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Sechzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 38 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 16):

C'est beaucoup que le jugement des hommes sur les actions humaines; tôt ou tard il devient efficace.

François Guizot: Histoire de la civilisation en France. (1658)


Sir James Chettam war mit Brooke's neuen Plänen keineswegs einverstanden; aber es war leichter sich dagegen auszusprechen, als etwas Wirksames dagegen zu unternehmen.

Eines Tages erschien er allein zum Frühstück bei den Cadwallader's und erklärte sein Kommen mit den Worten:

»Ich kann vor Celien nicht, wie ich möchte, mit Ihnen reden; ich fürchte sie zu verletzen und das wäre nicht recht.«

»Ich weiß, was Sie meinen –, den ›Pionier‹ auf Tipton-Hof!« platzte Frau Cadwallader, fast noch ehe Sir James das letzte Wort gesagt hatte, heraus. »Es ist schrecklich, diese Manie, sich Pfeifen zu kaufen und allen Menschen etwas darauf vorzublasen. Den ganzen Tag im Bett liegen und Domino spielen wie der arme Lord Plessy wäre viel harmloser und für Andere erträglicher.«

»Ich sehe, sie fangen an, unsern Freund Brooke in der ›Trompete‹ anzugreifen,« sagte der Pfarrer, indem er sich auf seinem Stuhl räkelte und dabei behaglich lächelte, wie er es gethan haben würde, wenn er selbst angegriffen worden wäre. »Sie machen da furchtbar sarkastische Bemerkungen über einen nicht weit von Middlemarch wohnenden Gutsbesitzer, der seine Pachtgelder selbst eincassirt und nichts abläßt.«

»Ich wollte, Brooke gäbe das auf,« sagte Sir James, indem er die Augbrauen etwas verdrießlich zusammenzog.

»Will er sich denn wirklich bei der Wahl als Kandidaten aufstellen lassen?« fragte Cadwallader. »Ich sprach gestern Farebrother, der selbst whiggistisch gesinnt ist und im Sinne Brougham's und der Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse wirkt, – das ist das Schlimmste, was ich von ihm weiß –, der sagte mir, daß Brooke im Begriff stehe, sich eine ziemlich starke Partei zu bilden. Der Banquier Bulstrode poussirt ihn am stärksten. Er meint aber, es würde Brooke bei der Wahl schlecht gehen!«

»Gewiß,« sagte Sir James nachdrücklich. »Ich habe mich genauer danach erkundigt; denn bisher hatte ich mich nie um Middlemarcher Politik bekümmert, da ich ja nur mit Grafschaftsangelegenheiten zu thun habe. Brooke verläßt sich darauf, daß sie Oliver nicht wieder wählen werden, weil er ein Peelit ist. Aber Hawley sagt mir, daß, wenn sie überall einen Whig in's Parlament schicken, es sicherlich Bagster sein würde, einer von jenen Kandidaten, die der Himmel, weiß woher kommen, aber einer, der furchtbar auf die Minister schimpft und ein parlamentarisch gewandter Mann ist. Hawley war etwas grob; er vergaß, daß er mit mir sprach. Er sagte, wenn Brooke Verlangen danach trage beworfen zu werden, so könne er das billiger haben als auf den hustings Wahlkampfauftritte, Wahlreden. – Anm.d.Hrsg.

»Ich habe Euch alle davor gewarnt,« sagte Frau Cadwallader, »ich habe längst zu Humphrey gesagt, Brooke werde sich noch mit Koth bespritzen, und jetzt hat er es gethan.«

»Nun, er hätte sich ja in den Kopf setzen können, zu heirathen,« bemerkte der Pfarrer, »und das wäre doch noch viel schlimmer gewesen als diese kleine Liebelei mit der Politik.«

»Wer weiß, das thut er vielleicht noch nachher, wenn er erst mit einem blauen Auge davon gekommen ist.«

»Mir liegt natürlich seine persönliche Würde am meisten am Herzen,« sagte Sir James, »weil ich das Interesse der Familie im Auge habe. Er wird auch alt und es ist mir ein unangenehmer Gedanke, daß er sich exponirt. Sie werden alles gegen ihn aufstöbern.«

