Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Fünftes Buch

1
Der junge Liang wird auch umzingelt

Als Liang an die Grenze gekommen, verschanzte er sich und schickte einen Boten ab, dem Oberbefehlshaber zu melden, ein Hilfsheer sei im Anzug, ihm beizustehn. Der junge Liang aber überlegte in seinem Herzen, daß die Gebirgswege ungangbar, seine Truppen mit dem Terrain unvertraut seien, und es daher am geratensten wäre, die Wege auszukundschaften. Denn schon die Uralten sagen, man solle 329 sich bemühn, den Feinden die Ankunft der kaiserlichen Truppen zu verbergen, damit sie diese nicht unvorbereitet angreifen können. Aber bald rückte der Feind aus seinen Verschanzungen hervor, eine Schlacht zu liefern. Der junge Liang bestieg sogleich sein Pferd und griff mutig an. Aber die kaiserlichen Truppen wurden bald in Unordnung gebracht und konnten nur durch rasche Flucht ihr Leben retten. Die Feinde drangen vor, alles niedermetzelnd. Der junge Liang sammelte noch einige tausend Mann: da er aber die Wege im Lande Tschu nicht im geringsten kannte, verirrte er sich während seines Rückzuges auf einen Berg, der keinen Ausweg bot. Nun befahl er zwar seinen Kriegern, den Rückzug eiligst mit Gewalt zu erkämpfen; aber der Feind hatte seinen Plan erraten und ihm den Weg abgeschnitten. Wenige können es nicht mit den Vielen aufnehmen, sagte man schon im Altertum; und der junge Liang sah kein Mittel mehr, zu entfliehn und das Leben zu retten.

Ermattet stand er auf dem Berg – nirgends ein Ausweg! selbst ein Held der Vorzeit würde kein Mittel gefunden haben, zu entkommen. Aber die Feinde erinnerten sich der Kühnheit des jungen Liang, der sie mit wenig Truppen angegriffen hatte, und sie wagten nicht, ihm näher zu kommen.

Die Rebellen verbreiteten falsche Gerüchte: die Lüge, der junge Liang sei gefallen, mit einigen tausend Mann. Diese Nachricht gelangte auch in die Residenz. Sogleich ließ der Kaiser dem Kriegsministerium den Befehl zukommen, neue Truppen abzuschicken, um die Grenzbewohner zu schützen und die Grenzwachen 330 eiligst zu besetzen, damit keine Unordnungen entstünden. Auch befahl er, ein anderer General solle sofort an die Grenze marschieren.

 

2
Tschiao nimmt von seiner Tante Abschied

Dem jungen Tschiao, der früher schon zum Mitglied des Kriegsministeriums ernannt worden, wurde befohlen, für die Bedürfnisse der Truppen zu sorgen. Da er wußte, daß seine Tante bei der Familie Thsien wohne, eilte er sogleich dahin, von ihr Abschied zu nehmen. Die Dame nahm den jungen Herrn Tschiao freudig auf; der aber sprach traurig: »Als die Bewohner des Landes Tschu sich an den Grenzen empört hatten, bot sich ein Mandarin freiwillig an, gegen sie auszuziehen. Es war der junge Liang, mein nächster Vetter, wer hätte wissen können, daß seine Truppen geschlagen und er selbst im Lande der Barbaren jung sterben würde? Auf kaiserlichen Befehl hat das Kriegsministerium eine neue Absendung von Truppen und Pferden angeordnet, die sogleich mit mir aufbrechen sollen.«

Die Dame bat: »Der Weg nach der Grenze ist so weit, daß Sie schwer werden hingelangen können; aber versuchen Sie, Nachrichten über meinen armen Jang für mich zu erhalten.«

Der junge Tschiao empfahl sich; Jünchiang aber hatte gelauscht. 331

 

3
Jünchiang erzählt es ihrer Herrin

»Ach! Fräulein! Der junge Liang, der Ihretwegen die Waffen ergriff und fortzog, wurde in der Sandwüste geschlagen – sein Leben ist in das Schattenreich zurückgekehrt. Auch der junge Tschiao ist jetzt an die Grenze abgegangen, er war soeben bei der alten Dame; als er vom Tod des Herrn Liang erzählte, hört ich leider alles genau.«

Jaosien entschwanden die Lebensgeister; als sie wieder zu sich kam, jammerte sie: ›Liang hat meinetwegen sein Leben gewagt und ist gestorben, wie sollte seine Sklavin noch wagen, heimlich zu leben? In der Unterwelt will ich ihn suchen, dort mit ihm verbunden zu werden, nimmer zugeben, daß er dort allein umherirrt. Ich muß seine Jugend beweinen, er hat für mich sein Leben geopfert, in der Sandwüste ohne Hilfe – ein verlassener Geist ging er davon!

Erwarte mich bei der gelben Quelle, deine Sklavin wünscht nicht mehr, in diesem Leben zu bleiben, sie will zu dir sterben! Sie hofft nicht mehr, mit dir auf einem Bett zu ruhn; sie hofft nicht mehr, mit dir unter Blumen zu lachen und zu kosen. Jede Vereinigung ist unmöglich; ich kann dich nur im Traum noch aufsuchen, und wenn ich auch mit tausend Stimmen nach dir riefe, du würdest mir nie mehr antworten!

Meinetwegen bist du gestorben! Wenn ich jetzt meine Keuschheit und meine Treue aufgeben wollte, würd 332 ich an der gelben Quelle meinem Gemahl nie wieder begegnen können. Ich kenne zwar die großen Wohltaten meines Vaters und meiner Mutter; wenn ich aber an sie denke, verfluch ich meine Geburt; denn Mutter wird mich gewiß wieder verheiraten wollen. Damit aber würd ich den Geliebten täuschen, der für mich starb, er würde mich stets verachten, wenn er auch tausend Jahre in der Unterwelt bleiben sollte. Links und rechts, auf allen Seiten grinst der Tod mich an.‹

So jammerte sie sich krank. Ihre Beine wurden welk, ihre Gestalt fiel zusammen, bis sie einem Menschen nicht mehr ähnlich sah. Nur mit Mühe brachte man ein wenig Tee oder Reis über ihre Lippen.

