Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Gericht

Wu Sung dachte: »Als ich aus Yang Gu fortging und Wu Ta verließ, war unterwegs nicht viel zu sehen, das Land war grün, die Bauern arbeiteten wie immer oder standen vor einem Götzen und flehten um Segen. Wen soll ich bitten? Wenn man zu viel lacht, folgt Weinen; aber vielleicht kommt nach langer Trauer doch endlich das Glück. Wenn mein Bruder die Stadt Yang Gu glücklich verlassen hat, wenn ich in der Osthauptstadt oder irgendwo zwischen den vier Meeren für meine Schwester Munglan einen guten Gatten besorgt habe, dann mögen sie mich meinetwegen fangen und totschlagen! Jetzt noch nicht!«

Auf dem wochenlangen Heimweg nach Yang Gu fühlte Wu Sung große Unruhe, trotz gewaltiger Eilmärsche: er mußte vor allen Anzeigen und Steckbriefen die Stadt erreichen, heimlich den Bruder warnen und rasch zur Flucht bewegen – sonst wurde Wu Ta als Bruder für des Schatzes Raub haftbar gemacht und für den Tod des Schlächters Tschêng. Vor den Toren von Yang Gu traf Wu Sung einen Bekannten, der es sehr eilig hatte, erfuhr aber doch noch zu seiner Freude, daß Gouverneur Liang, auf einer Gerichtsreise begriffen, nicht in der Stadt sei. Auch sonst wußte man offenbar noch nichts Böses von ihm, man kam ihm allenthalben beinahe zu ehrerbietig, ja fast furchtsam entgegen. Er meldete sich aber lieber doch noch nicht im Amt, sondern ging geradeswegs in sein Zimmer, wusch sich, kleidete sich 190 um, setzte einen neuen Hut auf, verschloß wieder sein Zimmer, eilte zu seinem Bruder, ihm von Munglan zu erzählen und dann mit ihm zu fliehen.

Als die Nachbarn Wu Sung in die Lilasteinstraße einbiegen sahen, bekamen sie Angst, schwitzend sagte einer zum andern:

»Jetzt kommt der Tigertöter! Er wird über die faule Sache nicht hinweggehn! Jetzt wird bestimmt etwas geschehn!«

Wu Sung trat ein, schlug den Bambusvorhang zurück, sah auf einem weiß gedeckten Tisch eine Totentafel stehen. Er erstarrte vor Schreck, las und stöhnte, wußte nicht, was er tun sollte. Seine Augen riß er weit auf, rieb sie mit seinen Händen, ächzte:

»Sind meine Augen trüb, oder schlaf ich?« Er rief so laut, daß es in seinen Ohren widerhallte: »O Frau Schwägerin, Wu Sung ist wieder zu Haus!«

Si Mên war oben bei Goldlotos – als er Wu Sungs Stimme hörte, beschmutzte er sich vor Angst. Er sprang aus dem offenen Fenster und kletterte am Gartengitter hinab. Durch das Hintertürchen schlich er zu Frau Wang. Goldlotos aber rief schnell von oben:

»Schwager, bitte, setzen Sie sich, ich komme gleich.«

Sie hatte seit Wu Tas Begräbnis keine Trauerkleidung mehr angelegt, jeden Tag puderte und schminkte sie sich stark. Si Mên hatte für sie einige Kleider gekauft, die zwei verbrachten die meiste Zeit oben in ihrem Zimmer. Als sie Wu Sung schreien hörte, wusch sie schnell den Puder ab, warf den Kopfschmuck weg, zerzauste ihr Haar, zog ihre rote Bluse, 191 den grünseidenen, reichbestickten Rock aus, und an ein einfaches weißes Leinenkleid. Heulend kam sie unten an.

Wu Sung: »Schwägerin, halt! Sie brauchen nicht weiter zu weinen! Sagen Sie nur: Wann ist mein Bruder gestorben? Was fehlte ihm? Von wem war die Medizin?«

Die Frau schluchzte: »Ihr Bruder ist zwanzig Tage nach Ihrer Abreise plötzlich an Herzschmerz erkrankt, es dauerte nur acht, neun Tage. Wir haben den Himmel gebeten und die Wahrsagerin gefragt, haben ihm die teuerste Medizin gegeben, aber kein Arzt konnte helfen. Er hat mich ganz allein gelassen in meinem Kummergram!«

Nebenan – Frau Wang hörte sie reden und fürchtete, daß Goldlotos vor Angst nicht richtig antworten würde. Sie ging sofort hinüber, um Wu Sung richtig zu belügen. Er fragte wieder, eindringlich: »Mein Bruder hatte nie so eine Krankheit, wie kann er nun auf einmal Herzschmerzen bekommen und daran so schnell sterben?«

Frau Wang: »Hauptmann Wu, wie können Sie so sprechen? Am Himmel gibt es oft unerwartete Wolken, unerwarteten Regen und Sturm. Man hat Glück und Pech. Wer kann dafür einstehn, daß Wu Ta an einer bestimmten Krankheit gestorben ist?«

Goldlotos dazwischen: »Wir haben Mütterchen viel zu danken, ohne sie wär ich wie ein Würmchen ohne Fuß. Wer sonst von unseren Nachbarn würde mir helfen?!«

Wu Sung: »Wo hast du ihn begraben?« 192

Goldlotos: »Ich war allein, wo konnt ich für ihn eine Grabstätte bezahlen! Aus Not haben wir ihn nur drei Tage stehn gelassen, dann haben wir ihn hinaus getragen und verbrennen lassen.«

Wu Sung: »Wieviel Tage ist mein Bruder tot?«

Sie: »Noch zwei Tage, dann sind sieben Wochen um.«

Wu Sung hörte das, sprach eine Weile nicht, ging fort – in sein Zimmer, zog seine neuen Kleider aus, ein Trauerkleid an. Von seinem Soldaten ließ er sich eine lange Schnur geben, verbarg sie unter der Kleidung. Dort verbarg er auch einen langen, schmalen Degen mit scharfer Schneide. Er steckte etwas Geld zu sich, verschloß seine Tür, nahm seinen Soldaten mit, Reis, Pfeffer, Kerzen, Räucherwerk und Geldpapier einzukaufen. Es war Abend, als sie damit in der Lilasteinstraße ankamen. Sie klopften, Goldlotos öffnete. Wu Sung ließ seinen Soldaten Essen bereiten, zündete das Licht an, ließ Wein und Speisen auf den Tisch stellen.

