Paul Ernst
Komödianten- und Spitzbubengeschichten
Paul Ernst

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Die arme Seele

Der Kapitän und Silvie haben einen gemeinschaftlichen Haushalt begründet; die Kirche wurde nicht durch ein Verlangen nach überflüssigen Zeremonien belästigt, denn die Kirche beschäftigte sich im siebzehnten Jahrhundert überhaupt nicht mit den Ehen der Schauspieler.

Silvie hat ihren Benvenuto mitgebracht, einen reizenden Jungen, der nun schon vier Jahre alt ist und bereits in Kinderrollen mit großem Erfolg auftritt. Der Kapitän liebt ihn zärtlich und beginnt bereits, ihn für seinen eigenen Sohn zu halten; wenigstens behauptet er bei jeder Gelegenheit, wo Benvenutos Talent gerühmt wird, seine blonden Haare oder sein Mut: »Das hat er von mir geerbt.«

Er ist entschlossen, einen Kapitän aus ihm zu machen. »Mein Vater war auch Kapitän«, pflegt er zu sagen. Aber natürlich kann man in so jugendlichem Alter die Richtung des Talents noch nicht beurteilen, denn schließlich reitet jeder Junge gern auf den Knien seines Vaters.

Der Kapitän hat schon immer gern Salami gegessen. Er hatte überhaupt von jeher einen guten Appetit. Aber die Gage der beiden ist nicht so hoch, daß die gute Silvie ihm oft das Vergnügen machen könnte, eine Wurst aus der Zeitung zu wickeln, sie am Bindfaden vor ihm baumeln zu lassen und zu fragen: »Was ist das?« Der Kapitän pflegt dann zu erwidern: »Ein Feind, der in Stücke geschnitten werden muß«, und Benvenuto umarmt schmeichelnd sein Bein und bettelt, daß er die Haut auskratzen darf.

Ja, solche Feste kamen vielleicht einmal im Monat vor. Aber seit einiger Zeit hat Silvie einen Salamihändler entdeckt, der fabelhaft billig ist, nein, unglaublich billig. Natürlich hütet sie sich, den andern von der billigen Quelle zu erzählen; denn man weiß ja wohl, wenn die Nachfrage sich erhöht, so steigen die Preise; ihr Salamihändler ist ihr Geheimnis; aber der Kapitän hat jetzt jeden Abend ein Stück Wurst auf seinem Teller.

Einige der Mitglieder haben sich zu einer engeren Gesellschaft zusammengetan und gehen, wie sie es nennen, auf die Dörfer; sie geben Gastspiele in den kleinen Städten, welche so nahe liegen, daß man am Vormittag gemeinsam auf einem Ochsenwagen hinfährt und am andern Morgen in der Frühe mit demselben Gefährt zurückkehrt. Silvie ist dann die Nacht mit Benvenuto allein, und man kann sich wohl vorstellen, daß sie sich ängstigt.

Der kleine Benvenuto schläft in einer solchen Nacht einmal sehr unruhig; er hat am Abend sehr viel Kirschen gegessen und, ohne daß die Mutter es merkt, zum Vergnügen eine Anzahl Kerne verschluckt. Er wälzt sich in seinem Bettchen, verlangt mit schlaftrunkener Stimme nach Papa und Mama.

Die Mutter beruhigt ihn im Dunkeln, er schläft wieder ein; gegen Morgen wacht er auf: da sieht er vor seinem Bett eine fremde Gestalt stehen, ganz in Weiß gekleidet, einen großen, dicken Mann mit einem roten Gesicht, dunkelm Kraushaar und runden, rollenden Augen.

Er erschrickt so vor der scheußlichen Gestalt, daß er laut aufschreit; die Mutter kommt, nimmt ihn aus dem Bettchen, drückt ihn an sich; er verbirgt den Kopf an ihrer Brust und schreit weiter. Die Mutter tröstet ihn, er ruft immer nur: »Der Mann, der Mann.«

»Aber Benvenuto, es ist ja doch kein Mann da«, antwortet die Mutter; er glaubt nicht, was sie sagt; zuletzt aber wagt er doch, den Kopf zu wenden; die Morgensonne scheint freundlich ins Zimmer, und in der Tat, es ist kein Mann da.

Endlich ist er so weit beruhigt, daß er der Mutter erzählen kann, was er gesehen; die Mutter schüttelt den Kopf, denkt nach und sagt am Schluß: »Ich habe nichts gesehen. Es ist nicht anders möglich, das war ein Gespenst.«

Nun muß sie ihm erklären, was ein Gespenst ist; sie erzählt ihm, daß ein Gespenst eine arme Seele ist und artigen Kindern nie etwas tut; und da Benvenuto fest von seiner Artigkeit überzeugt ist, so beruhigt er sich endlich; die Mutter nimmt ihn zu sich in ihr Bett, und er schläft neben ihr wieder ein.

Am Nachmittag kommt der Kapitän zurück. Er hat seinem Jungen eine Brezel mitgebracht; Benvenuto muß an ihm hochklettern wie an einem Mastbaum; der Vater hält die Brezel in der rechten Hand erhoben; wie Benvenuto die Schultern erreicht hat, setzt er sich, schlägt die Beine um den Hals des Vaters, hält sich mit der Linken in den Haaren fest und holt mit der Rechten die Brezel. Dann läßt er sich herabgleiten und beginnt zu verzehren.

»Was ist geschehen in meiner Abwesenheit? Hat der Hauswirt gemahnt? Hat man mir endlich eine anständige Rolle geschickt?« fragt der Kapitän nun mit tiefer Stimme die reizende Silvie, die gerade einen Floh in ihrem zerrissenen Strumpf sucht.

