Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Drittes Buch

1
Mädchen betrachten den Mond

Es war am Anfang des Herbstes, Mond leuchtete heiter vom Himmel herab, als sie Jünchiang befahl, den schön gemalten Vorhang aufzurollen, worauf sie mit den Mädchen, an den Balkon sich lehnend, den glänzenden Mond betrachtete. Sie sah, wie seinem kühlen Schatten die herrlichsten Farben entblühten; wenn die Luft mit sanften Stößen die seidene Tür bewegte, glitten Schatten der Blumen wandnieder.

Pijue: »Wenn ein schöner Anblick die Menschen erfreut, schwindet Jahr auf Jahr unvermerkt dahin. Vor kurzem noch drohte der unverfrorene Nordwind mit seiner Kälte das seidene Gemach zu durchströmen, und der kalte Himmel ermahnte den Wanderer, an die Vermehrung seiner Kleider zu denken. Die Blumen blühen alle Jahre – alle Jahre verwelken sie wieder. Jetzt sind wir noch im blühenden Frühling, aber bald erreicht uns das Alter: die weißen Haare drücken den Menschen, an beiden Seiten des Kopfes emporsteigend. Ich will doch an den Fingern abzählen, wieviel Jahre mir schon verflossen sind! Wenn der Abendwind weht, fällt mir oft ein, daß die Menschen den herabhängenden seidenähnlichen 288 Trauerweiden ähnlich sind. In ihren mittleren Jahren gleichen sie dem herbstlichen Himmel; wenn der Herbst schwindet, sinkt ihr Körper zusammen, die Blätter fallen; und wenn ihre schöne Gestalt vergeht, wer erbarmt sich ihrer?! Wohl hoffen die Bäume auf die Rückkehr des Frühlings; aber wenn der Mensch alt wird, wer schenkt ihm die Jugend?«

Jünchiang: »Laß uns doch lieber dem Wind gleichen, der die Wolken zerstreut, wenn sie den abendlichen Himmel überziehen. Sprechen wir nicht davon, daß Jahre und Monate den Menschen zum Alter geleiten; laßt mich reden von der herrlichen Fülle des Monds in dieser Nacht der stummen Musik; davon, daß er viele Länder bescheint und viele Menschen bei seinem Glanz auf rötlichen Saiten spielen; daß viele, der Lust sich freuend, von keinen Fesseln gehalten, Unsterblichen gleichen. Aber es gibt auch solche, die von Gram und Trauer durchdrungen sind; Fremdlinge, die an ihr Vaterland denken und in ihrem Unglück die Fülle des Mondes vertilgen möchten, weil er ein fremdes Land bescheint. Es gibt wieder andere, deren Herz für Leute schlägt, die unter dem heißen Himmel wandern; sie haben ihnen kühle Kleider bereitet, aber wer soll sie ihnen bringen? Und wiederum gibt es Arme, die wähnen, es sei schwer, das Antlitz der Geliebten zu sehen. Oh, Mond mitten im trostlosen Himmel! In der Fremde finden sie keinen, der sie tröstet, bald sterben sie hin, Kummer läßt sie nicht länger atmen. Zu viele Dinge vermehren ihren Gram, wie wenn sie ihn selbst herbeiriefen. Ich glaube, die Göttin des Mondes kennt den Schmerz der 289 Menschen zu wenig; ihr ist alles gleich. Aber der Mensch sollte die Freude aufrufen, denn sobald der Frühling wiederkommt, ist er doch wieder um ein Jahr älter! Umsonst flehen wir einst den Beherrscher der Unterwelt an, uns noch ein Jahr zuzulegen. Es ist gut, sich zu freuen, es ist gut, traurig zu sein: Fühlen ist besser als Taubheit!«