Als der Wächter nachts zum zweiten Male das Gong geschlagen hatte, kniete Sung vor der Seelentafel, schrie aus tiefstem Herzen:

»Bruder, deine Seele ist nicht weit! Du warst in der Welt sehr schwach! Jetzt nach deinem Tod gibt es noch keine Klarheit! Wenn du durch irgendein unverschuldetes Leid gestorben bist, sag es mir im Traum, ich werde dich rächen!«

Die Erde besprengte er mit Wein, verbrannte Geldpapier und gemalte Götterbilder. Er weinte so laut, daß die Nachbarn es hörten und er allen leid tat. 193 Goldlotos weinte für ihn ein Witwengewein in ihrem Zimmer. Als Wu Sung sich satt geweint hatte, ließ er seinen Soldaten das Mitgebrachte aufessen. Dann hieß er ihn zwei Kokosmatten bringen, er schlief auf einer, der Soldat auf der anderen. Goldlotos blieb oben in ihrem Zimmer.

Noch als der Wächter das Gong zum dritten Male schlug, drehte Wu Sung sich oft hin und her, konnte nicht fest einschlafen. Sein Soldat lag auf dem Rücken und schnarchte. Wu Sung setzte sich auf und sah, daß die Kristallampe auf dem Tisch matt brannte, das Zimmer mit Schattengeflacker gespenstisch beleuchtend. Ihm stiegen Tränen in die Augen, er seufzte: »Als ich unterwegs meinen Kopf hoch trug, Soldaten vorwärts peitschte, war mein Bruder im Leben sterbensschwach. Wie könnte er nach seinem Tode Klarheit mir zeigen?!«

Plötzlich schien sich der kleine Vorhang des Seelentisches zu bewegen – es war, als ob irgendwoher ein kalter Lufthauch käme. Die Luft nahm einen betäubenden Geruch an, der, sich im Zimmer verbreitend, die Kristallampe wie mit Rauch überzog. Das Geldpapier an den Wänden klatschte hin und her. Die kalte Luft durchschauerte Wu Sung, seine Haare standen auf, seinen Körper übergraute eine neue Haut. Es war, als ob etwas unter dem Seelentisch hervordrang und flüsterte: »Bruder, mein Tod kam unter großen Schmerzen!«

Wu Sung glaubte nicht richtig gehört zu haben, stierte zum Seelentisch hin, fühlte nun den kalten Wind nicht mehr und sah auch niemanden. Er 194 stöhnte, legte sich wieder nieder, dachte, er habe geträumt, drehte sich um – zum Soldaten; aber der schlief fest.

»In meines Bruders Tod muß ein Geheimnis verborgen sein«, ächzte er, »ich muß bis morgen warten, dann kann ich vielleicht etwas unternehmen.«

Draußen ward es heller, der Soldat brachte ihm warmes Wasser zum Waschen. Etwas später kam Goldlotos herunter:

»Schwager, nun wissen auch Sie es – die letzte Nacht ist immer die trübste!«

Wu Sung: »Schwägerin, an welcher Krankheit ist mein Bruder in Wahrheit gestorben?«

Goldlotos: »Schwager, haben Sie es schon vergessen? Gestern abend sagt ich es Ihnen doch schon: an einer Herzkrankheit!«

Er: »Von welchem Arzt haben Sie denn das Mittel bekommen?«

Sie: »Das Rezept ist noch oben.«

Er: »Wer hat den Sarg gekauft?«

Sie: »Ich habe die Nachbarin, Frau Wang, gebeten, sie hat ihn für mich besorgt.«

»Wer hat den Sarg hinaustragen lassen?«

»Das war der Bezirksinspektor Hê, der Neunte Onkel.«

»Ach so! Ich muß jetzt ins Amt gehen, meinen Dienst verrichten.«

Verließ mit seinem Soldaten das Haus, ging bis ans Ende der Lilasteinstraße – fragte dann den Mann: »Kennen Sie den Bezirksvorsteher Hê, den Neunten Onkel?« 195

Soldat: »Herr Hauptmann, haben Sie schon vergessen? Vor einigen Monaten, als Sie Offizier wurden, hat er Sie eingeladen, Glück zu wünschen! Er wohnt in der Löwenallee.«

Wu Sung: »Führen Sie mich hin!«

Vor der Tür angekommen, schickte er den Soldaten fort, klopfte, rief: »Ist Hê, der Neunte Onkel zu Hause?«

Der war drin – eben aufgestanden, erkannte Wu Sungs Stimme; vor Schreck wußte er nicht, wohin mit Hand und Fuß. Ohne Kopfbedeckung, halb angekleidet, taumelte er mit dem Geld und den zwei Knochen Wu entgegen, grüßte: »Offizier, seit wann sind Sie wieder zurück?«

Wu Sung: »Gestern kam ich! Ich wollte mit Ihnen etwas besprechen, können Sie mitkommen?«

Hê: »Kleiner Mensch kommt gleich, bitte, Offizier, kommen Sie herein, trinken Sie mit mir eine Tasse Tee.«

Wu lehnte dankend ab, Hê mußte, halb angekleidet wie er war, in eine Weinstube mitkommen. Wu ließ zwei große Flaschen Wein bringen. Hê stand auf: »Kleiner Mensch hat dem Herrn Offizier kein Begrüßungsfest bereiten dürfen, wie kann ich von Ihnen eingeladen werden?«

