Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Viertes Buch

1
Liang kehrt heim, seinen Vater zu sehen

In seiner Wohnung packte Liang Bücher und Schwert zusammen – fuhr schmerzverstümmelt flußabwärts. Die Wellen des strömenden Wassers erhoben sich und sanken wieder, den Blumen vergleichbar; aber Trauer trug, Leid durchstach seine unselige Seele.

Am Heimatufer stieg er aus und eilte in das väterliche Haus. Der Vater ging ihm freudig entgegen, ermahnte ihn aber bald: »Du mußt, mein lieber Sohn, mit allem Fleiß die heiligen Bücher und die Geschichte studieren, damit du im künftigen Herbst imstande bist, zu den Wolken emporzusteigen.«

Die Mutter jedoch sprach lächelnd zum Sohn: »Gestern hab ich meinem Sohn eine Frau bestimmt; es ist die Tochter eines Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Lieou; sobald dein Name auf der goldenen Liste stehen wird – Hochzeit!«

Als der junge Liang von dieser Heirat hörte, war ihm das Wiedersehen vergällt, sein Gesicht überzog Trauer, sein Herz durchdrang Schmerz. Schnell verließ er Vater und Mutter, schlich laut aufheulend in sein Zimmer. 307

 

2
Liang seufzt im Angesicht des Monds

Es war ihm nicht möglich, die Tränen zurückzuhalten. Von den vielen Seufzern wär ihm der Atem bald ausgegangen; an die Brust sich schlagend, weinte er:

›Mein Unglück vernichtet den Eid, den ich bei den Blumen geschworen, ich habe das perlengleiche Mädchen, die liebe Jaosien betrogen. Das Unglück des heutigen Tages durchschneidet mir Liebe und rechtliches Leben. Wenn ich den Himmel anruf, antwortet er mir nicht, die Erde hört mein Flehen nicht. Meine Brust ist gebrochen, durchstochen, ich kann nicht mehr ausdauern. Wenn du wüßtest, wie ich mit dem Kopf an die Erde schlag und mit den Händen wüte – immer weinend aufs Bett mich werfe! Wie bin ich zu bedauern, da dein Blumengesicht mir nicht werden soll, da meine Liebe in die Wellen gestürzt ist! Ich will all meine Arbeiten in die strömenden Wasser werfen, will all meine Gesänge und all meine Lieder verbrennen. Es schmeckt mir weder Trank noch Speise, und hätt ich auch gebratenes Lammfleisch oder den köstlichsten Wein, wer sollt es wohl mit mir genießen? Ich fürchte sogar den Mond: denn er glänzte ja auch, als ich von der Teuern mich trennte.

Mein Vater hat meine Liebe zerstört, nicht mehr kann ich auf das Glück hoffen, das die kleinsten Vögel verbindet!

Ich sehe wohl, daß ich in diesem Leben meine 308 Wünsche nicht erreichen soll; immer und immer fließen meine Tränen und trocknen mir Kopf und Gebein aus. Wenn ich den Mond anblicke, weiß ich nicht, was ich in meiner Einsamkeit soll – oh, meine früheren Tränen sind noch nicht getrocknet, schon entrollen wieder andere meinen beiden Augen! Meine Decke und mein Kopfkissen sind kalt geworden, noch eh ich mit jenem lieblichen Mädchen vereinigt werden konnte. Nun bedauer ich unsern Schwur, der dem Meer an Größe, den Bergen an Festigkeit gleich war; denn ich werde doch niemals hinter den seidenen Bettvorhängen mit der Lieblichen vereinigt werden. O Jaosien! Wenn die Vögel Jin und Jang einmal getrennt sind, ist es schwer, sie wieder zu vereinen. Nie hätt ich geahnt, daß ein treues Herz so sehr hinsinken, zu Staub werden könnte. Nun gleit ich wie Asche den Strom hinab.

Wenn ich den glänzenden Mond anschaue, vergieß ich blutige Tränen. Liebe und Lust? Der heutige Tag hat das hinweggefegt wie ein Wirbelwind. Mit den Fingern schnalzend, bewein ich die Änderung meines Geschicks. Ich möchte meine heimliche Liebe laut ausrufen und dann zu Staub zermalmt werden. Wenn ich ihr in diesem Leben nicht wieder begegnen kann, will ich sie noch nach dem Tod aufsuchen im seidenen Gemach. Ob sie jetzt wohl weiß, daß ich einem andern Mädchen versprochen bin? Oh, wie ist sie betrogen!‹

Der sinkende Mond und der mitternächtliche Wind umwölkten tiefer sein Herz. Es schlug in ihn wie der Blitz, als er einen Streifen Blumenpapier bemerkte: 309 es war der Eidschwur! Er nahm den Eid in die Hand, vergoß seine Seele in Tränen.