»Kein Mensch ist dagewesen in deiner Abwesenheit, nicht eine Seele; wie werde ich Fremden meine Tür öffnen, wenn mein Gatte nicht im Hause weilt?«

Nun mischt sich Benvenuto, der an seiner Brezel kaut, ins Gespräch und erinnert seine Mutter an das Gespenst, das er in der Nacht gesehen hat, das eine Seele war, wenn auch nur eine arme, und artigen Kindern nichts tut.

Silvie lächelt und erzählt, daß Benvenuto in der Nacht gefiebert und phantasiert hat; sie hat am anderen Morgen die Kirschkerne festgestellt, und man kann sich denken, daß einem Kind so etwas nicht bekommen kann; das muß ja einen Erwachsenen krank machen.

Benvenuto ist betrübt, denn er merkt, daß man ihm das Gespenst nicht mehr glaubt; er kaut nicht weiter, weint, reibt sich die Augen und erklärt, er habe das Gespenst doch gesehen; der zärtliche Kapitän nimmt ihn aufs Knie, beruhigt ihn, stellt sich, als ob er die Geschichte glaubt, und fragt, wie das Gespenst aussah; und stolz beschreibt nun Benvenuto, daß es weiß gekleidet war wie Pierrot, ein rotes, großes Gesicht hatte und ganz runde, rollende Augen. Einen Augenblick schießt dem Kapitän ein Verdacht durch den Kopf; allein gleich verwirft er wieder den unwürdigen Gedanken, denn Pierrot wird doch nicht auf der Straße in seinem Kostüm herumlaufen, und außerdem ist er blaß und mager.

Benvenuto verlangt von ihm mehr über die Naturgeschichte der Gespenster und der armen Seelen zu hören, und so beginnt er denn zu erzählen, und Benvenuto erfährt mit Schrecken, daß diese armen Seelen im Leben sehr ungezogen waren und nun im Fegefeuer sitzen, wo sie ein Teufel im Kessel kocht.

Hier aber wird Benvenuto nachdenklich; er läßt sich vom Knie des Vaters herab, geht in eine Ecke und überlegt sich etwas lange Zeit.

Endlich, während die Eltern inzwischen vom Hauswirt und der rückständigen Miete sprechen und die Frage erörtern, ob sie nicht einfach ihre paar Sachen heraustragen und dem Wirt die elende Wohnung überlassen sollen, die ja eigentlich nicht vermietet werden dürfte, erklärt er in bestimmtem Ton, er habe gesehen, daß im Fegefeuer die armen Seelen selber kochen, und nicht die Teufel.

Der Kapitän versucht ihm diese merkwürdige Vorstellung auszureden, Benvenuto aber fängt an zu weinen und verharrt bei seiner Behauptung, daß er das selber gesehen habe.

Vielleicht kommen solche Phantasien doch noch von den Kirschkernen. Es ist inzwischen die Zeit des Korso geworden; Vater und Mutter beschließen, mit Benvenuto an die frische Luft zu gehen. Silvie zieht die Nachtjacke aus und legt das Korsett an, das der Kapitän mit aller Kraft seiner Arme zuzieht; dann holt sie ihr gelbseidenes Kleid vor, das ihr einmal Flavio geschenkt hat, damals, als er sie liebte; Flavio hatte ja eine sehr gute Gage.

Die Familie kommt zufällig bei einem Garkoch vorbei. Die appetitlichsten Salamiwürste hängen im offenen Fenster, festgeschnürt, gleichmäßig und sauber mit einer Schicht aus Schimmel und durchgeschwitztem Fett bezogen; einige Würste liegen aufgeschnitten da, glänzend dunkelrot und weiß im Schnitt; im Hintergrund, über einem offenen Herdfeuer, unter einem großen, schwarzen Kamin steht ein großer Kessel. Benvenuto zeigt ängstlich mit dem Finger und sagt: »Das ist das Fegefeuer.«

Eben kommt der Koch selber quer über die Straße, die weiße Mütze auf dem dunklen Kraushaar, mit einem dicken, roten Gesicht und runden Augen, ganz weiß gekleidet und die etwas blutige Schürze quer übergeschlagen und in den Gürtel gesteckt. Benvenuto schreit, drängt sich an den Vater, verbirgt sein Gesicht am Hosenbein des Kapitäns und ruft: »Das ist das Gespenst, das ist das Gespenst!«

Der Kapitän ist von durchdringendem Verstand. Er sieht den Garkoch mit funkelnden Blicken an; der Mensch schaut unsicher zur Seite; er sieht die Salami im Fenster; Benvenuto hält immer sein Bein umklammert – ein Glück, daß er dadurch den Kapitän hindert, sonst könnte Furchtbares geschehen.

Auf Silvien sieht er nicht; er sagt nur mit dumpfer Stimme, indem er zur Erde blickt:

»Lebe wohl! Packe meine Sachen; das zerrissene Hemd brauchst du nicht mehr zu flicken. Dem Wirt kannst du sagen, daß ich bis zum nächsten Ersten für die Miete aufkomme.«

Dann hebt er Benvenuto auf den Arm, küßt ihn, indessen ihm die Tränen über die Wangen laufen.

»Spavento!« wagt Silvie ihn in bittendem Ton anzureden. Aber der Kapitän schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er, »du hättest mir die Salami nicht vorsetzen sollen. Der Kapitän kann alles verlieren, hat alles verloren; aber seine Ehre behält er.«

Damit setzt er den heulenden Benvenuto nieder und geht fort.


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