Wu Sung: »Setzen Sie sich!«

Hê merkte an seiner Sprache, seinem Gesicht, was Sung wollte. Der Weingeselle füllte die Becher. Wu sprach nicht, trank nur. Hê sah, daß Wu kein Wort sagte – kalter Furchtschweiß stach ihm aus der Haut. Er erzählte Wu irgendwas, um ihn zum Reden 196 zu bringen, der Offizier gab aber keine Antwort. Nach einigen Runden Wein stand Wu auf, rasch wie der Blitz riß er seinen unter den Kleidern verborgenen langen Degen hervor, stieß ihn in den Tisch. Der Weingeselle ließ vor Schreck die Flasche fallen, drehte sich um, stieß gegen einen Tisch und fiel um. Auf allen vieren kroch er weiter, schnell Wu zu entkommen. Hês Gesicht wechselte die Farbe: Rot, Gelb, Blau; er konnte nicht mehr richtig atmen. Wu Sung rollte seine Rockärmel hoch, riß den Degen aus dem Tisch, zeigte ihn dem Neunten Onkel, schrie:

»Kleiner Knabe ist immer sehr rauh, aber er weiß: ›Ein Mann kann sich nur an seinem Feind rächen, ein Gläubiger kann nur seinen Schuldner klagen!‹ Sie haben nichts zu fürchten, nur die Wahrheit will ich wissen! Wenn Sie mir die Ursache des Todes meines Bruders sagen, hat die Sache nichts mit Ihnen zu tun! Wenn ich Ihnen Unrecht täte, wär ich kein Held! Aber wenn eines Ihrer Worte falsch ist, wird dieser Degen in ihren Körper gleich einige hundert Löcher stoßen! Sahen Sie, Hê, wie meines Bruders Leiche aussah?!«

Er schrie alles so hinaus, stieß den Degen wieder in den Tisch, und schon lagen seine Hände wieder unbeweglich in seinem Schoß, aber seine weitgeöffneten Augen durchstießen Hê. Der holte aus seinem Ärmel eine kleine Tasche hervor, legte sie auf den Tisch: »Offizier Wu Sung, bitte, beruhigen Sie sich, hier ist eine Tasche, sie enthält einen großen Beweis.«

Wu riß die Tasche auf, sah zwei halbverbrannte, schwarze Knochen, ein Stück Silber, fragte: 197

»Wofür können solche Sachen als Beweis dienen?«

Hê erzählte ihm, er habe das Geld von Si Mên Tsching bekommen, damit er Gras wachsen lasse über die Leiche. Hernach hätte er den Leichnam gesehen, sofort bemerkt, daß Wu Ta an Gift gestorben sei, und sei absichtlich ohnmächtig geworden, um nicht die Leiche selbst einsargen zu müssen. Nachher habe er die Knochen gestohlen, für Wu Sung einen Beweis zu besitzen.

Wu Sung: »Wer ist der Ehebrecher?«

Hê: »Ich weiß es nicht. Ich hörte, daß ein Birnenverkäufer namens Yüng Kê in einer Teestube mit Ihrem Bruder etwas vorhatte. Wenn Herr Offizier alles wissen wollen, können Sie Yüng Kê fragen.«

Wu: »Gut! Wenn es so einen Jungen gibt – Sie kommen mit!«

Er versteckte seinen Degen wieder, legte Knochen und Silber wieder in die Tasche, bezahlte die Rechnung, ging mit Hê zu Yüng Kê. Als beide in Yüng Kês Wohnung ankamen, war der Kleine eben ausgegangen, Reis kaufen. Als Yüng Kê zurückkam, fragte Hê ihn:

»Yüng Kê, kennst du den Offizier?«

Der Junge: »Das ist der Offizier Wu Sung. Schon seit er den großen toten Tiger hergebracht hat, kenn ich ihn. Was wollen Sie von mir?«

Yüng Kê war zwar jung, kannte aber bereits die Welt: »Mein Vater ist schon über siebzig Jahre alt, nie hat ihn jemand unterstützt. Ich kann unmöglich mit Ihnen gehen, mit dem Gericht will ich nichts zu 198 schaffen haben. Man sperrt für alle Fälle sofort mich ein – dann verhungert mein Vater.«

Wu: »Guter Sohn!« Nahm fünf Silber-Tael aus seiner Tasche, gab sie ihm: »Schenken Sie das Ihrem alten Vater! Kommen Sie mit mir, wir haben etwas zu besprechen.«

Der Kleine nahm das Geld, dachte: »Na! Das wird bei meinem Vater für einige Monate reichen, jetzt kann ich mit dem Hauptmann ruhig aufs Amt gehen.«

Er gab Geld und Reis seinem Vater, folgte den beiden in ein Speisehaus. Wu ließ Essen für drei bereiten, wandte sich an den Jungen: »Bruder, Sie sind jung, aber Sie haben ein so gutes, gehorsames Herz, Sie lieben ihren Vater sehr. Wenn meine Angelegenheit erledigt ist, schenk ich Ihnen noch etwas Geld, damit Sie sich ein kleines Geschäft einrichten können. Aber jetzt geben Sie mir Auskunft, was Sie mit meinem Bruder in einer Teestube zu tun hatten?«

Yüng Kê war ein Kind: riet dem Wu Sung, er solle sich nicht so viel ärgern. Dann erzählte der Knabe wichtig, wie er dazu kam, in die Teestube zu gehen, und was für schmerzvolle Ohrschellen er von der alten Wang bekommen und wie er mit Wu Ta einen Plan ausgeheckt habe und was dann geschah, als er vor der feindlichen Übermacht davonlief: wie Si Mên dem Wu Ta so einen Tritt in die Herzgegend gegeben habe, daß Ta besinnungslos zusammenfiel.