›Unsere Liebe ist zu nichts geworden! O Liebe, niedergeschrieben auf diesem Papier treuer Herzen! Wir können uns unsern Eltern nicht widersetzen, sie werden unsere Liebe vernichten, Verbindung wird uns erst in einem kommenden Leben beglücken!‹

 

3
Sie hört von der Heirat und schmäht ihre Dienerinnen

Am Geburtstag des Generals Jang kamen seine Freunde zu ihm – ihre Glückwünsche darzubringen. Auch der junge Tschiao. Zufällig stand Jaosien am Eingang des Saals, während man sich recht fröhlich unterhielt und goldenen Bechern zusprach.

Jang: »Seit der junge Liang von uns Abschied nahm, hat er noch keinen Brief uns geschrieben; sein Studierzimmer ist kalt und einsam geworden; die Zweige der Trauerweiden verwelken, die Blumen fallen in seiner Abwesenheit.«

Tschiao: »Mein Bruder Liang hat bei der Rückkehr in die Heimat eine Braut gefunden, deshalb hat er wahrscheinlich nicht zu seinen Studien zurückkehren können. Es ist ein Mädchen aus der Familie Lieou, die Tochter des Gerichtspräsidenten. Sein Vater und seine Mutter haben zu Hause selbst das Versprechen gegeben.«

»Dies Mädchen ist sicher eine sehr vornehme Dame«, 310 räusperte sich General Jang und seufzte, »wenn sie es dahin gebracht hat, daß er sie selbst wünscht, wird sie gewiß in diesem Jahr noch seine Frau.«

Als Jaosien, die am obern Ende des Tisches saß, ihres Vaters Rede vernahm, wurde sie von Frost und Schauer ergriffen. Schnell beurlaubte sie sich bei ihrer Mutter, eilte in ihr Zimmer zurück. Ihr Geist war zerstreut, ihre Seele entfloh, ihr Herz zerbrach, ihr Gemüt war verwirrt, ihre Tränen beströmten einander. Weinend zürnte sie dem jungen Liang: ›Seine geringe Liebe hat mich betrogen, er hat meine Jugend getäuscht! Soll ich nicht auch wie er eine andere Heirat eingehn, meines Eides vergessen? Nein! Ich will einsam bleiben, mein ganzes Leben hindurch. Früh muß ich lernen, daß das Geschick wenig Gutes bietet. Ich will mein Leben beschließen, den Fürsten der Unterwelt heimsuchen!‹

Jünchiang versuchte, das Herz ihres Fräuleins zu öffnen: »Es ist nicht gut, daß Ihr Blumengesicht sich grämt, weil jener nicht mehr hier ist. Lassen Sie uns lieber einen andern suchen, der Ihnen den jungen Liang ersetzt!«

Jaosien aber schmähte Jünchiang: »Deine Plauderhaftigkeit hat mir den elenden Menschen gerühmt; du hast ihn mir gepriesen, als sei er ein Blumengewinde. Deine Worte nannten ihn ein Reh, das ein Bächlein aufsucht; aber diesen Morgen hab ich gesehen, daß er nicht enden will, wie er angefangen hat. Und du wagst es noch – vor meinen Augen zu erscheinen und mit Zunge und Lippen zu spielen?«

Pijue näherte sich: »Haben Sie noch nicht gehört, 311 mein Fräulein, daß alles seinen Grund hat, und daß von alters her die Heirat von Vater und Mutter abhängt? Könnte wohl ein Kind es wagen, der Eltern Wahl lieblos zu vernichten? Seit Liang Sie verließ, sind erst wenige Tage vergangen, und schon behauptet man, seine Verbindung mit der Familie Lieou sei beschlossen. Er ist gezwungen worden!«

 

4
Sie wirft allen Schmuck weg

Jaosien war allein, neue Tränen verwischten die Spuren der früheren: ›In diesem Leben gibt es für mich keine Freude mehr! Pomade und rote Farbe werden mir nicht mehr dienen; das Schmuckkästchen erfreut mich nicht mehr, meine Haare fallen wie Wolken herab. Alles ist mir jetzt nutzlos; diese Pomade und diese Schminke will ich in den Teich werfen. Liebe, Lust und Freude – alles ist vergangen, eilen will ich den Weg zur gelben Quelle.

