Paul Ernst
Komödianten- und Spitzbubengeschichten
Paul Ernst

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Die Liebesbriefe

Daß Isabelle viele Anbeter hat, wird gewiß niemanden wundern; sie trägt ein hellrotes Samtkleid, die Ärmel gepufft und geschlitzt, mit gelber Seide unterfüttert, und darüber einen ärmellosen, offenen violetten Samtmantel. Wenn Lelio ihr zu Füßen sinkt, und sie sich anmutig neigt, um ihn aufzuheben, dann ziehen die alten Herren im Parkett ihre Tabaksdose hervor, nehmen eine stille Prise und zerdrücken eine heimliche Träne; das ganze Theater ist atemlos, und den Jungens auf der Galerie läuft das Wasser im Munde zusammen.

Der Notar kann natürlich lesen und schreiben, er ist einer von den wenigen Mitgliedern der Truppe mit wissenschaftlicher Bildung; man erzählt sich von ihm, daß er vor langen Jahren Student war und Schauspieler wurde aus Liebe zu einer Schauspielerin. Der gute Notar war ja auch einmal jung, aber das ist so lange her, daß er selber keine Erinnerung mehr daran hat. Wie alt er eigentlich ist, weiß niemand; selbst die ältesten Mitglieder der Truppe können sich nicht entsinnen, daß er jemals anders aussah wie jetzt. Der arme Notar ist auch nicht ansehnlich; er ist schwarz gekleidet, und eine rote Aktenmappe ist der einzige freudige Fleck an seiner Person; er hat eine Feder hinterm Ohr und eine große Brille auf der Nase; und dazu hat er noch einen Bauch, nicht so einen straffen, fröhlichen, männlichen, kräftigen Bauch, der sich majestätisch wölbt unter einer breiten Brust und roten, gesunden Backen, sondern einen jammervollen Hängebauch, der nie wackeln kann, wenn sein Herr lacht, sondern der nur immer trübselig und kümmerlich niederschlottert. Kann der Notar verlangen, daß Isabelle ihn liebt? Nein, er kann es nicht. Aber er verlangt es auch nicht. Der Notar ist ein Philosoph.

Lelio ist Isabellen zu Füßen gefallen. Isabelle hat ihn aufgehoben, die alten Herren haben die Deckel ihrer Schnupftabaksdosen zugeklappt, die tiefe Erschütterung des Publikums hat sich in stürmischen Beifall aufgelöst, die Jungens auf der Galerie haben so getrampelt, daß das gesamte Publikum husten muß von dem aufgewirbelten Staub, der Vorhang ist gefallen; Isabelle sagt zu Lelio: »Das ist doch ein närrisches Geschäft, das Komödiespielen, nun höre nur wieder, wie sie verrückt sind«; Lelio erwidert: »Ich war heute auch hinreißend«; Isabelle zuckt die Achseln und tritt zum Notar, der mit verklärtem Gesicht vor sich hinstarrt. Sie zieht einen Brief aus dem Busen; er ist noch warm von ihrer Haut, wie ihn der Notar mit zitternden Händen nimmt. »Ein Ring war nicht drin«, erzählt sie geringschätzig. Der Alte liest ihr vor: es ist ein Gedicht, das er mit bebender Stimme ihr vorliest. Sie will sich ausschütten vor Lachen; »das muß ein närrischer Kerl sein«, sagt sie, »das ist einer von denen, die nur Blumen schicken; aber Blumen waren auch nicht dabei.« »Vielleicht ist er arm und hat kein Geld für Blumen«, wendet der Notar ein. »Weshalb unterschreibt er sich denn nicht, wenn er arm ist, dann ist er vielleicht sehr jung«, erwidert sie nachdenklich. Der Notar fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Ob ein Vers Isabellen gerührt hat? Sie fragt: »Hat er das Gedicht wohl selber gemacht?« »Er hat es selber gemacht, auf dich hat er es gemacht«, erwidert eilfertig der Notar. »Ja, was soll ich denn nun tun?« spricht sie wie zu sich selber. »Du bist doch ein guter Kerl, du mußt ihm antworten; er gibt ja eine Chiffre an«, spricht der Notar. Lachend sagt sie: »Antworte du ihm, Alter, ich kann nicht schreiben.« »Was?« »Daß ich ihn liebe, daß ich diese Nacht sein Gedicht unter mein Kopfkissen legen will«, ruft sie lachend aus, entreißt ihm das Blatt, wirft sich ihr Tuch um den Kopf und eilt nach Hause. »Unter ihr Kopfkissen«, murmelt der Notar vor sich hin, »unter ihr Kopfkissen.« Am anderen Tage bringt er Isabellen die Antwort: er hat gleichfalls ein Gedicht geschrieben. Isabelle sitzt unter der Donnermaschine und hört ihm nachdenklich zu, wie er ihr vorliest; ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Wie das schön ist!« ruft sie aus; »ach, weshalb ist der junge Mann nicht hier, damit ich ihm das Gedicht selber geben kann! Ja, das ist mein Gefühl, Alter, das hast du getroffen!« »Nun, so ganz alt sind wir denn doch wohl noch nicht«, erwidert der Notar und streckt sich; seine Wangen färben sich leicht und seine Augen glänzen. »Ich bringe das Gedicht selber zum Kasten«, schließt Isabelle, springt auf, umarmt den Notar, küßt ihn, dreht ihn einige Male im Kreise herum, reißt ihm den Brief aus der Hand, und stürmt fort.

