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Siebzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 39 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 17):

If, as I have, you also doe,
   Vertue attired in woman see,
And dare love that, and say so too,
   And forget the He and She;
And if this love, though placed so,
   From prophane men you hide,
Which will no faith on this bestow,
   Or, if they doe, deride:
Then you have done a braver thing
   Than all the Worthies did,
And a braver thence will spring,
   Which is, to keep that hid.

›From The Undertaking‹ by John Donne.


Sir James Chettam's Geist war im Allgemeinen nicht fruchtbar an Auskunftsmitteln, aber sein wachsendes Verlangen, »auf Brooke zu wirken«, und seine feste Ueberzeugung, daß Dorothea auf Diesen würde Einfluß üben können, machten ihn erfinderisch und ließen ihn einen kleinen Plan ersinnen, nämlich den, Dorothea unter dem Vorwande eines Unwohlseins Celia's allein nach Freshitt-Hall zu holen und sie dann unterwegs, nachdem er sie über die Situation in Betreff der Verwaltung des Guts vollständig au fait gesetzt haben würde, in Tipton-Hof abzusetzen.

So kam es, daß eines Tages um vier Uhr Nachmittags, als Herr Brooke und Ladislaw in der Bibliothek auf Tipton-Hof bei einander saßen, Frau Casaubon gemeldet wurde.

Will, der damit beschäftigt war, Herrn Brooke bei der Ordnung von »Documenten über das Hängen von Lämmerdieben« zu helfen und den dabei eine grenzenlose Langeweile überkam, lieferte eben ein Beispiel für die Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich mit mehreren Dingen zugleich zu beschäftigen, indem er bei sich die Schritte erwog, die erforderlich sein würden, um seinem dauernden Aufenthalte auf Tipton-Hof ein Ende zu machen und sich eine Wohnung in Middlemarch zu nehmen, während ihm, neben all diesen greifbareren Vorstellungen, wie eine ergötzliche Vision die flüchtigen Umrisse eines mit homerischer Ausführlichkeit geschriebenen Epos über den Lämmerdiebstahl vorschwebten.

Als Frau Casaubon gemeldet wurde, fuhr er wie von einem elektrischen Schlage getroffen auf und fühlte ein Prickeln in den Fingerspitzen. Wer ihn in diesem Augenblick beobachtet hätte, würde in seiner Physiognomie, in dem Spiel seiner Gesichtsmuskeln und in seinem Blick eine Veränderung bemerkt haben, wie wenn sein ganzes Wesen plötzlich von einem Zauber berührt worden wäre.

Und so war es in der That; denn die Erregung der höchsten Seelenstimmungen ist der wirksamste Zauber. Und wer kann die Feinheit jener Erregungen ermessen, welche Leib und Seele zugleich erzittern machen und die Leidenschaft eines Mannes für ein Weib so ganz verschieden von seinen Empfindungen für andere Frauen gestalten – wie die Freude an Thal und Fluß und schneeigen, von der Morgensonne beleuchteten Berggipfeln verschieden ist von der Lust an Papierlaternen und bunten Glasscheiben!

Auch war Will ein wunderbar impressionabler Mensch, und der Ton einer in seiner Nähe ertönenden Violine konnte der Welt in seinen Augen eine andere Gestalt geben, und seine Anschauungen wechselten so rasch wie seine Stimmungen.

Dorothea's Eintritt wirkte auf ihn wie frische Morgenluft.

»Sieh da liebes Kind, das ist ja allerliebst,« sagte Herr Brooke, indem er ihr entgegenging und sie küßte. »Du hast wohl Casaubon mit seinen Büchern allein gelassen, das ist recht. Du mußt uns nicht zu gelehrt für eine Frau werden, weißt Du.«

»Davor braucht Dir nicht bange zu sein, Onkel,« sagte Dorothea, während sie sich zu Will wandte und ihm mit offener Heiterkeit die Hand reichte, ohne sich jedoch in der Beantwortung der Frage ihres Onkels zu unterbrechen. »Ich bin sehr träge. Wenn ich mich in ein Buch vertiefen will, ertappe ich mich oft darauf, daß ich die Schule schwänze und meinen Gedanken nachhänge. Ich finde es nicht so leicht, gelehrt zu sein wie Pläne für Arbeiterwohnungen zu zeichnen.«

Sie setzte sich neben ihren Onkel, Will gegenüber und war offenbar von etwas preoccupirt, was sie die Gegenwart des letzteren fast vergessen ließ. Komischerweise fühlte Will sich desappointirt Enttäuscht. – Sonst im Deutschen nicht gebräuchliche Anglizismen wie »desappointirt« oder »preoccupirt« gehören zu den, vorsichtig ausgedrückt: ›Eigentümlichkeiten‹ von Lehmanns Übersetzung … –  Anm.d.Hrsg., wie wenn er zu der Annahme berechtigt gewesen wäre, daß Dorothea's Kommen etwas mit seiner Person zu thun habe.

