, was er sich soeben noch voll unbezwinglicher Sehnsucht gewünscht, eine gleichgestimmte Seele, welche fühlt und empfindet wie er, die hat er wie durch holden Zauber gefunden.

Ein Herz hat sich ihm erschlossen, – unbewußt und ahnungslos, aber wahr und ganz – bis auf den tiefsten Grund.

Da quoll in geheimer Klage über die Lippen, was sonst wohl keines Menschen Ohr von ihnen vernommen, da spiegelten die todeswehen Lieder all das Elend, welches tief versteckt in der Brust der Sängerin ruhte.

Einsam! einsam und verlassen! lieblos und freudlos wie er!

O wie wohl es thut, zu wissen, daß es noch mehr Stiefkinder des Glückes gibt!

Gemeinsam Leid ist halbes Leid!

Warum aber – warum ist auch sie unglücklich?

Die Stimme klang so weich, so jung, – so von wärmstem Gefühl durchbebt, – wem gehörte sie an?

War die Unbekannte Frau oder Mädchen?

War sie schön oder häßlich?

O, thörichter Träumer, der er ist! Was ficht ihn ein solches an? – Eines weiß er ja bestimmt, das einzige, was er wissen will und zu wissen braucht – »sie trägt ein schweres, trostloses Geschick wie er!«

Stärker weht der Wind den dunklen Wolkenmassen voran, tiefer und tiefer sinken die Schatten.

Die roten Blitze zucken hin und wieder, und durch Josefs Seele zieht es wie ein traumverlorenes Echo: »Aus der Heimat – hinter den Blitzen rot – da kommen die Wolken her.« – Aber sein Haupt hebt sich freier, leichter wie zuvor auf den Schultern, die Vereinsamung steht nicht mehr neben ihm, sie ist Hand in Hand mit Frau Sorge weitergewandelt.

Nun atmet er auf, wie erlöst von schwerem Bann. Er weiß es selber nicht, warum ihn die süße Mädchenstimme so getröstet hat; er empfindet es nur wie eine unbewußte Ahnung, daß sie ihn verwandelte, daß etwas in seinem Herzen gelöst ist, wie vom eisbefangenen Waldsee die Starrheit dahin schmilzt, wenn milder Lenzesodem ihn umweht.

Seine Gedanken kreisen nicht mehr in schwerem Flug um sein eigenes Unglück, sie heben jetzt gleich weißen Tauben die Silberschwingcn, und umflattern das Gnadenbild einer heiligen Cäcilia, welches sein Auge nie geschaut, und welches ihn dennoch auf süßen Klangwellen umschwebt!

Wieviel tausend Lieder klingen tagtäglich an viel tausend Ohren, gehört und vergessen, sobald ihr Hauch verwehte, und dennoch, dringt zu rechter Stunde die rechte Weise an ein Menschenherz, so wird sie ihm zu einem segensreichen Vermächtnis, unauslöschlich und unvergeßlich für immerdar.

Josef forschte nicht nach der geheimnisvollen Sängerin.

Ihre Person stand ihm so fern und gleichgültig, wie all die anderen Frauen und Mädchen, welche seine Wege kreuzten, und für welche er kaum einen Blick übrig hatte.

Dennoch folgten ihm ihre Worte nach und schlichen sich selbst in seinen Traum.

Da sah er sie, die traurige Unbekannte, einsam wie er, auf moosigem Felsen sitzend. Ein schwarzes Trauerkleid wehte um ihren Fuß, düstere Schleier wallten um ein marmorbleiches Angesicht, und als er näher trat und in die weinenden Augen der Sängerin blickte, da legten sich die dunklen Schleiergewebe auch über sein Antlitz, und die Welt, welche eben noch in lachendem Sonnenschein vor ihm gelegen, versank in Nacht und Finsternis.

Das Gewitter war jenseits des Sees entlang gezogen, und der nächste Morgen hatte ebenso klar und strahlend hell in die Fenster der Printanière geschaut, wie all die Tage vorher,

Josef mußte während des Frühstücks von seinem Spaziergang erzählen und that es voll beinahe schwärmerischen Entzückens, ohne jedoch auch nur mit einer Silbe der unbekannten Sängerin zu erwähnen.

Seine Mutter ließ ein wenig enttäuscht das farblose Antlitz zur Brust sinken.

In die einsame Bergwildnis hatte es den absonderlichen jungen Mann gezogen! Wahrlich, das sah nicht danach aus, als ob die bunte, lebensfrohe Welt auch nur einen einzigen seiner Gedanken noch beschäftigte!

Sie war resignierter wie je, und darum fiel ihr die seltsame Unruhe, der eigentümlich belebte Blick des Sohnes nicht auf.