Wu Sung: »Ist, was Sie gesagt haben, Wahrheit?«

Der Junge: »Was ich jetzt erzählte, werd ich auch vor Gericht aussagen!«

Wu Sungs Gäste aßen alles auf, Hê wollte Abschied 199 nehmen, aber Wu Sung war anderer Meinung: »Bitte, kommen Sie beide mit, folgen Sie mir, ich werde Sie als Zeugen brauchen.« Schleppte sie in das Geschäftszimmer des Gerichtsbeamten.

Der Richter fragte: »Offizier Wu, wen wollen Sie bei mir verklagen?«

Wu: »Kleines Menschen eigener Bruder Wu Ta ist von Wu Tas Gattin Goldlotos, die mit Si Mên Tsching ein Liebesverhältnis hat, durch Gift getötet worden. Hier sind die beiden Zeugen, ich bitte den Herrn Beamten, die zwei Schuldigen um der Gerechtigkeit willen zu bestrafen.«

Der Gerichtsbeamte nahm die Aussagen von Hê und Yüng Kê entgegen, besprach dann alles mit seinen Unterbeamten. Die hatten aber zu Si Mên Tsching ergiebige Beziehungen, so kam der Bescheid: »Es ist schwer, die zwei zu verhaften!«

Der Oberrichter rief Wu Sung zu sich: »Wu Sung, Sie sind Offizier beim Amt hier, kennen Sie nicht das Gesetz? Von alters her heißt es: ›Wenn man zwei in einem Liebesverhältnis wähnt, muß man sie zusammen erwischen. Wenn man einen Dieb verhaftet, muß man ihn mit dem Beutel bekommen, einen Mörder muß man bei dem Toten ergreifen.‹ Ihres Bruders Leiche ist jetzt nicht mehr vorhanden, Sie haben das Paar auch nicht beisammen ertappt, nur auf bloße Aussagen Ihrer zwei Zeugen soll ich Si Mên Tsching und Ihre Schwägerin bestrafen? Dafür gibt es kein Gesetz! Überlegen Sie es sich selbst noch einmal, alles ist vielleicht ein Irrtum!«

Wu Sung legte die beiden Knochen, das Stück Silber 200 und eine Anzeige auf den Tisch: »Das sind meine Zeugen, das hat der kleine Mensch nicht aus der Luft gegriffen.«

Der Beamte stotterte: »Ich werde versuchen! Wenn es geht – werd ich gern Schuldige bestrafen.«

Hê und Yüng Kê blieben weiter in Wu Sungs Zimmer. Aber im Lauf desselben Tages hatte Si Mên von der Anzeige gehört – ließ sofort seine Leute zu Gericht gehen, die Beamten bestechen.

Am nächsten Morgen kam Wu Sung wieder in den Gerichtssaal, drängte den Oberrichter, die Schuldigen verhaften zu lassen. Die Beamten hatten aber inzwischen Bestechungsgelder geschluckt, gaben die Knochen des Toten, ja sogar die zehn Tael zurück – rieten Wu Sung freundschaftlich: »Hauptmann, Sie sollten nicht auf böser Leute Reden hören, die wollen Sie nur mit Si Mên verfeinden. Die ganze Sache ist nicht klar, da kann kein Gericht entscheiden. Ein alter Philosoph sagt: Eine Sache, die man selbst gesehen hat, ist vielleicht schon nicht mehr wahr; wie erst kann man all das glauben, was man hintenherum gehört hat.«

Der Gefängnisdirektor stimmte zu: »Offizier, wenn es eine Mordsache ist, müssen Sie zuerst die Leiche haben, dann die Wunde sehen, die Krankheit feststellen, den Mordgegenstand ermitteln und die Spur des Giftes finden. Nur wenn diese fünf Sachen da sind, kann das Gericht sich für Sie einsetzen.«

Wu Sung: »Wenn die Herren Beamten sich meiner Klage nicht annehmen, dann muß ich alles selbst erledigen.« 201

Wu Sung gab Geld und Knochen wieder Hê zurück; die zwei begleiteten ihn abermals in sein Zimmer. Er ließ seinen Soldaten für diese Gäste Essen bereiten, befahl ihm: »Laß die beiden noch in meinem Zimmer warten, ich komme bald wieder.«

Er ging in den Hof, nahm drei Soldaten mit und verließ das Amt. Einer mußte für ihn Tusche, Pinsel und Papier kaufen, die beiden andern sollten einen Schweinskopf, ein Huhn, eine Ente, ein Faß Wein und Früchte in die Lilasteinstraße tragen.

Goldlotos hatte schon Nachricht bekommen, daß Wu Sungs Klage vom Amt abgelehnt worden war, ihr Herz war ruhig – sie fürchtete ihn nicht mehr, da sie nun wußte, daß er nichts gegen sie unternehmen konnte. Als Wu Sung ins Haus kam und rief: »Schwägerin, kommen Sie herunter, ich möchte einiges mit Ihnen besprechen!«, tat sie wie beschäftigt; nach längerer Zeit erst stieg sie langsam in das untere Zimmer und fragte hochmütig: »Was haben Sie mir mitzuteilen?«

Wu: »Morgen ist der letzte Tag der siebenten Trauerwoche. Früher haben Sie unsere Nachbarn bemüht, heute werd ich Wein kaufen und die guten Nachbarn an Ihrer Statt bewirten.«

Goldlotos von oben herab: »Wir brauchen denen doch nicht zu danken!«

Wu: »Höflichkeit darf man nie außer acht lassen!«

Er befahl seinen Soldaten, auf dem Seelentisch zwei große Kerzen anzuzünden, Papiergeld für Opferzwecke, Betinstrumente, fromme Bücher wurden bereitgelegt. Ein Soldat blieb in der Küche und wärmte 202 Wein, die beiden andern hatten alles vorzubereiten und zu bedienen. Es kamen auf Wu Sungs Befehl auch noch zwei Unterbeamte aus dem Yamen, die Vorder- und Hintertüren zu überwachen. Er gab jedem seine Aufgabe und ersuchte Goldlotos:

»Schwägerin, bewirten Sie, bitte, die Gäste, wenn sie kommen. Ich gehe, die Nachbarn laden.«

Zuerst ging er zu Frau Wang, die wollte anfangs nicht, aber er bat: »Ich habe Sie sooft gestört und habe nur einen Becher Wein, Ihnen für Ihre Freundlichkeit zu danken. Sie dürfen mir meine Bitte nicht abschlagen.«

Sie nahm die Pfanne vom Herd und ging von hinten zu Frau Wu.

