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Achtes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 30 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 8):

Qui veut delasser hors de propos, lasse.

Pascal: Pensées


Casaubon hatte keinen zweiten Anfall von der Heftigkeit des ersten und fing in wenigen Tagen an, sich wieder seines gewohnten Befindens zu erfreuen. Lydgate aber schien doch den Fall großer Aufmerksamkeit für werth zu halten. Er untersuchte seinen Patienten nicht nur mit dem Stethoskop (dessen Anwendung zu jener Zeit noch etwas in der Praxis nicht Gewöhnliches war), sondern saß öfter längere Zeit ruhig bei ihm und beobachtete ihn. Auf Casaubon's Fragen in Betreff seines Zustandes antwortete er, daß die Quelle seines Unwohlseins in dem bei Männern, welche geistigen Beschäftigungen obliegen, so gewöhnlichen Fehler des zu eifrigen und einförmigen Fleißes liege; eine Abhülfe könne nur Mäßigung in der Arbeit und Abwechslung in Erholung gewähren.

Herr Brooke, der bei einer dieser Gelegenheiten zugegen war, schlug vor, Casaubon solle zu seinem Zeitvertreib fischen, wie es Cadwallader thue, und sich eine Drechselbank anschaffen, um Spielzeug, Tischbeine und dergleichen zu verfertigen.

»Kurz, Sie rathen mir, vor der Zeit kindisch zu werden,« sagte der arme Casaubon etwas bitter. »Diese Dinge,« fügte er zu Lydgate gewandt hinzu, »würden mir ungefähr so viel Erholung bieten, wie das Wergzupfen den Sträflingen im Zuchthause.«

»Ich muß bekennen,« erwiderte Lydgate lächelnd, »daß es mit der Verordnung sich zu zerstreuen, ein eigenes Ding ist. Es ist ungefähr, wie wenn man den Leuten verordnet, sich bei guter Laune zu erhalten. Vielleicht thäte ich besser zu sagen, daß Sie statt ihre angestrengte Thätigkeit fortzusetzen, sich entschließen müssen, sich eine sanfte Langeweile gefallen zu lassen.«

»Ja, ja,« bemerkte Herr Brooke, »lassen Sie Dorothea Abends mit Ihnen Tricktrack spielen und dann – Federball; ich kenne für die Tageszeit kein schöneres Spiel als Federballwerfen. Ich erinnere mich noch sehr wohl der Zeit, wo es die höchste Mode war. Freilich würden Ihre Augen wohl nicht zu dem Spiel taugen, Casaubon. Aber etwas Abspannendes müssen Sie haben, wissen Sie. Vielleicht entschließen Sie sich zu einem leichteren Studium, Conchyliologie zum Beispiel; ich meine immer, das müßte ein leichtes Studium sein. Oder lassen Sie sich von Dorotheen leichte Bücher vorlesen, Smollett's Roderick Random, Humphrey Clinker Tobias Smollett (1721-71), schottischer Schriftsteller; The adventures of Roderick Random (1748) und The expedition of Humphry Clinker (1771) sind Beispiele seiner humorvollen pikaresken Erzählkunst. – Anm.d.Hrsg.; sie sind ein bischen schlüpfrig, aber Dorothea kann ja jetzt, wo sie verheirathet ist, Alles lesen, wissen Sie. Ich erinnere mich, wie herzlich ich darüber gelacht habe, mir schwebt eine höchst komische Stelle über die Lederhosen eines Postillons vor. Es giebt jetzt gar nicht mehr solchen Humor. Ich habe alle diese Sachen gelesen, aber Ihnen dürften sie vielleicht neu sein.«

›So neu wie Distelfressen‹, wäre eine Casaubon's Empfindungen entsprechende Antwort gewesen. Aber aus Rücksicht für den Onkel seiner Frau verneigte er sich nur mit Resignation und bemerkte, daß die von ihm erwähnten Schriften unzweifelhaft ihrer Zeit ›einer gewissen Classe von Lesern als geistiges Anregungsmittel gedient haben‹.

