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Fünftes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 27 (in dieser Übersetzung Band 2, Kapitel 5):

Let the high Muse chant loves Olympian:
We are but mortals, and must sing of man.


Ein mir befreundeter, ausgezeichneter Naturforscher hat mich die folgende frappante kleine Erscheinung kennen gelehrt, welche beweist wie die Wissenschaft im Stande ist, selbst über häßliche Möbel ein verklärendes Licht zu verbreiten.

Ein Spiegel oder eine größere Fläche von polirtem Stahl werden, wenn sie eine Zeit lang von der reinigenden Hand eines Hausmädchen bearbeitet worden sind, nach allen Richtungen hin von einer Menge kleiner Schrammen bedeckt sein; man halte nun aber eine brennende Kerze als leuchtendes Centrum vor eine so beschaffene Fläche und, siehe da! die Schrammen werden sich vor unsern Augen zu einer Reihe schöner concentrischer Kreise um diese kleine Sonne gruppiren. Die Schrammen bedecken, wie wir uns leicht überzeugen können, die Fläche nach allen Richtungen hin, und nur unsere Kerze bringt die gefällige Täuschung einer concentrischen Gruppirung hervor, indem das Licht nach einem bestimmten optischen Gesetze auf die Fläche fällt.

Diese Erscheinung kann uns als Gleichniß dienen. Die Schranmen sind Ereignisse und die Kerze ist der Egoismus einer bestimmten Person – z. B. Fräulein Vincy's. Rosamunde hatte ihre eigene Vorsehung, welche ihr freundlicher Weise eine hübschere Gestalt gegeben hatte, als anderen Mädchen und welche jetzt Fred's Krankheit und Herrn Wrench's falsche Behandlung derselben nur zu dem Zwecke zugelassen zu haben schien, um sie und Lydgate in nähere Berührung zu bringen. Sie würde geglaubt haben, diesen Absichten der Vorsehung zuwider zu handeln, wenn sie eingewilligt hätte, auf längere Zeit nach Stone Court oder anderswohin zu gehen, wie ihre Eltern es wünschten, besonders seit Herr Lydgate diese Vorsichtsmaßregel für unnöthig erklärt hatte. Während daher Fräulein Morgan mit den jüngern Kindern am Morgen nach dem Ausbruch von Fred's Krankheit nach einem Pachthofe geschickt wurde, weigerte sich Rosamunde, ihre Eltern zu verlassen.

Die arme Mama war wirklich in einem Zustande, der jedes fühlende Herz rühren mußte, und Herr Vincy, der seine Frau anbetete, war besorgter um ihret- als um Fred's willen. Wenn er sie nicht dazu gezwungen hätte, würde sie sich keinen Augenblick Ruhe gegönnt haben; ihre sonst so strahlende Heiterkeit war völlig getrübt; in ihrer Achtlosigkeit auf ihre stets so frische und hübsche Toilette und in ihrer Gleichgültigkeit gegen Alles, was um sie her vorging, glich sie einem kranken Vogel mit mattem Auge und rauhem Gefieder. Fred's Fieberphantasien, in welchen er sich in Gebiete zu versteigen schien, wohin sie ihm nicht folgen konnte, zerrissen ihr mütterliches Herz.

Nachdem sie einmal ihrem Groll gegen Herrn Wrench Luft gemacht hatte. verhielt sie sich sehr ruhig. Nur gegen Lydgate ließ sie immer wieder denselben leisen Wehruf vernehmen. Wenn er das Krankenzimmer verließ, folgte sie ihm, legte ihre Hand auf seinen Arm und stöhnte:

»Retten Sie mir meinen Fred.«

Einmal sagte sie im Ton der Rechtfertigung:

»Er ist immer gut gegen mich gewesen, Herr Lydgate; er hat seiner Mutter nie ein hartes Wort gesagt,« –als ob das Leiden des armen Fred eine Anklage gegen ihn hätte begründen können.

