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Zehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 32 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 10):

They'll take suggestion as a cat laps milk.

Shakespeare: The Tempest.


Die triumphirende Zuversicht des Mayors, die sich auf Featherstone's beharrliches Verlangen, Fred und seine Mutter bei sich zu behalten, gründete, war doch nur eine schwache Erregung im Vergleich mit alle dem, was die Brust der Blutsverwandten des Alten bewegte, die natürlich jetzt, wo er bettlägerig geworden war, ihre Familiengefühle erkennbarer kundgaben und sich zahlreicher einfanden.

Natürlich! denn, so lange der »arme Peter« noch auf seinem Lehnstuhle im getäfelten Zimmer saß, hätten keine Feuerwürmer, für welche die Köchin immer kochendes Wasser auf dem Heerde bereit hält, weniger willkommen sein können, als jene Glieder der Featherstone'schen Familie, deren Blut nicht aus Kränklichkeit, sondern aus Armuth dürftig war.

Bruder Salomon und Schwester Jane waren reich und die Familienaufrichtigkeit und die völlige Enthaltung von jeder falschen Höflichkeit, mit welcher sie sich immer aufgenommen sahen, schien ihnen kein hinreichender Grund zu der Annahme, daß ihr Bruder bei der feierlichen Handlung der Errichtung seines Testaments die berechtigten Ansprüche des Reichthums übersehen würde. Wenigstens hatte er nie die Stimme der Natur soweit verleugnet sie, Salomon und Jane, aus seinem Hause zu verbannen, während es doch kaum unnatürlich erschien, daß er sich Bruder Jonah, Schwester Martha und die Uebrigen, welche nicht den Schatten eines solchen Anspruchs erheben konnten, vom Leibe gehalten habe. Sie kannten Peter's Maxime, daß Geld ein gutes Ei sei und in ein warmes Nest gelegt werden müsse.

Aber Bruder Jonah und alle die übrigen in Dürftigkeit lebenden Verwandten sahen die Sache aus einem andern Gesichtspunkte an. Wahrscheinlichkeiten sind gerade so mannigfaltiger Art wie die Gesichter, welche man auf Flechtwerk oder auf Tapeten sehen kann; wenn man sie nur mit schöpferischer Anlage betrachtet, so erkennt man auf ihnen jeden Gesichtstypus von Jupiter bis herab zu Harlequin.

Die ärmeren und weniger begünstigten Familienmitglieder hielten es für wahrscheinlich, daß Peter, da er während seines Lebens nichts für sie gethan habe, sie in seinem Testamente bedenken werde. Jonah argumentirte, daß die Menschen es liebten, die Welt durch ihr Testament zu überraschen, während Martha fand, daß es Niemanden zu überraschen brauche, wenn Peter den besten Theil seines Geldes denen hinterlasse, die es am wenigsten erwarteten. Auch sollte man doch wohl denken, daß ein leiblicher Bruder, der mit Wassersucht in den Beinen »elendiglich daliege,« zu der Erkenntniß kommen müsse, daß Blut dicker sei als Wasser, und wenn er auch sein Testament nicht verändere, so werde er doch vielleicht Geld bei sich führen.

Auf alle Fälle sollten einige Blutsverwandte im Hause und auf der Hut gegen Solche sein, die eigentlich gar keine Verwandte seien. Man habe erlebt, daß Testamente gefälscht und bestritten worden seien, was für nicht in solchen Testamenten bedachte Personen das Angenehme habe, daß sie dadurch auf irgend eine Weise in den Stand gesetzt würden, von den Testamenten zu leben.

Auch könne es vorkommen, daß Leute die keine Blutsverwandte seien, darauf ertappt würden, wie sie Sachen auf die Seite brächten, und der arme Peter, der so »elendiglich daliege«, sei ja ganz hilflos. Es müsse daher Jemand Wache halten.

Nur in diesem Schlusse stimmten sie mit Salomon und Jane überein; auch einige Neffen, Nichten und Vettern, welche noch feiner in Betreff dessen argumentirten, worauf man bei einem Manne gefaßt sein müsse, der im Stande sei, sein Vermögen »wegzutestiren« und seinen Grillen die Zügel schießen zu lassen, fühlten mit einer Art von gehobenem Bewußtsein, daß es hier ein Familieninteresse wahrzunehmen gelte, und hielten es nur für Recht, nach Stone Court zu gehen.

Schwester Martha, verwittwete Frau Cranch, welche in der »Kalkebene« wohnte, konnte ihrer Brustbeschwerden wegen die Reise nicht selbst unternehmen; aber ihr Sohn, welcher der leibliche Neffe des armen Peter war, konnte sie vortrefflich vertreten und aufpassen, daß sein Onkel Jonah sich nicht die unwahrscheinlichen Dinge, die da wahrscheinlich passiren würden, in unerlaubter Weise zu Nutze mache.

