Paul Ernst
Komödianten- und Spitzbubengeschichten
Paul Ernst

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Der kleine Schuh

Lelio ist ein Königssohn und jagt im Walde; junge Mädchen tanzen im Mondschein und entfliehen, wie sie von ihm überrascht werden. Die Schönste verliert einen Schuh, einen reizenden kleinen Schuh, den kleinsten Schuh, den man sich vorstellen kann, einen Goldkäferschuh, einen Kinderschuh. Lelio stürzt zu dem Schuh, nimmt ihn auf, drückt ihn an Lippen und Herz, denkt nicht mehr an Hirsche und Rehe, denkt nur noch an die reizende Schöne, welche den Schuh verloren hat. Er kehrt nach Hause zurück, seine Eltern erschrecken, so bleich sieht er aus; er legt sich ins Bett und kommt dem Tode nahe. Alle Ärzte untersuchen ihn, der eine sagt, daß sein Leiden aus dem Magen kommt, der andere findet den Sitz in der Leber, der dritte glaubt, daß der Blutumlauf ins Stocken geraten ist, und der vierte rät auf eine Erkrankung des Großgehirns. Jeder verschreibt ihm eine andere Medizin; der König, welcher ein ordentlicher alter Herr ist, befiehlt, daß er sie alle einnehmen soll, weil man nicht weiß, welches die richtigste ist; endlich aber kommt aus der Ferne ein ganz kluger Arzt, welcher in Bologna studiert hat; der erkennt, daß das Übel von dem kleinen Schuh herrührt. Nun werden Trompeter ausgeschickt, die durch das ganze Königreich blasen müssen und ausrufen, daß alle hübschen Mädchen auf das Schloß kommen und den Schuh anprobieren.

So ungefähr sind die beiden ersten Akte des Dramas, in welchem Lelio jetzt die Hauptrolle spielt. Das Drama hat fabelhaft eingeschlagen, jeden Abend ist das Theater ausverkauft, der Dichter hat schon eine Abschlagszahlung von drei Skudi bekommen, die fünfzigste Vorstellung ist bereits überschritten, und es wird erzählt, daß der Heilige Vater selber inkognito sich das Stück angesehen hat; er hat darauf zu Hause Makkaroni gegessen und hat gesagt: »Die Makkaroni sind ja gut, aber das Stück war auch gut.«

Lelio ist so in seiner Rolle, daß er auch außerhalb der Bühne den kleinen Schuh stets auf seinem Herzen trägt, daß er den ganzen Tag an nichts denkt als an das wunderschöne Mädchen, das den Schuh verloren hat. Er denkt nicht an Isabellen, welche die Rolle dieses Mädchens spielt; denn der Zuschauer muß wissen, daß in der Nähe die zartroten Wangen, die großen blauen Augen, das helle Lockenhaar ganz abscheulich aussehen. Lelio denkt an das schöne Mädchen, wie sie aussehen würde, wenn er unten in der achten oder neunten Reihe säße; er geht also in den Straßen Roms und sieht an allen Häusern hoch, ob nicht hinter irgendeinem Fensterladen das lockige Köpfchen vorsieht, und aufmerksam betrachtet er auf dem Korso alle Damen, ob nicht unter irgendeinem hübschen Kleid der kleine Fuß zum Vorschein kommt. Ja, er lebt ganz in seiner Rolle. Der Direktor bezahlt ihm jetzt Gage, und er kann zu Mittag essen; er geht zum Stadtkoch, setzt sich mit stolzer und unzufriedener Miene an den Tisch; der Koch bringt ihm für zwei Soldi gekochte Bohnen und wünscht ihm guten Appetit; Lelio aber erhebt sich, wischt den Teller mit den Bohnen vom Tisch und ruft: »Ist das ein Fressen für einen Königssohn?« Dann geht er hochmütig aus der Tür, und alle Gäste und der Wirt bleiben zurück und staunen über sein Talent.

In dieser Verfassung begegnet Lelio einem Hochzeitszug. Ein junger Stadtschreiber, der die Namen der angekommenen Fremden in ein großes Buch eintragen muß, verheiratet sich mit der Tochter eines reichen Käsehändlers. Es kommen, wie so oft, Titel und Geld zusammen. Die Familien beider Verlobten sind groß; die Verwandten des Bräutigams sind alles Beamte: Stadtschreiber, Aktuare, Sekretäre, Diätare, Rechnungsräte, Kanzlisten und Diurnisten; die Verwandten der Braut sind alles Geschäftsleute: Mehlhändler, Fleischer, Bäcker, Ölhändler, Obstverkäufer und Gemüsemänner. Zwei sonst getrennte soziale Schichten fließen so zusammen; keiner von der einen Verwandtschaft hat bis jetzt einen von der anderen Verwandtschaft gekannt; die einen dachten, die andern sind stolz auf ihren Rang, und diese dachten, die andern sind stolz auf ihr Vermögen; nun lernen sie sich kennen, und finden jeder von den andern, daß sie umgängliche, liebenswürdige und gebildete Leute sind. Das erhöht die Fröhlichkeit; ehe man zur Kirche ging, hat man schon etwas getrunken; nun kommt man aus der Kirche zurück und geht zu der Wohnung des Brautvaters, wo ein herrliches Mittagessen vorbereitet ist. In dieser großen Gesellschaft erblickt Lelio das Mädchen, das er so lange gesucht hat.