»Nun ja, liebes Kind, es war ja Dein Steckenpferd, Pläne zu zeichnen. Aber es war gut, daß Du darin ein bischen gestört wurdest. Steckenpferde gehen leicht mit uns durch, weißt Du, und es taugt nichts, wenn ein Pferd mit uns durchgeht; wir müssen die Zügel in der Hand behalten. Ich habe es nie dazu kommen lassen, daß eines mit mir durchgegangen ist, ich habe immer rechtzeitig angezogen. Das sage ich auch Ladislaw. Er und ich, wir haben viel Aehnlichkeit mit einander, weißt Du, er liebt es auch, Alles kennen zu lernen. Jetzt eben beschäftigen wir uns mit der Todesstrafe. Wir werden sehr viel mit einander arbeiten, Ladislaw und ich.«

»Ja,« sagte Dorothea mit charakteristischer Offenheit, »Sir James sagt mir, daß er hoffe, bald eine große Veränderung in der Verwaltung Deines Gutes eintreten zusehen – daß Du daran denkst, die Pachthöfe neu taxiren, Reparaturen machen und die Wohnungen verbessern zu lassen, so daß Tipton ein ganz anderes Ansehen bekommen würde. O wie schön!« fuhr sie fort, indem sie die Hände wieder in jener kindlichen und ungestümen Weise faltete, die sie seit ihrer Verheirathung fast verloren hatte. »Wenn ich noch zu Hause wäre, würde ich wieder zu reiten anfangen, um Dich überall hinbegleiten und Alles mit Dir ansehen zu können! Und Du willst Herrn Garth engagiren, der meine Pläne zu Arbeiterwohnungen gelobt hat, sagt mir Sir James.«

»Das ist ein wenig voreilig von Chettam, liebes Kind,« sagte Herr Brooke leicht erröthend. »Ein wenig voreilig, weißt Du. Ich habe nie gesagt, daß ich irgend etwas der Art thun würde – ich habe auch nie gesagt, daß ich es nicht thun würde, weißt Du.«

»Er hofft nur zuversichtlich, daß Du es thun wirst,« sagte Dorothea mit einer Stimme, die so klar und fest war wie die eines Chorknaben, der sein Credo singt; »weil Du die Absicht hast, Mitglied des Parlaments zu werden und als solches für die Verbesserung der Lage des Volkes zu wirken, und weil der Zustand des ländlichen Grundbesitzes und der ländlichen Arbeiter eines der ersten Dinge ist, welche der Verbesserung bedürfen. Denke an Kit Downes, Onkel, der mit seiner Frau und sieben Kindern in einem Häuschen mit einem Wohn- und einem Schlafzimmer lebt, das kaum größer ist als dieser Tisch! – Und die armen Dagleys in ihrem dem Einsturze nahen Hause, wo sie in der Küche wohnen und schlafen und die anderen Räume den Ratten überlassen. Das ist einer der Gründe, lieber Onkel, warum ich an Deinen Gemälden hier, für die Du mir jedes Verständniß absprichst, keinen Gefallen fand. Ich pflegte, wenn ich von meinen Spaziergängen zurück kam, all den Schmutz und die gemeine Häßlichkeit des Dorfes wie einen Schmerz mit nach Hause zu nehmen, und da erschienen mir dann die Bilder im Salon mit ihren ewig lächelnden Gesichtern wie eine nichtswürdige Versuchung, sich am Unwahren zu erfreuen, während wir vergessen, wie hart die nackte Wirklichkeit auf unsern Nebenmenschen außerhalb unseres Hauses lastet. Ich glaube, wir haben kein Recht, vorzugehen und auf umfassendere Verbesserungen zu dringen, bis wir es versucht haben, die Uebel, die uns dicht vor Augen liegen und für uns erreichbar sind, abzustellen.«

Dorothea's hatte sich im Verlaufe ihrer Rede eine tiefe Erregung bemächtigt; sie dachte an nichts als an den unaussprechlichen Genuß, ihren Gefühlen ganz freien Lauf zu lassen, wie sie es ehedem zu thun gewohnt gewesen war, wie sie es aber seit ihrer Verheirathung, in dem steten Kampfe ihrer energischen Natur mit ängstlicher Besorgniß, fast nie mehr gekonnt hatte.

Für den Augenblick war Will's Bewunderung für sie von einem erkältenden Gefühle der Entfremdung begleitet. Männer schämen sich selten des Gefühls, ein Weib weniger lieben zu können, wenn sie in ihrem Wesen eine gewisse Größe entdecken, weil die Natur Größe nur für Männer bestimmt habe. Aber die Natur hat sich bei der Ausführung ihrer Absichten bedauerliche Versehen zu Schulden kommen lassen, wie eben jetzt figura zeigte: das männliche Bewußtsein des guten Herrn Brooke war eben durch die Beredsamkeit seiner Nichte kläglich erschüttert. Er fand im Augenblick kein anderes Mittel, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben, als aufzustehen, seine Lorgnette aufzusetzen und in den vor ihm liegenden Papieren zu blättern.