Wu Sung ordnete an: »Schwägerin, sitzen Sie auf dem Wirtsplatz und Mütterchen gegenüber.«

Die beiden glaubten, daß ihnen nichts geschehen konnte, und hatten vor, auf Wu Sungs Kosten guten Wein zu trinken. Im Herzen dachten sie: »Mal sehen, was er sonst kann.«

Wu Sung ging wieder fort, zu den Nachbarn; zuerst ins Silberwarengeschäft des Herrn Mao. Der lehnte zunächst ab: »Kleiner Mensch ist zu beschäftigt, wird morgen kommen, Ihnen zu danken.«

Wu Sung bat ihn im allerhöflichsten Ton, so daß Mao gezwungen war, mitzukommen. Mao saß neben Frau Wang. Gegenüber von Wu Tas Haus lag ein Papiergeschäft, das gehörte Herrn Tschau. Er meinte, er könne sein Geschäft unmöglich allein lassen, und bat, entschuldigen zu wollen, daß er leider nicht mitkommen könne. 203

Wu: »Ach! Wie können Sie das tun, unsere werten Nachbarn sind alle da!« Und Tschau mußte auch mit.

Wu Sung sagte: »Alter Herr ist genau so wie unsere Eltern. Bitte, sitzen Sie neben meiner Schwägerin.« Dann ging er in den Branntweinladen des Hu Tschen Tschin. Der Mann war früher Schreibbeamter gewesen und witterte, daß die Einladung nichts Gutes bedeuten könne. Aber Wu Sung ließ nicht locker, bis auch Hu Tschen Tschin mitkam. Er ließ ihn neben Tschau sitzen. Dann fragte er Frau Wang: »Wer ist Ihr nächster Nachbar?«

Sie antwortete: »Er verkauft Fleischvögel.«

Wu ging hin. Dieser Nachbar war ein alter Mann namens Tschang. Als er Wu bei sich eintreten sah, erschrak er, kam sich aber ungeheuer geistesgegenwärtig vor, als er fragte: »Herr Offizier, mit wieviel Vögeln kann ich Ihnen dienen?«

Wu schleppte den alten Herrn, ohne lang zu fragen, wie die drei andern in die Wohnung und ließ ihn neben Mao sitzen.

Alte Leser, warum gingen die Leute, die zuerst kamen, nicht fort, während Wu Sung die andern holte? Vor der Hinter- und Vordertür standen Soldaten Wache, und drinnen war alles wie im Gefängnis. Wu Sung, seine vier Nachbarn, Frau Wang und seine Schwägerin waren die Gäste; er nahm sich einen Stuhl und setzte sich an den Querplatz. Die Tür ließ er fest schließen. Die Soldaten kamen aus der Küche, die Becher füllen. Wu stand auf, verbeugte sich: »Sehr geehrte Nachbarn! Sie dürfen mir meine arge 204 Rauheit nicht übelnehmen, bitte, behelfen Sie sich selbst mit Essen und Trinken.«

Alle sprachen: »Wir kleinen Menschen gaben seinerzeit dem Herrn Offizier kein Willkommensfest, wie können Sie uns bewirten?!«

Wu lachte nur und ließ seine Soldaten die Becher immer neu füllen. Als die Gäste ihn lachen sahen und hörten, fühlten sie sich immer bedrückter und ahnten dumpf, das Gelage würde kein gutes Ende nehmen. Alle hatten bereits mehr als drei Becher getrunken, als Hu Tschen Tschin aufstand und bat:

»Winziger Mensch ist zu beschäftigt, Sie müssen schon entschuldigen – ich verabschiede mich jetzt.«

Wu: »Sie können nicht fortgehn! Wenn Sie schon hergekommen sind, müssen Sie doch noch eine Weile Geduld haben.«

Hus Herz war wie ein Brunnen mit fünfzehn Eimern: Sieben waren oben, und acht sausten abwärts. Er dachte: Wenn er uns mit guter Absicht eingeladen hat, wie kann er seine Gäste so behandeln, daß niemand fortgehn darf?! – Ihm blieb aber nichts übrig, als sich wieder zu setzen. Wu lächelte seine Soldaten an und bat sie höflich: »Füllen Sie die Becher weiter!«

Alle Gäste hatten bereits sieben Becher Wein getrunken, da befahl Wu seinen Soldaten, den Tisch abzuräumen – später würde man weitertrinken. Die Gäste witterten etwas, standen auf, wollten fortgehen. Wu Sung breitete seine Arme weit auseinander: »Ich möchte jetzt mit Ihnen allen einiges besprechen. 205 O werte Nachbarn – wer unter Ihnen kann sehr gut schreiben?«

Mao sagte: »Der Herr Hu Tschen Tschin schreibt sehr, sehr gut.«

Wu verbeugte sich vor Hu: »Darf ich bitten?!« Er krempelte seine Ärmel hoch und zog unter seinem Kleid den hellen, scharfen Degen hervor. Seine Augen glühten wie zwei große Lichter, als er schrie:

»Nachbarn! Ich habe meine Feinde zu beseitigen und bitte Sie alle zu Zeugen!«

Er packte mit der rechten Hand seine Schwägerin, mit der linken richtete er den Degen gegen Frau Wang. Die Nachbarn rissen vor Angst Augen und Mund weit auf, ahnten nicht, was geschehen würde. Der greise Herr Tschang war ein anständiger alter Herr, taub war er auch, wußte von nichts auf der Welt und guckte alle an, was denn eigentlich los sei?