»Sie sehen,« sagte der scharfsinnige Friedensrichter zu Lydgate, als sie den Patienten verlassen hatten, »Casaubon sieht sich auf ein etwas enges Feld beschränkt; er weiß nicht recht, was er anfangen soll, sobald Sie ihm die Beschäftigung mit seinem besonderen Studium untersagen, das, glaub' ich, sehr tiefer Natur ist – auf dem Felde der gelehrten Untersuchung, wissen Sie. Ich würde mich nie auf so etwas einlassen; ich war immer vielseitig. Aber Geistliche sind immer ein bischen beschränkt in ihren Anschauungen. Wenn sie ihn nur jetzt zum Bischof machen wollten! Er hat eine sehr gute Broschüre für Peel geschrieben, da würde er ein bischen mehr Bewegung, mehr Gelegenheit zu glänzendem Auftreten bekommen, vielleicht würde er dabei auch ein bischen dicker. Aber ich rathe Ihnen, mit Frau Casaubon zu reden. Sie ist eine sehr gescheidte Person, meine Nichte. Sagen Sie ihr, daß ihr Mann muntere Unterhaltung und Abwechslung braucht, stiften Sie sie an, ihn zu amüsiren.«

Auch ohne Herrn Brooke's Rath würde Lydgate mit Dorotheen gesprochen haben. Sie war nicht zugegen gewesen, als ihr Onkel seine Vorschläge in Betreff der Art und Weise, wie das Leben in Lowick unterhaltender zu gestalten sei, gemacht hatte; aber gewöhnlich befand sie sich an der Seite ihres Gatten, und der ungezierte Ausdruck ängstlicher Sorge in ihrem Gesichte und in ihrem Tone bei Allem, was Casaubon's Stimmung oder Gesundheit betraf, hatte Lydgate's Aufmerksamkeit gefesselt. Er sagte sich, daß er nur Recht thue, wenn er ihr die Wahrheit in Betreff des Zustandes ihres Gatten mittheile; aber er dachte es sich auch interessant, sich vertraulich mit ihr zu unterhalten.

Aerzte lieben es, psychologische Beobachtungen zu machen; lassen sich aber dabei bisweilen zu inhaltsschweren Prophezeihungen verleiten, denen Leben und Tod nachher Hohn sprechen. Lydgate hatte oft über diese Art von gewagten Voraussagungen gespottet und wollte jetzt vorsichtig zu Werke gehen.

Er fragte nach Frau Casaubon, hörte aber, daß sie spazieren gegangen sei, und wollte eben fortgehen, als Dorothea und Celia, beide mit vom Ankämpfen gegen den Märzwind glühenden Wangen nach Hause zurückkehrten. Als Lydgate Dorothea um die Erlaubniß bat, sie allein sprechen zu dürfen, öffnete sie, ohne an irgend etwas anderes zu denken, als was er ihr über Casaubon's Zustand zu sagen haben möchte, die Bibliotheksthür, welche ihr am nächsten zur Hand war. Es war das erste Mal, daß sie dieses Zimmer betrat, seit Casaubon in demselben unwohl geworden war, und der Diener hatte es unterlassen, die Fensterladen zu öffnen. Aber die kleinen oberen Scheiben der Fenster gewährten doch so viel Licht, daß man dabei hätte lesen können.

»Die Dunkelheit ist Ihnen doch nicht unangenehm,« sagte Dorothea, die sich in die Mitte des Zimmers gestellt hatte. »Da Sie Casaubon alles Lesen verboten haben, ist von Benutzung der Bibliothek noch keine Rede wieder gewesen. Aber ich hoffe, er wird bald wieder hier einziehen können. Finden Sie nicht, daß er Fortschritte macht?«

»Ja wohl, viel raschere Fortschritte als ich anfänglich erwartete. Er ist schon fast wieder so wohl, wie er es vorher war.«

»Und Sie fürchten keine Wiederkehr des Leidens?« fragte Dorothea, deren feinem Ohre die besondere Betonung, mit welcher Lydgate seine letzten Worte gesprochen hatte, nicht entgangen war.

»Es ist schwer in solchen Fällen ein bestimmtes Urtheil auszusprechen,« erwiderte Lydgate. »Nur das Eine kann ich mit Entschiedenheit sagen, daß es wünschenswerth sein wird, sehr sorgfältig darauf zu achten, daß Herr Casaubon seine Nerven nicht zu sehr anspanne.«

»Bitte, reden Sie ganz offen mit mit,« sagte Dorothea dringend. »Es ist mir ein unerträglicher Gedanke, daß ich etwas Casaubon's Zustand Betreffendes nicht wissen könnte und daß ich mir jemals sagen müßte, ich würde, wenn ich es gewußt hätte, anders gehandelt haben.«

Diese Worte klangen wie ein Weheruf; es war klar, daß sie der Ausdruck eines noch nicht alten Erlebnisses waren.