Diesen köstlichen Spiegel will ich zerbrechen, diese kostbare Harfe will ich zerschlagen. Schön zwar strahlt mein Gesicht aus diesem Spiegel zurück, aber wer kümmert sich drum? Wie eine einsame Nachtigall, wie eine verlassene Schwalbe will ich meine Jugend verklagen. Weg mit der perlengeschmückten Flöte! Weg mit der Gitarre! Meine Tränen werden den rötlichen Sand wegschwemmen. Wenn der lieblichste Flötenspieler herkäm – ich weis ihn ab, ein wenig gelbe Erde soll meine Wohnung sein. 312

Diese schönen Pinsel will ich verbrennen, zerreißen dies Blumenpapier, nie wieder werd ich auf meinem Tischchen das kleinste Blatt beschreiben; nimmer sollen Neuigkeiten zu mir dringen, noch Menschen mich sehen. Mein Leben lang will ich, dem Schmerz hingeworfen, bei den Blumen schlafen!

Verbrennen will ich diese Würfel, dies Schachbrett zerbrechen, alles, was Liebe erweckt, wird mir zum Ekel; diese silbernen Stäbchen, diese elfenbeinernen Karten will ich vernichten, Schwüre verwirren und trüben meine Gedanken. Ich will Nonne werden! Ich will diesen gestickten Schleier verbrennen, zerstören diese seidenen Kleider, ich will nur Trauergewänder. Diesen köstlichen Gürtel will ich nicht mehr binden! Alles will ich vergessen! – Ob der junge Liang meine Trauer kennt oder nicht?

Diese Seide zum Sticken will ich zerreißen, diese goldenen Nadeln will ich zerbrechen! Mein seidenes Bett ist kalt, nirgends kommt mir ein freudiges Herz entgegen. Ich hab umsonst mich bemüht, ich bin für dies Leben getäuscht!‹

 

5
Ihr Vater wird befördert

Es kam Neues; man meldete ihr die Beförderung ihres Vaters: er sei als Marschall zum Statthalter ernannt worden. An einem schon festgesetzten glücklichen Tage wolle er die Anker lichten, von seiner Familie an den Hof abreisen.

In Jaosien nahm die Trübnis immer mehr überhand: 313 ›Wenn ich mich jetzt entferne, werd ich nimmermehr mit ihm zusammenkommen, der Weg nach der himmlischen Küste ist entfernt, Ströme – Berge liegen dazwischen, um wieviel mehr noch, da der junge Liang mit der Tochter des Herrn Lieou verbunden wird! Gewiß hat der Himmel beschlossen, daß ich in diesem Dasein einsam schlafen soll; und doch möcht ich gern noch in diesem Leben einen Mann umarmen!‹

Sie packte ihre Kleider zusammen, an einem »glücklichen« Tag bestiegen sie ein Hausboot. Die Aussicht auf die Ströme und Gebirge hatte ihre Trauer verscheucht, bis ein Talwasser ihren Schmerz von neuem erweckte; von nun an war es ihr nicht mehr möglich, die schönen Ansichten zu betrachten; von Wehmut und Schmerz erfüllt, starrte sie vor sich hin in das Fahrzeug.

Nachdem die Reisenden viele Gefahren überstanden hatten, gelangten sie in die Nähe des kaiserlichen Hofes und gingen an Land.

 

6
Sie wohnt bei dem Beamten Thsien

Ihre Wohnung war ein altertümliches Gebäude, prachtvoll eingerichtet.

Eines Tages, als der Marschall beim Kaiser in Audienz war, traf es sich, daß ein Eilbote von der Grenze die Nachricht brachte, es sei im Lande der Tschu die Empörung ausgebrochen. Der Kaiser ernannte nun 314 gleich den Herrn Jang zum Oberbefehlshaber. »Eilen Sie an die Grenze«, sagte der Himmelssohn, »unsere Untertanen zu beschützen. Wenn Sie sich durch Ihre Taten ausgezeichnet haben, soll Belohnung Ihnen nicht fehlen!«

Abschiednehmend sprach Herr Jang zu seiner Frau: »Ich muß schnell an die Grenze. Und doch wünsch ich nicht, daß du allein in die Heimat zurückkehrst. Nun wohnt hier dein Schwager, der Akademiker Thsien; du kannst dich mit unsrer Tochter bei ihm aufhalten und einstweilen bis zum nächsten Frühling bei ihm wohnen. Sobald ich an den Hof zurückkehre, werd ich dich aufsuchen: nur vermeide, daß jemand dich traurigen Herzens erblickt.«

Frau Jang traf eilig Vorkehrungen zum Abschiedsschmaus. Als der alte Herr getrunken hatte, trennte er sich von seinen Lieben und vom Wein, bestieg sein Pferd, gab ihm die Sporen und ritt mit verhaltenen Tränen zum Tor hinaus.