 

4
Die Eltern hören den Tod des Sohnes

Als sie vernommen hatten, ihr Sohn sei auf die goldene Tafel gekommen, freuten sich die Eltern unendlich, lachten vor Lust laut auf. Aber eines Morgens erhielten sie einen Brief von ihrem Sohn, in dem er ihnen meldete, daß er auf Befehl des Kaisers zur Grenze gezogen, die Bewohner des Landes Tschu zu züchtigen.

Den ganzen Tag dieses Brief es brachten sie in Trauer und Schmerz zu. Immerwährend waren ihre Augenbrauen zusammengezogen. Als endlich die Nachricht bis zu ihnen drang, daß er in Unglück geraten sei, 333 schlugen sie sich an die Brust und vergossen Tränen, einem Strome gleich. Sie riefen seine Seele an, brachten ihr Gebete dar und begingen eine Leichenfeier, indem sie seine Totentafel aufstellten und um ihn weinten.

 

5
Jüking wahrt Treue

Aber die Nachricht seines Todes gelangte zur Familie des Gerichtspräsidenten Lieou. Brach seine Tochter Jüking in bittere Tränen aus, ging in ihr Gemach und riß sich die seidenen Kleider ab. Als nun die Dienerin sah, daß ihr Fräulein Liangs wegen so betrübt war, trat sie näher zu ihr, um sie auszuforschen: »Wenn ich Sie frage, mein Fräulein, warum Sie sich so sehr dem Schmerz hingeben, wenn ich Sie frage, warum Sie so viele Tränen vergießen, so werd ich wohl erfahren, daß es wegen des jungen Liang geschieht, aber warum gleich so viel Gram? Denn, obgleich Sie mit dem jungen Liang versprochen waren, sind Sie doch nie mit ihm zusammengekommen; und so ist die Verlobung nur eine leere Zeremonie geblieben. Wie viele werden in dieser Welt Mann und Weib, die, so lange sie leben, einander lieben, nach dem Tod des Gatten aber das Gewesene nicht höher als Staub achten? Es gibt Männer, die, ehe noch sieben Wochen verflossen sind, schon wieder von der Hochzeit sprechen, und eine zweite Frau bereits heimführen, ehe das Grab der ersten richtig trocken ist. Es gibt Gatten, die den ganzen Tag nur 334 miteinander keifen und im Bett sich gebärden, als wenn vier Menschen darin schliefen.

Sie haben das Antlitz des jungen Herrn noch nicht gesehn; warum betrüben Sie sich? Warum denken Sie an ihn? Warum entrollt Wasser Ihren Augen?«

Jüking: »Hör auf, mit deinem Geschwätz mein Herz zu betrüben! Wer seine Keuschheit bewahrt, den loben die Menschen auf dieser Welt; wer durch unzüchtiges Leben die Tugend verliert, zerstört die menschliche Ordnung. Im Altertum hat es Witwen gegeben, die sich von Felsen stürzten und ihre Glieder zerschmetterten; ihr unvergänglicher Ruhm ward in der ganzen Welt vernommen. Ohne Rücksicht auf Reichtum oder Armut muß solche Gesinnung erhalten und durch zehntausend Jahre hindurch bis zu den entferntesten Menschen ausgebreitet werden. Ob ich gleich zwar jene großen Heldinnen nicht zu erreichen vermag, will ich mich dennoch nicht ändern und keinen andern Gatten wählen. Wie lächerlich sind die Weiber auf den Märkten, Flüssen und Straßen, die sich immer wieder und wieder verheiraten und so dem Kot ähnlich werden! Es gibt auch Frauen, die, bemerkend die Armut ihres Gatten, wünschen, der Ehrwürdige möge bald sterben – damit sie bald einen andern heiraten können; aber der Himmel richtet sich nicht nach den Wünschen der Menschen, und wenn sie sich wieder vermählen, bekommen sie gewiß einen noch ärmern Gatten. Sie betrügen sich um ihr Leben in dieser und in der nächsten Welt. Ich wag es nicht, mich in diesem Leben von neuem zu vermählen; Lust und Freude und Liebe, ach, all dies 335 erniedrigt die Menschen. Wenn mein Vater und meine Mutter mir erlauben, meine Einsamkeit zu bewahren, will ich auf meinem verlassenen Bett rein und unschuldig liegen und nur meinen Eltern dienen. Wenn sie es aber nicht zugeben wollen, will ich mich mit frischer Erde bedeckt zur Ruhe legen und empor zu den strahlenden Wolken schwingen!

O Mädchen! Wie könnte die Schwalbe die Gesinnung des Storchs verstehen? Wenn die Vögel Jin und Jang den Gefährten verlieren, suchen sie keinen andern; und sind die wilden Gänse einmal voneinander getrennt, wünschen sie allein zu bleiben. Wenn nun die Tiere des Feldes und die Vögel ihre Treue zu bewahren wissen, um wieviel mehr sollte es der Mensch, der doch die fünf Pflichten kennt!«

 

6
Der junge Liang entwirft einen Plan

Mitten in den Gebirgen erduldete Liang viel Ungemach, da sich ihm kein Weg zum Rückzug darbot mit nur wenigen tausend Mann, auf die er sich verlassen konnte. Sein Fußvolk und seine Reiterei waren schon auf allen Seiten eng eingeschlossen, als er bemerkte, daß vom Gipfel des Berges ein tiefer Bach herabströmte, so daß die kaiserlichen Truppen wenigstens Wasser hatten und nicht mehr Durst zu leiden brauchten. Allein, da kein Hilfsheer kam, wurde er täglich trauriger. Deshalb rief der junge Liang seine Krieger zusammen: »Kommt her und hört, was ich zu sagen habe. Ihr Männer alle, die 336 ihr mit mir auszogt, seid jetzt hilflos, aber ich selbst würde mich nicht so sehr grämen, wenn ich einen Weg wüßte, euer Leben zu retten. Ich verfluche mich selbst, weil ihr alle meinetwegen sterben sollt. Wär es nicht besser, mich zu ergreifen, mich dem Feind auszuliefern? Wenn ich auch sterben muß, ich werd es ruhigen Herzens erdulden!«