»Nehmen Sie Platz,« fügte sie hinzu, indem sie sich selbst auf den zunächst stehenden Stuhl setzte und Hut und Handschuh mit einer instinctiven Beiseitesetzung jeder Formalität, wo es sich um eine Lebensfrage handelte, abwarf.

»Was Sie eben sagten, entspricht ganz meinen eigenen Anschauungen,« entgegnete Lydgate. »Ich halte es für die Pflicht des Arztes, solchen Versehen so viel wie möglich vorzubeugen. Ich bitte Sie, sich von mir sagen zu lassen, daß Herrn Casaubon's Fall grade zu denen gehört, deren Ausgang vorher zu sagen außerordentlich schwierig ist. Er kann möglicherweise noch fünfzehn Jahre oder länger leben, ohne sich wesentlich schlechter zu befinden, als er es bisher gethan hat.«

Dorothea war bei diesen Worten sehr bleich geworden und sagte, als Lydgate innehielt, mit leiser Stimme: »Sie meinen, wenn wir sehr achtsam sind?«

»Ja – achtsam auf jede geistige Aufregung und vorsorglich gegen zu angestrengten Fleiß!«

»Es würde ihn sehr unglücklich machen, wenn er seine Studien aufgeben müßte,« sagte Dorothea mit rascher Voraussicht des jammervollen Zustandes, in welchen ein solches Feiern Casaubon versetzen würde.

»Das weiß ich. Das einzig richtige Verfahren wird darin bestehen, auf jede Weise, direct und indirect, zu versuchen, moderirend auf seine Beschäftigungen zu wirken und Abwechslung in dieselben zu bringen. Bei einem glücklichen Zusammenwirken der Umstände ist, wie gesagt, keine unmittelbare Gefahr von der Affection des Herzens zu befürchten, welche, glaube ich, die Ursache seines letzten Anfalls war. Andererseits wäre es allerdings auch möglich, daß das Uebel sich rascher entwickelte; der Fall gehört zu denen, bei welchen bisweilen ein plötzlicher Tod eintritt, und es sollte Alles geschehen, was die Voraussicht der Möglichkeit eines solchen Ausgangs erforderlich macht.«

Es entstand eine längere Pause, während deren Dorothea dasaß wie eine Marmorstatue, obgleich ihr inneres Leben so gewaltig pulsirte, daß ihr Geist von einer größeren Fülle von Vorstellungen und Antrieben bewegt wurde, als noch je in so kurzer Zeit an ihm vorübergezogen waren.

»Bitte, helfen Sie mir,« sagte sie endlich in demselben leisen Tone wie zuvor. »Sagen Sie mir, was ich thun kann.«

»Was denken Sie von einer Reise in's Ausland? Sie sind, glaube ich, kürzlich in Rom gewesen?«

Die Erinnerungen, welche Dorotheen sagten, daß dieses Hülfsmittel ganz hoffnungslos sein würde, rissen sie aus ihrer bleichen Unbeweglichkeit heraus.

»O, das wäre nicht das Rechte – das wäre das Schlimmste, was wir thun könnten,« sagte sie mit dem Ausdruck einer kindlichen Verzweiflung, während die Thränen ihr an den Wangen herabrollten. »Es nützt nichts, etwas vorzunehmen, was ihm keine Freude machen würde.«

»Ich wünschte, ich hätte Ihnen das ersparen können,« sagte Lydgate tiefgerührt, aber zugleich betroffen von dem durch Dorotheen's letzte Worte eröffneten Einblick in diese Ehe. Frauen von der Art Dorotheen's waren ihm bis jetzt noch nicht vorgekommen.

»Es war ganz recht von Ihnen, mir nichts vorzuenthalten; ich danke Ihnen, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben.«

»Ich brauche Sie aber wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, daß ich Herrn Casaubon selbst nicht über seinen Zustand aufklären werde. Ich halte es nicht für wünschenswerth, ihm mehr zu sagen, als daß er sich nicht überarbeiten dürfe und gewisse ärztliche Vorschriften beobachten müsse. Irgend welche ängstliche Besorgniß würde gerade das Schlimmste für seinen Zustand sein.«

Lydgate stand auf und Dorothea folgte mechanisch seinem Beispiele, indem sie ihren Mantel aufhakte und zurückschlug, wie wenn sie zu ersticken fürchte. Er verneigte sich und war im Begriff fortzugehen, als ein Impuls, der, wenn sie allein gewesen wäre, sich in ein Gebet verwandelt haben würde, sie schluchzend sagen ließ:

»O, Sie sind ja ein weiser Mann, nicht wahr? Sie verstehen sich auf Leben und Tod. Rathen Sie mir, denken Sie darüber nach, was ich thun kann. Er hat sein Lebelang gearbeitet und vorwärts gestrebt, er hat kein anderes Interesse, und ich habe kein anderes Interesse –«

Noch nach Jahren erinnerte sich Lydgate des Eindrucks, den dieser unwillkürliche Appell an seinen Rath auf ihn machte – dieser Aufschrei einer Seele zu einer andern, mit welcher kein anderes Band sie verknüpfte als das Bewußtsein, daß ihre verwandten menschlichen Naturen sich in demselben wirren Medium, in demselben qualvollen, nur von selten zuckenden Lichtern erhellten Leben bewegten. Was konnte er aber in diesem Augenblicke anders sagen, als daß er Herrn Casaubon morgen wieder besuchen werde.

Als er fort war, machte Dorothea ihrem gepreßten Herzen durch einen Strom von Thränen Luft. Dann aber erinnerte sie sich, daß ihr Gatte nichts von ihrem Kummer merken dürfe, trocknete ihre Thränen und dachte, indem sie sich im Zimmer umsah, daran, daß sie dem Diener sagen wolle, er müsse die Bibliothek wieder wie gewöhnlich in Ordnung halten, da Herr Casaubon jetzt jeden Augenblick wieder hineinzugehen wünschen könne.

Auf seinem Schreibtische lagen Briefe, welche seit dem Morgen, wo er unwohl geworden war, unberührt geblieben waren und unter ihnen, wie sich Dorothea sehr wohl erinnerte, die Briefe des jungen Ladislaw, von denen der an sie gerichtete noch uneröffnet war. Der Gedanke an diese Briefe war ihr seither nur um so peinlicher geworden, als sie sich sagen mußte, daß ihr durch dieselben erregter Zorn wahrscheinlich dazu beigetragen habe, Casaubon's plötzlichen Anfall herbeizuführen; sie hatte keine Neigung verspürt, sich die Briefe aus der Bibliothek zu holen, da es immer noch früh genug sein würde, dieselben zu lesen, wenn sie ihr wieder aufgedrängt werden würden.

Aber jetzt fiel es ihr ein, daß es besser sein würde, die Briefe ihrem Gatten aus dem Gesichte zu bringen. Was auch immer die Ursache seiner Verstimmung über dieselben gewesen sein mochte, jetzt mußte ihm, wenn irgend möglich, eine erneute Verstimmung erspart werden; sie überflog daher zunächst den an ihn gerichteten Brief, um sich zu vergewissern, ob es erforderlich sein werde, ihn zu beantworten, um dem unerwünschten Besuche vorzubeugen.

Will schrieb von Rom aus und begann damit zu sagen, daß er Herrn Casaubon zu tief verpflichtet sei, als daß nicht jeder Ausdruck des Dankes wie eine Impertinenz erscheinen müßte. Es sei ja klar, daß er, wenn er nicht dankbar wäre, der erbärmlichste Wicht sein müßte, der je einen großmüthigen Freund gefunden habe. Seinem Danke einen wortreichen Ausdruck geben würde soviel heißen wie sagen: »Ich bin ein anständiger Mensch.« Aber er sei, fuhr Will fort, zu der Einsicht gelangt, daß er, um seine Fehler, – Fehler, auf welche Herr Casaubon selbst so oft hingewiesen habe –, abzulegen, einer zu energischerer Thätigkeit nöthigenden Lage bedürfe, welcher ihn die Großmuth seines Verwandten bis jetzt überhoben habe. Er glaube zuversichtlich die ihm erwiesenen Wohlthaten am besten dadurch vergelten zu können, wenn eine Vergeltung überall möglich sei, daß er zeige wie die Erziehung, für welche er Herrn Casaubon verpflichtet sei, auf ihn gewirkt habe, und künftig keine Zuwendung von Mitteln mehr in Anspruch nehme, auf welche Andere ein größeres Recht haben möchten. Er werde nach England gehen, um dort sein Glück zu versuchen, wie es so viele andere junge Männer zu thun genöthigt seien, deren einziges Capital in ihrer Begabung bestehe. Sein Freund Naumann habe ihn gebeten, die ›Disputation‹, das für Herrn Casaubon gemalte Bild, mitzunehmen und er werde dasselbe mit der gütigen Erlaubniß von Herrn und Frau Casaubon selbst nach Lowick bringen. Er bitte ihn, falls sein Besuch jetzt nicht gelegen sein sollte, in den nächsten vierzehn Tagen durch einen poste restante nach Paris zu schickenden Brief davon benachrichtigen. Er lege einen Brief für Frau Casaubon ein, in welchem er eine in Rom mit ihr begonnene Discussion über das Wesen der Kunst fortsetze.