Endlich sagte er:

»An dem, was Du sagst, ist etwas, liebes Kind, etwas an dem, was Du sagst, ist begründet – aber nicht alles. Wie, Ladislaw? Sie und ich wir lassen uns nicht gern etwas gegen unsere Bilder und Statuen sagen. Junge Damen sind ein wenig leidenschaftlich, weißt Du, ein wenig einseitig, mein liebes Kind. Schöne Künste, Poesie, und was dahin gehört, erheben eine Nation – emollit mores Ovid, Ex Ponto II, 47f.: adde quod ingenuas didicisse fideliter artes / emollit mores nec sinit esse feros (denk auch daran, dass das Studium der freien Künste sich mildernd auf das Verhalten auswirkt und ihm keine Rohheit gestattet). –  Anm.d.Hrsg. – Du verstehst ja jetzt ein bischen Latein. Aber wie? – was?«

Diese fragenden Ausrufe galten dem Diener, der eingetreten war, um zu melden, daß der Wildhüter einen von Dagley's Jungen mit einem eben getödteten jungen Hasen in der Hand betroffen habe.

»Gleich, gleich! – Ich will ihn schon leicht genug davon kommen lassen,« sagte Herr Brooke bei Seite zu Dorothea, indem er in bester Laune davon wackelte.

»Ich hoffe, Sie fühlen, wie berechtigt diese Veränderung ist, welche ich – welche Sir James herbei wünscht,« sagte Dorothea zu Will, sobald ihr Onkel das Zimmer verlassen hatte.

»Das thue ich allerdings jetzt, nachdem ich Sie darüber habe reden hören. Ich werde nicht vergessen, was Sie gesagt haben. Aber können Sie in diesem Augenblicke an etwas anderes denken? Vielleicht bietet sich mir keine zweite Gelegenheit, mit Ihnen über das zu reden, was vorgefallen ist,« sagte Will, indem er ungeduldig aufstand und sich mit beiden Händen auf die Lehne seines Stuhles stützte.

«Bitte, sagen Sie mir, was es ist,« sagte Dorothea, indem sie, von einer inneren Unruhe getrieben, gleichfalls aufstand und an das offene Fenster trat, durch welches Monk keuchend und mit dem Schweife wedelnd ins Zimmer sah.

Sie lehnte sich gegen die Fensterbrüstung und legte ihre Hand auf den Kopf des Hundes; denn obgleich sie, wie wir wissen, keine Freundin von Schooßhündchen war, die man auf den Arm nehmen muß, wenn man nicht Gefahr laufen will, auf sie zu treten, war sie doch immer sehr aufmerksam auf die Gefühlsäußerungen der Hunde und sehr höflich, wenn sie in den Fall kam, die Gunstbezeugungen derselben abzulehnen.

Will folgte ihr nur mit den Augen und sagte: »Sie wissen vermuthlich, daß Herr Casaubon mir sein Haus verboten hat.«

»Nein, das wußte ich nicht,« antwortete Dorothea nach einer kleinen Pause. Sie war offenbar sehr erregt. »Das thut mir sehr, sehr leid,« fügte sie traurig hinzu.

Sie dachte an etwas, wovon Will noch nichts wußte – an jene nächtliche Unterredung mit ihrem Gatten, und sie fühlte sich auf's Neue wie niedergeschmettert von der Hoffnungslosigkeit, auf Casaubon's Handlungen je Einfluß zu gewinnen.

Aber der scharfausgeprägte Ausdruck ihres Kummers überzeugte Will, daß derselbe nicht ausschließlich ihm persönlich gelte und daß es ihr noch nicht aufgegangen sei, wie sich Casaubon's Abneigung und Eifersucht auf ihn auch gegen sie kehre. Er empfand eine sonderbare Mischung von Entzücken und Verdruß, – Entzücken darüber, daß er in ihren Gedanken wie in einer reinen Heimath, ohne Argwohn und ohne Mißgunst wohnen und freundlich gehegt werden könne, – Verdruß darüber, daß er von zu geringer Wichtigkeit, nicht furchtbar genug für sie sei und mit einem zuversichtlichen Wohlwollen von ihr behandelt werde, welches nicht schmeichelhaft für ihn war.

Aber seine Furcht, daß irgend etwas an Dorotheen anders werden könne, war mächtiger als seine Unzufriedenheit, und er fing in einem rein erklärenden Tone wieder zu reden an.