Wu Sung: »Liebe Nachbarn, ihr braucht nichts zu fürchten. Wu Sung ist ein einfacher Mensch und hat keine Angst, zu sterben; er ist hart nur gegen seinen bittersten Feind. Ich werd Ihnen allen kein Haar krümmen! Ich brauche Sie nur als Zeugen. Wenn einer früher fortgehn möchte, wird Wu Sung ihn wieder umdrehn, es bekommt der Betreffende zunächst nur fünf bis sieben Degenstiche. Es macht nichts, daß Wu Sung später mit seinem Leben dafür einstehn muß.«

Sie zogen sich alle einige Schritte zurück, standen still und lärmten nicht. Wu sah Frau Wang scharf an und schrie: 206

»Hören Sie, alte Hündin! In meines Bruders Tod spielen Sie eine große Rolle! Ich werde Sie ein wenig fragen!«

Er drehte sein Gesicht Goldlotos zu: »Schandweib, hören Sie! Womit haben Sie meinen Bruder getötet? Sagen Sie sofort die Wahrheit – dann will ich Sie begnadigen!«

Goldlotos: »Schwager, Sie haben unrecht! Ihr Bruder ist an einer Herzkrankheit gestorben, es war nicht meine Schuld!«

Wu legte den Degen auf den Tisch, packte die Frau bei den Haaren, hielt mit einer Hand ihre Kleider fest, mit dem Fuß stieß er den Tisch zurück und legte die Frau vor den Seelentisch. Einen Fuß stellte er auf sie, mit der nun freien Hand hob er den Degen hoch, drohte der Wang: »Alte Hündin, sagen Sie alles aus!«

Sie versuchte fortzulaufen, konnte aber nicht und wimmerte: »Der große Herr Offizier braucht nicht so zornig sein, Alte wird alles erzählen.«

Wu rief einen Soldaten, der nahm Papier, Pinsel und Tintenstein, legte alles auf den Tisch, Wu zeigte mit seinem Degen auf Hu Tschen Tschin: »Ich bitte Sie, alles richtig aufzuschreiben, was Sie hören!«

Hus Hände zitterten, als er stotterte: »Kleiner – Mensch – wird – schreiben.«

Hu nahm den Tintenstein und löste ihn im Wasser auf, nahm den Pinsel und wollte gleich schreiben. Plötzlich sagte er mechanisch – wie früher, als er noch Schreiber auf dem Amt war: »Frau Wang, sagen Sie die Wahrheit!« 207

Die, nun wieder verstockt, keifte: »Das alles geht mich doch nichts an, was soll ich aussagen?«

Wu: »Alte Kupplerin, ich weiß zu viel, Sie können sich nicht mehr herauslügen! Wenn Sie mir nicht gleich die Wahrheit sagen, werd ich zunächst diese Ehebrecherin zerschneiden, dann mord ich Sie, alte Hündin!«

Er nahm seinen Degen und fuchtelte damit vor dem Gesicht der Frau Wu Ta hin und her. Sie hatte Angst, schrie: »Schwager! Gnade! Lassen Sie mich von der Erde aufstehen, dann sag ich alles!«

Er zog seinen Fuß fort, faßte sie mit einer Hand, daß sie sich erheben konnte, zwang sie dann, vor der Seelentafel niederzuknien und brüllte:

»Mörderin! Beichte schnell!«

Goldlotos hatte vor Angst ihr Lügengewebe vergessen – gestand die Wahrheit. Nur behauptete sie – daß sie mit Si Mên Tsching zusammengekommen und wie es geschah, daß sie Wu Ta töten mußte – dies alles wäre nur Schuld der alten Wang.

Wu Sung ließ Goldlotos langsam eines nach dem andern aussagen, damit Hu alles richtig und deutlich aufschreiben konnte. Die Wang schimpfte:

»Junge Wanze, Sie haben alles verraten, haben aber die schwerste Schuld auf mich geschoben; was nützt es, wenn ich anders aussage?! Ich Alte bekomme nun doch die ganze Schuld!«

Endlich gab auch Frau Wang alles zu, und ihre Aussage ward auch aufgeschrieben. Dann mußten beide ihren Daumenabdruck geben, statt ihrer Unterschrift, und alle Nachbarn mußten unterzeichnen. Wu Sung 208 zog die lang vorbereitete Schnur und fesselte Frau Wangs Hände auf den Rücken. Er wickelte die Aussagen zusammen und steckte sie zu sich. Er hieß den Soldaten eine große Schüssel Wein bringen und stellte sie vor die Totentafel. Die beiden Weiber mußten vor der Tafel niederknien. Wu Sung liefen Tränen wie Regen über die Wangen, als er rief: »Bruder, deine Seele ist nicht weit weg! Heute, Bruder, werd ich dich rächen.«