In Wahrheit war alles Featherstone'sche Blut durch die Ueberzeugung in Aufregung versetzt, daß Jeder jedem Anderen auf den Dienst passen müsse und daß jeder Andere wohlthun würde, zu bedenken, daß der Allmächtige Alles sehe, was er thue.

 

So gingen die Blutsverwandten jetzt in Stone Court beständig aus und ein und Mary Garth hatte die unangenehme Aufgabe, ihre Botschaften an Herrn Featherstone ausrichten, und die noch unangenehmere, ihnen regelmäßig die Rückantwort bringen zu müssen, daß er sie nicht sehen wolle.

Als Haushälterin fühlte sie sich nach guter Provinzialsitte verpflichtet, sie zu bitten, doch zu verweilen und etwas zu sich zu nehmen; indessen fand sie es doch richtig, jetzt wo Herr Featherstone zu Bett lag, Frau Vincy in Betreff der unten vor sich gehenden fortwährenden Bewirthung um Rath zu fragen.

»O liebes Kind, Sie müssen die Leute gut bewirthen, das gehört zu einer letzten Krankheit und wo ein großes Vermögen ist. Gott weiß, ich gönne ihnen jeden Schinken im Hause, nur sparen Sie den besten für den Leichenschmaus auf. Sie müssen immer etwas gefüllte Kalbsbrust und einen Käse zum Anschnitt bereit haben. Bei solchen letzten Krankheiten muß man daraus gefaßt sein, offenes Haus zu halten,« sagte die liberale Frau Vincy, die jetzt wieder ganz so gut aussah und so munter war wie früher.

Aber einige der Besuchenden kamen an und – gingen nicht wieder fort, auch nachdem sie mit Kalbsbraten und Schinken gut bewirthet worden waren. Bruder Jonah z. B., der in der Welt heruntergekommen war, gewann seinen Unterhalt jetzt hauptsächlich auf eine Weise, mit welcher er nicht zu prahlen bescheiden genug war, obgleich sie doch viel weniger unrühmlich war als Schwindeln, sei es an der Börse, sei es auf der Rennbahn, die aber seine Anwesenheit in Brassing nicht erforderlich machte, so lange er eine gute Ecke fand, wo er sitzen und etwas Gutes zu essen und zu trinken bekommen konnte. Er wählte die Ecke in der Küche, theils weil er diesen Platz am angenehmsten fand, theils aber auch weil er nicht mit Salomon, über den er eine sehr strenge brüderliche Meinung hatte, zusammen sitzen wollte. Von seinem sehr bequemen Lehnstuhle aus, in welchem er in seinem besten Rocke saß, genoß er des beständigen Anblicks guter Speisen und hatte so das behagliche, mit der angenehmen Vorstellung eines Sonntags und der Schenke im »grünen Mann« untermischte Bewußtsein auf dem Platze zu sein. Er erklärte Mary Garth, er werde hier in der Nähe seines Bruders Peter bleiben, so lange der arme Kerl noch über der Erde sei.

Die Lästigen in einer Familie sind gewöhnlich entweder die Witzbolde oder die Dummköpfe. Jonah war der Witzbold unter den Featherstones und machte seine Späße mit den Dienstmädchen, wenn sie in die Nähe des Herdes kamen, schien aber Fräulein Garth für einen verdächtigen Charakter zu halten und begegnete ihr mit kalten Blicken.

Mary würde die Blicke dieser beiden Augen verhältnißmäßig leicht ertragen haben; unglücklicherweise aber hielt es der junge Cranch, nachdem er den ganzen Weg von der »Kalkebene« hergekommen war, um seine Mutter zu vertreten und seinen Onkel Jonah zu bewachen, gleichfalls für seine Pflicht, längere Zeit zu bleiben und sich vorzugsweise in der Küche aufzuhalten, um seinem Onkel Gesellschaft zu leisten.

Der junge Cranch stand nicht gerade haarscharf in der Mitte zwischen dem Witzbold und dem Dummkopf, sondern neigte sich ein wenig mehr diesem letzteren Typus zu und schielte so, daß man über seine Empfindungen völlig im Dunkeln blieb und nur so viel erkennen konnte, daß sie überall nicht von starker Natur waren. So oft Mary Garth in die Küche kam und Jonah Featherstone anfing, sie mit seinen kalten argwöhnischen Blicken zu verfolgen, gab der junge Cranch seinem Kopfe die gleiche Richtung und schien darauf bestehen zu wollen, daß sie merken solle, wie er schiele, als ob er es absichtlich thue wie die Zigeuner, als Borrow George Borrow (1803-81), englischer Schriftsteller; sein besonderes Interesse galt den europäischen Roma, deren Sprache er fließend zu sprechen lernte; während seines Aufenthalts auf der iberischen Halbinsel übersetzte er das Lukas-Evangelium ins Caló, die spanische Variante der Roma-Sprache. – Anm.d.Hrsg. ihnen das neue Testament vorlas.