Alle verborgensten Winkel des mütterlichen Gedächtnisses öffneten sich wieder, und der kranke Jüngling, dessen Stimme sanfter klang, wenn er mit ihr sprach, wurde für sie wieder zu dem Kinde, das sie, noch bevor es geboren war, mit einer neuen Liebe geliebt hatte.

»Ich habe gute Hoffnung, Frau Vincy,« pflegte dann Lydgate zu sagen. »Kommen Sie mit mir hinunter und lassen Sie uns überlegen, was wir ihm zu essen geben wollen.«

So gelang es ihm, sie in's Wohnzimmer zu Rosamunden hinunter zu führen, sie auf etwas andere Gedanken zu bringen und sie zu bewegen, zu ihrer eigenen Ueberraschung eine für sie bereit gehaltene Tasse Thee oder Brühe zu genießen.

Ueber dergleichen bestand ein fortwährendes geheimes Einverständniß zwischen Lydgate und Rosamunden. Er sprach fast immer mit ihr, bevor er in's Krankenzimmer ging, und sie erholte sich dann Raths bei ihm, was sie für ihre Mama thun könne. Ihre Geistesgegenwart und Geschicklichkeit in der Auffassung und Ausführung seiner Winke waren bewundernswerth und man wird es unter diesen Umständen begreiflich finden, daß der Gedanke, Rosamunde zu sehen, sich mit seinem Interesse an dem Falle vermischte, namentlich seit das kritische Stadium vorüber war und er anfing, Fred's Genesung mit Zuversicht entgegen zu sehen.

In einem früheren Stadium, wo der Ausgang ihm noch zweifelhaft erschien, war auf seine Veranlassung Dr. Sprague hinzugezogen worden. Dieser, welcher um Wrench's willen dem Fall am liebsten ganz fremd geblieben wäre, hatte nach zwei Consultationen mit Lydgate diesem die Behandlung völlig überlassen, und Lydgate hatte allen Grund, sich beflissen zu zeigen.

Morgens und Abends erschien er im Vincy'schen Hause, und allmälig gestalteten sich diese Besuche in dem Maße heiterer, wie Fred's Zustand weniger besorgnißerregend wurde und er nur noch so schwach war, daß er das lebhafteste Bedürfniß empfand, verzogen zu werden. Frau Vincy war dabei zu Muthe, als ob die Krankheit im Grunde nur gekommen sei, um ihrer mütterlichen Zärtlichkeit ein Fest zu bereiten.

Beide, Vater und Mutter, betrachteten es als einen neuen Grund, sich einer heitern Stimmung zu überlassen, als der alte Herr Featherstone durch Lydgate wiederholt sagen ließ, Fred müsse sich beeilen, wieder besser zu werden, denn er, Peter Featherstone, könne nicht ohne ihn fertig werden und entbehre seine Besuche schmerzlich. Der alte Mann selbst konnte sein Bett nicht mehr verlassen.

Frau Vincy richtete diese Botschaften an Fred aus, sobald er wieder im Stande war zu hören. Er sah seine Mutter mit den großen Augen seines zarten, schmal gewordenen Gesichtes, aus welchem das dicke blonde Haar ganz weggeschnitten war, verlangend an; denn er sehnte sich danach, ein Wort über Mary zu hören und zu erfahren, was sie bei seiner Krankheit empfunden habe. Kein Wort kam über seine Lippen; aber »auch mit dem Auge hört der Liebe feiner Sinn,« Aus Sonnet XXIII von William Shakespeare ( to hear with eyes belongs to love's rare wit). – Anm.d.Hrsg. und die Mutter errieth in der Fülle ihres Herzens nicht nur Fred's Verlangen, sondern war zu jedem Opfer bereit, um ihn zu befriedigen.

»Wenn ich es nur erlebe,« sagte sie in ihrer Liebesthorheit, »daß mein Junge wieder kräftig und wer weiß? – vielleicht Herr von Stone Court wird, so mag er heirathen, wen er Lust hat.«

«Doch keine, die mich nicht haben will. Mutter« sagte Fred, den seine Krankheit weich wie ein Kind gemacht hatte, mit einer von Thränen erstickten Stimme.