»Ich halte jeden Versuch, durch Ueberredung auf ihn zu wirken, für aussichtslos.« sagte der Pfarrer. »Brooke ist eine so sonderbare Mischung von Eigensinn und Veränderlichkeit. Haben Sie mit ihm über die Sache gesprochen?«

»Nein,« erwiderte Sir James. »Ich möchte nicht aussehen, als wolle ich ihm etwas vorschreiben. Aber ich habe mit dem jungen Ladislaw gesprochen, der jetzt Brooke's Factotum ist. Ladislaw scheint ein sehr begabter und gescheidter Mensch zu sein; ich hielt es für richtig, einmal seine Meinung zu hören, und er ist dagegen, daß Brooke dieses Mal candidirt. Ich denke, er bringt ihn dahin, daß er noch von der Kandidatur absieht.«

»Sehr begreiflich,« sagte Frau Cadwallader kopfnickend, »das unabhängige Mitglied weiß seine Reden noch nicht ganz auswendig.«

»Aber mit diesem Ladislaw ist es auch eine unangenehme Geschichte,« sagte wieder Sir James. »Wir haben ihn zwei oder drei Mal als Brooke's Gast und Casaubon's Verwandten bei uns zu Tische gehabt, – Sie haben ihn ja auch getroffen –, in der Meinung, er sei nur auf einen kurzen Besuch hier. Und jetzt finde ich, daß alle Leute in Middlemarch von ihm als Redacteur des ›Pionier‹ reden. Er wird als ein fremder Scribent, als ein politischer Emissär und Gott weiß was verschrien.«

»Das wird Casaubon nicht angenehm sein,« sagte der Pfarrer.

»Es läßt sich nicht läugnen, daß der Ladislaw etwas ausländisches Blut in den Adern hat,« erwiderte Sir James. »Ich hoffe, er wird sich nicht in extreme Ansichten verlieren und Brooke mit sich fortreißen.«

»O er ist ein gefährlicher Bursche, dieser Ladislaw,« bemerkte Frau Cadwallader, »mit seinen Opernarien und seiner scharfen Zunge. Er kommt mir vor wie eine Art von Byron'schem Helden, ein verliebter Verschwörer. Und Thomas von Aquino liebt ihn nicht. Das konnte ich neulich sehen, als das Bild gebracht wurde.«

»Ich mag mit Casaubon nicht über die Sache zu reden anfangen,« bemerkte Sir James. »Er hat ein größeres Recht sich hinein zu mischen als ich. Aber die ganze Geschichte ist sehr unangenehm. Was für eine Stellung für einen Menschen mit anständigen Familienverbindungen –, ein Zeitungsschreiber! Man braucht sich nur den Keck anzusehen, der die ›Trompete‹ redigirt. Ich traf ihn neulich mit Hawley. Er schreibt, glaube ich, sehr gut; aber er ist ein so gemeiner Kerl, daß ich lieber wollte, er gehörte zur Gegenpartei.«

»Was kann man von diesen lumpigen Middlemarcher Zeitungen anders erwarten!« sagte der Pfarrer. »Ich glaube nicht, daß Sie irgendwo einen Mann von sehr strengen Grundsätzen finden, der sich dazu brauchen lassen würde, über Interessen zu schreiben, die ihm ganz gleichgiltig sind, und das für ein Honorar, von dem er sich kaum anständig kleiden kann.«

»Ganz richtig! Das macht es ja grade so verdrießlich, daß Brooke einen Menschen, der in einer Art von verwandtschaftlicher Beziehung zur Familie steht, in eine solche Stellung gebracht hat. Mir scheint es eine wahre Thorheit von dem Ladislaw, daß er darauf eingegangen ist.«

»Das ist Aquino's Schuld,« bemerkte wieder Frau Cadwallader; »warum hat er nicht seinen Einfluß dazu verwandt, Ladislaw eine Stelle als Attaché bei einer Gesandtschaft oder in Indien zu verschaffen? Das ist die Art, wie sich Familien von lästigen Sprößlingen befreien.«