Das war etwas mehr, als die arme Mary ertragen konnte, bisweilen machte es sie ärgerlich, bisweilen übte es eine überwältigend komische Wirkung auf sie.

Eines Tages konnte sie, als sich eine Veranlassung dazu bot, der Versuchung nicht widerstehen, Fred die Küchenscene zu beschreiben, und er ließ sich nicht abhalten, auf der Stelle unter dem Vorwande, nur durch die Küche zu gehen, die Scene anzusehen. Aber kaum war er der vier Augen ansichtig geworden, als er auch schon durch die nächste Thür, welche in die Milchkammer führte, wieder hinausstürzen mußte, um hier in ein Lachen auszubrechen, welches an der hohen Decke und den kupfernen Pfannen einen so günstigen Resonanzboden fand, daß es in der Küche ganz deutlich zu hören war.

Fred eilte durch eine andere Thür wieder davon; aber Jonah, welcher ihn jetzt zum ersten Male sah, hatte sofort eine Fülle von Sarkasmen bei der Hand, in welchen er den zarten Teint, das schmale noch delicat aussehende Gesicht und die langen Beine Fred's mit den niedrigsten moralischen Eigenschaften witzig zu kombiniren wußte.

»Na Tom, Du trägst keine so gentile Hosen, Du hast nicht halb so schöne lange Beine,« sagte er zu seinem Neffen, indem er ihm dabei in einer Weise zunickte, die es deutlich machen sollte, daß er diesen Bemerkungen einen besonderen Sinn untergelegt wissen wolle. Tom betrachtete seine Beine, ließ es aber ungewiß, ob er sich über den Mangel langer Gliedmaßen und gentiler Hosen mit seinen moralischen Vorzügen tröste.

Auch in dem großen getäfelten Empfangzimmer hielten unausgesetzt lauernde Augenpaare Wache und fanden sich Blutsverwandte ein, die das eifrigste Verlangen trugen, bei dem Kranken »aufzusitzen«. Viele kamen, frühstückten und gingen wieder fort; aber Bruder Salomon und die Dame, welche fünfundzwanzig Jahre lang Jane Featherstone gewesen war, bevor sie Frau Waule wurde, fanden für gut, dort täglich stundenlang zu sitzen, und zwar ohne daß sie sich erkennbarer Weise mit etwas Anderem beschäftigten als damit, die schlaue Mary Garth zu beobachten, die so unergründlich war, daß man in keiner Sache recht dahinter kommen konnte, was sie wußte und wollte. Gelegentlich verzogen sie auch bei dem Gedanken, daß man ihnen nicht gestatten wolle, in das Krankenzimmer zu gehen, ihr Gesicht in trockene Falten, die auf Thränen deuten sollten, welche sie in einem größere Feuchtigkeit verlangenden Stadium in Strömen würden vergießen können. Denn die Abneigung des Alten gegen seine eigene Familie schien in demselben Maße zuzunehmen wie seine Kraft, sich damit zu amüsiren, daß er ihnen beißende Dinge sagte, abnahm. Zu schwach, um noch zu stechen, sammelte er desto mehr Gift in seinen Adern an.

Da die Beiden an die ihnen durch Mary Garth ausgerichtete Bestellung nicht recht hatten glauben wollen, hatten sie sich zusammen an der Thür des Krankenzimmers gezeigt, Beide in Trauerkleidern – Frau Waule mit einem halbentfalteten weißen Schnupftuch in der Hand – und Beide mit Gesichtern, deren Farbe für eine Art von Halbtrauer gelten konnte, und hatten es mit ansehen müssen, wie Frau Vincy mit ihren rosa Wangen und ihren flatternden rosa Haubenbändern gerade dabei war, ihrem, der Trauernden, leiblichen Bruder eine stärkende Medicin zu verabreichen, und wie der blasse Fred mit seinem kurz geschnittenen Lockenhaar sich behaglich in einem großen Lehnstuhl rekelte.