»Gnädiger Herr!« riefen ihm die Krieger einstimmig zu, »warum solche Zweifel? Wir sind Ihnen ja Dank schuldig, da Sie uns immer wie Brüder behandelt haben. Wenn nur die Lebensmittel noch reichen, wollen wir das Hilfsheer ruhig erwarten. Und sollte es nicht kommen, wollen wir auf diesem Berg sterben.«

Der junge Liang wartete nun geduldigen Herzens. Er bewachte unablässig alle Pässe und Zugänge, so daß die Feinde, seine aufmerksame Tapferkeit bemerkend, es nicht wagten, ihn anzugreifen. »Laßt uns warten«, lachten sie, »sie werden bald dem Vogel im Käfig gleichen, und wenn sie Flügel hätten, würden sie sich selbst im Flug nicht retten können!«

 

7
Im Palast des Präsidenten Lieou drängt man zu einer neuen Heirat

»Da wir nun wissen«, brummte der Präsident Lieou, »daß der junge Liang wirklich gestorben ist, und ein Mädchen keinen größeren Wunsch hat, als sich bald zu vermählen, so will ich fürs erste nach 337 Feststellung der Geburtsstunde um einen tüchtigen Schwiegersohn mich umsehn und ihm sodann die gebräuchlichen Geschenke zuschicken.«

In derselben Provinz lebte ein junger Mann namens Lan, dessen Vater Finanzdirektor war und viel rotes Gold besaß. Als dieser hörte, in der Familie Lieou sei ein Mädchen – mit ausgezeichneter Schönheit begabt – schickte er eine kluge Unterhändlerin zum Präsidenten.

Diese Alte namens Wangpo kniete vor Jükings Mutter nieder: »Herr Lan und seine Gemahlin lassen Ihnen alles Glück entbieten; sie wünschen um Ihr Fräulein Tochter anzuhalten und dieselbe mit ihrem dritten Sohn zu vermählen, der in großer Liebenswürdigkeit seinen neunzehnten Frühling erreicht hat. Er wird für den begabtesten Jüngling im ganzen Kreis Sutscheu gehalten; auch hat er wirklich jedes Jahr in allen Prüfungen den ersten Platz erhalten. Seine Edelsteine und seine übrigen Kostbarkeiten sind aufgehäuften Bergen vergleichbar, und ich behaupte, er übertrifft an Schönheit alle Menschen.«

Als die Dame diese Rede vernommen hatte, freute sie sich. Lieou aber war bedenklich: »Wir müssen doch auch unsere Tochter fragen, ob sie Lust hat, sich zu verheiraten; von ihrer Kindheit an ist sie immer eigenwillig gewesen, das fürcht ich auch jetzt.«

Die Mutter aber versuchte nichtsdestoweniger ihre Tochter: »Man sagt immer, die Ehe sei eine der wichtigsten Angelegenheiten, endlich hast du das Glück, einen guten Mann zu bekommen.« 338

Jüking warf sich eilig auf die Knie: »Ihre Tochter ist schon mit dem jungen Liang verlobt gewesen und hatte keinen andern Wunsch, als ihm zu gehören. Zwar ist er jetzt an der Grenze gestorben; aber wenn er einsamer Geist bleiben sollte, würde dies mein Herz sehr betrüben. Noch ist mein Herz nicht beruhigt, und schon trachten Sie, mich wieder zu verheiraten. Wie sehr wird uns die Familie Liang mit Zunge und Lippe tadeln! Von jeher sind die einsamen Schwalben nicht in die Höhe emporgeflogen, um sich eine andere Gefährtin zu suchen; wie sollte nun eine Jungfrau einen zweiten Mann heiraten? Meine Eltern dürfen so niedrige Gedanken nicht hegen; ich für meinen Teil wünsche, dies Leben hindurch allein zu schlafen. Ich werd Ihnen dienen, solang ich lebe; wenn auch der Mond sich verfinstern, die Blumen verwelken sollten, dennoch werd ich die Sittengesetze halten!«

Die Mutter: »Tochter! Warum denkst du denn immer noch mit so viel Schmerz an jenen Jüngling? Da dieser Liang dich nie kennenlernte – kein Vergehen, wenn du dich wieder mit seidenen Fäden bindest und in eine neue Heirat einwilligst. Da er unglücklich war und nicht wieder in die Heimat zurückkehren wird, ist er für dich nur einer, der dir auf der Straße begegnet ist; und da ich dir heut einen bessern Jüngling gewählt habe, kannst du deinen Frühling in Lust und Freude verbringen.«

Jüking: »Die Worte meiner Mutter sind nicht überlegt! Kann ich den jungen Liang wie einen Begegner betrachten, wo wir doch für das ganze Leben verlobt waren? Wenn wir auch die Heiratsbräuche nicht ganz 339 gefeiert haben, ist doch ein festes Wort ebensoviel wert wie tausend Goldstücke.«