»Herr Casaubon bezeichnet als Grund jenes Verbots sein Mißfallen darüber, daß ich hier eine Stellung angenommen habe, welche er mit dem mir als seinem Vetter zukommenden gesellschaftlichen Range unverträglich findet. Ich habe ihm erklärt, daß ich in diesem Punkte nicht nachgeben könne. Es ist doch gar zu hart für mich, darauf gefaßt sein zu müssen, mich in meiner Carriere durch Vorurtheile gehemmt zu sehen, welche mir lächerlich erscheinen. Die Pflichten der Dankbarkeit können uns in so übertriebener Weise aufgebürdet werden, daß sie zu einem Brandmal der Sklaverei für uns werden, welches man uns zu einer Zeit aufgedrückt hat, wo wir noch zu jung waren, um seine Bedeutung zu verstehen. Ich würde die mir hier angebotene Stellung nicht angenommen haben, wenn ich nicht geglaubt hätte, dieselbe zu einer nützlichen und ehrenvollen machen zu können. Ich habe keine Verpflichtung, die Würde der Familie in irgend einem andern Sinne zu wahren.«

Dorothea fühlte sich unglücklich. Ihr schien ihr Gatte noch aus anderen als den von Will angeführten Gründen durchaus im Unrecht zu sein.

»Wir thun besser, nicht weiter über die Sache zu reden,« sagte sie mit einer ungewöhnlich zitternden Stimme, »da Sie und Herr Casaubon verschiedener Ansicht sind. Gedenken Sie hier zu bleiben?«

Sie sah nachdenklich mit einem melancholischen Blick auf den Rasen hinaus.

»Ja, aber ich werde Sie wohl kaum jemals sehen,« erwiderte Will in einem fast knabenhaft klagenden Tone.

»Nein,« sagte Dorothea, indem sie ihn gerade ansah, »kaum jemals. Aber ich werde von Ihnen hören. Ich werde erfahren, was Sie für meinen Onkel thun.«

»Aber werde ich je etwas von Ihnen erfahren?« sagte Will. »Kein Mensch wird mir etwas über Sie mittheilen.«

»O, mein Leben ist sehr einfach,« entgegnete Dorothea, deren Lippen ein feines Lächeln umspielte, welches den melancholischen Ausdruck ihres Gesichts verklärte. »Ich bin immer in Lowick.«

»Das ist ein schreckliches Gefängniß!« rief Will ungestüm aus.

»Nein, glauben Sie das nicht,« erwiderte Dorothea. »Mich quält kein unbefriedigtes Verlangen.«

Er schwieg, sie aber fügte, als lese sie in seinem Gesichte einen Einwand, sofort hinzu: »Ich meine für mich – außer daß ich wünschte, nicht so viel mehr zu haben, als was mir zukommt, ohne etwas für Andere thun zu können. Aber ich habe meinen eigenen Glauben und der tröstet mich.«

»Und der wäre?« fragte Will, den eine Anwandlung von Eifersucht auf diesen Glauben überkam.

»Mein Glaube ist, daß wir, indem wir das vollkommen Gute herbeiwünschen, selbst wenn wir nicht genau wissen, worin dasselbe besteht, und nicht thun können, was wir möchten, uns zu einem Theile der göttlichen Gewalt gegen das Böse machen, so die Grenzen des Lichtes erweitern und den Kampf mit der Finsterniß auf ein engeres Gebiet beschränken.«

»Das ist ein schöner Mysticismus – das ist ein –«

»Bitte, geben Sie der Sache keinen bestimmten Namen,« sagte Dorothea, indem sie die Hände wie flehend erhob. »Sie werden sagen, das sei ein persischer oder sonst wie national zu bezeichnender Glaube. Ich aber sage Ihnen, ich habe diesen Glauben als den rechten für mich herausgefunden, und ich kann nicht von ihm lassen. Seit meiner frühesten Jugend habe ich mir immer meine eigene Religion gebildet. Früher pflegte ich sehr viel zu beten – jetzt bete ich fast nie mehr. Ich versuche es, keine Wünsche ausschließlich für mich zu haben, weil dieselben vielleicht nicht gut für Andere wären und ich schon zuviel habe. Ich habe Ihnen das nur gesagt, damit Sie sich deutlich vorstellen können, wie mir die Tage in Lowick hingehen.«

»Gott segne Sie, daß Sie mir das gesagt haben!« rief Will feurig und fast über sich selbst verwundert aus. Sie sahen sich an wie zwei einander liebende Kinder, die sich vertraulich über Vögel unterhalten.

»Was ist denn Ihre Religion?« fragte Dorothea. »Ich meine nicht, was Sie über Religion wissen, sondern welcher Glaube Ihnen das Leben am besten tragen hilft?«

»Was mir am meisten dazu hilft, ist, daß ich das Gute und Schöne liebe, wo ich es finde,« antwortete Will, »aber ich bin ein Rebell. Ich fühle mich nicht wie Sie verpflichtet, mich dem zu fügen, was ich nicht liebe.«

»Aber wenn Sie das Gute lieben, kommt es ja auf dasselbe heraus,« sagte Dorothea lächelnd.

»Da machen Sie eine sehr subtile Distinction,« erwiderte Will.