Seine Soldaten mußten das Papiergeld verbrennen. Goldlotos sah das, und ihrer Angst war alles eine schlechte Vorbedeutung. Sie wollte laut um Hilfe rufen – aber Wu Sung trat auf sie zu, drückte ihren Kopf auf den Boden und stellte seine Füße auf ihre Oberarme. Ihr Kleid zerriß er; als man ihre Brüste leuchten sah, nahm er seinen Degen hoch: Rasend schlitzte er ihr vom Hals bis zum Magen das Fleisch auf, daß das Blut hoch aufspritzte, schnitt ihr den Kopf ab. Das Blut lief den ganzen Flur entlang – wie im wüsten Traum. Allen Nachbarn tanzten vor den Augen kleine Sterne. Sie wollten die Bluttat nicht sehen, konnten die Augen aber nicht schließen. Niemand wagte es, Wu Sung zu bitten, seine Roheit zu mäßigen. Tschau hatte nah bei Frau Wu gesessen, ihr Blut ihn über und über bespritzt. Er zog seine Hosen immer hoch, wußte nicht, was er vor Aufregung beginnen sollte, fand keinen Weg der Flucht. Wu ließ einen Soldaten von oben einen sauberen Bettüberzug holen, wickelte den Kopf ein, säuberte den Degen, wusch seine Hände, zog sein Überkleid aus, damit man an ihm kein Blut sehen könne. Dann 209 verbeugte er sich vor allen Nachbarn: »Meine werten Nachbarn mögen es mir nicht übelnehmen, bitte, gehen Sie alle in das obere Zimmer; ich bitte, dort zu warten. Wu, der Zweitgeborene, kommt gleich zurück.«

Jetzt gehorchten alle seinem Befehl, wie ein gehorsamer Sohn, der seines Vaters Wort nimmt – keiner dachte wie früher daran, sich schnell zu verabschieden. Sie stiegen alle hinauf, Wu Sung ließ seine Soldaten Frau Wang mit nach oben nehmen und die Tür schließen; zwei Soldaten mußten draußen Wache halten. Wu Sung ging mit dem eingewickelten Kopf seiner Schwägerin ins Geschäft Si Mên Tschings. Er verbeugte sich vor dem Geschäftsführer, fragte, ob Si Mên da wäre. Der Mann behauptete, Si Mên wär eben fortgegangen.

Wu Sung: »Darf ich Sie bitten, mir zu gestatten, mit Ihnen einige Worte zu sprechen?«

Der Geschäftsführer erkannte ihn, konnte ihm aber die Bitte nicht abschlagen. Wu führte ihn in eine kleine ruhige Gasse, drehte sich plötzlich um, packte ihn bei der Brust und erkundigte sich höflich: »Herr! Wollen Sie sterben oder am Leben bleiben?«

Der Drogenverkäufer zitterte am ganzen Körper, stammelte: »Herr – Hauptmann – kleiner Mensch hat doch nichts Schlechtes getaaan!«

Wu: »Wenn Sie rasch sterben wollen, schweigen Sie, sonst – sagen Sie sofort, wo Si Mên ist!«

Antwortgestotter: »Eben ist er – mit einem – Bekannten – fort – gegangen – ins Speisehaus unter der Löwenbrücke – Wein trinken –« 210

Wu ließ den Mann, der sich vor Schreck nicht von der Stelle bewegen konnte, lief gleich ins Speisehaus, fragte dort den Gesellen: »Wo sitzt Si Mên, der große Herr?«

Der Geselle: »Er sitzt mit jemand, der wie ein reicher Herr aussieht, im kleinen Saal des obern Stocks und trinkt viel Wein.«

Wu ging sofort nach oben, sah vor dem kleinen Saal durchs Bambusgitter: Si Mên saß auf dem Wirtsplatz und ihm gegenüber irgendein Herr. Der war sehr gut gekleidet; an den Querplätzen saßen zwei Frauen, die wie Sängerinnen ausschauten. Wu sah die Leute nur flüchtig an, öffnete den Bettüberzug, riß den blutenden Kopf heraus. In der einen Hand dies Haupt, in der anderen den Degen, stieß er den Bambusvorhang zurück, drang in den Saal. Den Weibskopf warf er Si Mên Tsching ins Gesicht. Als Si Mên den Hauptmann sah, sprang er vor Angst auf; so flog ihm der Kopf nur an die Brust. Er schrie, sprang auf den Tisch, den andern Fuß stellte er aufs Fenster, wollte hinunterspringen, schrak zurück – es war zu hoch. Wu stützte sich mit einer Hand auf einen Stuhl – sein Körper schnellte auf den Tisch, daß die Teller und Schüsseln in die Höhe sprangen und auf der Erde zerschellten. Die zwei Sängerinnen rutschten von ihren Stühlen herunter; aber der Reiche war schlau – verbarg sich unter dem Tisch. Si Mên sah: Wu Sung kam zu schnell, er mußte sich wehren. Als Wu aber so rasch auf ihn losstürzte, paßte Wu nicht gut auf – Si Mên trat ihm mit dem linken Fuß auf die rechte Hand, daß der Degen 211 durchs Fenster auf die Straße sauste. Wu hatte keine Waffe mehr – Si Mên fürchtete ihn nun nicht. Mit der linken Hand fuhr er ihm ins Gesicht, die rechte Faust stieß er gegen Wus Herz. Wu kannte solche Kniffe längst, ließ Faust und Hand ruhig herankommen, drehte sich ein wenig und packte Si Mên von unten beim Genick, die andere Hand schloß sich um Si Mêns Fußknöchel. Er hob Si Mên hoch, warf ihn aus dem Fenster, rief: »Aus!«

Si Mên war in die Mitte der Straße gefallen, alle Vorübergehenden erstarrten. Wu Sung packte wieder den Weibskopf – sprang damit aus dem Fenster, raffte unten seinen Degen auf, sah: Si Mên war schon halb tot, er verdrehte nur noch die Augen. Er schlug mit dem Degen zu, mit einem Streich war der Kopf vom Rumpf getrennt. Die Haare der beiden Köpfe flocht er zusammen, nahm den Degen, rannte zur Lilasteinstraße zurück. Seine Soldaten öffneten ihm die Türen, die beiden Häupter stellte Wu Sung vor den Seelentisch. Mit Wein besprengte er die Erde. Seine Tränen rannen dick: »Bruder, jetzt kannst du ruhig sein! Dein Bruder hat dich gerächt, Ehebrecher und Giftmischerin getötet!«