Die Kupplerin: »Wahrhaftig, Fräulein, Sie sind ein äußerst unsinniges Mädchen! Die Alten sagen, daß der Himmel das Leben im voraus festsetzt und daher ein schönwangiges Mädchen einem ausgezeichneten Manne gebührt. Dies Papier mit dem Alter des Jünglings beweist seine Jugendblüte, auch müssen Sie wissen, daß die Familie großen Reichtum besitzt, ich will es Ihnen hiermit gesagt haben. Es wäre töricht, ein so vornehmes Haus abzuweisen; ist es nicht ehrenvoll für Sie, daß der Jüngling mich an Sie abgesendet hat? Ich habe nicht nötig, zu erwähnen, daß sein Vater ein so hoher Beamter ist, daß selbst Seine Majestät freundschaftliche Beziehungen zu ihm unterhält. Er hat so viel Bernstein und Korallen wie Körnchen Staub, und seine Perlen und kostbaren Steine gleichen einem hohen Sandhaufen. Sein Blumengarten ist unendlich groß und wahrhaft prächtig, auf der rechten Seite stehen Palmen, auf der linken Blumen. Wackere Diener hat er wohl gegen hundert, die den Winter über in dicken Taft, den Sommer hindurch in leichten Atlas gekleidet sind. Sie spielen Schach und drei verschiedene Saiteninstrumente. Manchmal kommen sie in die Halle und blasen die perlengeschmückte Flöte, zuzeiten singen sie zur Begleitung der lieblichen Laute. Ich denke nun, daß wenn seine Diener alle so trefflich und aufgeweckt sind, der Herr noch viel mehr Vergnügen und Lust darbieten muß. Der junge Herr ist ohne Falsch, talentvoll, liebenswürdig und aus einer guten, alten 340 Familie; da er schon Doktor ist, so kann ihm der Sitz in der Akademie nicht entgehen. Außerdem ist er von Natur sanft, leutselig und äußerst gefällig. Selbst wenn er betrunken ist, macht er keinen Lärm, sondern geht ruhig nach Hause. Vor allen Menschen, die er sieht, verbeugt er sich höflich; sobald ein Gast zu ihm kommt, ruft er den Dienern zu, guten Tee herbeizuschaffen. Die Reichen und Vornehmen sind nach dem Ausspruch der Alten stolz und hochmütig; er aber ist einem gastlichen Blumengarten vergleichbar. Wenn Sie, mein Fräulein, in sein Haus kommen, so werden Sie besser daran sein, als wenn Sie selbst in den Palast des Himmelssohnes kämen. Warum behaupten Sie nun mit Mund und Stimme, daß Sie allein bleiben wollen? Ich fürchte sehr, Ihre Herzensangelegenheiten sind in diesem Leben so verwirrt wie Flachs; denn die erste Liebe in der Jugend verstattet keine Ruh. Aber wenn Ihre Seele sich erst einmal beruhigt hat, werden Sie Ihren Mißgriff einsehen.«

Jüking: »O Wangpo! Warum bringt Ihr Mund so viel Blumen hervor? Sie sagen, daß ich wegen meiner Jugend nicht leicht einsam bleiben könne; aber denken Sie ja nicht, daß ich meine Gitarre ergreifen und jemals in eine andere Familie ziehen werde. Sie mag vortrefflich sein, aber mein Herz fühlt keine Sehnsucht nach ihr, warum sollt ich, da ich Seidenschmuck besitze, noch Blumen hinzufügen? Von zehn Worten der Unterhändlerinnen sind gewöhnlich neun falsch.«

Die Mutter: »Meine Tochter, hör auf, so unverschämt zu reden! Die Sache hängt doch nur von dem Willen 341 deiner Eltern ab; und ich erkläre dir, daß ich die Geschenke, in Flachs und Tee bestehend, sogleich annehmen will. Diese Heirat geht mich allein an; wer wird wohl noch wagen, den Mund aufzutun?«

Wangpo kehrte zufrieden nach Haus zurück, als sie diesen Befehl vernommen hatte; Jüking aber –

 

8
Jüking stürzt sich ins Wasser

– legte sich auf das elfenbeinerne Bett. ›Wie bin ich zu beklagen, daß ich am heutigen Tag einem Feind begegnen mußte! Diese Nacht muß ich sterben, ein Gast der gelben Quelle werden!‹

Sie hörte den Flug der Abendvögel; auf den Zweigen der Bäume sich wiegend, kreischten die nächtlichen Raben laut auf.

Langsam bereitete sie alles vor, legte ihre neuen Kleider ab, und als sie, sich tief verbeugend, von Vater und Mutter stummen Abschied nahm, erklangen die Tränen in ihr: ›Ich betrüg euch um eure Wohltaten und eure Liebe, die ihr mich ernährtet und erzogt! Aber ich muß mich in den Strom stürzen, zu den Wasserpflanzen!‹

Schon lag verlassen das seidene Gemach hinter ihr, hilflos stampfte sie mit den Füßen, schlug an die Brust, jammerte auf zum Himmel: ›Jetzt hab ich keine Hoffnung mehr, das Schminkkästchen zu nehmen, oder die Terrasse zu besteigen, oder das Kästchen mit den Edelsteinen aufzumachen; die wilde 342 Hoffnungslosigkeit für dies Leben tötet mich. Aber heut abend wird der Gatte die treue Liebe seiner Gattin sehen! Der Mond verfinstert sich, die Blumen verwelken, ich opfere meine Jugend; denn da Vater und Mutter mich zwingen wollen, wieder zu heiraten, muß ich mich in den Strom stürzen, um nicht vor dem Himmel zu erröten.‹

Der Garten stand offen; sie ging eilends hindurch: ›Der heutige Tag des künftigen Jahres wird der erste Jahrestag meines Todes sein; denn in dieser Nacht des gegenwärtigen Jahres werd ich im Strom sterben, im achtzehnten Frühling meines Lebens! Und ihr, o mein Vater und o meine Mutter, eure Sorgfalt bei meiner Erziehung ist zu Rauch geworden!‹

Sie wankte vorwärts ans Ufer, zur tiefsten, breitesten Stelle des Stroms; das Wasser floß nach der Morgenseite hinab. ›Das Unglück meines Lebens soll endlich aufhören! Noch gleich ich einer Blume in ihrer vollen Pracht; aber wenn der Wind stürmt und der Regen niederströmt, dauert die Pracht nicht mehr lang; Blatt auf Blatt wird herabgeweht, und sie folgen dem Laufe des unermüdlichen Wassers. Ach! alle Jahre strömt das Wasser und fallen die Blumen!‹

Sie hob nun das Haupt empor und verbeugte sich andächtig vor dem leuchtenden Mond: ›Weil ich mich nicht mit dem jungen Lan vermählen will, hab ich Vater und Mutter verlassen, verlaß ich dies Leben, ohne zu wünschen, des Frühlings oder des Herbstes mich zu erfreuen. Am Strand wird diese Nacht mein Leichnam ruhn; während mein Blumengesicht erstarrt dort liegt, wird das Wasser aufseufzen! Ich 343 fleh dich kniend an, Göttin des Monds, mich freundlich zu leiten an einen tiefen Ort, damit die Wellen mich nicht wegspülen!‹

Mit diesem Gebet stürzte sie sich in den Fluß.