Es überraschte sie auch kaum, als er – halb abgewandt an dem rankenumsponnenen Gitter des Balkons lehnend, plötzlich fragte, »was für Fremde außer ihnen in der Villa Quartier genommen hätten?«

»Ich ahne es nicht, Darling. Glücklicherweise hat die heiße Jahreszeit die meisten Kurgäste vertrieben, und wenn ich mich recht entsinne, erzählte Lina einmal, außer den unseren seien nur noch drei Zimmer im Parterre bewohnt!«

»Und nannte sie keine Namen? – Sind es Deutsche oder Ausländer?«

»Ausländer wohl keinesfalls, – ich glaube ... ja mein schlechtes Gedächtnis – aber, wenn ich nicht irre, sprach Lina von einem Reichstagsabgeordneten, einem Doktor so und so! – es sei eine so wenig angenehme Familie, sehr laut und zänkisch.«

»Ah! – kleine Kinder?«

»Nein, von denen hätte ich wohl mehr im Garten bemerkt, im Gegenteil, es muß ein älteres Ehepaar sei.«

»Richtig! Ich hatte das Mißgeschick, sie im Garten zu sehen und just zu einer kleinen, familiären Scene zurecht zu kommen! Beide machten allerdings schon par distance einen höchst unsympathischen Eindruck!«

»Je nun, Josi, so weißt du ja besser Bescheid wie ich!« lächelte die Kranke; »hoffentlich hältst du diese Gesellschaft nicht für meine Zerstreuung notwendig?«

»Gott soll uns bewahren!« Der junge Kleriker legte lachend den Arm um die Sprecherin: »ich denke, Herzens-Mamachen, unsere gegenseitige Anwesenheit genügt uns! Also diese beiden feindlichen Gatten sind unsere einzigen Hausgenossen? Nun, dann wollen wir unser Reich hier droben hermetisch abschließen und uns der herrlichen Ruhe freuen!«

Nach etlichen Minuten hielt Josef die Zeitung in der Hand und schien zu lesen. Aber seine Blicke schweiften gedankenverloren über das weiße Papier hinaus.

Die fremde Sängerin wohnte nicht in der Printanière? Seltsam, wie kam sie alsdann so allein in die Bergeinsamkeit hinauf? War sie vielleicht nur Touristin oder Malerin, welche zufällig von dem Weg abgeirrt war? Wird sie nicht wiederkommen, auf jenem stillen Fleckchen weltentrückter Waldeinsamkeit ihre Klagen in Liedern auszuweinen?«

Wie eine bange Unruhe überkommt es den jungen Mann. Noch einmal möchte er sie singen hören! Ihre Lieder sind Balsam für sein wundes Herz, sie wirken wie Suggestion auf ihn, er wird still und glücklich bei ihrem Sang, so traurig er auch klingen mag.

Seltsam, auch hier heilt Gleiches das Gleiche.

Als die Sonne zur Küste geht, überkommt ihn ein fast fieberischcs Verlangen, abermals zur Bergeshöhe zu steigen. Wie mit magischen Gewalten treibt es ihn empor, und diesmal greift er in der Eile nach keinem Buch, er schreitet voll sehnender Ungeduld durch den Garten, ohne rechts und links zu blicken.

Er wird heute lange warten müssen, denn er ist früher zur Stelle wie gestern.

Aber horch? – täuscht ihn ein Echo?

Hochatmend bleibt er stehen und preßt die Hände gegen die Brust.

Sie singt! Sie ist da!

Leise bahnt er sich seinen Weg zu dem gestrigen Ruheplätzchen, wirft sich in die duftigen Alpenkräuter nieder und stützt das Haupt in die Hand.

»Am Brunnen vor dem Thore, da steht ein Lindenbaum,
Ich träumt in seinem Schatten so manchen süßen Traum!«

Wie oft hat Josef dieses Lied gehört, – so noch nie. Er ist nicht musikverständig, er weiß nicht, ob er eine ausgebildete, wohlgeschulte Stimme hört, er weiß nur, daß ihm noch keine andere so zu Herzen gedrungen ist wie diese!

Und die weichen, seelenvollen Klänge umschmeicheln ihn und machen ihm das Herz so weich und weit, so sehnsuchtsvoll und dennoch zufrieden.

Ahnt jene Fremde, daß hier im entlegensten Stücklein Waldesfriedcn ein Menschenherz ihrem Singen lauscht? – daß es zuckt und bebt unter den Qualen süßen Wehs und herber Wonne, welche ihre Lippen zu ihm tragen? daß er mit ihr fühlt und bangt und klagt aus tief innerstem Grunde herauf, daß er mit ihr eins wird in diesen Liedern?

Nein, sie ahnt es nicht, sie weiß nicht, daß ihr, die nur den Blumen und Vöglein im Walde anvertraut, was sonst geheim in ihrem Busen schlummert, daß ihr die größte Kunst gelungen, daß sie mit ihren Liedern einen Erfolg gehabt, wie ihn wohl selten nur die Ersten unter den Sängerinnen aufweisen können!

Und während Joses sich widerstandslos dem Zauber hingibt, welcher ihn mit Sang und Klang umspinnt, tönt es voll schlichter Innigkeit und Wehmut weiter von den Lippen der Unbekannten, ein Volkslied nach dem andern, schwermütig und entsagungsvoll, – Lieblinge des deutschen Volkes.

Wer ist sie?

Wie ein ungestümes Verlangen überkommt es den Lauschenden, auszuspringen, die Büsche zu teilen und in das Antlitz derer zu schauen, welche ihm fremd ist, und welche er dennoch bis in die geheimsten Regungen ihres Herzens kennen lernte!

Er erhebt sich, er macht eine leidenschaftliche Bewegung und sein Blick streift wie zufällig sein dunkles Priesterkleid.

Da geht es wie ein kühler Schauer durch sein Herz. Der erhobene Arm sinkt nieder, – wie aus einem Traum erwachend blickt er auf. Warum will er sie sehen und kennen, – er, der Priester, – warum? Langsam wendet er sich und schreitet müde, wie ein Kranker, den Pfad zurück; die Soutane streift die Blüten am Weg, und der Abendtau glitzert wie Thränen in ihren Kelchen.


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