Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Dämmerung

Wu Sung ging wieder kleine, struppige Tigerwege – auf den großen Landstraßen und in den Städten gab es Plakate, vor denen standen Leute und lasen eifrig seinen Steckbrief. Ein Sterntiger oder ein ehemaliger Hauptmann, von Beruf ein Schatzräuber und mehrfacher Totschläger, wurde gesucht von Behörden, die noch jeden Schatz geraubt, jeden Menschen getötet hatten, den sie ohne Furcht vor Strafe berauben oder ermorden konnten. Wu Sung ging kleine, struppige Wege, denn er war nicht mehr Befehlsbeamter, sondern gehetzt – hatte also keine Zeit mehr, den richtigen Weg zu suchen. Er stieg nicht ins Gebirge, er schlug sich immerhin noch nicht zu den Räubern, obwohl er dergleichen Tschang Tschin, Tung und Sieh versprochen hatte: Es schien ihm nämlich, als hätt er im Blutrausch bereits genug getötet. Er lebte in mondlosen Wäldern, aß Spinnwebbeeren und Wasserschwämme, und nur wenn ihm die wilden Schalenfrüchte und Dornengemüse gar nicht mehr schmeckten, fing er im Traum Wild und 244 stillte damit seinen Hunger, weil die Steine noch immer zu hart: zu unverdaulich waren. So hungerte er viel, bis ihm eines Tages in der Stadt Kiang Tschou jemand von hinten mit der Hand auf die Schulter schlug: »Hallo! Herr Tschêng, wo kommen Sie her?« Wu Sung erblaßte, aber die fremde Hand schloß sich um sein Handgelenk – zog ihn in eine Seitengasse fort. Wu Sung drehte sich, zum Äußersten entschlossen, um und erkannte in dem Mann den alten King, den Beschützer seiner Schwester, dem er zur Flucht aus der Stadt We Tschou verholfen hatte. Der Alte zog den vor Freude willenlosen Wu Sung bis zu einem Ruheplatz unter einer Haustür, mahnte:

»Mein Retter, Sie sind sehr unvorsichtig, überall hängt Ihr Steckbrief mit einer Belohnung, und Sie stellen sich noch davor! Wenn jemand Sie erkennt, wird der Folterknecht Sie zertrümmern.«

Wu Sung: »Ich wundere mich, Sie hier zu treffen. Sie sagten doch, Sie wollten in die Osthauptstadt?«

King: »Seit dem Tag, da wir aus We Tschou auf und davon fuhren, hatt ich Angst, die Leute des Schlächters Tschêng könnten uns nachfahren, so sind wir statt nach Osten gegen Norden gefahren. Unterwegs trafen wir unsern Nachbar aus der Osthauptstadt, der geschäftlich hier zu tun hatte. Er nahm uns mit, und seit wir hier sind, geht es uns vorzüglich. Durch ihn ist meine Ziehtochter Munglan die Freundin eines reichen Herrn Tschau geworden. Wir haben sehr viel mit Herrn Tschau über Sie gesprochen – er möchte gern bei Ihnen fechten lernen. Sie müssen unbedingt einige Monate oder Jahre bei uns bleiben und Herrn 245 Ehrenbürger Tschau kennenlernen, dann können wir weitersehen.«

Der alte King führte Wu Sung in seine Wohnung, dankte Wu Sung noch viele Male für alles Gute, bot ihm einen Stuhl an, kniete vor ihn hin und berührte sechsmal die Erde mit der Stirn.

Wu Sung: »Wenn Sie mir immer so danken, wird mich der Himmel bald bestrafen. Was hab ich Großes für Sie getan, so verehrt zu werden?!«

Der alte King: »Sie sind unser edler Retter! Wir haben Ihren Namen auf ein rotes Blatt Papier geschrieben, davor beten wir täglich für Ihr Wohlergehen, um unsere Dankbarkeit abzutragen. Ich bin sehr froh, daß wir Sie hier haben!«

Dann rief der alte King seine Ziehtochter.

»Munglan! Schwester!« weinte Wu Sung. »Ich habe solchen Durst nach dir gehabt!«

Wir müssen die beiden nun viele Stunden lang ihren Toten, Tränen, Zärtlichkeiten, Erzählungen überlassen. Wir wissen nicht, wieviel Geflügel, Fleisch, Wein, Früchte, Süßigkeiten der alte King kaufte und wie Munglan alles zubereitete. Sie saßen auf dem Balkon, aßen und tranken, weinten und lachten, plauderten und schwiegen – bis sie vor der Tür Lärm hörten. Wu Sung sah auf, sah hinab, erblickte dreißig, vierzig armselige Kerle mit eisernen Knütteln bewaffnet; der Anführer saß auf einem Pferd, kommandierte: »Achtung! Laßt den Räuber nicht entwischen! Verhaftet ihn!«

Als Wu Sung das hörte, packte er einen schweren Stuhl, freute sich auf die Rauferei, und wollte gern 246 mit den Leuten kämpf en. Aber der alte King bat ihn, nicht gleich so zornig zu sein, er wolle selbst auf die Straße gehen und mit dem Anführer sprechen. Er ging, sprach leis einige Worte mit dem Reiter, worauf der lachte und das bewaffnete Gesindel fortschickte. Der Anführer stieg vom Pferd, ging ins Haus, kam auf den Balkon, begrüßte Wu Sung als Retter Munglans – es war der Herr Ehrenbürger Tschau.