Natürlich antwortet der Unbekannte, muß der Notar Isabellen sein Gedicht wieder vorlesen und ein neues Gedicht schreiben; und so gehen die Briefe hin und her; sie werden immer zärtlicher, immer leidenschaftlicher. Wenn der Notar vorliest, so sitzt Isabelle neben ihm, bückt sich auf das Papier und sucht den Worten zu folgen; sie spürt es kaum, wie der Notar den Arm um sie legt; ihre Tränen fließen, der Notar weint, die Tränen fallen auf das Papier; lachend macht sich Isabelle frei und ruft: »Du denkst wohl, du bist mein Geliebter, der mir die schönen Gedichte schreibt!«

Alle Schauspieler sind neugierig, was die beiden haben mögen, aber die hüten ihr Geheimnis, sie verraten nichts von den Gedichten und dem unbekannten Liebhaber, denn sie wissen, daß die anderen lachen würden. Wenn sie auf der Bühne nicht beschäftigt sind, dann erzählen sie sich von dem Liebhaber, wie er aussehen mag, wie alt er ist, welchen Stand er hat; Isabelle glaubt, er ist ein hübscher junger Student, der auf die Galerie geht, weil er arm ist; der Notar meint, er könne doch vielleicht schon ein älterer Mann sein, vielleicht ein Mann in den besten Jahren, denn Jünglinge lieben nicht so treu, sie sind flatterhaft; vielleicht ist Isabelle die letzte Liebe eines solchen Mannes; vielleicht, wenn er wüßte, daß Isabelle ihn lieben würde, auch wenn er nicht mehr so ganz jung ist, dann würde er sich entdecken. Isabelle schüttelt den Kopf; sie findet, daß man unmöglich einen Alten lieben kann. »Da könnte ich dich doch auch lieben, Notar!« ruft sie ungeduldig aus, wie er immer bei seiner Meinung beharrt. Der Notar seufzt und schweigt.

Sollte man es für möglich halten? Die Schauspieler behaupten, daß Isabellens Gesicht sich ändert, daß sie einen glücklichen und zufriedenen Ausdruck bekommen hat, ja, daß ihr Gang anders geworden ist, zaghafter und ruhiger. Natürlich nehmen alle jetzt an, daß sie eine Liebschaft mit dem Notar hat, der doch ihr Großvater sein könnte; die Männer machen Witze über den Alten, die Frauen höhnen über Isabellen; aber die beiden lächeln still und lassen sich nicht stören.

An einem Abend begleitet der Notar Isabellen nach Hause; er begleitet sie jetzt gewöhnlich, denn sie sagt, sie wolle nicht, daß ihr unbekannter Liebhaber eifersüchtig werde, wenn sie sich von einem jungen Manne begleiten lasse; auf den Notar werde er gewiß nicht eifersüchtig; und der Notar bestätigt eifrig und mit Beteuerungen, auf ihn könne der unbekannte Liebhaber nicht eifersüchtig werden. Und er nimmt es ernst mit der Begleitung, er bietet ihr den Arm, hilft ihr über die breiten Gossen, unterstützt sie beim Treppensteigen, indem er ängstlich sein klopfendes Herz preßt, damit sie nicht seine Ermüdung merkt. Da ist eine sehr breite Gosse; er springt gewandt hinüber, um ihr die Hand zu reichen und sie nach sich zu ziehen; aber da hat jemand eine Apfelsinenschale hingeworfen; der Notar gleitet aus, stürzt und bricht sich ein Bein; seine alten Knochen sind ja schon morsch. Isabelle erschrickt; er sucht sich zu erheben, um sie zu beruhigen, aber er kann nicht; so sehr er sich bezwingt, muß er doch leise stöhnen. Isabelle springt zu ihm hinüber, kauert im Schmutz und nimmt seinen Kopf in den Schoß; dankbar sagt er zu ihr: »Gutes Kindchen, gutes Kindchen.« Sie ruft, Leute kommen, man hebt den alten Mann auf und bringt ihn nach Hause; der Barbier wird geholt und schient das Bein; Isabelle bleibt bei ihm, hört seine Fieberphantasien; immer spricht er von ihr, von den Gedichten, sagt er die Gedichte her, und wunderlich vermengt er den unbekannten Liebhaber mit sich selber, spricht von einem Studenten auf der Galerie, der sich in eine Schauspielerin verliebt hat, in die Isabelle, und ihr zu Liebe Schauspieler geworden ist; er ist Notar geworden; aber das ist schon lange, lange Jahre her, und er ist jetzt ein alter Mann, und nun liebt er wieder seine Isabelle; aber jetzt ist er zu alt für Isabellen; Isabelle darf nie wissen, daß er es ist, der ihr die Briefe geschrieben hat.

Am anderen Morgen ist sein Verstand wieder klar; er erwacht, sieht Isabellen an seinem Bett sitzen und lächelt. Er sagt. »Ich sterbe. Isabelle, das fühle ich; ich bin ja schon alt.« Isabelle sucht ihm das auszureden, und wie er immer den Kopf schüttelt, sagt sie endlich weinend: »Wer soll mir denn nun die Briefe von meinem unbekannten Liebhaber vorlesen und beantworten?« Der Notar schließt die Augen und schweigt eine Weile; dann sagt er lächelnd: »Es werden keine Briefe mehr kommen.«

Er starb wirklich an seiner Verletzung; nur ein paar Stunden lebte er noch; Isabelle war bei ihm; und er starb, als sie ihn aufrichtete, um sein Kopfkissen höher zu legen; so war es in ihren Armen, daß er seinen Geist aufgab, und ihre Finger drückten ihm die Augen zu. Und er hatte recht gehabt mit seiner Voraussicht: es kamen keine Briefe mehr von dem unbekannten Liebhaber.


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