 

9
Ein Studieninspektor rettet sie

Auf dem Strom aber befand sich ein Studieninspektor, ein gewisser Lung, dessen Familienboot an der Küste die Anker ausgeworfen hatte. Er und seine Frau hatten nämlich vom Vorderteil des Schiffes aus Seufzer gehört und befohlen, anzuhalten, willens, zu Hilfe zu eilen dem Menschen, der fortgerissen dem östlichen Strome des Wassers folgte. Der alte Herr befahl verstört den Ruderern, den Unglücklichen zu retten. Das Wasser kennend: die Matrosen kamen erst, nachdem sie oft untergetaucht waren, an Bord zurück; retteten das schöne Wesen und brachten es aufs Schiff.

Die beiden Alten halfen dem Mädchen ins Leben zurück. »Wer auf dieser Welt«, fragten sie, »hat keine Furcht vor dem Tod? Warum wollten Sie das Leben lassen, sich im Oststrom ein Grab suchen?«

Jüking, dem Tod entronnen, fiel in die Neugier des Lebens zurück: »Die Erwähnung dieser Sache wird Ihnen tausend und abermal tausend Schmerzen verursachen. Ihre Sklavin stammt aus einem angesehenen Haus, das große Männer hervorgebracht hat. Mein Vater ist Präsident des Obersten Gerichtshofs, 344 sein Name ist Lieou. Ich bin im tiefverborgenen Gemach erzogen worden und habe die Pflichten einer Hausfrau gelernt. Achtzehn Jahre glitten mir Frühling und Herbst in tiefer Ruhe dahin, bis der seidene Schmuck einem Jüngling der Familie Liang versprochen wurde. Der war, Ruhm zu erwerben, in die Hauptstadt gezogen, wo er Mandarin und Mitglied der Akademie wurde; da er sich anheischig machte, die Rebellen im Lande Tschu zu unterjochen, suchte er um eine Anstellung beim Heer nach. Wer hätt ahnen können, daß er an der Grenze sterben würde? Nun wollen mich mein Vater und meine Mutter zwingen, mit einem neuen Gefährten mich zu verbinden, sie bedeuteten mir mit Strenge, daß ich Unverheiratete meine Treue niemand zu wahren brauche. Sie befahlen mir, meine zarten Augenbrauen wieder zu schmücken und in ein anderes Haus zu ziehn; aber Ihre Sklavin wagte es nicht, sich zum zweiten Male zu vermählen. Mocht ich meinen Vater und meine Mutter noch so sehr anflehn, ich konnt ihren Willen nicht beugen. Da bedacht ich, daß ich tausend Jahre lang erröten würde, wenn ich aus zu großer Liebe zum Leben Körper und Seele opferte. Wenn die Menschen auch hundert Jahre lang leben, endlich müssen sie doch sterben; aber die Namen der Tugendhaften werden die entferntesten Zeiten erreichen. So stürzt ich mich in die Wellen, in die Wogen des Stromes meinen Kummer zu graben und Schlummer zu finden.«

Herr Lung: »Beruhigen Sie sich! Wenn Sie auch Ihre Ehre nicht verlieren wollen, warum sollt Ihre 345 schöne Gestalt auf dem Wasser herumschwimmen? Ich will Sie begleiten, in Ihre Heimat zurückbringen – dort mögen Sie sich unter den Menschen wieder des Frühlings und des Herbstes erfreuen! Ich will Ihre Eltern ermahnen, Ihrem Willen nachzugeben, damit Sie in Ihrem seidenen Bett rein und schuldlos leben können!«

Jüking: »Hören Sie meine Gründe dagegen! Wenn auch mein Vater und meine Mutter meinem Wunsch nachgekommen wären, hätt ich mich diesen Abend doch in das Wasser gestürzt; denn wenn sie auch für den Augenblick zugeben würden, daß ich eine Zeitlang ehelos verharre, würd ich am Ende doch nicht länger als zwei oder drei Herbste warten dürfen. Ich aber denke nicht daran, mein armseliges Leben zu behalten; denn ich achte jetzt Lust und Liebe nicht höher als einen Pinselstrich. Ich wünsche zehntausendmal, gnädige Frau, daß Sie mich nicht gerettet hätten, weil ich jetzt schon vom Strome hinabgeschwemmt worden wäre und dieser Leib schon im Magen irgendeines Fisches begraben läge. So aber ist mein Unglück noch nicht vollendet!«

Frau Lung: »Da ich schon sechzig Jahre alt bin und keine Kinder habe, so glaubt ich, daß ich in Zukunft den Wolken und dem Nebel gleichen würde; da ich Sie aber jetzt erblick, ein Mädchen von großer kindlicher Frömmigkeit, will ich von diesem Abend an Sie als meine Tochter betrachten; und wenn Sie uns beide bis an das Ende des Lebens geleitet haben, mögen Sie Ihr Haar verschneiden, eine Nonne werden und sich ganz der Tugend widmen.« 346

Als Jüking diesen Wunsch vernommen hatte, trat sie näher hinzu und verbeugte sich tief. Die alte Dame nahm ein trockenes Kleid, gab es der Jungfrau. Am andern Tage segelten sie weiter.

 

10
Die Eltern suchen den Leichnam

Lieou und seine Frau saßen, früh auf, in ihrem Gemach, als plötzlich alle Diener herbeiliefen und meldeten, sie wüßten nicht, wohin das Fräulein gegangen sei; in ihrem Zimmer seien zwar alle Gerätschaften wohlgeordnet, aber die Hintertüren ständen sämtlich offen.

Die Dame stampfte mit den Füßen und schlug sich an die Brust und rief laut nach ihrer Tochter.

Die Diener suchten abermals lange Zeit; als sie zurückkehrten, berichteten sie, sie hätten keine Spur gefunden, niemand wisse etwas. Es habe nur ein Matrose, den sie am Ufer des Stromes gefunden, ausgesagt, daß er in der vergangenen Nacht ein Wehklagen und Jammern gehört und bald darauf einen Schall im Wasser vernommen, aber niemand erblickt habe und vermute, es habe sich jemand in den Strom gestürzt.