Als Dorothea den an sie gerichteten Brief öffnete, sah sie, daß derselbe eine Fortsetzung jenes entschiedenen Protestes gegen ihre fanatische Menschenliebe und ihren Mangel an Fähigkeit, die Dinge, wie sie sind, unbekümmert und rückhaltlos zu genießen – einen Erguß seiner jugendlichen Lebhaftigkeit – enthalte, den sie in diesem Augenblicke unmöglich lesen konnte. Sofort aber mußte sie überlegen, was in Betreff des andern Briefes zu thun sei, es war vielleicht noch Zeit, Will zu verhindern, nach Lowick zu kommen.

Dorothea fand es schließlich das Gerathenste, den Brief ihrem Onkel, der noch im Hause war, zu geben und ihn zu bitten, Will wissen zu lassen, daß Herr Casaubon krank gewesen sei und daß sein Gesundheitszustand ihm die Aufnahme eines Gastes nicht gestatten würde.

Es gab keinen Menschen in der Welt, der bereiter gewesen wäre, einen Brief zu schreiben, als Herr Brooke, die einzige Schwierigkeit bestand für ihn darin, sich kurz zu fassen, und im vorliegenden Falle füllte er die drei nicht zur Adresse verwendeten großen Seiten des Briefbogens mit seinen Gedanken aus. Er hatte Dorotheen auf ihre Bitte nur geantwortet:

»Gewiß will ich ihm schreiben, liebes Kind, er ist ein sehr begabter junger Mensch, dieser junge Ladislaw – er wird es, glaube ich, noch einmal zu etwas bringen. Der Brief ist gut geschrieben – zeugt von Takt und Verständniß, weißt Du. Aber ich will ihm das Nöthige über Casaubon's Zustand schon mittheilen.«

Herrn Brooke's Feder war ein selbstdenkendes Werkzeug, welches Sätze namentlich wohlwollenden Inhalts so rasch auf's Papier warf, daß sein Geist ihnen kaum nachkommen konnte. Die Feder drückte Bedauern aus und proponirte Mittel der Abhülfe, welche Herrn Brooke, als er sie überlas, sehr glücklich ausgedrückt zu sein, merkwürdig das Richtige getroffen zu haben schienen, welche aber etwas mit sich brachten, woran Herr Brooke bis dahin gar nicht gedacht hatte. Im vorliegenden Falle fand seine Feder es so schade, daß der junge Ladislaw nicht gerade um diese Zeit in die Gegend kommen sollte, wo Herr Brooke seine genauere Bekanntschaft machen und mit ihm zusammen die so lange vernachlässigten italienischen Zeichnungen durchgehen könnte; sie interessirte sich ferner so lebhaft für einen jungen Mann, der mit einem Schatz von Ideen in das Leben eintrat, daß sie bereits am Ende der zweiten Seite Herrn Brooke überredet hatte, den jungen Ladislaw einzuladen, da man ihn in Lowick nicht aufnehmen könne, doch nach Tiptonhof zu kommen. Warum nicht? Es würde ihnen nicht an gemeinschaftlicher Beschäftigung fehlen, lebten sie doch in einer Zeit der Entwicklung – der politische Horizont erweitere sich und – kurz, Herrn Brooke's Feder ließ sich zu einer kleinen Rede fortreißen, welche sie erst kürzlich für das mangelhaft redigirte Organ der Presse, den »Middlemarcher Pionier,« verfaßt hatte.

Während Herr Brooke diesen Brief siegelte, fühlte er sich durch eine Fülle vor ihm auftauchender noch unklarer Projecte gehoben: – ein junger Mann mit vorzüglichem Geschick, den rechten Ausdruck für Ideen zu finden, ein Ankauf des »Pionier,« um einem neuen Candidaten freie Bahn zu schaffen, Nutzbarmachung von Documenten – wer konnte sagen, was aus dem Allen entstehen konnte? Da Celia sich schon so bald verheirathete, würde es wenigstens eine Zeit lang sehr angenehm für ihn sein, einen jungen Menschen bei Tisch zur Gesellschaft zu haben.

Aber Herr Brooke verließ Lowick, ohne Dorothea etwas von dem Inhalte des Briefes mitzutheilen; denn sie war gerade mit ihrem Gatten beschäftigt und in der That waren ja diese Dinge von durchaus keiner Wichtigkeit.



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