Als Jaosien die Reden ihrer zwei Dienerinnen vernommen hatte, wurde der Schmerz, leblos zu vergehen, in ihrem Busen neu, zehntausend verschiedene Gedanken erhoben sich wild in ihr mit dem sinkenden Mond. Die Dienerinnen zogen die seidenen Fenstervorhänge zu, sie ging in das Putzgemach, wo sie zerstreut ihre prächtigen Federn und die goldenen Blumen ordnete, trat endlich hinter die seidenen Vorhänge ihres Bettes und streckte sich auf ihr einsames Lager, ohne schlafen zu können. Mit der Stille der Nacht weinte sie leise: ›Der Glanz von sechzehn Frühlingen ist mir umsonst verflossen, unfruchtbar, erlebnislos; mein aufgewundenes Haar und meine roten Wangen haben schon zu viel tote Jahre gesehen. Der junge Liang magert ab, weil er an mich denkt, sein Gemach ist einsam und traurig, seine Träume bringen ihn zum Wahnsinn; ich weiß, seine Liebe ist unendlich, er ist von schöner Gestalt, liebenswert, jung und begabt, soll ich wünschen, mit ihm verbunden zu werden? Ohne Schmerz würd ich gleich mein Haar zur Hochzeit schmücken!‹

Da aber die federgeschmückte Decke kalt blieb, konnte sie nicht einschlafen; die frostige Nacht lang hing sie an ihrem Schmerz. 290

 

2
Zweite Begegnung im Garten

Mit einem ungeduldigen Seufzer erhob sie sich von ihrem langweiligen Lager. Jünchiang, die den Seufzer gehört hatte, begriff, daß die Trauer von den Reden der vergangenen Nacht herrührte. Schnell überfiel sie ihr Fräulein: »Schon lang sind Sie nicht in den Garten gekommen, in dem man jetzt viel wunderbare; Blumen gepflanzt hat. Im Fischteich hat man neulich einen Kahn hergerichtet, wollen Sie nicht Wasserlilien pflücken?«

Jaosien eilte bereit in ihr Putzgemach, sich zu kämmen, zu baden; sie schmückte sich, ohne sich mit Blumen zu kränzen. Ihr seidenes Kleid war weiß, rot leuchtete ihr Unterkleid, wenn das seidene Gewand im Winde flatterte. Sie rief Jünchiang herbei, sie zu begleiten. Mit ihren zarten Füßchen hüpfte sie leicht über das frische Moos hin und trat in den Garten, an den Wasserlilienteich. Sie sah, wie das herbstliche Wasser mit aufsteigenden Dünsten spielte, die den Wasserlilienkahn bedeckten mit Nebelhülle.

Jünchiang riet dem Fräulein, auf die östliche Seite zu gehen, zeigte listig auf die Durchgangspforte.

»Nein, wir wollen hier bleiben, ich fürchte, der junge Liang könnte drüben sein; wenn wir im Schatten der Blumen überrascht werden, wird es uns nicht leicht gelingen, zu entfliehn. Ich weiß, er hat die Gewohnheit, täglich hier zu spazieren.«

»Es ist noch früh am Tag, der junge Liang liegt sicher noch im Bett und träumt von Wahnsinn und 291 Liebe. Lassen Sie uns für einige Augenblicke zusammen hinübergehen; wann würden Sie sonst in diesen Garten kommen können?«

So trippelten sie leichten Schrittes in den östlichen Garten hinüber; denn sie wußten nicht, daß der junge Liang aufgestanden war aus der Einsamkeit seines Schlafs. Morgennebel verbarg ihn zwischen den dunklen Bäumen. Als er hörte, daß im Schatten der Blumen Mädchen lachten und sprachen, ging er eiligen Schrittes nach der westlichen Seite. Sobald Jaosien hörte, daß jemand kam, wollte sie, ohne auf Jünchiang Rücksicht zu nehmen, sogleich entfliehn. Liang aber war rascher, erblickte im Nebel Jaosien und begann zu himmeln: »Wie glücklich bin ich, die Schöngeschmückte vor mir zu sehen! O mein Fräulein, wegen Ihres perlengleichen Angesichts hab ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen – immer sehnt ich mich nach Ihnen. Ich war entschlossen, Ihretwegen an den Tod zu denken. Da ich Ihnen aber nun unter den Bäumen zum zweitenmal begegne, glaub ich, daß schon ein früheres Leben mich für dieses fesselte. Ach! mein Fräulein: Wer sich der Freude nicht hingibt, verliert seine Jugend umsonst!« »Wir begegnen uns unter den Pflaumenbäumen oder auf einem Melonenfeld«, errötete Jaosien. »Sie, mein Herr, sind ein Gelehrter, ein anmutiger und reicher Fremdling; in Ihrem einsamen Gemach studieren Sie die Bücher der Alten. Ich aber bin ungelehrt, versteh mich nur auf den Putz; den ganzen Tag mit der Nadel beschäftigt, bring ich mein Leben hin. Was aber das Heiraten betrifft, so leben meine Eltern 292 noch; es wäre also unrecht, wenn die Tochter darüber sprechen wollte!«