»Man kann gar nicht wissen, zu welchen Unannehmlichkeiten die Sache noch führen mag,« sagte Sir James verdrießlich.. »Aber wenn Casaubon selbst nichts sagt, was kann ich dabei thun?«

»O, mein lieber Sir James,« erwiderte der Pfarrer, »lassen Sie uns das Alles doch nicht zu schwer nehmen. Die ganze Geschichte wird ja höchst wahrscheinlich in Rauch aufgehen. Nach Verlauf von höchstens ein paar Monaten werden Brooke und dieser Monsieur Ladislaw einander überdrüssig geworden sein. Ladislaw wird sich davon machen; Brooke wird den ›Pionier‹ verkaufen, und Alles wird wieder in seine gewohnte Ordnung zurückkehren.«

»Von Etwas dürfen wir uns guten Erfolg versprechen. Brooke wird es nicht mögen, wenn ihm das Geld durch die Finger geht,« sagte Frau Cadwallader. »Wenn ich nur die Kosten einer Wahl genau im Einzelnen wüßte, so wollte ich ihn schon damit in Schock jagen. Es nützt nichts, ihm mit allgemeinen Ausdrücken wie ›große Kosten‹ zuzusetzen; man muß nicht vorn Aderlassen mit ihm reden, sondern ein ganzes Glas mit Blutegeln über ihn ausschütten. Nichts können wir guten knauserigen Leute weniger vertragen, als wenn man uns unsere Sixpences Stück für Stück aus der Tasche lockt.«

»Und er wird es auch nicht mögen, wenn die Zeitungen Artikel über seine Gutsverwaltung und dergleichen bringen,« sagte Sir James. »Sie haben schon damit angefangen. Und diese Verwaltung ist wirklich übel, ein rechter Unfug, den man immer vor Augen hat. Mich dünkt, es ist die Pflicht jedes Gutsbesitzers, für sein Land und seine Leute nach Kräften zu sorgen, namentlich in diesen schlechten Zeiten.«

»Vielleicht bringt ihn die ›Trompete‹ dahin Veränderungen vorzunehmen, und die ganze Sache kann noch zu etwas Gutem führen,« sagte der Pfarrer. »Ich würde damit sehr zufrieden sein. Ich würde die Leute weniger murren hören, wenn sie mir meinen Zehnten bezahlen. Ich weiß nicht, was ich thäte, wenn es nicht einen festen Geldsatz für den Zehnten in Tipton gäbe.«

»Ich möchte, daß er Jemanden engagirte, der etwas davon verstünde und sich um die Dinge kümmerte, ich möchte daß er Garth wieder annähme,« sagte Sir James. »Seit er vor zwölf Jahren Garth abgeschafft hat, ist Alles auf seinem Gute verkehrt gegangen. Ich denke daran, Garth auch für die Verwaltung meines Gutes zu engagiren; er hat mir einen ganz vortrefflichen Plan für meine Pächterwohnungen gemacht, und Lovegood ist der Sache kaum gewachsen. Aber Garth würde Tipton-Hof nicht wieder übernehmen, wenn Brooke ihm nicht die Verwaltung ganz überließe.«

»Und da hätte er ganz Recht,« sagte der Pfarrer. »Garth ist ein unabhängiger Charakter, ein origineller gradsinniger Mensch. Mir sagte er einmal, als er eine Taxation für mich vornahm, grade heraus, Geistliche verstünden selten etwas von Geschäften und richteten nur Unheil an, wenn sie sich damit befaßten. Er sagte mir das aber so ruhig und respectvoll, als ob mich die Sache gar nichts anging. Er würde Tipton ganz verwandeln, wenn Brooke ihn gewähren ließe. Ich wollte, Sie könnten das mit Hülfe der ›Trompete‹ zu Stande bringen.«

»Wenn Dorothea bei ihrem Onkel geblieben wäre, so wäre vielleicht etwas zu machen gewesen,« sagte Sir James. »Sie würde vielleicht mit der Zeit einigen Einfluß auf ihn geübt haben, und sie war immer sehr unzufrieden mit dem Zustande des Gutes. Sie hatte merkwürdig gute Ideen. Aber jetzt nimmt Casaubon sie ganz in Anspruch, Celia beklagt sich sehr darüber. Wir können sie, seit er den Anfall gehabt hat, kaum einmal zu Tische haben.«

In Sir James' Blicken malten sich bei diesen letzten Worten Mitleid und Widerwillen, und Frau Cadwallader zuckte die Achseln, als wolle sie sagen, ihr werde schwerlich Jemand etwas Neues über die Verhältnisse mittheilen können.