Hierauf packten auch die Damen und begaben sich in den Palast des Herrn Thsien, wo die Schwester ihnen entgegenkam und sprach: »Im Garten liegen Zimmer, wo meine Nichte mit ihrer Mutter sich einrichten kann.«

Als Jang an die Grenze gelangt war, musterte er Fußvolk und Reiterei, die Truppen waren froh, daß der Kaiser ihnen endlich einen altgedienten Feldherrn schickte. 315

 

7
Liang in Tschangtscheu

Liang war durchaus unfähig, etwas zu tun, sein Geist war von ihm gewichen. Vor Trauer verließ er nie sein Zimmer. Endlich faßte er einen Entschluß: »Wär es nicht besser, in der Halle von Vater und Mutter zu scheiden und wieder nach Tschangtscheu zu eilen? Dort will ich aufrichtigen Herzens mit ihr sprechen, zusammen mit ihr freudigen Mutes in die Unterwelt wandern.«

Seinen Eltern redete er ein: »Nur wenn ich wieder an jenen Ort zurückkehre, kann ich mich den Studien ganz hingeben; denn ich sehe wohl, daß ich zu Hause die nötige Ruhe nicht erhalten kann. Deshalb wünsch ich, von euch Abschied zu nehmen und nach Tschangtscheu zurückzukehren.«

»Tu nach deinem Willen!« sprachen die Eltern; sofort ordnete der junge Liang seine Sachen und machte sich auf den Weg.

In Tschangtscheu angekommen, trat er wehmutkrank in sein Zimmer und rasch in den Schatten der Blumen. Je tiefer er in den Schatten der Blumen drang, desto brennender wurde sein Schmerz, er hörte nur den Ruf der Grille oder das Kreischen der gelben Vögel im schattigen Hain. Er fand zwar den Glanz des beginnenden Frühlings: die schneeweißen Blüten des Pfirsichbaums winkten dem traurigen Jüngling entgegen; aber unter den lieblichen Blumen blieb er freudenlos, der Garten war für ihn traurig, leer. 316 Als er durch die Durchgangspforte trat in den anstoßenden Park, bemerkte er: das Frühlingswasser des Fischteichs warf große Wellen, die zarten Zweige der Trauerweiden peitschten die Oberfläche des Wassers, die steinerne Brücke war vernachlässigt. Er suchte unter den Blumen; aber niemand ließ sich blicken; er bemerkte nur den Gärtner, der im Schatten der Trauerweiden schlief. Grünes Moos wuchs auf dem Weg, Unkraut faßte allenthalben Wurzel, auf den Treppen lagen herabgefallene Blätter, niemand kehrte sie weg! Auf den steinernen Tischen, auf den steinernen Bänken hoch aufgeschichtet Staub.

»Sie wissen noch nicht«, sagte erwachend der Gärtner, »daß Herr Jang eine höhere Stelle erhielt und seine Familie mit sich in die Residenz nahm? Ich alter Mann wohne jetzt ganz allein im Garten.«

›Hätt ich jemals denken können, daß einst wolkenhohe Gebirge mich auf tausend Li von ihr trennen würden, ich sie nur im Traum aufsuchen darf?‹

Er eilte in das Gartenhaus zur Hoffnung; als er aber hinkam, bemerkte er: alles verändert! Nur die Gedichte, damals an die Wand geheftet, waren noch vorhanden. Aber warum konnte er die nicht erblicken, die das eine Gedicht geboren hatte? Was er sah, verwundete sein Herz, alles war zu Staub geworden. ›Ich habe die Teure um ihre blühenden Jahre betrogen, ich selbst bin getäuscht worden! Ich will mein ganzes Leben in der Einsamkeit vertrauern; ich werde meinem Vater nicht gehorchen, nie eine andere Heirat eingehn. Wenn der blaue Himmel meine Wünsche 317 nicht erhört, will ich sterben und bei der gelben Quelle Jaosien erwarten!

Vor Wut schwollen seine Adern auf, er fiel im Gartenhaus zur Wolkenansicht ohnmächtig nieder. Als er wieder zu sich kam, verfluchte er die fünf Elemente.

 

8
Neues Leid

Wir wollen erzählen, daß Herr Thsien Jaosien und ihre Mutter besuchte.