Liang: »Wie sollte ich die Strenge der Sitten nicht kennen? Wenn ich aber meine Verbindung mit Ihnen nicht feiern kann, werd ich um meine jungen Jahre betrogen. Deshalb wollen wir uns, geliebtes Fräulein, gegenseitig Liebe schwören, damit im Studio oder im Frauensaal unsere Herzen standhaft bleiben.«

»Alles, was in einem früheren Leben verbunden war«, entgegnete Jaosien, »findet sich hier auf dieser Welt wieder. Die Alten sagten, einsam bleiben müsse, wem niemand bestimmt sei; Trennung und Vereinigung verdienen wir durch unsere früheren Taten.«

Als sie das Haupt erhob, beschien die Sonne bereits die Spaliere der Tuberosen – sie fürchtete, ihre Dienerinnen könnten in den Garten kommen. Daher schieden die beiden schnell voneinander.

 

3
Herrin und Dienerin

Geheime Gedanken Jaosiens: ›Ich glaube, die Jünglinge sehnen sich nach Liebe – warum sollte auch die Jugend sich der Lust nicht hingeben? Ich, die schön geschmückte Jungfrau des tiefverborgenen Gemachs, hab ich nicht auch, was mir das innerste Herz umfängt? Als ich gestern den Jüngling erblickte, regte sich Gegenliebe im tiefverborgenen Gemach. Man sagt, die erste Liebe sei sehr schwer zu 293 besiegen. Ihn bedaur ich, den armen Studenten, der Einsamkeit hingegeben. Wenn wir noch lang warten, werden wir mit weißen Haaren die Hochzeit begehen. Ach! Und doch muß ich meine Wehmut verbergen, ich fürchte die Dienerinnen.‹

Schon kam auch Jünchiang leise: »Fräulein, warum ist Ihr Blumengesicht so düster? Warum trauern Sie? Ihre Augen sind verschlossen, die heimlichen Tränen strömen! Enthüllen Sie mir die Fäden Ihres Schmerzes! Mich dauert jener Fremdling, von Menschen verlassen, einsam dem Leid hingegeben.«

Jaosien: »Jünchiang, du und ich, wir lieben uns wie zwei Schwestern; vernimm jetzt meine geheimsten Gedanken. Wie ist es möglich, daß ein Mensch der Erde oder dem Holz gleiche? Wir wollen in Lust und Freude hundert Jahre lang leben! Aber man muß über das erröten, was die Sittsamkeit verbietet – ich fürchte, daß Liang nur die Augen zu mir erhebt, wenn ich bei ihm bin. Das Hin- und Herflattern der Liebe eines Mannes gleicht dem Schaukeln der Wellen; sein Geschäft ist es, Frauen und Jungfrauen zu betrügen! Auch fürcht ich, in früheren Leben nicht mit ihm vereint gewesen zu sein – viele Männer treiben mit der Liebe Scherz und erzählen der Welt ihre Weibergeschichten.«

Jünchiang: »Wenn Liang nur eine Unterhändlerin schickte, um Sie zur Gattin zu verlangen, so würden Ihre edlen Eltern es ihm nicht leicht abschlagen können. Zu fürchten wäre nur, daß Ihre Eltern, durch die Reden falscher Unterhändlerinnen bestochen, Sie mit einem rohen, einfältigen, unwissenden Menschen 294 vermählen wollen, nur weil er zu viel Perlen und Diamanten besitzt. Wenn Sie also hartherzig sind, Ihren Jüngling nachrichtlos ohne allen Trost lassen, wird der junge Liang in die Berge seiner Heimat zurückkehren, und ich fürchte, dieser glänzende Edelstein fällt dann in eines andern Weibes Hand!«

 