»Der arme Casaubon!« sagte der Pfarrer, »das war ein böser Anfall. Ich fand ihn neulich beim Erzdechanten sehr verfallen aussehend.«

»Um auf Thatsachen zurück zu kommen,« nahm Sir James, der nicht geneigt war bei ›nervösen Zufällen‹ zu verweilen, wieder auf. »Brooke meint es nicht schlecht, mit seinen Pächtern, so wenig wie mit irgend Jemand sonst; aber er hat sich das Knausern und Knickern so angewöhnt.«

»O gehen Sie, das ist ja ein wahrer Segen,« sagte Frau Cadwallader, »das wird ihm helfen, sich eines schönen Morgens selbst wiederzufinden. Ueber seine Ansichten ist er vielleicht nicht im Klaren mit sich, desto klarer aber über seine Tasche.«

»Ich glaube nicht, daß Jemand dadurch, daß er an Verbesserungen seines Landes knausert, gut für seine Tasche sorgt,« sagte Sir James.

»Ja, man kann die Knauserei wie andere Tugenden auch zu weit treiben. Es thut nicht gut, seine eigenen Schweine hungern zu lassen,« sagte Frau Cadwallader, die aufgestanden war, um zum Fenster hinauszusehen. »Aber – wenn man vom Wolf spricht, ist er nicht weit.«

»Was! Brooke?» fragte der Pfarrer.

»Du mußt ihn jetzt mit der ›Trompete‹ bearbeiten, Humphrey, und ich will ihm die Blutegel setzen. Was wollen Sie thun, Sir James?«

»Ich gestehe offen, daß ich in Betracht unseres verwandtschaftlichen Verhältnisses nicht gern mit Brooke von der Sache anfangen möchte; die ganze Geschichte ist mir fatal. Ich möchte, daß die Leute sich benähmen wie Gentlemen,« sagte der gute Baronet, dem dies für ein einfaches und verständliches Programm socialer Wohlfahrt galt.

»Ei, da seid Ihr ja Alle zusammen,« rief Herr Brooke, der in diesem Augenblick ins Zimmer hineingewackelt kam, indem er jedem der Anwesenden nach der Reihe die Hand schüttelte. »Ich wollte nachher auch noch zu Ihnen gehen, Chettam. Aber es ist sehr angenehm, seine Bekannten bei einander zu treffen. Nun, wie denken Sie über den Zustand der Dinge? – es geht ein bischen rasch! Lafitte hatte nur zu Recht, als er sagte: ›Seit gestern ist ein Jahrhundert verflossen!‹ Jenseits des Kanals sind sie schon im nächsten Jahrhundert. Sie marschiren rascher als wir.«

»Nun ja,« entgegnete der Pfarrer, indem er die Zeitungen zur Hand nahm. »Hier in der ›Trompete‹ werden Sie beschuldigt zurückzubleiben – haben Sie das gesehen?«

»Nein, noch nicht,« sagte Herr Brooke, indem er seine Handschuhe in seinen Hut warf und rasch seine Lorgnette aufsetzte. Aber Cadwallader behielt das Blatt in der Hand und sagte lächelnd:

»Sehen Sie, dieser ganze Artikel handelt von einem nicht weit von Middlemarch wohnenden Gutsbesitzer, der seine Pachtgelder selbst eincassirt und nichts abläßt. Es heißt da, er sei der retrogradeste Mann in der Grafschaft. Das Wort haben Sie sie vermuthlich im ›Pionier‹ gelehrt.«

»O, das ist Keck! ein ungebildeter Patron, wissen Sie. Und nun ›retrograde‹! Sehen Sie, das ist köstlich, er meint, das Wort bedeutet ›destructiv‹, sie möchten mich als einen destructiven Menschen hinstellen, wissen Sie,« sagte Herr Brooke mit jener Heiterkeit, welche die Unwissenheit eines Gegners in uns zu erregen pflegt.