»Ja, Casaubon sagt oft, ich sei zu subtil, aber ich habe nicht die Empfindung, als ob ich subtil wäre,« entgegnete Dorothea scherzend. »Aber wie lange mein Onkel fortbleibt! Ich muß einmal nach ihm sehen. Es wird Zeit für mich, nach Freshitt-Hall zu fahren. Celia erwartet mich.«

Will erbot sich, Herrn Brooke Bescheid zu sagen; dieser erschien alsbald und sagte, er wolle zu Dorotheen in den Wagen steigen und bis zu den Dagley's mitfahren, um mit Diesen über den kleinen Delinquenten zu reden, der vorhin mit dem jungen Hasen abgefaßt worden war.

Dorothea brachte während der Fahrt den Zustand des Gutes wieder auf's Tapet, aber Herr Brooke, den die Sache dieses Mal nicht unvorbereitet traf, verstand es jetzt, die Unterhaltung zu beherrschen.

»Siehst Du, liebes Kind,« erwiderte er, »Chettam tadelt meine Verwaltung; aber ich würde mein Wild nicht hüten lassen, wenn es nicht für Chettam wäre, und er kann doch nicht behaupten, daß das eine im Interesse der Pächter gemachte Ausgabe sei, weißt Du. Die Sache geht mir ein wenig gegen den Strich – wenn man über Wilddiebereien näher nachdenkt. Ich habe oft daran gedacht, die Sache zum Gegenstande eines eingehenden Studiums zu machen. Es ist noch nicht lange her, daß der Methodistenprediger Flavell verhaftet wurde, weil er einen Hasen todtgeschlagen hatte, der ihm über den Weg lief, als er mit seiner Frau spazieren ging. Er war rasch bei der Hand und traf den Hasen im Nacken.«

»Das war sehr brutal, finde ich,« sagte Dorothea.

»Nun ja, ich gestehe, ich fand es auch recht übel von einem Methodistenprediger, weißt Du. Und Johnson sagte, man könne daran sehen, was er für ein Heuchler sei. Und auf mein Wort, Flavell sah mir sehr wenig wie ›ein Mensch von hoher Sittlichkeit‹ A Christian is the highest style of man‹. ( Night Thoughts, Night  IV, V. 788). – Edward Young (1683-1765), englischer Dichter. –  Anm.d.Hrsg. aus – wie Einer den echten Christen, bezeichnet hat – Young – der Dichter Young Du kennst ja wohl Young? Und wie nun Flavell in seinen schäbigen schwarzen Gamaschen sich damit vertheidigte, daß er geglaubt habe, der Herr habe ihm und seiner Frau ein gutes Mittagessen senden wollen und er habe ein Recht darauf gehabt, den Hasen zu erschlagen, obgleich er kein mächtiger Jäger vor dem Herrn sei, wie Nimrod es gewesen – ich versichere Dich, es war sehr komisch. Fielding hätte daraus etwas machen können, oder von den jetzt Lebenden Scott – für Scott wäre das ein Stoff gewesen. Aber bei alledem konnte ich, als ich über die Sache nachdachte, nicht umhin mich zu freuen, daß der arme Kerl sein Tischgebet einmal über einen Hasenbraten hatte sprechen können. Das Alles ist Sache des Vorurtheils – des Vorurtheils, dem das Gesetz zur Seite steht, weißt Du – mit dem Stock und den Gamaschen und so weiter. Indessen es hilft zu nichts, über die Dinge zu raisonniren, und Gesetz ist Gesetz. Aber ich brachte Johnson dahin zu schweigen und vertuschte die Sache. Ich zweifle, ob Chettam bei dieser Gelegenheit nicht strenger verfahren wäre, und doch greift er mich an, als wäre ich der härteste Mann in der Grafschaft. Aber da sind wir ja schon bei Dagley's.«

Herr Brooke stieg vor der Pforte eines kleinen Pachthofs ab, und Dorothea fuhr weiter.

Es ist merkwürdig, wie viel häßlicher uns die Dinge erscheinen, so bald wir nur argwöhnen, daß man uns wegen derselben tadelt. Selbst unsere eigene Person erscheint uns bei einer Betrachtung im Spiegel leicht in einem andern Lichte, wenn wir vorher eine offene Bemerkung über die weniger vortheilhaften Seiten unserer Erscheinung haben anhören müssen; andererseits aber ist es erstaunlich, wie leicht sich unser Gewissen mit Uebergriffen gegen Solche abfindet, welche sich nie beklagen oder Niemanden haben, der für sie klagt.

Noch nie war Dagley's Heimstätte Herrn Brooke so trostlos verfallen erschienen wie heute, wo auf seinem Gemüthe die ihm auch von Sir James gemachten Vorwürfe der ›Trompete‹ lasteten.

Zwar ein Beobachter, der diese ›Freimanns-Ende‹ genannte Heimstätte mit jenem künstlerisch gebildeten Auge, das uns das Elend unserer Nebenmenschen malerisch erscheinen läßt, betrachtet hätte, würde von diesem Anblick vielleicht entzückt gewesen sein.