»O, nimm ein wenig Gelee, lieber Fred,« bat dann Frau Vincy, welche es bei sich für ganz unmöglich hielt, daß ein Mädchen Fred's Hand ablehnen könne.

Sie wich nie von Fred's Bett, wenn ihr Mann nicht zu Hause war, und so kam es, daß Rosamunde sich in der ungewohnten Lage befand, viel allein zu sein. Lydgate dachte natürlich nie daran, lange bei ihr zu verweilen, und doch schien es, daß die kurzen und unpersönlichen Unterhaltungen, die sie mit einander führten, jene eigenthümliche Vertraulichkeit erzeugten, die sich in einer gewissen gegenseitigen Schüchternheit äußert. Beim Reden waren sie genöthigt einander anzusehen, und dieses Sichansehen wollte ihnen bald nicht mehr so ganz selbstverständlich vorkommen, wie es doch in der That war.

Lydgate wurde dieses Bewußtsein einer gewissen Verlegenheit allmälig unangenehm, so daß er anfing, seine Blicke zu Boden zu senken oder nirgends hinzusehen, wie ein schlecht gearbeiteter betrachten anfingen und dadurch die Gelegenheiten, Rosamunde allein zu sehen, für ihn seltener wurden. Aber wo die aus gegenseitiger Verlegenheit erwachsene Intimität, bei welcher jeder Theil fühlt, daß der andere etwas für ihn empfindet, einmal bestanden hat, läßt sich ihre Wirkung nicht wieder beseitigen. Ueber das Wetter und andere Gegenstände einer wohlerzogenen Unterhaltung zu reden, erweist sich dann als ein nutzloses Beginnen und das Benehmen Beider wird kaum wieder ungezwungen werden, bis sie sich offen zu ihrer gegenseitigen Bezauberung bekennen – womit natürlich durchaus kein tiefer oder nachhaltiger Eindruck gemeint ist.

Das war denn auch der Weg, auf welchem Rosamunde und Lydgate allmälig wieder dazu gelangten, in ungezwungener Lebhaftigkeit miteinander zu verkehren. Die Besuchenden gingen wieder wie gewöhnlich im Hause aus und ein, in den gastlichen Räumen erklang wieder Musik und die durch Herrn Vincy's Mayorthum veranlaßten Gesellschaften nahmen wieder ihren ungestörten Fortgang.

Lydgate kam, so oft er konnte, setzte sich zu Rosamunden, hörte schmachtend zu, wenn sie musicirte, und nannte sich ihren Sklaven – obgleich er sich innerlich noch völlig frei zu fühlen meinte. Die Unmöglichkeit, in welcher er sich jetzt noch befand, einer Frau eine angemessene Existenz zu bieten, erschien ihm als eine genügende Garantie gegen jede Gefahr. Diese harmlose Liebeständelei ergötzte ihn und störte ihn nicht in der Verfolgung ernsterer Zwecke. Es war ja doch am Ende nicht nothwendig, sich beim Courmachen die Flügel zu versengen.

Rosamunde ihrerseits hatte sich noch nie so glücklich gefühlt; sie war sicher, von einem Manne bewundert zu werden, welchen zu fesseln der Mühe lohnte, und sie vermochte weder an sich selbst noch an einem Andern zwischen Liebeständelei und Liebe zu unterscheiden. Sie schien mit günstigem Winde dahin zu segeln, wohin sie zu gelangen wünschte, und sie beschäftigte sich in Gedanken viel mit einem schönen Hause in Lowick Gate, welches, wie sie hoffte, mit der Zeit frei werden würde. Sie war fest entschlossen, sich, sobald sie verheirathet sein werde, auf gute Manier all der Besuche zu entledigen, welche ihr im väterlichen Hause nicht angenehm waren, und ihre Phantasie arbeitete bereits an der Einrichtung des Salons ihres Lieblingshauses mit einem verschiedenen Stilen angehörenden Mobiliar.