»Du hast gar keine Einsicht«, rief der alte Lieou seiner Frau zu. »Du wußtest, daß deine Tochter nicht einwilligen würde; du hättest nach und nach auf andere Weise sie bewegen sollen. So aber zwangst du sie, 347 sich ins Wasser zu stürzen; du hast sie gemordet, es ist nur zu offenbar, daß du deine Tochter haßtest!«

 

11
Ein Pfeil überbringt ein Geheimnis

Sobald der junge Tschiao an die Grenze gekommen war, übergab er Lebensmittel und Truppen dem Obersten Befehlshaber. Jetzt erfuhr er auch, daß der junge Liang noch nicht gestorben, sondern nur seit einem Monat von den Rebellen eingeschlossen war. Sobald der junge Tschiao diese Nachricht vernommen hatte, eilte er zum Feldherrn und bat ihn, ihm eine Abteilung tapferer Veteranen anzuvertrauen, er wolle mit ihnen zu General Liang eilen. Der Feldherr ließ eine Division wohlgeübter Truppen ausrücken; fünfzigtausend alterprobte Soldaten wurden zu dem Zug kommandiert.

Nachdem der junge Tschiao ein Lager geschlagen hatte, bedachte er, daß der Feind, trotz seiner Stärke, nie angegriffen, sondern die ganze Zeit über den jungen Liang nur eingeschlossen gehalten habe. Er hielt es fürs beste, sich mit Liang in Verbindung zu setzen, damit sie den Feind zur gleichen Zeit überraschen könnten. Am Abend ging er bei Mondschein aus dem Lager, um zu rekognoszieren, und blieb die halbe Nacht dem Lager fern. Er merkte, daß die Truppen der Rebellen in viele Scharen aufgelöst waren. Auf Bergeshöhe stehend, konnte er auf ihr Lager herabsehen, wo die größte Unordnung herrschte. 348

Alsbald kehrte er in sein Lager zurück, wo er einen Brief schrieb, den er mit zwei Bändern an einen tönenden Pfeil festband. Hierauf bestieg er den Berg zum zweitenmal, kniete nieder, zu den verborgenen Geistern der vier Weltgegenden flehend.

Hierauf befestigte er den einen Brief an einem Pfeil und schoß ihn auf die Grenzwache ab. Dieser Brief lautete also:

»An den Generalleutnant Jang.

»Ich, Tschiao, ersuche Sie, morgen abend, in der zweiten Nachtwache, sobald Sie Lärm hören, Ihren Truppen zu befehlen, einen Ausfall zu machen.«

Den andern Pfeil schoß er auf die Höhe des Berges ab, um seinen Vetter Liang ebenfalls von seinem Unternehmen zu benachrichtigen.

 

12
Sie melden dem Kaiser ihren Sieg und kehren an den Hof zurück

Ein langer Monat war vorübergegangen, Liangs Lebensmittel waren so erschöpft, daß seine Truppen endlich durch den Mangel entmutigt wurden. Eines traurigen Abends saß er beim Mondschein in der vierten Nachtwache auf dem Gipfel des Berges, über die Lage seiner Truppen nachzudenken, als er wahrnahm, wie ein Pfeil, an seiner Seite vorübersausend, auf dem Berg niederfiel und im Gras steckenblieb. Der junge Liang stand auf und trat hinzu, den Pfeil zu betrachten. Als er diesen Brief 349 gelesen hatte, teilte er mit freudiger Stimme seinen Kriegern mit: »Heut ist Herr Tschiao gekommen, uns zu befreien; er hat die zweite Nachtwache der kommenden Nacht dazu bestimmt.« Die Truppen überließen sich ihrer Freude; sie aßen, den Ausfall mutig zu erwarten, wünschend, daß der Tag sich rasch neigen und der Abend endlich heranrücken möge. Als Tumult anhob, zog Liang aus dem Lager in zwei Scharen, wovon die eine die belagernden Rebellen angriff, während die andere, auf dem Berge manövrierend, sich mit dem Hilfsheer zu vereinigen suchte. Es traf sich, daß die Männer aus dem Lande Tschu gezecht hatten und betrunken waren. Als sie hörten, daß das kaiserliche Heer auf vier Seiten heranrückte, bedauerten sie, keine Flügel zu haben, um sich zum Himmel emporschwingen zu können, schon weil die kaiserlichen Truppen sehr tapfer kämpften, mit jedem Augenblick kühner wurden und mutiger vordrangen, so daß sie die Männer aus dem Lande Tschu niedermetzelten, wie wenn sie Staub aufwirbelten. Die kaiserlichen Truppen, die sich nach allen Seiten zerstreut hatten, sammelten sich dann wieder, ruhten im Lager aus und bereiteten sich Speise zu, denn sie waren sehr hungrig.

Die beiden Vettern Liang und Tschiao traten mit Marschall Jang zusammen und beschlossen, die Männer aus dem Lande Tschu, die schon allen Mut verloren hatten, zu verfolgen, die Rebellennester zu zerstören und ihre Häuptlinge zu fangen.

Während die drei Generale noch in ihrem Herzen überlegten, wie sie weiter vordringen sollten, kamen 350 die überlebenden Rebellen herbei, sich zu unterwerfen. Man zerstörte die Hauptstadt der Rebellen und nahm alle gefangen samt dem feindlichen König.

 

13
Jaosien vernimmt die frohe Botschaft

Wir müssen nun von Jaosien erzählen, die immer noch täglich ihre Augenbrauen zusammenzog: ›Ich bin wahrlich dem Kuckuck zu vergleichen, der mit seinem Blut die Blumenzweige benetzt Wie bin ich zu bemitleiden, daß ich nicht so glücklich bin wie die Schwalben auf dem Hausbalken, die alle Tage sich paaren und ihren Gatten entgegenfliegen! Frühling kehrt wieder; aber meine Schönheit ist vergangen, ich habe nur noch Haut und Knochen.

Ich denke nicht einmal daran, mir die Augenbrauen zu bemalen. Es öffnen sich nie wieder meine Augenlider, noch mein Herz mehr. Im Spiegel erblick ich nur einen einsamen Vogel, und ich trauere darüber, daß er allein herschaut; am Fenster tötet mich der Gram, wenn ich seh, wie die bunten Schmetterlinge paarweise herumflattern.‹

Da kam Jünchiang zu ihr und erzählte ihr, vor Freude laut auflachend, mit geläufiger Zunge die glücklichen Neuigkeiten.