Kaum war der alte Featherstone dieser Leichenbittergestalten, die seinem ausdrücklichen Befehle zum Trotz erschienen waren, ansichtig geworden, als er in eine Wuth gerieth, die besser dazu angethan schien, ihm Kraft zu verleihen, als die stärkende Medicin. Er saß aufgerichtet in seinem Bette und hatte seinen Stock mit dem goldenen Griff wie immer bei sich liegen. Jetzt ergriff er den Stock und schwang ihn rückwärts und vorwärts, soweit es ihm nur irgend möglich war, offenbar um diese häßlichen Gespenster, die in einer Art von heiserem Gekreisch winselten, zu bannen:

»Weg, weg Frau Waule! weg Salomon!«

»O Bruder Peter,« fing Frau Waule an, aber Salomon wehrte ihr mit der Hand.

Er war ein fast siebenzigjähriger Greis mit großen Backen und kleinen verstohlen blickenden Augen und hatte nicht nur ein viel sanfteres Temperament als sein Bruder Peter, sondern hielt sich auch für viel schlauer. Und in der That gerieth er nicht leicht in Gefahr, sich über einen seiner Nebenmenschen zu täuschen, insofern sie nicht wohl habgieriger und betrügerischer sein konnten, als wofür er sie hielt. Selbst die unsichtbaren Mächte, meinte er, würden sich wohl durch ein hie und da angebrachtes mildes Wort beschwichtigen lassen – wenn es nur von einem vermögenden Manne komme, der übrigens so gottlos sein könne, wie er wolle.

»Bruder Peter,« sagte er in einem einschmeichelnden, aber doch feierlich officiellen Ton. »Es ist nur recht, wenn ich mit Dir über die drei Stücke eingehegten Landes und über das Manganerz rede. Der Allmächtige weiß, was mir am Herzen liegt …«

»Dann weiß er mehr, als ich wissen will,« sagte Peter, indem er seinen Stock neben sich hinlegte wie zum Zeichen eines –Waffenstillstandes, der aber doch auch wieder einen drohenden Charakter hatte, denn er legte den Stock so, daß der goldne Knopf ihm, im Falle es zu einem Handgemenge kommen sollte, als Keule würde dienen können, und richtete seine Blicke scharf nach Salomons kahlem Kopf.

»Es giebt Dinge, die Dich gereuen könnten, Bruder, wenn Du nicht mit mir sprechen willst,« sagte Salomon, ohne jedoch weiter vorzudringen. »Ich würde gern heute Nacht bei Dir wachen und Jane mit mir, und Du könntest Dir dann selber Deine Zeit wählen, mit mir zu reden oder, mich reden zu lassen.«

»Ja wohl, ich will mir schon meine Zeit wählen – Du brauchst mir Deine nicht anzubieten,« erwiderte Peter.

»Aber Du kannst Dir nicht Deine Zeit wählen um zu sterben, Bruder,« fing Frau Waule wieder in ihrem gewöhnlichen wolligen Ton an. »Und wenn Du erst sprachlos daliegst, wirst Du vielleicht der Fremden überdrüssig werden und an mich und meine Kinder denken« – aber bei diesem rührenden Gedanken, welchen sie ihrem sprachlosen Bruder zuschrieb, versagte ihr die Stimme; denn die Erwähnung unserer selbst hat immer etwas natürlich Ergreifendes für uns.

»Nein, das werde ich nicht,« widersprach der alte Featherstone. »Ich werde an keinen von Euch denken. Ich habe mein Testament gemacht, sage ich Euch, ich habe mein Testament gemacht.«

Bei diesen Worten drehte er seinen Kopf wieder Frau Vincy zu und verschluckte noch etwas von seiner stärkenden Medicin.

»O Schwester,« sagte Salomon mit ironischer Milde, »Du und ich, wir sind nicht vornehm, nicht schön und nicht gescheidt genug; wir müssen demüthig sein und es ruhig mit ansehen, wie schlaue Leute sich uns vordrängen.«

Das war mehr, als Fred ertragen konnte; er stand auf und sagte zu Featherstone:

»Sollen meine Mutter und ich das Zimmer verlassen, Onkel, und Dich mit Deinen Geschwistern allein lassen?«

»Setz' Dich wieder hin, sag' ich Dir,« sagte der Alte bissig. »Bleib' wo Du bist. Adieu, Salomon,« fügte er hinzu und versuchte es, dabei seinen Stock wieder zu schwingen, was ihm aber jetzt, weil er den Griff umgekehrt hatte, mißlang.