Natürlich beschäftigte sie sich in Gedanken auch viel mit Lydgate selbst, er schien ihr fast vollkommen; wenn er nur so viel von Musik verstanden hätte, daß sein Entzücken bei ihrem Gesang oder Spiel etwas weniger wie die Begeisterung eines erregbaren Elephanten erschienen wäre, und wenn er mehr Verständniß für die Feinheiten ihrer Toilette gehabt hätte, würde sie kaum irgend einen Mangel an ihm zu entdecken gewußt haben.

Wie anders war er, als der junge Plymdale, oder Herr Cajus Larcher. Diese jungen Leute hatten keinen Begriff von Französisch und waren nicht im Stande, irgend einen Gegenstand in der Unterhaltung zu beherrschen, außer vielleicht die Färberei oder das Frachtgeschäft, Dinge, die auch nur zu erwähnen sie sich natürlich schämten; sie gehörten zur Jeunesse dorée von Middlemarch, und wiegten sich im Vollgefühl des Besitzes ihrer Reitpeitschen mit silbernem Knopfe und ihrer Atlas-Kravatten, hatten aber verlegene Manieren, und fühlten sich bei den Aeußerungen ihrer scherzhaften Laune ängstlich befangen. Selbst Fred war ihnen überlegen, da er doch wenigstens die Aussprache und das Benehmen eines auf der Universität gewesenen jungen Mannes hatte.

Lydgate aber war ein Mann, dem alle Welt immer gern zuhörte, der sich mit der bequemen Höflichkeit, welche mit dem Bewußtsein geistiger Ueberlegenheit Hand in Hand zu gehen pflegt, in der Gesellschaft bewegte und der, ohne je viel an seine Toilette zu denken, doch vermöge eines natürlichen Taktes immer die für seine Erscheinung vortheilhaftesten Kleider zu tragen schien. Rosamunde sah ihn mit Stolz das Zimmer betreten, und wenn er sich ihr mit einem auszeichnenden Lächeln näherte, hatte sie die wonnige Empfindung, daß sie der Gegenstand einer beneidenswerthen Huldigung sei.

Wenn Lydgate gewußt hätte, welches stolze Hochgefühl er in diesem zarten Busen erweckte, wäre ihm das vielleicht ebenso angenehm gewesen wie jedem anderen Sterblichen, selbst einem der Humoral-Pathologie oder der Lehre von den Nervenfasern absolut Unkundigen. Er betrachtete es als eine der reizendsten Eigenthümlichkeiten des weiblichen Wesens, daß die Frauen im Stande sind, die hervorragende Bedeutung eines Mannes, ohne eine allzugenaue Kenntniß von dem, worin diese Bedeutung eigentlich besteht, zu verehren.

Aber Rosamunde gehörte keineswegs zu jenen hülflosen weiblichen Geschöpfen, welche sich unversehens verrathen und deren Benehmen ganz von ihren momentanen Empfindungen geleitet wird, anstatt sich von umsichtiger Grazie und von dem Bewußtsein der Schicklichkeit lenken zu lassen. Wer etwa meinen sollte, die kühnen Entwürfe über ihre künftige häusliche Einrichtung und ihren geselligen Verkehr, mit denen sie sich so angelegentlich beschäftigte, hätten sich je in ihre Unterhaltung selbst mit ihrer Mama eingedrängt, würde ganz fehl gehen. Im Gegentheil Rosamunde würde, wenn sie gehört hätte, daß man ein anderes junges Mädchen auf einer so unbescheidenen Voreiligkeit ertappt habe, der anmuthigsten Ueberraschung und Mißbilligung Ausdruck gegeben, ja wahrscheinlich die Sache für ganz unglaublich erklärt haben.