Lange war Jaosien taub und wollte nichts glauben, aber endlich löste sie das eherne Band, das ihre Augenbrauen umgab. 351

 

14
Sie werden befördert

Als der Kaiser die drei siegreichen Generäle zu seinen Füßen erblickte, verklärte sich sein drachenähnliches Antlitz und sprach: »Es ist offenbar, daß diese weisen Minister herrliche Gesinnungen haben. Der Minister Liang hat geschworen, sich den Rebellen niemals zu unterwerfen; der Minister Jang hat mit großer Treue die Festung verteidigt; und der Minister Tschiao hat mit treuer Brust und vielem Mut gehandelt. Heute will ich nun ihre Mühseligkeiten, ihre selbst im Altertum seltene Anhänglichkeit belohnen, wie seit zehntausend Jahren nicht geschehen ist. Diese Helden ernenn ich mit allerhöchsteigenhändiger Unterschrift zu Grafen, ihre Söhne und Enkel sollen erblichen Besitz in der Residenz erhalten!« Sie dankten, und ein jeder ging in seinen Palast.

 

15
Der junge Lieou erzählt die Begebenheiten

Damals war auch der junge Herr Lieou, der Sohn des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, in der Hauptstadt angekommen. Als er dort die Geschichte des Grenzkrieges hörte, seufzte er auf: »Und so ist der junge Liang doch noch am Leben und ist, noch so jung, schon zu hohen Ehrenstellen erhoben worden! 352 Wie ist meine Schwester zu beklagen, daß sie umsonst gestorben ist! Soll ihr Ruhm verborgen bleiben; soll niemand etwas erfahren?«

Hierauf ging er zu dem Jüngling und erzählte ihm, sich tief verbeugend, die Geschichte seiner Schwester. Der junge Liang sagte betrübt: »Wie sehr ist das Fräulein zu bedauern, daß sie ihre Keuschheit so hartnäckig bewahrte, indem sie sich nicht wieder vermählen wollte, selbst nicht mit einem reichen Jüngling! Mein Unglück hat sie so betrogen, daß sie sich im Strom das Leben nehmen mußte. So treue Liebe, wie sie Jüking empfand, wird man in der Welt selten finden!«

 

16
Der Kaiser macht den Unterhändler

Kaum er sich vom jungen Lieou verabschiedet hatte, kam unvermuteterweise Herr Jang, Liang zu besuchen. Er fragte den Jüngling, weswegen er so traurig sei?

Liang: »Wenn Eure Exzellenz mich anhören wollen, so will ich Ihnen die Ursache vortragen. Vor einiger Zeit hat mich mein Vater mit der Tochter des Herrn Lieou verlobt. Während ich nun an der Grenze von den Rebellen umzingelt war, brachten Diener ihr die Nachricht, daß ich gestorben sei. Das Fräulein wünschte ihre Treue zu bewahren; als ihre Mutter sie drängte, wieder zu heiraten, stürzte sie sich ins Wasser und starb. Ihr Bruder ist eben hierhergekommen, mir diese Nachricht mitzuteilen. Ich frage 353 Sie: Wer sollte sich nicht bis in den Tod grämen, daß der Ostwind diesen Aprikosenbaum knickte?«

Jang: »Eine solche Treue bei so großer Jugend war sogar im Altertume selten, noch mehr in jetziger Zeit! Wie sehr muß man beklagen, daß ein so köstliches Juwel in den tiefen Wellen versunken ist! Aber sie hat sich einen berühmten Namen erworben, der muß aller Welt bekannt werden! Wir wollen diese Tugend zur Kenntnis des Kaisers bringen.«

Die beiden Männer legten sogleich dem Kaiser eine Bittschrift vor, an deren Rand der kaiserliche Pinsel rasch folgendes schrieb:

»Man errichte Jüking einen Triumphbogen, damit nachkommende Menschen sie kennenlernen!«

Hierauf fragte der Goldene Mund den Grafen Jang: »Wieviel Söhne und liebwerte Töchter haben Sie?«

Jang: »Ich habe nur ein einziges Kind, eine Tochter; wenn ich recht zähle, so wird sie jetzt neunzehn Jahre alt sein. Sie ist bis jetzt noch nicht mit dem seidenen Bande gefesselt.«

»Der Gott der Ehen hat gewartet«, lächelte das zehntausendjährige Drachengesicht, »er wollte, daß wir die Sache übernehmen. So befehlen wir Ihnen denn, Minister, Ihre Tochter mit dem Minister Liang zu vermählen. Mögen die beiden sich hundert Jahre lang gegenseitig lieben und stets zufrieden sein!«

Der Kaiser bestimmte unter großen Schenkungen den nächsten Morgen zur Hochzeit.

Jaosiens Augen glühten. Sie war einem zu vergleichen, der auf dem Richtplatz die kaiserliche Gnade erhält 354 und schon mitten im Tod wieder zum Leben gerufen wird. Sie öffnete ihr Schmuckkästchen wieder, staubte ihren einsamen Spiegel ab.

 

17
Er heiratet auf kaiserlichen Befehl

Als der junge Liang sich zur Hochzeit vorbereitet hatte, ging er, mit seinem Drachengürtel angetan, ins Haus seiner Braut, von vielen hohen Staatsbeamten begleitet. Die Freude dieses Tages war seit etlichen zehntausend Jahren nicht gesehn worden.

Zwischen einer langen Reihe von blumengeschmückten Lampen erdröhnten die metallenen Trommeln, in den volkgefüllten Straßen wehten die fünf Banner. Das vielliebliche Mädchen trug eine federgeschmückte Haube und einen gestickten Mantel; sie war gerad im Brautgemach, als man ihn einführte. Beide wünschten, daß die Nacht sich verlängern und die Morgentrommel noch lange schweigen möge. Wie selig verging ihnen diese Nacht und wie unglücklich waren sie früher gewesen! Wenn sie die Stunden zählten, so kamen sie ihnen sehr kurz vor, die Morgentrommel und die Musik rief sie zu bald aus dem Brautgemach. 355

 

18
Herr Lung spricht mit dem Kaiser

Wir wollen von dem Studieninspektor erzählen, der auch in die Residenz gekommen war, denn man hatte ihn nach Jenking gerufen, um ihn zum Schatzmeister zu befördern.