»Adieu, Frau Waule. Kommt nicht wieder.«

»Ich werde mich unten aufhalten, Bruder, gleichviel ob Du mich sprechen willst oder nicht,« sagte Salomon. »Ich werde meine Pflicht thun und es wird sich zeigen, was der Allmächtige geschehen lassen will.«

»Ja, ob das Vermögen nicht in der Familie bleiben soll,« sagte Frau Waule, indem sie Salomons Gedanken ergänzte, »und wo es tüchtige junge Leute giebt, das Vermögen zu erhalten. Aber mir thun junge Leute leid, die nicht so tüchtig sind, und mir thun ihre Mütter leid. Adieu, Bruder Peter!«

»Bedenke, daß ich der Aelteste nach Dir bin, Bruder, und daß es mir von Anfang an gut gegangen ist, gerade wie Dir, und daß ich schon Land besitze, das auf den Namen Featherstone einregistrirt ist,« sagte Salomon, der sich von diesen Erwägungen die Wirkung versprach, daß sie sich seinem Bruder in schlaflosen Nächten wieder aufdrängen würden. »Aber für jetzt sag' ich Dir Adieu!«

Sie beschleunigten ihren Abgang, als sie sahen, wie der Alte an beiden Seiten seiner Perrücke zupfte und mit weit aufgesperrtem Munde die Augen schloß, wie wenn er sich taub und blind gegen sie machen wolle.

Nichtsdestoweniger fuhren sie fort, täglich nach Stone Court zu kommen und unten pflichtmäßig auf ihrem Posten zu sitzen, wobei sie bisweilen eine leise Unterhaltung mit einander führten, in welcher die Bemerkungen des Einen und die Erwiderungen des Andern so wenig mit einander zu thun zu haben schienen, daß, wer sie gehört hätte, auf die Vermuthung hätte kommen können, es seien Automaten, und nur gezweifelt haben würde, ob der ingenieuse Mechanismus noch länger fortarbeiten oder plötzlich stillstehen würde. Salomon und Jane würden es bedauert haben, zu rasch zu Werke zu gehen; wozu das führe, konnte man an Bruder Jonathan, der danebenan saß, sehen.

Aber in ihre Wache in dem getäfelten Empfangzimmer brachte die Anwesenheit anderer Gäste von nah und fern bisweilen einige Abwechslung. Jetzt da Peter Featherstone oben ans Bett gefesselt war, konnten seine Vermögensverhältnisse mit all der klaren Einsicht erörtert werden, die sich immer in nächster Nähe des Betreffenden findet; einige Nachbaren vom Lande und aus Middlemarch sprachen sich sehr zu Gunsten der Blutsverwandten gegen die Vincy's aus, und weibliche Besuche wurden in ihrer Unterhaltung mit Frau Waule bis zu Thränen gerührt, wenn sie sich erinnerten, wie sie seiner Zeit selbst in ihren Erwartungen durch Codicille und Heirathen ältlicher Herren getäuscht worden seien, von denen man hätte annehmen dürfen, daß sie zu etwas besserem aufgespart bleiben würden.

Solche Unterhaltungen hörten aber, plötzlich auf wie eine Orgel, wenn der Blasebalg nicht mehr getreten wird, so oft Mary Garth in's Zimmer trat, und Aller Augen sich auf sie als auf eine Person richteten, der möglicher Weise etwas vermacht sei und die vielleicht an eiserne Kisten gelangen könne.

Aber die jüngeren mit der Familie verwandten oder bekannten Männer waren geneigt, sie in dieser problematischen Situation als ein Mädchen, das sich mit vielem Takte benehme und das sich bei all' den in der Luft schwebenden Chancen schließlich als eine wenigstens mäßig gute Prise herausstellen könne, zu bewundern.

Daher bekam sie auch ihr Theil Complimente und höflicher Aufmerksamkeiten, namentlich von Herrn Borthrop Trumbull, einem ledigen, bei dem Verkauf von Land und Vieh viel beschäftigten Auctionator, der in jener Gegend eine bedeutende Rolle spielte; er war ein öffentlicher Charakter, dessen Name auf weitverbreiteten Placaten figurirte und der wohl berechtigt war, mitleidig auf Leute herabzublicken, welche nichts von ihm wußten. Er war ein Großcousin Peter Featherstone's und war von diesem freundlicher behandelt worden als irgend ein anderer Verwandter, weil er ihm bei geschäftlichen Angelegenheiten nützlich gewesen war, und in dem Programm für sein Leichenbegängniß, welches der Alte selbst dictirt hatte, war Trumbull zu einem der Leichenträger ernannt worden.