Thsien: »Heute hat ein Bote von der Grenze die Nachricht gebracht: hunderttausend Krieger vom Lande Tschu haben sich empört, Jang in der Grenzstadt umzingelt. Die Rebellen sind in so großer Anzahl, daß selbst eine Nadel nicht mehr durchkommen könnte, man weiß nicht, zu welcher Zeit man die Rebellen wird besiegen, noch wann der General wird zurückkehren können.«

Jaosien verhüllte ihr Gesicht, fiel auf die Erde nieder:

»An welchem Tag wird das himmlische Heer die Rebellen endlich vernichten? Wie schmerzt es mich, daß ich ein Mädchen bin und keine Kraft besitze; denn so ist es mir unmöglich, meinen Vater aufzusuchen und in die Heimat zurückzuführen! Wie betrübt es mich, daß ich allein bin und keinen Bruder habe, Vater nicht retten kann! Wie lange wird er an der Grenze noch in Unglück schweben! Wie lange wird man meinen armen, weißhaarigen Vater noch kränken! 318

Trauer nimmt kein Ende – ich bin in den Staub gefallen. Ich glaube, trauriges Schicksal ist einem unabsehbar langen Streifen Papier ähnlich. Weil ich in einem früheren Leben nicht tugendhaft war, wird das jetzige zerrissen! Ich möchte mein Leben enden und in die gelbe Erde zurückkehren. Wenn ich aber meine Mutter ohne Stütze lasse, wird sie nicht unglücklich werden? Ich hoffe noch, eines Tages kommt Vater in die Heimat zurück! Auch bin ich die einzige Tochter meiner Eltern; wer wird ihnen nach ihrem Tod den Weihrauch anzünden? So muß ich mein trauriges Geschick ertragen und meinen Eltern bis ans Ende dienen!«

 

9
Tschiao und Liang gehen zusammen in die große Herbstprüfung

Liang in seinem Zimmer war stets bereit, sich das Leben zu rauben. Frühling verging. Sommer folgte. Er wußte nicht, wie er seine Brust erleichtern solle. Eines Tages trat sein Vetter, der junge Tschiao, in sein Zimmer. »Bald wird der Examinator hierherkommen, mit der Prüfung anfangen. Ich wünsch in diesem Herbste höher zu steigen, und auch du solltest fleißig studieren. Warum ziehst du den ganzen Tag die Augenbrauen so zusammen? Hast du irgend etwas auf dem Herzen, so sag es mir!«

Liang schwieg. Endlich aber bedachte er, er könne das Glück haben, in der Residenz Jaosien zu treffen, 319 und sie begannen sich zusammen so ernsthaft auf das Provinzexamen vorzubereiten, daß dieser Examinator den jungen Liang mit seinem Vetter an die Spitze der Liste setzte.

Der junge Liang packte nun und kehrte in seine Heimat zurück.

Als der Herbst begann, schickte er sich an, zur großen Prüfung abzureisen, daher verbeugte er sich im Saal vor seinen Eltern, von ihnen Abschied zu nehmen. Sie ermahnten ihn, fleißig zu sein:

»Bist du einmal in der Residenz angekommen, so hüte dich, bei Blumen und Trauerweiden dich aufzuhalten, selbst im Schiff mußt du deine Studien fortsetzen. Du mußt dich in der herbstlichen Hauptprüfung zur Tigerliste hinaufschwingen – bis zu den glänzenden Wolken empor.«

 

10
Der Kaiser eröffnet die Prüfung

Kaum die beiden Jünglinge auf dem Boot in Nanking angekommen waren, gingen sie zur Prüfung. Als man am folgenden Morgen die Namen der Besten bekanntmachte, hörte man, der junge Liang sei Kiaijuen geworden und der junge Tschiao nehme auf derselben Liste den dreizehnten Platz ein. Sie schickten sogleich einen Boten ab, diese fröhliche Nachricht ihren Familien mitzuteilen. Nach dem großen Feste Luming mieteten sie ein Boot, auf dem Strome weiterzufahren.

Endlich kamen die beiden Jünglinge in Jenking an. 320 Der junge Liang erkundigte sich sofort nach dem Schicksal der Familie Jang, worauf man ihm erzählte, der General sei an die Grenze marschiert und bald nach seiner Ankunft in einer Festung von den Rebellen umzingelt worden. Man wußte ihm aber nicht zu sagen, wo sich das Fräulein aufhielt. Wie eine versinkende Quelle wußte Liang keinen Weg.

Hatte keine Lust mehr, sich zur letzten Prüfung zu stellen oder gar Ruhm zu erwerben; aber der junge Tschiao zwang ihn, doch hinzugehen. Und als man bald darauf die Sieger bekanntmachte, war der Name des jungen Liang der achte auf der Liste und der junge Tschiao nahm einen mittleren Platz ein.

Noch an dem Tage, da man das Ergebnis der Prüfung vor den goldenen Stufen des Thrones niederlegte, wurde der junge Liang zum Mandarin ernannt, und auch der junge Tschiao erhielt einen guten Rang; und als der Kaiser das große Gastmahl im prächtigen Hain gab, wurde der junge Tschiao zum Mitglied des Obersten Gerichtshofs ernannt, und der junge Liang trat auf besonderen kaiserlichen Befehl in die Akademie Hanlin, saß im Perlensaal auf dem goldenen Pferd: Staatsminister!