Das alte Haus hatte ein dunkelrothes Dach mit kleinen Fenstern; zwei von den darauf befindlichen Schornsteinen waren ganz von Epheu überwuchert, die große vordere Eingangsthür war durch Reisigbündel versperrt und die Fenster waren größtentheils mit grauen wurmstichigen Läden verschlossen, an welchen sich Jasminsträuche in wilder Ueppigkeit emporrankten; die verfallene Gartenmauer mit den darüber wegblickenden Herbstrosen lag da wie eine vollendete Studie zart gemischter, gedämpfter Farbentöne und an der Rückseite des Hauses, vor der offenen Küchenthür, hatte eine betagte, offenbar einem alten Aberglauben zu Liebe gehaltene Ziege ihr Lager aufgeschlagen.

Das moosbewachsene Strohdach des als Kuhstall dienenden Schuppens, das zerbrochene graue Scheunenthor, die Arbeiter in ihren zerlumpten Hosen, welche mit dem Abladen von Korn, das morgen früh in der Scheune gedroschen werden sollte, nahezu fertig waren; die wenigen Kühe, die zum Melken angebunden standen und den größeren Theil des Kuhstalls in leerem Dunkel daliegen ließen, selbst die Schweine und die weißen Enten, welche auf dem unebenen vernachlässigten Hofe umherwanderten, als ob sie über die zu geringe Qualität des zu ihrer Nahrung dienenden Spülichts unzufrieden seien – alle diese Gegenstände, wie sie in der ruhigen Beleuchtung eines mit hohen Wolken übersäeten Himmels dalagen, bildeten ein malerisches Ganze, dergleichen uns Alle schon einmal durch seine Reize gefesselt und andere Empfindungen in uns rege gemacht hat, als es diejenigen sind, zu denen die in den Zeitungen jener Tage besprochene gedrückte Lage des Landmanns mit seinem beklagenswerthen Mangel an Kapital veranlassen mußte.

Aber diese störenden Nebengedanken drängten sich Herrn Brooke eben jetzt auf und verdarben ihm den Eindruck der malerischen Scene.

Der Pächter Dagley selbst figurirte in der Landschaft. In der Hand hielt er eine Heugabel, auf dem Kopfe trug er seinen Melkhut – einen sehr alten, vorn abgeflachten Filzhut. Rock und Hofe aber waren seine besten und er würde sie nicht an diesem Wochentage getragen haben, wenn er nicht zu Markte gewesen und später als gewöhnlich nach Hause zurückgekehrt wäre, nachdem er sich den seltenen Genuß bereitet hatte, im ›blauen Ochsen‹ an der table d'hôte zu speisen.

Wie er zu dieser Extravaganz gekommen war, würde er sich am nächsten Morgen vielleicht selbst nicht mehr recht erklärt haben können. Aber gerade vor Tisch hatten ihn eine allgemein herrschende, politische Spannung, Geschichten über den neuen König und zahlreiche Anschlagszettel an den Mauern in eine Stimmung versetzt, welche eine kleine Ausschweifung zu rechtfertigen schien.

Es war ein in Middlemarch feststehender und als selbstverständlich betrachteter Grundsatz, daß zu gutem Essen auch ein gutes Getränk gehöre, und letzteres hatte Dagley in der Gestalt von Ale während des Essens und von Rum und Wasser nach Tische reichlich zu sich genommen. Diese Getränke hatten es aber nicht vermocht, den armen Dagley heiterer zu stimmen; sie bewirkten nur, daß er in seiner Unzufriedenheit weniger verschlossen war als gewöhnlich.

Er hatte auch ein bischen zu viel von verworrenem politischem Geschwätz zu sich genommen, ein Reizmittel, das ihn in bedenklicher Weise aus seinen conservativen Pächteranschauungen aufstörte, welche wesentlich darauf hinausliefen, daß alles Bestehende schlecht und jede Veränderung wahrscheinlich noch schlimmer sei.

Sein Gesicht war geröthet und seine Augen hatten einen entschieden zanksüchtig starren Ausdruck, als er jetzt die Heugabel fest mit der Hand umklammernd stillstand, während sein Gutsherr, die eine Hand in der Hosentasche und mit der andern ein Spazierstöckchen schwingend, behaglich auf ihn zugewackelt kam.

»Dagley, mein lieber Dagley,« fing Herr Brooke an, der sich der Absicht bewußt war, sehr nachsichtig in Betreff des Jungen zu sein.

»Ei, ei! Ich bin der liebe Dagley, bin ich das wirklich? Dank Ihnen, Herr, dank Ihnen,« sagte Dagley in einem laut knurrenden mürrischen Tone, der den Schäferhund Fag von seinem Sitze aufscheuchte und die Ohren spitzen ließ; als er aber Monk, der sich bisher draußen umhergetrieben hatte, jetzt auch in den Hof treten sah, setzte sich Fag wieder nieder und nahm eine beobachtende Haltung an. »Das freut mich zu hören, daß ich der liebe Dagley bin.«

Herrn Brooke fiel ein, daß es Markttag sei und daß sein würdiger Pächter vermuthlich in der Stadt gespeist habe; er sah aber darin keinen Grund, nicht fortzufahren, da er ja Vorsichts halber Das, was er zu sagen habe, gegen Frau Dagley wiederholen könne.