Herr Borthrop Trumbull zeigte nichts von aufdringlicher Begehrlichkeit, sondern hatte nur das Bewußtsein seiner Verdienste, welche, wie er überzeugt war, wenn es sich um Nebenbuhler handeln sollte, diese schlagen würden; so daß, falls Peter Featherstone – der sich gegen ihn, Trumbull, immer so gut benommen hatte wie nur je ein Mensch –, ihn anständig bedacht haben sollte, er nur würde sagen können, daß er nie geschwänzelt und nie etwas für sich zu erhaschen gesucht, sondern den alten Featherstone immer nach seiner besten Erfahrung berathen habe. Diese Erfahrung erstrecke sich jetzt, von der Zeit an gerechnet, wo er mit fünfzehn Jahren Lehrling geworden sei, über zwanzig Jahre, und vermöge ihrer könne er wohl die beste nicht erschlichene Auskunft ertheilen.

Seine Bewunderung war weit entfernt, sich auf seine eigene Person zu beschränken; er hatte sich vielmehr sowohl in seinem Berufe als in seinem Privatleben daran gewöhnt, sich mit besonderer Vorliebe in einer hohen Werthschätzung der Dinge zu ergehen. Er war ein Liebhaber von schönen Phrasen und bediente sich nie einer dürftigen Ausdrucksweise, ohne sich sofort zu corrigiren.

Und das war ein Glück; denn er war etwas laut und liebte es zu dominiren, mochte er nun stehen oder, wie er es häufig that, auf- und abgehen, wobei er seine Weste mit der Miene Jemandes, der sehr von seiner Meinung eingenommen ist, herunterzuziehen, sich dann wieder rasch mit seinem Zeigefinger in's Gleichgewicht zu bringen und jede neue Wiederholung dieser Bewegungen durch ein geschäftiges Spiel mit seinen großen Petschaften zu bezeichnen pflegte.

Nur gelegentlich konnte er etwas heftig werden, das geschah aber meistens nur, wenn er falsche Ansichten mit anhören mußte, deren es so viele in der Welt zu berichtigen giebt, daß die Geduld eines Mannes von einiger literarischer Bildung und Erfahrung dadurch auf eine schwere Probe gestellt wird.

Er sah wohl, daß die Glieder der Featherstone'schen Familie größtentheils Leute von sehr beschränktem Verstande waren; aber als Mann von Welt und als öffentlicher Charakter wußte er die Dinge zu nehmen, wie sie waren, und verschmähte es selbst nicht, in die Küche zu gehen und sich hier mit Jonah und dem jungen Cranch zu unterhalten, auf welchen letzteren er, wie er überzeugt war, durch seine den Gegenstand beherrschenden Fragen in Betreff der »Kalkebene« einen bedeutenden Eindruck gemacht hatte.

Wenn Jemand bemerkt hätte, daß Herr Borthrop Trumbull als Auctionator verpflichtet sei, Alles gründlich zu verstehen, so würde er gelächelt und sich in dem Bewußtsein, daß die Bemerkung so ziemlich zutreffe, schweigend in Positur gesetzt haben. Im Ganzen war er vom Standpunkte eines Auctionators aus gesprochen ein ehrenwerther Mann, der sich seines Geschäftes nicht schämte und fest überzeugt war, daß »der berühmte Peel, jetzt Sir Robert,« wenn er ihm vorgestellt würde, nicht verfehlen würde, sich anerkennend über seine Bedeutung auszusprechen.

»Wenn Sie erlauben, Fräulein Garth, nehme ich gern eine Schnitte Schinken und ein Glas Ale,« sagte er, als er, nachdem ihm die außerordentliche Gunst einer Audienz bei dem alten Featherstone gewährt worden war, um halb zwölf Uhr in's Empfangzimmer trat und sich mit dem Rücken gegen den Kamin zwischen Frau Waule und Salomon stellte. »Sie brauchen deshalb nicht hinauszugehen, lassen Sie mich klingeln!«

»Ich danke Ihnen,« sagte Mary. »Ich habe doch etwas draußen zu thun.«

»Nun, Herr Trumbull, Sie sind wahrhaftig sehr begünstigt,« sagte Frau Waule.

»Was, weil ich den alten Herrn gesehen habe?« fragte der Auctionator, indem er gelassen mit seinen Petschaften spielte. »O, wissen Sie, er hat immer viel auf meinen Rath gegeben.«

Bei diesen Worten preßte er die Lippen zusammen und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Darf man fragen, was unser Bruder gesagt hat?« fragte Salomon in einem sanften, demüthigen Tone, bei welchem er das Bewußtsein einer überflüssigen Schlauheit hatte, da er als ein reicher Mann derselben nicht bedurfte.