4
Sie schwören sich treue Liebe

Wir wollen nun das Selbstgespräch des jungen Liang belauschen: ›Die Zeit fließt leicht dahin, mit der Schnelligkeit des Augenblicks ist der lustige Glanz des Frühlings verschwunden: Die Vielgeliebte ist fort und ließ keine Spur zurück; wer könnt einen Brief dem lieblichen Antlitz bringen? Es ist der alte Mond, diesen Abend wird das Fest der Wiederkehr des Herbstes gefeiert, wo in allen Häusern vereint der Ton des Saitenspiels und der Flöte klingt Wieviel Menschen werden beim Schein des Monds der Lust sich hingeben! Nur auf mir lastet unendliche Wehmut, unendlicher Schmerz, schwer wie Gebirge.‹ Eine einsame Kerze beleuchtete sein trauriges Angesicht; die mit Federn geschmückte Decke wärmte nicht, hart war es, in der Einsamkeit einzuschlafen. Er stand wieder auf und ging langsam auf den schön gemalten Altan. Bambusumpflanzt der Fußpfad war menschenleer; Wind durchsauste Gebüsch, Mond glänzte auf den Wasserlilienteich, Wasser flutete hin und her. In irgendeinem Haus spielte man Flöte, die 295 Melodie Mankuanschan. Als Liang durch die Durchgangspforte ging, war es ihm, als ob Menschen unter dem fließenden Glanz des Monds einhergingen. Der Wind tanzte in seidenen Kleidern, die wie ausgebreitete Banner herumflatterten, liebliche Stimmen drangen an ihn.

Es war Jaosien, die ihren Mädchen zurief: »Wir armen Mädchen haben nichts als den schönen Mondschein. Aber wenn wir auch genügsam den Mond hier vor dem Haus schön finden, sollten wir nicht lieber seinen Glanz und das kühle Fächeln des Windes ganz genießen, umherstreifend?«

Wie hätte sie auch wissen können, daß Liang jetzt unter den hängenden Zweigen der Trauerweiden stand und plötzlich hinter den Blumen hervortreten würde, mit schneller und tiefer Verbeugung: »Mein Fräulein, ich bin heute glücklich, diese Nacht beruhigt mein ganzes künftiges Leben.«

»Welcher Mensch wagt es, in tiefer Nacht in diesen Garten zu kommen?« rief Pijue aus, »Ihr Mut muß so groß sein wie der Himmel, daß Sie es wagen, wie ein roher Barbar hier einzubrechen!«

»Ich bitte Sie ganz untertänigst, schönes Mädchen, sich eines unglücklichen Studenten zu erbarmen; denn seit ich Ihr Fräulein beim Schachspiel traf, hab ich sie unablässig gesucht. Am einsamen Fenster stehend, hab ich Schmerz und Kälte der Nacht erduldet. Endlich scheint mir die Göttin des Monds – O lassen Sie mich mit dem Fräulein allein sprechen!«

Jaosien: »Unter den Blumen darf man die Wandelnden nicht schmähen, noch beleidigen, es haben 296 die seidenen Kleider und die Haarnadeln nichts mit der Liebe zu schaffen; wir kennen nur das tiefverborgene Gemach und die Arbeit mit der Nadel. Ich bitte Sie, in Ihr Studierzimmer zurückzukehren; die Blumen und Trauerweiden im anstoßenden Garten haben nichts mit mir zu schaffen.«

»Warum, o Fräulein, ist Ihr Herz so hart wie mehrere Metalle?! Ich bin Ihretwegen lang so krank gewesen, daß keine Arznei mich heilen kann. Ich bin in mir selbst zerrissen und habe niemand, der mich trösten und aufrichten könnte, mein Antlitz gleicht dem verwilderten Gespenst des Waldes.«

Jünchiang trat mutig vor: »Wenn Sie, mein Fräulein, den Herrn Liang jetzt noch nicht in Ihrem Herzen aufnehmen wollen, ist es geradeso, als ob Sie einen Stock oder ein Schwert nähmen, ihn zu töten. Schwören Sie mit dem Herrn, daß Sie beide ewig treuen Herzens bleiben wollen.«

Jaosien blickte stillschweigend zur Göttin des Mondes empor, dachte wohl, das sei nicht recht. Die verschmitzte Jünchiang aber, die ihres Fräuleins Gefühle kannte, rief ihrer Gefährtin Pijue zu, in den Schatten der Blumen zu gehen und im Gartenhaus zur Wolkenansicht einen Tisch mit Weihrauch aufzustellen, worauf die Liebenden in das Innere des Gartenhauses traten.