Er steht neben ihr wie im Traum, spricht mit ihr, bietet ihr den Arm; sie nimmt ihn verschämt, sieht ihn schelmisch von unten an, wie er spricht; und er spricht die wundervollen Verse, die er zu sagen hat, als der kluge Arzt ihm die Geliebte zuführt. Das Mädchen lacht, die andern lachen; jeder denkt, daß Lelio zu der Gesellschaft gehört; die Aktuare halten ihn für einen Geschäftsmann und die Geschäftsleute für einen Aktuar. Das schöne Mädchen allein hat irgendwelche dunklen Vorstellungen, daß die Sache nicht so stimmt, aber dafür schwimmt sie in Glück, und die Vorstellungen verflüchtigen sich.

Man kommt in die Wohnung der Brauteltern. Die Tische sind den Laden und alle Zimmer hindurch angerichtet; man legt Hüte und Mäntel ab; die junge Frau sinkt in die Arme des Vaters und weint, dann in die Arme der Mutter und weint; die Eltern trocknen sich gleichfalls die Tränen, der junge Gatte sieht betreten und schuldbewußt aus; die jungen Mädchen kichern und blicken auf Lelio; Lelio spricht mit einem Rechnungsrat von der Feststellung der Steuern, die auf den Immobilien ruhen, und mit einem Mehlhändler über den Unterschied der Transportkosten des Mehls und der Körner; dann setzt man sich, Lelio neben seiner Schönen; die Speisen werden herumgereicht, der Wein eingegossen. Reden werden gehalten; auch Lelio hält eine Rede; sie ist so schön, daß der Brautvater kommt und mit ihm anstößt. Das schöne Mädchen war im Theater und hat Lelio gesehen, wie er den kleinen Schuh küßte; sie hat nun schon etwas getrunken; nicht viel; aber sie kann auch nicht viel vertragen; und ihre Gedankenverbindungen gehen absonderlich; ihr wird klar, daß ihr Nachbar Lelio ist, Lelio, der so entzückend in den kleinen Schuh verliebt ist; sie weiß genau, daß er der ja gar nicht sein kann, daß das ihr nur so erscheint, weil sie ein Glas Marino getrunken hat, der ein schwerer Wein ist und in den Kopf steigt; aber es ist doch so schön, daß Lelio sie liebt, daß er den kleinen Schuh aus der Brusttasche nimmt und küßt, daß er sagt: sie ist die einzige, an deren Füßchen der Schuh paßt, daß sie ihn mit dem Ellbogen in die Seite stößt und sich dann lachend über den Tisch beugt, daß sie ihm flink den Schuh aus der Hand reißt, schnell unterm Tisch ihren alten Schuh auszieht und diesen überstreift, und ihn dann die Spitze ihres Füßchens sehen läßt. Das alles ist so schön, und es ist nur merkwürdig, daß das bei der Hochzeit ihrer Base stattfindet, indessen alle Verwandten um den Tisch herumsitzen und von Hochzeiten, Schlachtgewicht, Auszugsmehl, Prima Sultaninen und Steuern sprechen. Es schwirrt ihr alles vor den Augen und Ohren, und nur eins weiß sie fest, daß sie Lelio liebt und an seine Brust sinken würde, wenn das nicht unanständig wäre.

So geht denn das Hochzeitsfest seinen Gang. Als man fertig gegessen hat, erhebt man sich und schreitet paarweise auf die Straße; da haben die Nachbarn Teppiche aus den Fenstern gehängt; wer ganze Teppiche hatte, der hängte ganze, und wer zerrissene hatte, der hängte zerrissene; die Frauen in weißen Nachtjacken, mit großen Busen und roten Gesichtern, glänzend vor Schweiß und Freude, sehen aus den Fenstern und rufen der Braut zu; Musikanten stehen da und spielen auf, die Alten beginnen zu tanzen, die Jungen folgen, und auch Lelio mit seiner Schönheit tanzt.

Wieweit Lelio sich die Lage klar machte, ist ungewiß; daß er kein Königssohn sein konnte, mußte er wohl wissen; aber es scheint doch, daß er sich wenigstens als etwas Ähnliches vorkam. So sprach er denn feurig von seiner Liebe, seinem Schloß, seinen Besitzungen, wobei er denn freilich auch von seiner Gage sprach; die Schönheit interessierte sich aber nur für die Liebe. Der Abend zog herauf, er erinnerte sich daran, daß er ins Theater mußte. Beide wußten, daß die andern nicht merken durften, wenn sie sich entfernten; so zogen sie sich denn mit der größten Geschicklichkeit zurück, und nach acht Tagen schon stand die Schönheit als Isabelle auf der Bühne, verlor ihren kleinen Schuh und wurde von dem klugen Arzt an das Bett des todkranken Lelio geführt.


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