Denn sie that nie eine Aeußerung, die ein für eine junge Dame unschickliches Wissen hätte verrathen können, und bot in Erscheinung und Wesen jene harmonische Vereinigung von correcten Gefühlen, hübschem Gesang und Klavierspiel, geschicktem Skizziren, graziösem Tanzen, großer Belesenheit in den Lieblingsdichtern der Zeit und vollkommener Liebenswürdigkeit dar, welche das Ideal eines unwiderstehlichen Weibes für die Männer jener Tage war.

Glaube aber Niemand, sie sei eines ignobeln oder schlechten Gedankens fähig gewesen; sie hegte keine sträflichen Absichten, fern lag ihrer Gesinnung alles Schmutzige und Feile, ja, sie betrachtete das Geld, wenn sie einmal daran dachte, nur als etwas Nothwendiges, das für sie herbeizuschaffen immer Andern obliegen würde. Es war nicht ihre Art, absichtlich die Unwahrheit zu sagen, und wenn ihre Angaben nicht immer genau mit den Thatsachen übereinstimmten, – nun so wurden sie ja eben auch nicht zu diesem Zwecke gemacht, sondern waren nur eine der mannigfachen Aeußerungen ihres anmuthigen Wesens, dessen Lebensausgabe darin bestand zu gefallen.

Die Natur hatte Frau Lemon's Lieblingsschülerin reich ausgestattet und nach der, mit einziger Ausnahme Fred's, einstimmigen Meinung Aller war sie ein Ausbund von Schönheit, geistiger Begabung und Liebenswürdigkeit.

Lydgate fand es immer angenehmer, in ihrer Gesellschaft zu sein, und in ihrem Verkehr mit einander waltete jetzt kein Zwang mehr ob; ihre Blicke begegneten sich fortwährend mit entzückender Verständnißinnigkeit, und in ihren Aeußerungen lag jener besondere, nur für sie verständliche Sinn, welcher für Dritte leicht den Eindruck des Schaalen und Langweiligen macht.

Kurz, sie tändelten mit einander, und Lydgate fühlte sich sicher in der Ueberzeugung, daß es sich dabei eben um nichts anderes als um Liebeständelei handele. Wenn, sagte er sich, ein Mann auch nicht besonnen bleiben könne, der sich wirklich in ein Mädchen verliebe, so sei doch nichts im Wege, daß er einem Mädchen die Cour mache und dabei seine volle Besonnenheit behalte.

In der That waren die Männer in Middlemarch, Farebrother ausgenommen, äußerst langweilige Patrone, und Lydgate hatte weder Interesse für Handelspolitik noch für Kartenspiel, was sollte er also zu seiner Erholung thun? Er wurde oft zu Bulstrode's eingeladen; aber da waren die Töchter noch kaum der Schule entwachsen, und Frau Bulstrode's naive Art, Frömmigkeit mit Weltlichkeit, das Durchdrungensein von der Richtigkeit dieses Lebens mit dem Verlangen nach dem Besitze des feinsten Porzellans und das competenteste Urtheil über die Brauchbarkeit schmutziger Lumpen mit dem schärfsten Auge für die Schönheit kostbarer Damastgedecke zu vereinigen, war kein genügender Ersatz für den schwerlastenden unerschütterlichen Ernst ihres Mannes.

Das Vincy'sche Haus war trotz all seiner Fehler durch den Contrast, welchen es zu den übrigen Häusern bildete, nur um so angenehmer; überdies barg es ja Rosamunde, die so lieblich anzusehen war wie eine halbgeöffnete Rose und die geschmückt war mit allen Talenten, welche den fein gebildeten Mann erfreuen.