Jaosien errötete: »Ihre Sklavin hat sechzehn Lenze im duftenden Gemach verlebt, eingeschlossen den Glanz des Frühlings noch nicht gesehn – die Blumen mochten verwelken oder aufblühen. Ich kann nichts anderes, als mit der Nadel fleißig arbeiten, bis heute 297 bin ich noch nicht über den Osten dieses Gartens hinausgekommen. Jetzt aber, da Sie, mein Herr, sich herablassen, Liebe zu mir zu empfinden, warum sollt ich hier unter den Blumen Ihrem Herzen nicht willfahren? Wenn ich nur weiß, daß wir uns Treue zugeschworen haben, bis zum Alter vereint zu leben, werd ich nie eine andere Heirat begehen, nie die Treue verletzen. Unser ganzes Leben ruht auf dem Vorsatz, den wir diese Nacht fassen wollen!«

»Geliebte, Ihre Rechtlichkeit ist so groß wie ein Meer. Der Palast der Mondgöttin soll Zeuge unseres Bündnisses sein; wie könnt ich dann noch wagen, meiner Liebe zu vergessen, mein Herz zu zerteilen?«

Er zog aus dem Ärmel einige Streifen blumengeschmücktes Papier, den Schwur aufzuschreiben. »Sie und ich, wir wollen beide einen Streifen nehmen und ihn bewahren bis zu dem Tag, wo wir unsere treue Liebe enthüllen können.«

Der junge Liang ergriff den Pinsel, schrieb den Eid nieder, die Geister zu Zeugen anrufend. Zuerst schrieb er des Fräuleins Zunamen und Familiennamen, wie auch seinen, dann erwähnte er die Zofen Jünchiang und Pijue.

»Weil wir zuerst beim Schein der Lampe im Haus der Dame Tschiao uns begegnet sind, ich Ihre Spur verfolgte, bis ich hierherkam und alles erschöpfte, Sie endlich von Angesicht zu Angesicht zu sehen, hat gewiß der Himmel seinen Teil daran, daß wir uns heut im Schatten der Blumen wieder begegnet sind. Wenn ich die Treue breche, soll ein Schwert mich durchbohren, so mög ich für immer in die Hölle 298 hinabfahren und nimmer wieder zurückkehren. Und wenn Sie den Eid brechen, mögen Sie in einem Strom das Leben verlieren, oder dem Beil nicht entgehen, das Ihren Leib töten soll!«

Nachdem die beiden nun den Eid unterzeichnet hatten, warfen sie sich aufs Antlitz nieder und opferten den Geistern der Ahnen drei Stangen Weihrauch. Die erste Stange war vom köstlichen Weihrauch Maja; denn sie wünschten, daß der zierliche Pinsel des Jünglings Blumen hervorbringen, daß die Frühlingsprüfung ihm einen berühmten Namen verleihen und er mit einem Gewand, so glänzend wie der Vollmond, zurückkehren möge. Die zweite Stange war von gelbem Korkholz, denn die beiden wünschten, ihre frühere Schönheit wieder zu erhalten, bald miteinander vermählt zu werden und ihre innig vereinten Namen aller Welt zu verkünden. Die dritte Stange opferten sie der Göttin des Monds, auf daß sie ihr ganzes Leben hindurch einander treu bleiben und ihre erste Liebe bewahren, auf daß Berge und Meere, Zeugen ihres Eides, sie vor Unglück schützen mögen.

Als sie hierauf die Verbeugungen vollendet hatten, standen sie zusammen auf und setzten sich bei den Blumen nieder, miteinander zu kosen.

Liang: »Mein Fräulein! als wir uns zum ersten Male begegneten, fing gerade der Frühling an, heut ist der Sommer schon vergangen, der Herbst bricht ein. Ich bitte Sie daher, mich armen Studenten mit ihrer ganzen Fülle zu erleuchten.«

»Wer könnte wohl die hochgelehrten Herren unterrichten oder übertreffen?« erblaßte Jaosien. »Ihre 299 Sklavin ist ein reines, gutes, häusliches Mädchen. Als ich diesen Abend unter den Blumen mit Ihnen den Eid ablegte und dann das Haupt in die Höhe richtete, errötete ich vor der Göttin des Mondes, denn nur nach Ihnen war mein Sinn gerichtet. Da Sie aber Ihrer alten Bücher und Ihrer hellen Lampe vergaßen, da ich fürchtete, daß Sie wegen Ihrer Sklavin sich um Ihr Leben bringen könnten, hab ich den Eid geschworen, Ihr Herz wieder aufzurichten. Möcht ich doch imstande sein, Ihre Wehmut zu verscheuchen.« Der junge Liang wollte sie umarmen; aber die Tränen, die sie vergoß, benetzten ihre seidenen Kleider. Sie senkte das Haupt, seufzte laut auf:

»Ich ermahne Sie, sich zu gedulden; wenn uns das Schicksal günstig ist, werden wir sicher verbunden werden. Welches Unglück sollte auch unsere bei den Blumen geschlossene Verbindung hintertreiben können? Aber Ihre Sklavin ist mit dem Unheil, das die Menschen erreicht, nicht unbekannt! Ich weiß, was geschieht, wenn die Vernunft die Macht des bösen Lebens nicht vernichtet: Von meiner Jugend an haßte ich die unmäßigen, schlechten Weiber von Herzen. Mögen Sie mich töten, ich schwöre, daß ich Ihren Willen nicht erfüllen, sondern festen Herzens warten werde, bis der Frühling mich in die Brautkammer führt.«

Als der junge Liang merkte, Jaosien wolle seinen Bitten nicht willfahren, unterdrückte er den diesbezüglichen Schmerz und setzte sich mit ihr im Schatten der Blumen nieder. Während sie wie Freunde scherzten und lachten, schlug heulend das Gong in 300 der Stadt die fünfte Stunde. Erschreckt sprang Jaosien auf.

Liang: »Ich hoffe, daß Sie mir in Ihrem Gemach die Liebe bewahren und Ihren Eidschwur nicht mit Staub bedecken werden. Wenn Sie mir aber Nachrichten von Ihrem Leben mittels der wilden Gänse zuschicken wollen, werden Sie bewirken, daß ich in meinem verdammten Studierzimmer mich nicht zu ungeduldig nach Ihnen sehne.«

Jaosien zog nun mit großer Mühe ihre Hand zurück: »Ich bin zwischen den roten Toren des Frauensaals aufgewachsen, im seidenen Gemach geboren, ich glaubte wahrhaftig nicht, Liebe könne eines Menschen Herz so hart verwunden. Jetzt aber, da ich von Ihnen Abschied nehme, fang ich an, einzusehen: Schmerz der Trennung ist tiefer als Meer. Ich, ermahne Sie, Ihren Namen berühmt zu machen, damit Sie meinen Eltern das rote Blatt so bald wie möglich zuschicken können. Ach! Wann wird die Zeit kommen, wo wir uns weder um das Krähen des Hahnes, noch um den Gesang der Vögel, noch um das Untergehen der Sonne am Westhimmel zu kümmern brauchen!«

Als nun die eine in ihr seidenes Gemach zurückkehrte und der andere langsamen Schrittes in dem Schatten der Trauerweiden dahinschwand, glichen sie wahrlich den Wasservögeln Jin und Jang, wenn sie von einer stürzenden Woge getrennt werden. 301

 

5
Das Heiratsversprechen auf der Barke

Nachdem Liangs Vater viele Jahre im Staatsdienste gewesen, gedachte er seiner Heimat und kehrte, von Wohltaten des Kaisers beglückt, in seine Besitzungen zurück. Als Lieou, Präsident des Obersten Gerichtshofs, ebenfalls aus dem Kreis Wukiang gebürtig, erfuhr, Herr Liang reise in seine Heimat zurück, wollte auch er nicht mehr im Hofdienst bleiben. Am folgenden Morgen bat er um die Erlaubnis, seine Stelle niederlegen zu dürfen.

Die beiden kauften eine Gondel auf dem Flusse Thsi und eilten ihrem Geburtsort – ihren Familien entgegen. Bei Sonnenuntergang legte das Boot an, und sie unterhielten sich miteinander; aber den langen Tag hindurch griffen sie zusammen zu den goldenen Bechern. Sie liebten und schätzten sich wie Brüder, sie waren an einem Ort geboren.