Er bat seine Nachbarn herunter, die Soldaten hielten die alte Wang fest. Wu Sung, in einer Hand den Degen, in der andern die zwei Köpfe: »Ich möchte den werten Nachbarn etwas sagen.«

Sie bebten: »Offizier, befehlen Sie nur, wir werden gehorchen.«

Wu Sung, zu den vier Nachbarn gewendet: »Kleiner Mensch hat eine sträfliche Tat begangen – seinen 212 Bruder zu rächen. Sollt ich dafür die schwerste Strafe erhalten, ich werd es nicht bereuen. Das eben Geschehene hat Sie alle erschreckt. Diesmal übergibt der kleine Mensch sich selbst dem Gericht. Ob ich Leibes- oder Todesstrafe verdiene, weiß ich nicht. Meines Bruders Seelentafel werd ich sofort verbrennen. Was wir noch im Hause haben, bitt ich die Nachbarn, zu verkaufen und mir das Geld zu bringen, falls ich es im Gefängnis brauchen sollte; jetzt geh ich zum Amt, mich selbst dem Gericht zu stellen. Sie brauchen sich nicht um meine Strafe zu kümmern, nur bitt ich Sie, vor Gericht die Wahrheit zu sagen.«

Wu Sung verbrannte die Seelentafel und das Geldpapier. Vom obern Stock ließ er zwei Koffer nach unten bringen, öffnete sie, gab den Inhalt den Nachbarn zur Aufbewahrung. Die zwei blutenden Köpfe nahm er wieder zu sich, ließ seine Soldaten Frau Wang führen, hinterher kamen die Nachbarn. So gingen alle zum Amt. Vor Neugier sammelten sich die Leute in Unzahl auf der Straße. Der Oberrichter erstaunte über den Bericht seiner Leute. Er setzte sich würdig in seinem Amtszimmer zurecht – Wu Sung führte Frau Wang in den Saal, ließ sie niederknien, legte seinen Degen und die beiden Häupter auf eine Stufe. Er kniete auf der linken Seite, in der Mitte Frau Wang, auf der rechten Seite die Nachbarn. Wu holte aus seinen Kleidern die Aussagen hervor, die Hu Tschen Tschin niedergeschrieben hatte, las sie dem Oberrichter vor. Der befahl der alten Wang, ihre Aussage nun vor ihm zu wiederholen; die Nachbarn 213 bestätigten alles. Dann rief er Hê und Yüng Kê vor sich, beide mußten sagen, was sie wußten. Der Mordsachverständige kam, begleitete die Gerichtsbeamten in die Lilasteinstraße. Dort beschlagnahmten sie die Leiche der Frau Wu, gingen dann zum Speisehaus unter der Löwenbrücke, dort Si Mêns Leiche zu beschauen. Alles wurde sorgfältig aufgeschrieben, dann kehrten sie zum Amt zurück. Der Oberrichter ließ zwei lange Bretter nehmen: Wu Sung und Frau Wang bekamen eines um den Hals. Die Zeugen mußten beim Pförtner bleiben.

Die Justiz entsann sich endlich der Gerechtigkeit: Der Oberrichter erinnerte sich plötzlich, daß Wu Sung immer ein ehrlicher Mensch gewesen war, was für gute Dienste der Tigertöter geleistet hatte, wollte ihm gern helfen. Er berief seine Unterbeamten vor sich, alle besprachen den Mord. Diejenigen, denen früher Si Mên Tsching Geld gegeben hatte, dachten, daß der jetzt dazu doch zu tot wäre und sie alle schließlich Kollegen Wu Sungs seien. Und so veränderten sie in ihrer Darstellung die Aussagen, wie folgt:

Wu Sung wollte für seinen toten Bruder Wu Ta beten, aber seine Schwägerin ließ es nicht zu. Darum zankten sich beide, stießen den Totentisch um – Wu Sung wollte seines Bruders Seelentafel ganz bewahren. Sie wurden handgemein, die Frau starb an den Wunden. Später kam Si Mên Tsching dazu. Der hatte mit der Frau ein unsittliches Verhältnis gehabt und wollte ihren Tod an Wu Sung 214 rächen. Sie stritten und kämpften und schlugen einander bis auf eine Seite der Löwenbrücke. Dort starb Si Mên an vielen Wunden.

Die Beamten lasen Wu Sung die Aussagen vor, schrieben ein Dokument und befahlen, alle, die mit der Sache etwas zu tun hatten, zu Gouverneur Liang nach Tung Pin Fu zu bringen. Die Stadt Yang Gu war ziemlich klein, aber es gab dort doch Menschen, die ahnten, der Hauptmann habe notgedrungen von feilen Richtern verschonte Sünder eigenmächtig mit dem Tode bestraft. Einige kamen und schenkten Wu Sung Gold und Silber, andere gaben ihm Wein, Reis und Gedenkmünzen, ihn zu ehren.

Wu Sung ging in sein Zimmer, packte seine Sachen zusammen – seine Soldaten sollten sie ihm aufbewahren und, falls er, für Blutrache mit dem Tode bestraft, nicht zurückkäme, unter sich verteilen. Er gab zwölf Tael Silber dem Vater des Yüng Kê, damit der alte Mann ein kleines Geschäft betreiben könne. Die Soldaten, die unter Hauptmann Wu Sungs Befehl gestanden hatten, gaben ihm ein Festessen und bewirteten ihn im Gefängnis. Endlich kam der Beamte mit den Dokumenten, Aussagen, der Hê, dem »Neunten Onkel«, von Si Mên verabreichten Bestechungssumme, den Knochen und dem Degen – und alle Menschen, die irgendwie als Täter oder Zeugen in die Mordsache verwickelt waren, erwartete der lange Weg nach Tung Pin Fu und das Gericht des Gouverneurs Liang. 215

 


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