Aber durch seinen Succeß bei Fräulein Vincy machte er sich noch andere als ärztliche Feinde. Eines Abends erschien er etwas spät im Salon, als bereits einige andere Besuchende sich eingestellt hatten. Die älteren Personen spielten Karten, und Herr Ned Plymdale, eine der guten Partieen, wenn auch keiner der hervorragendsten Geister von Middlemarch, saß in einer Ecke mit Rosamunden. Er hatte den neusten Almanach, dessen prachtvolle Ausstattung mit einem Einbande von weißer Seide in jenen Tagen den modernen Fortschritt bekundete, mitgebracht und schätzte sich sehr glücklich, der Erste zu sein, welcher Rosamunden denselben zeigen durfte. Er verweilte mit Behagen bei den weiblichen und männlichen Portraits mit glänzenden Stahlstichwangen und anmuthigem Stahlstichlächeln und hob komische Verse als »famos« und sentimentale Erzählungen als höchst interessant hervor.

Rosamunde war gnädig, und der junge Ned war hoch erfreut über den Besitz eines so ausgezeichneten literarischen und künstlerischen Produkts als des willkommenen Mittels, »Complimente zu machen,« mit denen man doch ganz sicher sei, einem charmanten Mädchen zu gefallen.

Er hatte auch seine Gründe, wenn dieselben auch mehr in der Tiefe als auf der Oberfläche lagen, mit seiner eigenen Erscheinung zufrieden zu sein. Für oberflächliche Beobachter erschien sein Kinn allzu verschwindend, indem es aussah, als ob es sich bei Kleinem wieder in sich selbst zurückziehen wolle Im Original: » as if it were being gradually reabsorbed«; Lehmanns süddeutsch angehauchte Übersetzung »in Kleinem« (~ ›kleinweise‹) meint also »allmählich«, »schrittweise«. – Anm.d.Hrsg., und das machte allerdings das gute Sitzen seiner seidenen Halsbinden, bei welchem das Kinn sich in jenen Tagen sehr nützlich erwies, etwas schwierig für ihn.

»Ich finde in dem Portrait von Lady S. einige Aehnlichkeit mit Ihnen,« sagte Ned, indem er das Buch an der Stelle, wo sich das bezaubernde Portrait fand, offen aufgeschlagen in der Hand hielt und es mit schmachtenden Blicken betrachtete.

»Sie hat einen sehr breiten Rücken,« bemerkte Rosamunde, ohne irgend satirisch sein zu wollen, während sie bei sich dachte, was für rothe Hände doch der junge Plymdale habe, und sich wunderte, daß Lydgate noch nicht da sei. Dabei arbeitete sie fleißig an ihrer Occhi-Arbeit.

»Ich habe nicht gesagt, daß sie ebenso schön sei, wie Sie,« erwiderte Ned, indem er es wagte, von dem Portrait zu der Rivalin desselben aufzublicken.

»Ich fürchte, Sie sind ein feiner Schmeichler,« sagte Rosamunde, die überzeugt war, daß sie in den Fall kommen werde, diesem jungen Manne zum zweiten Mal einen Korb zu geben.

Aber in diesem Augenblick trat Lydgate ein; noch ehe er Rosamunde in ihrer Ecke erreicht hatte, war das Buch zugeschlagen, und als er sich mit bequemer Zuversicht an ihre andere Seite setzte, sanken die Mundwinkel des jungen Plymdale wie ein Barometer, der auf das fatale »Veränderlich« herabfällt. Rosamunde freute sich nicht nur über das Erscheinen Lydgate's sondern auch über die Wirkung desselben, denn sie liebte es, Eifersucht zu erwecken.

»Wie spät Sie kommen,« sagte sie, als er ihr die Hand reichte. »Mama hatte vorhin schon ganz an ihrem Kommen verzweifelt. Wie finden Sie Fred heute?«

»Wie gewöhnlich; es bessert sich täglich, aber langsam. Ich möchte ihn fortschicken, zum Beispiel nach Stone Court, aber Ihre Mama scheint etwas dagegen zu haben.«

»Der arme Junge,« sagte Rosamunde mit allerliebster Betonung. »Sie werden Fred sehr verändert finden,« fügte sie zu ihrem anderen Courmacher gewandt hinzu; »Herr Lydgate ist bei dieser Krankheit unser Schutzengel gewesen.«

Der junge Plymdale lächelte krampfhaft, während Lydgate den Almanach an sich heran zog, ihn öffnete und mit einem kurzen verächtlichen Lachen wie vor Staunen über die menschliche Thorheit den Kopf in den Nacken warf.