»Euer kleiner Jacob ist beim Tödten eines jungen Hasen abgefaßt worden, Dagley; ich habe Johnson gesagt, er solle ihn auf etwa eine Stunde in den leeren Stall einsperren, nur um ihm etwas bange zu machen, wißt Ihr. Aber er wird Euch vor Abend noch nach Hause gebracht werden und dann seht Ihr wohl einmal nach ihm, nicht wahr, und setzet ihn ein bischen zurecht, wißt Ihr.«

»Nein, das will ich nicht! Ich will verdammt sein, wenn ich Euch oder sonst Jemandem zu Gefallen meinen Jungen durchprügle, das thät' ich nicht, und wenn Sie zwanzig Gutsherren wären anstatt einer und noch dazu ein recht schlechter.«

Dagley sprach so laut, daß seine Worte die Frau hinten an die Küchenthür, den einzigen zum Eintritt in das Haus benützten, außer bei schlechtem Wetter immer offen stehenden Eingang lockten, und Herr Brooke lenkte seine Schritte mit den Worten: »Gut, gut, ich will mit Eurer Frau reden, ich habe ja gar nicht an Prügeln gedacht, wißt Ihr,« dem Hause zu.

Aber Dagley, den das Fortgehen Brooke's nur noch mehr reizte, ihm seine ganze Meinung zu sagen, folgte demselben auf dem Fuße, und Fag entzog sich verdrossen einigen kleinen Freundlichkeiten Monks und wackelte dicht hinter seinem Herrn her.

»Wie geht es Ihnen, Frau Dagley?« sagte Herr Brooke, der seine Schritte ein wenig beeilt hatte. »Ich bin hergekommen, um über Ihren Jungen mit Ihnen zu reden; ich verlange nicht, daß Sie ihm etwas mit dem Stecken geben, wissen Sie.«

Herr Brooke gebrauchte dieses Mal die Vorsicht, ganz deutlich zu sprechen.

Frau Dagley, – eine magere, unter der Last ihrer Arbeit fast erliegende, abgehärmt aussehende Frau, der alle Lebensfreude so völlig abhanden gekommen war, daß sie nicht einmal Sonntagskleider hatte, die ihr bei einem Besuch der Kirche zur Genugthuung hätten gereichen können –, hatte schon seit der Rückkehr ihres Mannes einen Wortwechsel mit demselben gehabt und war in sehr gedrückter Stimmung auf das Schlimmste gefaßt.

Aber ihr Mann kam ihr mit seiner Antwort zuvor.

»Nein, er bekommt auch keine Prügel, gleichviel ob Sie es verlangen oder nicht,« fuhr Dagley fort und schrie dabei so laut, als wolle er seinen Worten damit den gehörigen Nachdruck geben. »Sie haben gar nicht nöthig, hierher zu kommen und von Stecken zu reden, da Sie ja doch keinen Stecken zum Ausbessern geben würden. Gehen Sie doch nach Middlemarch und hören Sie, was die Leute da von Ihnen sagen.«

»Du thätest besser, Deine Zunge zu wahren, Dagley,« sagte die Frau, »und Dir nicht selber zu schaden. Wenn ein Mann, der Frau und Kinder hat, zu Markte gewesen ist und Geld ausgegeben und zuviel getrunken hat, so hat er für einen Tag Unheil genug angerichtet. Aber ich möchte doch wissen, was mein Junge gethan hat, Herr.«

»Das geht Dich gar nichts an, was er gethan hat,« rief Dagley noch wüthender. »Es ist meine Sache, hier zu reden und nicht Deine. Und ich will auch reden. Ich will sagen, was ich zu sagen habe, – wenn ich auch mein Abendessen darum quitt gehe. Und was ich zu sagen habe, ist, daß ich, wie mein Vater und Großvater vor mir, auf Ihrem Grund und Boden gelebt habe und haben unser Geld hineingesteckt und jetzt könnten ich und meine Kinder uns auf den Boden legen und als Dünger verfaulen, weil wir kein Geld haben, welchen anzuschaffen – wenn nicht der König der Sache ein Ende macht.«

»Mein guter Freund, Ihr seid betrunken,« sagte Herr Brooke zutraulich, aber nicht klug. »Ein andermal, ein andermal,« fügte er hinzu, indem er sich umdrehte, als ob er fortgehen wolle.