»Ich glaube doch, er weiß, was das Wort bedeutet. Hier stehen ein paar scharfe Sätze. ›Wenn wir einen im schlimmsten Sinne des Wortes retrograden Mann zu schildern hätten, würden wir sagen: "es ist ein Mann, der sich gern einen Reformator unserer Verfassung nennen möchte, während er alle die Angelegenheiten, für welche er unmittelbar verantwortlich ist, in Verfall gerathen läßt, ein Philanthrop, dem der Gedanke unerträglich ist, daß ein Spitzbube gehängt wird, den es aber nicht rührt, wenn fünf rechtschaffene Pächter auf seinen Gütern halb verhungern, ein Mann, der Bestechung verabscheut und seine Pächter schindet, der Zeter schreit über verrottete Burgflecken und sich nichts daraus macht, wenn jedes Feld auf seinen Pachthöfen ein verrottetes Gitterthor hat, ein Mann, der unstreitig äußerst wohlwollend gesonnen ist für Leeds und Manchester und diesen Städten jede beliebige Zahl von Repräsentanten gönnt, die ihre Sitze aus ihrer Tasche bezahlen wollen, der sich aber weigert, einem Pächter, der sich etwas Vorrath anschaffen möchte, das Geringste, von seinem Pachtzins zu erlassen oder eine Reparatur vorzunehmen, um die Scheune eines anderen Pächters gegen Wind und Wetter zu schützen, oder dem Hause desselben ein etwas besseres Ansehen zu geben als das eines irischen Häuslers. Aber wir alle wissen ja, wie der Schalk einen Philanthropen definirt. Ein Mann, dessen Wohlthätigkeit im umgekehrten Verhältnisse zu der Nähe des Bedürftigen steht …" und so geht es fort. Der Artikel führt dann noch weiter aus, was man von der gesetzgeberischen Thätigkeit eines solchen Philanthropen zu erwarten hat,« schloß der Pfarrer, indem er die Zeitung wieder auf den Tisch warf und die Hände im Nacken faltete, während er Herrn Brooke mit dem Ausdruck einer heiteren Objectivität ansah.

»Das ist wahrhaftig ganz gut, wissen Sie,« sagte Herr Brooke, indem er das Blatt zur Hand nahm und versuchte, den Angriff eben so leicht zu nehmen wie der Pfarrer, aber doch erröthete und etwas nervös lächelte. »Was er aber da von Zeterschreien über verrottete Burgflecken sagt – ich habe mein Lebtag keine Rede über verrottete Burgflecken gehalten. Und was sind das überhaupt für Ausdrücke: Zeterschreien und dergleichen! diese Menschen wissen gar nicht, was eine gute Satire ist. Eine Satire, wissen Sie, muß immer bis zu einem gewissen Grade wahr sein. Ich erinnere mich das irgendwo in der ›Edinburgh Review‹ gelesen zu haben: eine Satire muß bis zu einem gewissen Grade wahr sein.«

»Nun, aber das über die Gitterthore ist doch wirklich ein Hieb,« sagte Sir James, der vorsichtig sondiren wollte. »Dagley beklagte sich neulich gegen mich, daß er kein anständiges Thor auf seinem Hofe habe. Garth hat ein neues Modell für Gitterthore erfunden; ich möchte, daß Sie damit einmal einen Versuch machten. Man sollte etwas von seinem Holz für solche Zwecke verwenden.«

»Sie haben ein tendre für landwirthschaftliche Spielereien, wissen Sie,« sagte Herr Brooke, indem er that, als durchfliege er die Spalten der ›Trompete‹. »Das ist Ihr Steckenpferd, und Sie machen sich nichts aus den Kosten.«