»O ja, fragen darf Jeder,« erwiderte Herr Trumbull laut und mit gutmüthigem, wiewohl scharftreffendem Spott. »Jeder darf fragen. Jeder darf seinen Bemerkungen eine fragende Wendung geben,« fuhr er fort, indem seine Stimme in dem Maaße lauter wurde, wie seine Bemerkungen feiner wurden. »Das thun gute Redner fortwährend, selbst wo sie keine Antworten erwarten. Das ist, was wir eine Redefigur nennen.«

Der beredte Auctionator lächelte über seine eigene Feinheit.

»Es sollte mir nicht leid thun zu hören, daß er Sie bedacht hätte, Herr Trumbull,« sagte Salomon. »Ich war nie dagegen, daß das Verdienst belohnt werde. Ich bin nur gegen die Bevorzugung der Verdienstlosen.«

»Sehen Sie, das ist es, das ist es,« sagte Herr Trumbull bedeutungsvoll. »Es kann nicht geleugnet werden, daß verdienstlose Leute schon bisweilen mit Legaten bedacht und sogar zu Universalerben ernannt worden sind. Es ist nicht anders mit testamentarischen Dispositionen.«

Abermals spitzte er die Lippen und runzelte die Stirn ein wenig.

»Wollen Sie damit bestimmt behaupten, Herr Trumbull, daß mein Bruder sein Landeigenthum aus der Familie weg testirt hat?« fragte Frau Waule, auf deren hoffnungsloses Gemüth die langen Wörter einen niederschlagenden Eindruck gemacht hatten.

»Da thäte ein Testator eben so gut, sein Land gleich einer milden Stiftung zu hinterlassen, als es gewissen Leuten zu vermachen,« bemerkte Salomon, als auf die Frage seiner Schwester keine Antwort erfolgte.

»Was? Mildes-Stiftungsland?« fragte Frau Waule wieder. »O, Herr Trumbull, das können Sie nicht im Ernst meinen. Das hieße ja dem lieben Herrgott, der ihn reich gemacht hat, in's Gesicht schlagen.«

Während Frau Waule sprach, ging Herr Borthrop Trumbull vom Kamin weg nach dem Fenster, indem er mit dem Zeigefinger erst an der Innenseite seiner Halsbinde, dann längs seines Backenbarts und endlich über sein gewelltes Haar hinfuhr. Jetzt trat er an Fräulein Garths Arbeitstisch, öffnete ein auf demselben liegendes Buch und las den Titel laut mit schwunghafter Emphase, als ob er es auf einer Auction zum Verkauf ausböte:

»Anna von Geierstein (was er Jirstin aussprach) oder die Jungfrau des Nebels, vom Verfasser von Waverley.« Dann schlug er das Titelblatt um und fing mit lauter klangvoller Stimme an: »Nahezu vier Jahrhunderte sind verflossen, seit die Ereignisse, welche in den folgenden Blättern erzählt werden sollen, auf dem Continente stattfanden.«

Und jetzt erschien das Dienstmädchen mit dem Frühstück, so daß der Augenblick zur Beantwortung von Frau Waule's Fragen glücklich verpaßt war, während sie und Salomon, welche Herrn Trumbull's Bewegungen scharf beobachteten, bei sich dachten, daß doch feine Bildung sich mit der Behandlung ernster Angelegenheiten schlecht vertrage.

Herr Borthrop Trumbull wußte in der That nichts über das Testament des alten Featherstone; aber er würde schwerlich dahin zu bringen gewesen sein, sich zu irgend einer Unwissenheit zu bekennen, so lange man ihn nicht wegen unterlassener Anzeige eines verrätherischen Unternehmens verhaftet hätte.

»Ich will nur einen Mund voll Schinken und ein Glas Ale zu mir nehmen,« sagte er in einem beruhigenden Ton. »Als ein Mann, der mit öffentlichen Geschäften zu thun hat, esse ich einen Bissen, wenn ich grade Zeit habe. Ich will diesem Schinken gegen alle Schinken in den drei Königreichen das Wort reden,« fügte er hinzu nachdem er mit entsetzlicher Eile einige Bissen herunter geschluckt hatte. »Nach meiner Ansicht ist er besser als die Schinken in Freshitt Hall – und ich glaube, ich verstehe mich so ziemlich darauf.«

»Einige mögen nicht so vielen Zucker auf ihrem Schinken,« bemerkte Frau Waule. »Aber mein armer Bruder wollte immer Zucker darauf haben.«

»Wenn irgend Jemand es besser verlangt, so kann er das ja thun; aber, weiß Gott, der Schinken hat doch ein köstliches Aroma! Ich wäre froh, wenn ich Schinken von dieser Qualität bei einer Auction einmal wieder zurückkaufen könnte. Es gewährt einem Gentleman,« – hier gab Herrn Trumbull's Stimme eine bedeutungsvolle Erregung zu erkennen –, »Vergnügen, einen solchen Schinken auf seinem Tische zu haben.«

Er schob seinen Teller bei Seite, leerte sein Glas Ale und rückte seinen Stuhl ein wenig zurück, indem er diese Gelegenheit benutzte, einen Blick auf die Innenseite seiner Beine zu werfen und dieselben wohlgefällig zu streicheln.