»Worüber lachen Sie denn so gottlos?« fragte Rosamunde mit dem Ausdruck milder Unparteilichkeit.

»Es ist mir nur zweifelhaft, was alberner an diesem Buche ist, die Stiche oder der Text,« erwiderte Lydgate mit dem höchsten Applomb, während er das Buch rasch durchblätterte und Alles im Nu zu übersehen schien, wobei sich seine großen weißen Hände, wie Rosamunde fand, sehr vortheilhaft ausnahmen. »Sehen Sie sich doch einmal diesen Neuvermählten an, der eben die Kirche verläßt; haben Sie je eine so »überzuckerte Composition,« wie man zur Zeit der Königin Elisabeth zu sagen pflegte, gesehen? Hat wohl je der fadeste Ladenschwengel so abgeschmackt gegrüßt? Und doch wette ich, daß dieser Herr in der Erzählung als einer der ersten Gentlemen des Landes figurirt.«

»Sie sind so streng in Ihrem Urtheile, daß mir ordentlich bange vor Ihnen wird,« sagte Rosamunde, die ihr Ergötzen über Lydgate's Bemerkungen in gebührenden Schranken zu halten wußte. Der arme junge Plymdale hatte gerade, diesen Stich mit schmachtender Bewunderung betrachtet, und Lydgate's Aeußerungen verdrossen ihn.

»Jedenfalls schreiben doch sehr viele berühmte Leute für den Almanach,« sagte er in einem zugleich piquirten und schüchternen Tone. »Es ist das erste Mal, daß ich das Buch albern nennen höre.«

»Ich glaube, ich muß Partei gegen Sie nehmen und Sie für einen Barbaren erklären,« sagte Rosamunde, indem sie Lydgate lächelnd ansah. »Ich fürchte, Sie wissen nichts von Lady Blessington Marguerite Gardiner, Countess of Blessington (geborene Power; 1789-1849), irische Schriftstellerin; war mit Lord Byrons bekannt und veröffentlichte ein Buch über ihn. – Anm.d.Hrsg. und L. E. L. Letitia Elizabeth Landon (1802-1838), britische Dichterin und Romanschriftstellerin, die bis 1824 unter dem Pseudonym »L. E. L.« publizierte. – Anm.d.Hrsg.«

Rosamunden selbst mißfielen diese Schriftsteller gar nicht so sehr, aber sie compromittirte sich nicht leicht durch einen zu raschen Ausdruck der Bewunderung und merkte bei dem leisesten Wink Lydgate's, ob etwas dem reinsten Geschmack entspreche oder nicht.

»Aber Sir Walter Scott – den kennt doch Herr Lydgate vermuthlich,« bemerkte der junge Plymdale, welchen der Stich, den er Lydgate damit zu versetzen meinte, etwas heiterer stimmte.

»O ich lese jetzt gar keine belletristischen Bücher mehr,« entgegnete Lydgate, indem er das Buch zuschlug und von sich schob. »Ich habe als Junge soviel von diesen Sachen gelesen, daß es, denk' ich, für mein ganzes Leben vorhalten wird. Ich wußte Scott's Gedichte auswendig.«

»Ich möchte wohl wissen,« sagte Rosamunde, »wann Sie mit dem Lesen solcher Bücher aufgehört haben, weil ich mich überzeugen möchte, ob ich nicht doch Manches kenne, was Ihnen unbekannt ist.«

»Herr Lydgate würde aber sagen, das sei der Mühe, es kennen zu lernen, nicht werth,« sagte Ned in einem absichtlich sarkastischen Tone.