 

11
Wiedersehen im Garten der Akademie

Am liebsten saß Jaosien vor der einsamen Lampe. Jünchiang und Pijue mußten sie gewaltsam bei der Hand nehmen und in den Garten führen. Jaosien bewegte ihre zarten Füßchen nur langsam vorwärts. 321 Unter den Bäumen erhob sie kaum den Kopf, sich umzusehen. Tränen des Grams flossen auf die seidenen Kleider: ›Unser Unglück wollte es, daß unser bei den Blumen abgelegter Eid umsonst war, von jetzt an werden wir nur wie zwei fremde Wanderer uns begegnen. Meine Schönheit ist welk, weil ich stets an den geliebten Jüngling denk. Umsonst sind die Blüten der Pfirsichbäume im Frühlingswind gefallen, wer könnte den Hügel finden, wo das strömende Wasser der Tränen seinen Ursprung nimmt?‹

Wie hätte sie vermuten können, die Wohnung des jungen Liang sei jenseits der anstoßenden Mauer? Er selbst unter den Blumen wandelte, der Frühlingswind ihm aus der Ferne die liebste Stimme zutrug!

Der junge Liang horchte im Garten auf: ›Wer mag unter den Blumen sein? Von wem die liebliche Stimme?‹ Leise schlich er im Schatten der Blumen vorwärts, die Spur der Stimme zu suchen, er dachte nicht, daß die Störche schon schliefen, die Blumen schon die Köpfe gesenkt hatten, alles schon menschenleer sein mußte. Als die Wolken hinter den Bergen verschwanden, regten die schwimmenden Fischlein das Wasser zu Wellchen auf. Liang hatte wohl eine Stimme gehört, aber nirgends erblickte er einen Menschen. Aber als er wiederum vernahm, wie seidene Kleider im Winde flatterten – jemand in den Schatten der Trauerweiden trat, schaute er vom Damm des Grabens hinüber in den anstoßenden Garten und erblickte am Teich ein Mädchen, Jaosien sehr ähnlich; nur war sie an Gesicht und Gestalt viel magerer. Mit einfachen Kleidern angetan, traurigen 322 Antlitzes stand sie dem anwehenden Wind entgegen, wie trauernd über ihre unglückliche Jugend, wie die Mondesscheibe in Wolken eingehüllt. Liang erblickte auch Jünchiang, die mit Pijue im kühlen Gartenhaus Kleider nähte, und hierdurch ward es endlich seinem Geist klar, daß jenes Mädchen die Tochter des Herrn Jang.

›Mein Eid war so groß wie das Wasser, mein Schwur war so fest wie die Berge, dennoch ist er zu Staub geworden. Die Höhe dieser Mauer hindert mich, aber soll ich jetzt zurück, wo ich so nah bei ihr bin? Nein! ich will zu ihr hin, ihr mein ganzes Herz öffnen! Wenn ich auch sieben Fuß hoch bin, ob ich zu Staub werd – ich will mein Leben wagen, mit ihr wieder zu sprechen.‹

Er kletterte die gefährlich hohe Mauer vollends hinan, sprang in den Schatten der Blumen hinab; Jaosien erschrak, ihr Herz bebte. Schnell rief sie ihren Dienerinnen zu, nachzusehen, was es sei; zitternd ermahnte Jünchiang Pijue, allein nachzuforschen, als plötzlich Liang vortrat. Pijue schrie laut auf – war es ein Dieb? Wer wagte es, arme Blumen und Näherinnen zu erschrecken?

»Mädchen!« rief er. »Ist Liang schon vergessen?«

Als Jünchiang dies sah und hörte, eilte sie schnell an das Ufer des Teichs, rief Jaosien. Die Liebenden wollten ihre Tränen zurückhalten, aber sie konnten nicht reden vor Schluchzen.

Liang faßte sich zuerst: »Tief war mein Schmerz, als wir wie Regenwolken durch die hohen Gebirge voneinander getrennt wurden. Seit ich von Ihnen 323 schied, hab ich mich nach Ihnen schmerzvoll gesehnt. Da ich aber diesen Abend so glücklich bin, wieder vor Ihnen zu stehen, hab ich keinen Wunsch mehr, als Ihnen meine innersten Gefühle –«