»Sie haben da ein interessantes Werk, wie ich sehe, Fräulein Garth,« bemerkte er als Mary wieder ins Zimmer trat. »Es ist von dem Verfasser von ›Waverley‹, das ist Sir Walter Scott. Ich habe mir eines seiner Werke selbst gekauft, ein sehr hübsches Buch, eine sehr bedeutende literarische Production, mit Namen ›Ivanhoe‹. Man findet, glaub' ich, so bald keinen Schriftsteller, der ihm überlegen wäre. Nach meiner Ansicht wird er so leicht nicht übertroffen werden. Ich habe gerade eben ein Stück des Beginns von ›Anne von Jirstin‹ gelesen. Es beginnt gut.« (Bei Herrn Borthrop Trumbull fing nie irgend etwas an, sondern »begann« immer, mochte es sich nun um Angelegenheiten seines Privatlebens oder um seine Auctionsrechnungen handeln.) »Sie lesen fleißig, wie ich sehe. Sind Sie in unserer Middlemarcher Leihbibliothek abonnirt?«

»Nein,« antwortete Mary. »Herr Fred Vincy hat mir dieses Buch geliehen.«

»Ich bin selbst ein großer Bücherfreund,« fuhr Herr Trumbull fort. »Ich besitze nicht weniger als zweihundert in Kalbsleder gebundene Bände und ich glaube mir schmeicheln zu dürfen, daß sie gut ausgewählt sind. Ich besitze auch Bilder von Murillo, Rubens, Teniers, Titian, Vandyk und andern Meistern. Ich würde mich glücklich schätzen, Fräulein Garth, Ihnen irgend ein Buch, das Sie wünschen, leihen zu können.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« entgegnete Mary, die schon wieder hinauseilte, »aber ich habe wenig Zeit zum Lesen.«

»Ich denke mir, mein Bruder hat wohl etwas für die in seinem Testamente gethan,« sagte Salomon in einem leisen Flüsterton, indem er mit dem Kopf nach der Thür, aus welcher Mary eben hinausgegangen war, deutete.

»Aber seine erste Frau war doch eine elende Partie für ihn,« bemerkte Frau Waule. »Sie hat ihm nichts mitgebracht, und dieses Mädchen ist erst ihre Nichte – und dabei eine sehr stolze Person. Und mein Bruder hat ihr immer Lohn bezahlt.«

»Nach meiner Ansicht aber doch ein sehr verständiges Mädchen,« entgegnete Herr Trumbull, indem er sein Ale austrank und mit einem sehr emphatischen Ruck an seiner Weste zupfte. »Ich habe sie beobachtet, wie sie Tropfen in ein Glas goß und abzählte. Sie achtet auf das, was sie thut, lieber Herr. Und das ist eine große Sache bei einer Frau und – eine große Sache für unsern Freund da oben, die arme alte Seele. Ein Mann, an dessen Leben etwas gelegen ist, sollte sich in seiner Frau eine gute Pflegerin schaffen, – darauf würde ich mein Augenmerk richten, wenn ich mich verheirathete, und ich glaube, ich bin lange genug ledig gewesen, um in dieser Beziehung keinen Fehlgriff zu thun. Es giebt Männer, die sich verheirathen müssen, um sich ein wenig zu heben. Aber wenn es so weit kommen sollte, daß ich das nöthig habe, so wird es mir hoffentlich Jemand sagen, wird mich hoffentlich irgend Jemand von dieser Thatsache in Kenntniß setzen. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Frau Waule. Guten Morgen, Herr Featherstone. Ich hoffe, wir sehen uns unter weniger traurigen Auspicien wieder.«

Als Herr Trumbull sich mit einer eleganten Verbeugung verabschiedet hatte, beugte sich Salomon vorüber und sagte zu seiner Schwester: »Du kannst Dich darauf verlassen, Jane, unser Bruder hat dem Mädchen eine gehörige Summe vermacht.«

«Nach der Art, wie Herr Trumbull spricht, muß man das freilich glauben,« erwiderte Jane, »und,« fuhr sie dann nach einer kleinen Pause fort, »er spricht, als ob man es meinen Töchtern nicht anvertrauen könnte, Tropfen einzugießen.«

»Auctionatoren übertreiben immer,« sagte Salomon. »Bei alledem hat Trumbull aber viel Geld verdient.«



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