»Im Gegentheil,« erwiderte Lydgate, der sich nicht im Mindesten verletzt zeigte, sondern Rosamunden mit einer empörenden Zuversicht zulächelte. »Es würde sich schon um deswillen der Mühe lohnen, es kennen zu lernen, weil Fräulein Vincy mich damit bekannt machen würde.«

Der junge Plymdale zog es bald vor, dem Whistspiele zuzusehen, und fand, daß Lydgate einer der eingebildetsten und unausstehlichsten Menschen sei, mit dem ihn sein Mißgeschick jemals in Berührung gebracht habe.

»Wie unbesonnen Sie in Ihren Aeußerungen sind!« sagte Rosamunde innerlich entzückt. »Sehen Sie nicht, daß Sie ihn beleidigt haben.«

»Wie, gehört das Buch Herrn Plymdale? Das thut mir leid, daran habe ich nicht gedacht.«

»Ich fange an einzusehen, daß Sie Recht hatten mit dem, was Sie in der ersten Zeit Ihres Aufenthalts hier von sich selbst sagten – daß Sie ein Bär seien und der Belehrung durch die Vögel bedürften.«

»Nun, es giebt einen Vogel, der mich lehren kann, was er will. Höre ich Ihnen nicht gern zu?«

Rosamunde schien es, daß sie und Lydgate so gut wie verlobt seien. Daß sie sich eines Tages verloben würden, war eine Idee, mit welcher sie sich schon lange beschäftigt hatte, und Ideen haben bekanntlich die Tendenz, sich zu einem festeren Gebäude zu gestalten, wenn die nöthigen Baumaterialien bequem zur Hand liegen.

Lydgate hatte zwar die ganz entgegengesetzte Idee und wollte unverlobt bleiben; aber diese Idee beschränkte sich bei ihm auf eine passive Verneinung und war nur der Reflex anderer Entschlüsse, welche selbst noch keineswegs unumstößlich fest standen.

Es war alle Aussicht dazu vorhanden, daß die Umstände sich der Idee Rosamunden's günstig erweisen würden, welche eine der Verwirklichung äußerst förderliche Thätigkeit entwickelte und mit ihren wachsamen blauen Augen auf Alles achtete, während Lydgate blind und unbekümmert seines Weges ging, wie eine Qualle, die am Ufer liegt und von der Sonne geschmolzen wird, ohne etwas davon zu merken.

Als er an diesem Abend nach Hause kam, beobachtete er die Fortschritte eines Auflösungsprozesses in seinen Flaschen mit unvermindertem Interesse und trug seine Notizen in sein Journal mit gewohnter Genauigkeit ein. Die Träumereien, von welchen er sich schwer los machen konnte, drehten sich um ideale Constructionen, welche nichts mit Rosamunden's Tugenden zu thun hatten, und die ihm unbekannte Schöne, der seine schwärmerische Liebe galt, war noch immer das ›primitive Gewebe‹.

Ueberdies fing er an, sich lebhafter für die wachsende, wenn auch noch halbunterdrückte Feindseligkeit der übrigen Aerzte gegen ihn zu interessiren, welche voraussichtlich jetzt, wo Bulstrode's neue Methode der Verwaltung im neuen Hospitale zur Anwendung gebracht werden sollte, demnächst offener hervortreten würde. Auch fehlte es nicht an ermuthigenden Anzeichen, daß er dafür, daß ihn einige Patienten Peacock's nicht als Arzt angenommen hatten, durch den vortheilhaften Eindruck, welchen sein Auftreten in anderen Kreisen hervorgebracht hatte, entschädigt werden würde.

Erst vor wenigen Tagen, als er eben zufällig Rosamunde auf dem Wege nach Lowick eingeholt hatte und vom Pferde gestiegen war, um eine Strecke neben ihr zu gehen, bis er sie durch eine vorübergetriebene Viehheerde sicher hindurch geleitet haben würde, war er von einem reitenden Boten zu einer angesehenen Familie, welche nicht zu Peacock's Patienten gehörte, gerufen worden, und das war schon der zweite Fall dieser Art. Der Bote war der Diener Sir James Chettam's, und das Haus, in welches Lydgate beschieden würde, war das Herrenhaus von Lowick.



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