Als er dort die Geschichte des jungen Liang vernahm, begab er sich zu seiner Frau und Jüking, sie ihnen mitzuteilen: »Wie viele Menschen lügen nicht in dieser Welt! Man sagte, Liang sei gestorben, die Sachen an der Grenze stünden schlecht, und jetzt hat er einen Triumphbogen für ein berühmtes Mädchen errichten lassen! Wer sollte nun glauben, daß es für unsere Tochter ist? Da aber Seine Heiligkeit selbst den Unterhändler für ihn gemacht und ihm eine andere Frau gegeben hat, was sollen wir nun in dieser verwickelten Angelegenheit machen? Am besten ist es, wenn ich mich morgen an den Hof begebe und Seiner Majestät die Sache vortrage!«

Jüking aber ordnete ihre Kleidung und kniete vor ihm nieder: »Es ist nicht nötig, daß Sie sich so viele Sorgen darüber machen; denn da er sich schon mit einem andern Mädchen verbunden hat, so kann ich nicht mehr daran denken, meine Haare zur Hochzeit zu schmücken. Mögen nur Glück und Freude ihm erblühen, während ich in Schmerz vergehe!«

Frau Lung lachte: »Mein Kind! Du weißt nicht, was du sagst. Er hat dich ja nicht vergessen, er hat dir einen Triumphbogen errichten lassen; und da Seine 356 Heiligkeit selbst den Unterhändler machte, so konnte er die andere nicht abschlagen. Mögest nun auch du deine Augenbrauen endlich einmal entfalten!«

Der Schatzmeister legte anderen Morgens sogleich seine Bittschrift zu den Füßen des Kaisers nieder. Als das Drachengesicht sie gelesen hatte, lachte es laut auf: »In der Welt gibt es so wenig merkwürdige Begebenheiten! Wir befehlen, daß der junge Liang sich, wie früher, mit der ersten, auch mit dieser vermähle; seine beiden Weiber aber erheben wir zu Damen des ersten Ranges; er soll nicht zögern, diese Hochzeit mit derselben Pracht zu feiern wie die erste.«

 

19
Jaosien ermahnt ihn, zu heiraten

Als der junge Liang den Willen des Kaisers vernommen hatte, verließ er den Hof und ging nach Haus, um seiner Frau die Sache mitzuteilen: »Jaosien, es hat sich eine äußerst merkwürdige Begebenheit zugetragen, Fräulein Jüking ist nicht gestorben, und Seine Heiligkeit hat befohlen, daß ich sie ebenfalls heiraten solle. Aber dies ist so unbillig, daß man es kaum befolgen kann.«

Jaosien: »Sie waren noch im Unglück, als Fräulein Jüking sich ins Wasser stürzte – sie hat sich Ihretwegen das Leben nehmen wollen. Oh, sie hat mehr Seelengröße an den Tag gelegt, als die unsterblichen Geister belohnen können. Wenn ich auch mit Ihnen verbunden bin, würd es doch unrecht von mir sein, 357 wenn ich Ihnen Unbilliges raten wollte. Mein Herr, befolgen Sie den kaiserlichen Willen, leben Sie mit ihr vereint. Ihre Sklavin aber wird sich eine Nebenkammer bereiten und die Hausehre mit ihr teilen.«

»Mein Weib!« freute sich Liang, »Sie sind wahrlich so weis und tugendhaft wie wenige in der Welt!«

 

20
Glück

Die Vorbereitungen zur Vollziehung der Hochzeit wurden schnell getroffen, die Staatsbeamten kamen in ebenso großer Anzahl wie bei der früheren. Die Mitgift, die der Schatzmeister gab, war äußerst reich und prächtig. Die zwei Prinzessinnen gingen einander höflich entgegen und liebten einander wie Schwestern. Sie lebten in Frieden, ohne aufeinander eifersüchtig zu sein. Jünchiang und Pijue aber wurden Liangs Geliebten, und alle vier gebaren ihm, als die Zeit kam, je einen Sohn.

Eines Tages meldete man, Herr Lieou sei angekommen. Als Jüking dies vernahm, ging sie, ihre Mutter zu besuchen. In ihrer federgeschmückten Haube und ihrem gestickten Mantel nahm sie sich wunderherrlich aus; zwanzig Dienerinnen begleiteten sie, die alle in gleichen seidenen Kleidern einhergingen. Ein herrlich duftender Schirm bedeckte sie; eine Unzahl von Lakaien folgte ihr nach; kaiserliche Hellebardiere mit goldenen Knöpfen standen an beiden Seiten verteilt; goldene Warnungsschilder, wehende Banner wurden ihr vor- und nachgetragen. 358

Als der Zug vor den Palast des Herrn Lieou kam, stand der alte Herr am Fenster, grübelnd, wer wohl mit dieser Pracht kommen möge, ihn zu besuchen? Als er sich näher umschaute und seine eigene Tochter sah, zweifelte er noch an der Wirklichkeit dieses Traums; aber je mehr er seine Augen öffnete, desto deutlicher sah er die Wirklichkeit.

Als die unerzogene Mutter ihre Tochter sah, weinte sie bitter: »Wie sehr hab ich mich schon gegrämt, daß ich im vorigen Jahr so unrecht handelte!«

Der Schwiegervater und der Schwiegersohn verbeugten sich jetzt voreinander, und ihre Freude war so groß, wie wenn sie im Himmel gewesen wären. Hierauf dankten sie dem Studieninspektor Lung. Alle wurden Freunde und trennten sich nicht mehr.

Die Weiber des jungen Liang aber lebten in Frohsinn und Eintracht, jede übertraf die andere an Schönheit. Manchmal kredenzten sie einander den Becher, wenn sie den nächtlichen Mond betrachteten; und manchmal, wenn sie den kühlen Wind aufsuchten, dichteten sie miteinander. Ihr glückliches Leben erschöpfend zu schildern, wär unmöglich, denn der Bericht ihrer Lust und Freude würde allein einen noch dickeren Band umfassen.



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