Herr Tschau erklärte, er hätte gehört, der alte King habe einen jungen Kerl mitgebracht, und gewähnt, das sei ein neuer Geliebter für Munglan. Deshalb sei er so zornig mit seinen Dienern herbeigeeilt. Nun waren alle beruhigt – setzten sich an den Tisch, tranken und schmausten. Dabei erzählte Wu Sung dem Ehrenbürger Tschau seine Abenteuer und schloß: »Ich bin ein einfacher Mann und habe gesetzwidrige Sachen getan. Wenn Sie mich nicht als Sünder behandeln, und mir helfen können, würd ich alles für Sie tun.«

Sie blieben beisammen und tranken bis Mitternacht. Am nächsten Tag dachte der Ehrenbürger Tschau, es wäre nicht sehr gut, wenn Wu Sung in der Stadt bliebe, da würden die Leute ihn leicht bemerken, nahm ihn mit sich in sein Landhaus, bewirtete ihn dort liebreich als seinen nächsten Verwandten: Wu Sung zu Ehren hielt Tschau Hochzeit – er nahm Munglan zur rechtmäßigen, ersten Gattin. Nach einigen frohen Tagen aber kam der alte King zu ihnen und sagte, Beamte, die wühlerischen, erpresserischen, kleinen Beamten seien auf der Suche nach Wu Sung und hätten mehrmals in Tschaus Stadthaus nach ihm 247 gefragt. Seit dem Tage, wo Herr Tschau mit seinen Dienern vor dem Stadthaus Lärm gemacht, seien die Beamten auf der Blutspur. Wu Sung möge doch recht vorsichtig sein, damit man ihn nicht finde. »Dann muß ich wieder weiterziehen«, seufzte Wu Sung, »damit man mich nicht hier findet, wo ich alles gefunden, wo ich Gastfreundschaft genossen habe.«

Auch der Ehrenbürger Tschau ward nachdenklich: »Wenn Sie hier bleiben, habe sogar ich Angst, daß man Sie findet.«

»Ich bin ein Sünder«, ächzte Wu Sung, »und wenn es noch irgendwo auf der Erde einen Platz für mich gibt, wo ich nützlich sein kann, geh ich gern hin. Ich habe zu viel gemordet, nun muß ich einsam leben. Ich will ins Zwei-Drachen-Gebirge gehn, vielleicht treff ich dort meinen Freund Li Kung!«

Nach bitterem Abschied wanderte Wu einen Tag und eine Nacht lang bergan, bis so etwas wie Menschen längst nicht mehr zu sehen war.

Er dachte manchmal an seine Schwester Munglan – oh, zu viel Morde trennten sie! Er würde sie nie wiedersehen. Sonst gedachte er wenig der Vergangenheit, denn unter den Bergen begriff er sie nicht mehr.

Es fielen ihm nur irgendwoher – hatte das nicht sein Vater Yao oft vor sich hergesagt? – die Worte, Verse des alten Weisen Po Tschü-i ein: »Ich suche den Mann der Arbeit, der heimkehrt zu des Altertums Sitte, fähig, den Herrscher zu zwingen, abzuschaffen das Gold; ich suche den gewaltigen Mann, festhaltend 248 des Reiches Töpferscheibe, die allen spendet das alte Geld der Arbeit: die Rundtafel aus Ton.«

Zum erstenmal rastete Wu Sung, als er frei im Blauen die gelben Räuberfelsen des Zwei-Drachen-Gebirges erblickte. Es war gegen Sonnenuntergang, als er von fern eine Weinfahne erspähte, auf der triumphierend der Vers stand: »Nach drei Bechern kann niemand niemand über den Berg.« Windzerfetzt warf er sich unter das Wetterdach der leeren Bauernschenke, schrie: »Wein! Wein!« Und trank, trank, bis er seine Einsamkeit übersang:

Abend ist, die müden Vögel
Stillt der Wald.
Über ihnen die Wolken
Kehren heim an die Berge.
Unten unter den Menschen bin ich allein
Der Wanderer des langen Weges »Nie zurück!«

Zu Roß ritt ich dahin,
Zu Wasser fuhr ich dorthin,
Ich bin der Wanderer Weitaus.
Quält mich der Wirbelwind meiner Gefühle,
Sticht mich Heimweh ins Herz,
Werf ich in mich ein, zwei, drei Becher Wein
Und lache, lach über mein ernstes Gesicht.



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