Aber Dagley vertrat ihm sofort den Weg und Fag, der sich immer an die Fersen seines Herrn hielt, knurrte leise zur Begleitung der immer lauter und immer gröber werdenden Stimme desselben, während Monk in einer würdigen, schweigend beobachtenden Haltung gleichfalls dicht an ihn herantrat. Die Arbeiter auf dem Kornwagen hielten im Abladen inne, um zuzuhören, und es schien klüger, sich ganz passiv zu verhalten, als eine lächerliche Flucht vor einem schreienden Verfolger zu versuchen.

»Ich bin nicht mehr betrunken als Sie und nicht einmal so viel,« sagte Dagley. »Ich kann vertragen, was ich getrunken habe, und ich weiß, was ich sage. Und ich sage, der König wird der Sache ein Ende machen, denn das sagen Leute, die es wissen können, und wir sollen eine Rifurm bekommen und die Gutsherren, die immer schlecht gegen ihre Pächter gewesen sind, werden so behandelt werden, daß sie sich rasch aus dem Staube machen müssen. Und in Middlemarch giebt es Leute, die wissen, was die Rifurm ist, und die auch wissen, was für Gutsherren sich nächstens aus dem Staube machen müssen. Die haben auch zu mir gesagt: ›Wir wissen, was Ihr Gutsherr für Einer ist«. Da habe ich gesagt: ›Wohl bekomm's Euch, wenn Ihr wißt, was er für Einer ist, mir bekommt's schlecht!‹ Da haben sie gesagt: ›Ein Filz ist er‹. ›Ja wohl, ganz recht, das ist er‹, habe ich gesagt. ›Das ist Einer für die Rifurm‹, haben sie da gesagt – das haben sie gesagt. Und ich habe mich genau erkundigt, was die Rifurm ist – die ist, daß Sie und Ihresgleichen fortgejagt werden und noch hübsch starkriechende Sachen mit auf den Weg bekommen sollen. Und jetzt können Sie thun, was Sie Lust haben, denn ich bin nicht bange vor Ihnen. Und Sie thäten besser, meinen Jungen in Ruhe zu lassen und an sich selber zu denken, ehe die Rifurm Ihnen auf den Buckel kommt. Das ist es, was ich zu sagen habe,« schloß Dagley, indem er seine Heugabel mit einer Heftigkeit in den Boden stieß, die sich unbequem erwies, als er sie wieder herauszuziehen versuchte.

Bei dieser Schlußscene fing Monk laut zu bellen an und der Moment schien Herrn Brooke günstig, um sich davon zu machen. Er ging in einiger Bestürzung über die Neuheit seiner Situation, so rasch ihn seine Füße tragen wollten, fort. Noch nie war er auf seinem eigenen Grund und Boden insultirt worden, und er war geneigt gewesen, zu glauben, daß er sich einer allgemeinen Beliebtheit erfreue. Wir sind Alle geneigt, das von uns zu glauben, wenn wir mehr an unsere vermeintliche Liebenswürdigkeit als an das denken, was Andere von uns verlangen. Als er sich vor zwölf Jahren mit Caleb Garth überworfen hatte, war er der Meinung gewesen, die Pächter würden sich darüber freuen, wenn der Gutsherr Alles wieder in die eigene Hand nehme.

Vielleicht erregt die tiefe Unwissenheit Dagley's Verwunderung bei einigen Lesern dieser Erzählung; aber nichts war zu jener Zeit gewöhnlicher als die erbliche Unwissenheit eines Pächters dieser Art, wenn er auch in dem benachbarten Kirchspiele einen Pfarrer hatte, der durch und durch ein Gentleman war und in nächster Nähe einen Pfarrgehülfen, der noch gelehrter predigte als der Pfarrer selbst; ferner einen Gutsherrn, der sich mit Allem, namentlich mit schönen Künsten und socialen Reformen beschäftigte, und endlich in einer Entfernung von nur drei Meilen alle erleuchteten Geister von Middlemarch.

Wenn man sich einen Begriff davon machen will, wie leicht die Menschen von allen Kenntnissen unberührt bleiben, so versuche man es mit einem in der geistigen Atmosphäre von London lebenden Durchschnittsbekannten und frage sich, was dieser, für ein Diner erwünschte Gesellschafter geworden sein würde, wenn er von dem Küster von Tipton gelernt hätte, sich kümmerlich mit den vier Species zu behelfen und ein Kapitel in der Bibel mit ungeheurer Schwierigkeit zu lesen, weil Namen wie Jesaias und Apollos auch nach zweimaligem Buchstabiren untraitable blieben.

Der arme Dagley las bisweilen an Sonntagabenden einige Verse aus der Bibel und die Welt lag dann wenigstens nicht dunkler vor ihm als vorher. Auf einige Dinge verstand er sich aus dem Grunde, nämlich auf den gewohnheitsmäßig trägen Betrieb des Landbaues und auf die Ungunst des Wetters und der Ernten auf ›Freimannsende‹, mit dessen ironischem Namen offenbar ausgedrückt werden sollte, daß es einem Manne frei stehe, es zu verlassen, wenn er Lust habe, daß es darüber hinaus aber auf Erden keine Stätte für ihn gebe.



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