»Ich dächte, das kostspieligste Steckenpferd wäre, sich als Kandidaten für das Parlament aufstellen zu lassen,« sagte Frau Cadwallader. »Es heißt, der letzte durchgefallene Kandidat in Middlemarch, – ich glaube, er hieß Giles –, habe zehntausend Pfund ausgegeben und sei doch nicht ans Ziel gelangt, weil er noch nicht genug bestochen habe. Das muß bitter sein!«

»Ich weiß nicht,« sagte der Pfarrer lachend, »wer einmal behauptet hat, East Retford könne es im Punkte der Bestechung bei weitem nicht mit Middlemarch aufnehmen«

»Nichts der Art,« entgegnete Herr Brooke, »die Tories bestechen, wissen Sie; Hawley und sein Anhang bestechen durch Traktiren und dergleichen und bringen die Wähler betrunken zur Wahl. Aber in Zukunft sollen sie das nicht mehr so treiben dürfen – in Zukunft nicht, wissen Sie. Middlemarch ist ein wenig zurück, das gebe ich zu, die Wähler sind da ein wenig zurück. Aber wir werden sie erziehen – wir werden sie vorwärts bringen, wissen Sie. Die besten Leute unter ihnen sind auf unserer Seite.«

»Hawley sagt, Sie haben Leute auf Ihrer Seite, die Ihnen schaden werden,« bemerkte Sir James. »Er sagt, der Banquier Bulstrode wird Ihnen schaden.«

»Und daß,« schaltete Frau Cadwallader ein, »wenn Sie beworfen werden sollten, die Hälfte der faulen Eier dem verhaßten Vorsitzenden Ihres Wahlcomités gelten werden. Guter Gott! Denken Sie doch nur, was es für ein Gefühl sein muß, sich wegen politisch verkehrter Ansichten mit faulen Eiern beworfen zu sehen. Und ich glaube mich einer Geschichte zu erinnern, wo sie einen Mann, den sie angeblich nach der Wahl auf einem Stuhl in Prozession herum-tragen wollten, absichtlich auf einen Kehrichthaufen fallen ließen.«

»Das Bewerfen ist noch gar nichts gegen das Vorhalten unserer Schwächen,« sagte der Pfarrer, »ich gestehe, davor würde ich mich am meisten fürchten, wenn wir Geistlichen uns als Candidaten für Pfründen bei öffentlichen Wahlen zu präsentiren hätten. Ich würde fürchten, daß sie mir alle die Tage, die ich mit Fischen zubringe, vorhalten würden. Auf mein Wort, ich halte die Wahrheit für das empfindlichste Geschoß, mit dem man beworfen werden kann.«

»In der That,« sagte Sir James, »muß ein Mann, der im öffentlichen Leben eine Rolle spielen will, auf die Consequenzen eines solchen Schritts gefaßt sein und dafür sorgen, daß ihm die Verleumdung nichts anhaben kann.«

»Mein lieber Chettam, das ist Alles recht schön, wissen Sie,« sagte Herr Brooke, »aber wie soll man sich gegen Verleumdungen waffnen? Sie sollten Geschichte lesen, – denken Sie doch an den Ostracismus, an Verfolgungen, Märtyrthum und dergleichen. Alles das ist immer den besten Männern begegnet, wissen Sie. Aber wie heißt es im Horaz? – fiat justitia, ruatDas »Scherbengericht« ( Ostrakismos) war in der griechischen Antike, vor allem in Athen, ein Verfahren, die Alleinherrschaft zu mächtiger Bürger zu verhindern. Bruchstücke von Tongefäßen (Ostrakon = Tonscherbe) wurden hierbei als »Stimmzettel« verwendet, auf welche die Wähler Namen von unliebsamen Personen einritzten; anschließend wurde die meistgenannte Person für zehn Jahre verbannt, ohne dass der Betreffenden enteignet und völlig entrechtet wurde. – Anm.d.Hrsg. und wie es weiter geht.«

»Ganz richtig,« erwiderte Sir James etwas lebhafter als gewöhnlich; »wenn ich aber sage, daß einem die Verleumdung nichts anhaben darf, so meine ich damit, daß man sich zur Widerlegung der Verleumdung auf Thatsachen muß berufen können.«

»Und es ist kein Märtyrthum, Rechnungen zu bezahlen, die man selbst hat auflaufen lassen,« sagte Frau Cadwallader.