Jaosien: »Da Sie jetzt so hohe Stellen einnehmen, werden Sie wohl dem Jüngling früherer Zeiten nicht mehr ähnlich sein; mit Ehrenbezeugungen überhäuft, haben Sie sich gewiß schon mit der Göttin des Mondes verbunden. Wie bin ich zu bedauern, daß die früheren Verhältnisse zu Staub geworden sind! Wo ist nun der Schwur, bei den Blumen geschworen! Herr Liang! Sie sind ein treuloser Mensch! Ich werde mein Leben im einsamen Bett allein vertrauern müssen, während Sie schon jetzt nicht mehr wissen, daß Sie mich um mein ganzes Leben betrogen haben. Als ich am Unglückstag hörte, daß Sie, mein Herr, sich mit einem Mädchen aus der Familie Lieou verlobt hatten, warf ich alles, was mein vergebens duftendes Zimmer enthielt, in die Flammen, entschloß mich, dies Leben in Einsamkeit zu verbringen; denn wie könnt ich, betrogenen Herzens, mich mit einem andern Jüngling verbinden wollen? Diese Nacht sprech ich noch aufrichtigen Herzens zu Ihnen; morgen schon werd ich eine Bewohnerin der Unterwelt sein. Doch Sie, mein Herr, denken Sie nicht mehr an Ihre Sklavin! Mögen Sie sich vielmehr das ganze Leben hindurch mit ihrer Gattin des duftenden Morgens erfreuen! Ich weiß, daß eine frische Blume eine alte an Schönheit übertrifft, weiß, daß Sie, mein Herr, die nicht mehr lieben, der Sie einst geschworen haben. Wenn kommenden Tags der dünne Staub auf 324 meinem gelben Grab vom glänzenden Mond beschienen wird, Ihre Sklavin wird keinem andern Mädchen zürnen!«

Ihre Rede war noch nicht zu Ende, als ihr Tränen aus beiden Augen herabströmten, sie lehnte sich weinend an das Geländer, denn zu viel sprach ihr das Herz, der leuchtende Mond verfinsterte sich, die Blumen atmeten nicht, die Grille schwieg und trauerte mit dem Mädchen. Mit verwundetem Herzen schauten einander die Liebenden an, vor unendlicher Trauer nicht imstande zu sprechen.

Endlich begann Liang: »Mein Fräulein, ich bitte Sie untertänigst, auch meine Erzählung zu hören. Wie hätt ich wohl wagen können, Ihre Gunst, Ihre Treue zu vergessen? Leider hängen Heiraten nicht von den jüngeren Menschen ab! Wie oft hab ich gewünscht, Ihnen meine innersten Gefühle darlegen zu können! Als ich im vergangenen Jahr von Ihnen Abschied nahm und in die Heimat zurückkehrte, hatten mich Vater und Mutter ohne mein Wissen verlobt, und ich wagte nicht, ihnen meine heimliche Liebe zu gestehen. Aber ich grämte mich tief und hätte beinahe das Leben verloren. Immer blieb es mein Wille, mich mit Ihnen zu vermählen oder den Eltern meine Liebe zu enthüllen und dann ruhigen Herzens zu sterben. Als ich, der erklärte Bräutigam des Fräuleins Lieou, den Weg des Wissens einschlug, hört ich, Ihr Vater sei befördert worden und an den Hof gereist. Und als ich Sie in Ihrem alten Garten nicht wieder erblickte, fiel ich im Gartenhaus in Ohnmacht vor Sehnsucht. Ich hatte keine Neigung mehr, nach Ruhm und 325 Ehre zu streben, aber von meinem Vetter Tschiao gezwungen, ging ich zur herbstlichen Prüfung, wo ich durch den ersten Platz beschämt wurde. Als ich hierher in die Residenz kam und überall nach Ihnen forschte, als ich hörte, Ihr Vater sei umzingelt, gefangen, als tiefe Ströme und wolkenhohe Berge mich von Ihnen trennten, da glaubt ich, mein trauriges Geschick würde sich mit den herbstlichen Blättern erfüllen. Ich rannte hin und her, da ich keinen Weg wußte, Nachrichten von Ihnen zu erhalten, bis endlich meine Beine abdorrten wie die Blüte des Pfirsichbaums und ich, gramabgezehrt, einem Menschen nicht mehr ähnlich sah. Ich weiß allzu wohl, daß ich so nicht lange leben kann; aber es schmerzt mich nur, daß ich Sie scheinbar betrog!