Aber die offenbare Verstimmung Sir James' machte Herrn Brooke den meisten Eindruck. »Nun Sie wissen, Chettam,« sagte er, indem er aufstand, seinen Hut in die Hand nahm und sich auf seinen Spazierstock stützte, »Sie und ich, wir haben verschiedene Systeme. Sie sind dafür, viel Geld in Ihre Pachthöfe zu stecken. Ich will nicht behaupten, daß mein System unter allen Umständen das richtige sei – unter allen Umständen, wissen Sie.«

»Man sollte von Zeit zu Zeit eine neue Schätzung vornehmen lassen,« erwiderte Sir James, »Nachlässe am Zins sind gelegentlich ganz gut; aber ich lobe mir eine richtige Schätzung. Was sagen Sie, Cadwallader?«

»Ich bin Ihrer Meinung. Wenn ich Brooke wäre, würde ich die ›Trompete‹ auf der Stelle dadurch verstopfen, daß ich Garth eine neue Schätzung der Pachthöfe vornehmen ließe und ihm carte blanche für neue Gitterthore und andere Reparaturen gäbe. Das ist meine Ansicht von der politischen Situation,« sagte der Pfarrer, indem er die Daumen in die Aermellöcher steckte, wodurch er noch breiter erschien, und Herrn Brooke zulachte.

»Das ist so etwas zum Prahlen, wissen Sie,« sagte Herr Brooke, »aber nennen Sie mir doch einen andern Gutsbesitzer, der seine Pächter so wenig wegen rückständiger Pachtgelder quält wie ich. Ich lasse die alten Pächter ruhig bleiben. Ich bin ungewöhnlich coulant gegen die Leute, das können Sie mir glauben – ungewöhnlich coulant. Ich habe meine eigenen Ideen, an denen ich festhalte, wissen Sie. Ein Mann, der das thut, wird immer der Excentricität, der Inconsequenz und was dergleichen mehr ist, geziehen werden. Wenn ich mich zu einer Aenderung meiner Handlungsweise entschließen sollte, würde ich mich dabei doch nur von meinen eigenen Ideen leiten lassen.«

Darauf erinnerte sich Herr Brooke, daß er vergessen habe, ein Packet von Tipton-Hof aus zu expediren und sagte Allen rasch Adieu.

»Ich wollte mir nichts gegen Brooke herausnehmen,« sagte Sir James, »ich sehe, er ist gereizt. Aber was er da von alten Pächtern sagt – es würde ja thatsächlich kein neuer Pächter einen seiner Pachthöfe unter den gegenwärtigen Bedingungen übernehmen.«

»Es kam mir doch vor, als ob er sich mit der Zeit würde herumbringen lassen,« sagte der Pfarrer. »Wir haben aber an verschiedenen Strängen gezogen; Elinor, Du wolltest ihn vor den großen Kosten bange machen und wir wollten ihn vor dem bange machen, was ihm widerfahren würde, wenn er Kosten scheute. Lassen wir ihn lieber versuchen, sich populär zu machen und dabei gewahr werden, daß ihm sein Ruf als Gutsbesitzer im Wege steht. Ich halte es für ganz gleichgültig, ob Brooke den ›Pionier‹ von Ladislaw redigiren läßt und ob er schöne Reden an die Middlemarcher hält; aber es ist gar nicht gleichgültig, ob es den Leuten in Tipton gut geht.«

»Nehmt's mir nicht übel, aber Ihr Beide seid auf falscher Fährte,« sagte Frau Cadwallader. »Ihr hättet ihm beweisen sollen, daß er durch seine schlechte Verwaltung Geld verliert, und dann hätten wir Alle an demselben Strang gezogen. Wenn Ihr ihn mit seiner Politik in Gang bringt, so warne ich Euch vor den Folgen. So lange er zu Hause auf Stecken herumritt, die er Ideen nannte, ging die Sache ganz gut.«



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