In der Frühlingsprüfung hatt ich das Glück, auf die goldene Liste zu kommen, später verkündete man mir, daß ich Mandarin geworden sei. Und wenn ich auch diesen Abend bei Mondlicht wieder mit Ihnen zusammengekommen bin, fürcht ich doch noch, daß diese Zusammenkunft Traumtrug ist.«

Jaosien: »Wie hätt ich wissen können, daß Sie meine Liebe nicht vergessen haben? Da aber die Sache bei Ihren Eltern steht, wird es schwer sein, sie glücklich zu lösen – doch hängt sie am Ende vom Willen des Himmels ab und nicht von Menschen. Als mein Vater an die Grenze zog, mußte er so eilen, daß wir nicht mehr in die Heimat zurückkehren konnten und daher gezwungen wurden, für den Augenblick im Garten der Akademie, bei Herrn Thsien unsere Wohnung zu nehmen. Ihre Sklavin gleicht wahrlich dem Seegras, 326 das auf dem Meer vom Wind hin und her geweht wird, bald sinkt, bald wieder auftaucht. Ob mein Vater lebt, oder ob er gestorben ist, hab ich noch nicht erfahren; da die Grenzstadt zehntausend Li von hier entfernt ist, hab ich noch keine Nachricht erhalten können. Diesen Abend hab ich das Glück gehabt, mit Ihnen zusammenzukommen; ob ich Sie aber wiedersehen werde, weiß ich nicht, denn ich fürchte sehr den kalten Mond und ein einsames Grab.«

Liang: »Mein armseliges Leben ist der herbstlichen Wolke zu vergleichen, es wird für mich besser sein, auf dem sandigen Schlachtfeld zu sterben, um Sie für Ihre Gunst zu belohnen. Und wenn ich es nicht täte, so wär ich ein undankbarer, ehrvergessener Mensch; daher will ich das drei Fuß lange Drachenschwert ergreifen und die Männer aus dem Lande Tschu zusammenhauen, um Ihre Liebe zu belohnen; ich will Ihren Vater befreien, mit ihm zurückkehren. Wenn ich mir Ruhm erwerb, erreich ich es vielleicht, daß ich Sie doch noch heiraten kann. Sonst will ich ruhigen Herzens fallen.«

Jaosien: »Ich weiß jetzt, daß Ihre Liebe und Ihre Rechtlichkeit der Tiefe des Meeres gleichkommt! Der Sinn Ihrer Sklavin aber ist dem Golderz ähnlich. Die Geister der Blumen haben uns geprüft.«

Es verlängerte der Mond den Schatten der Bäume; tiefe Nacht. Sie standen auf und nahmen sich bei der Hand; der Vollmond leuchtete auf sie herab, als sie Abschied nahmen. Der Hahnenruf vermehrte den Schmerz der Trennung.

»Ach! ich weiß ja doch nicht, an welchem Ort ich Sie 327 je wieder treffen werde!« rief Jaosien; »verzauberte Wolken haben im Sinn, unsere übergroße Liebe zu vernichten, ohne sich zu kümmern, ob das rotwangige Mädchen der rötlichen Dämmerung zürnt.«

Liang: »Sie kennen mein Herz noch nicht! Heute trenn ich mich von Ihnen, weil ich von hier scheiden muß; aber wenn ich nicht wieder mit Ihnen zusammenkommen kann, will ich Sie noch nach dem Tod suchen!«

Weinend standen die Liebenden im Schatten der Blumen; sie hielten sich an den Kleidern und Händen fest, vor der Trennung sich fürchtend, vor der Kälte des Schicksalsmondes, der die Blumen verwelken läßt, ehe sie ganz aufgeblüht sind.

 

12
Er bittet den Kaiser um Erlaubnis, die Rebellen besiegen zu dürfen

Der junge Liang kehrte still in sein Zimmer zurück, wo er beim Schein der Lampe sogleich eine Bittschrift aufsetzte; er wünschte, an die Grenze zu gehen und die plündernden Rebellen zu züchtigen. Andern Morgens stand er früh auf und fiel in seiner Mandarinuniform vor das Angesicht des Kaisers. Als der Himmelssohn die Bittschrift erblickte, freute er sich so sehr, daß er dem Jüngling sagte: »Da Sie, Mandarin, die Rebellen im Lande Tschu mit aller Strenge zu Paaren treiben wollen, so übertreffen Sie an Mut alle meine übrigen Diener; deshalb will ich 328 Sie auch, wenn Sie sich Ruhm erwerben und die Grenze zur Ruhe bringen, zum Herzog ernennen und Sie außerdem noch reichlich belohnen. Für jetzt nehmen Sie hier dies herzogliche Schwert und marschieren Sie sogleich an die Grenze, von hunderttausend Kriegern begleitet.«

Sobald der Mandarin diese Befehle erhalten hatte, nahm er vom Kaiser Abschied und entfernte sich. Alle Staatsbeamten gaben ihm zum Abschied das Geleit: nach dem Abschiedstrunk spornte er sein Roß und ritt davon.

An der Grenze betrübte ihn vieles; denn der vom Wind aufgewirbelte Sand bedeckte den ganzen Weg, er fand bei näherer Untersuchung die Heerstraßen durchaus ungangbar.

 


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