Als sie eines Tages von ihren Kindern sprachen und Herr Lieou erzählte, er habe eine Tochter, blühend wie der junge Frühling, von durchdringendem Verstand und liebenswürdig von Ansehen, hatte der alte Herr Liang den Einfall, sie zur Frau für seinen Sohn zu verlangen; und da Herr Lieou ebenfalls den jungen Liang schätzte, verlobten sie ihre Kinder auf der Barke. 302

 

6
Wolken

Sobald Liangs Vater an Land gestiegen war, eilte er ins Haus, wo seine Frau ihn lächelnd und jauchzend empfing. Da er jahrelang von ihr getrennt gewesen, bemerkte sie, daß sein Aussehen sich sehr verändert hatte – die Röte seines Antlitzes war verschwunden, sein Haupt weiß geworden.

Als die Mutter nun einen Diener nach Tschangtscheu absenden wollte, den jungen Liang zur Heimkehr einzuladen, sprach der alte Herr lächelnd zu ihr: »Ich hab schon meinem Sohn eine Gattin bestimmt; der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Herr Lieou, hat eine schöne Tochter, die, schon siebzehn Jahre alt, noch keinem Mann versprochen ist; sie heißt Jüking und ist überaus talentvoll. Auf der Barke hab ich ihr meinen Sohn zugesagt.«

Während man nun einen Boten abschickte, den jungen Herrn abzuholen, sandte man einen andern zu Herrn Lieou, ihm das Alter des Jünglings mitzuteilen. Die Unterhändlerin erhielt den Befehl, alles schnell zu besorgen, damit man einen glücklichen Tag wählen und die Hochzeit bald feiern könne.

Als der junge Liang vernommen hatte, daß sein Vater wieder in seiner Heimat angelangt sei, packte er seine Gitarre und seine Bücher zusammen, abzureisen. Er nahm von seiner Tante und seinem Vetter Abschied; ging auch zur Familie Jang, sich dort zu empfehlen. Der General ließ Wein herbeibringen, mit dem Jüngling zu trinken, in der Mitte des Gelags redete er 303 freundlich lächelnd ihn an: »Ich hab Ihnen ein Wort zu sagen, wozu Sie sicher glücklich lachen werden. Wenn Sie zu Ihrem geehrten Vater kommen, sagen Sie ihm doch, daß ich alter Mann eine Tochter von Ihrem Alter habe, und wenn er mich Armen nicht ganz verachtet, ich wohl wünschte, sie mit Ihnen zu verbinden.«

Der junge Liang schnell sich und tief verbeugte und den Auftrag jauchzend vor Lust aufnahm.

 

7
Er nimmt unter Tränen Abschied im Schatten der Trauerweide

Als der Wein ausgetrunken war, empfahl er sich und kehrte in sein Studierzimmer zurück, von wo er dann schnell in den Garten eilte. Es traf sich, daß Pijue zu gleicher Zeit dahinkam. Er näherte sich ihr eiligen Schrittes: »Gestern abend hab ich das Fräulein und euch zwei Mädchen sehr belästigt. Heute schon, da mein Vater den Hof verlassen hat und nach Hause zurückgekehrt ist, komm ich hierher, von Ihrem Fräulein Abschied zu nehmen. Eilen Sie daher in das tiefverborgene Gemach und bestürmen Sie sie, ihre zarten Füßchen hierher in den Schatten der Blumen zu bringen.«

Pijue meldete schnell ihrer Herrin, daß der Jüngling bei den Blumen warte, Abschied zu nehmen, weil er diesen Abend noch an den heimatlichen Strom zurück müsse. 304

Jaosien wurde davon beängstigt. ›Kaum haben wir uns getroffen – und schon will er Abschied nehmen! So will ich denn eine Unterhändlerin suchen lassen, um die Heirat vorzuschlagen!‹

In Begleitung ihrer Dienerinnen Jünchiang und Pijue schnell die zarten Füßchen erhebend, verließ sie das seidene Gemach, trat in den Garten, über schattige und unbeschattete Plätze hinwegeilend.

Liang und Jaosien gingen in den tiefen Schatten der Trauerweiden.

»Wir müssen scheiden! Die heutige Sonne zerstreut uns wie Nebel und Wolken. Denn da mein Vater seine Stelle niedergelegt hat und zu ruhiger Heimat zurückgekehrt ist, muß ich mich jetzt von Ihnen entfernen. Zu bedauern ist das Unglück, daß wir aus verschiedenen Orten sind, während wir doch gleiche Gefühle hegen. Mein Fräulein! möchten Sie doch den glänzenden Edelstein keinem andern versprechen! Als ich vorhin von Ihrem edlen Vater Abschied nahm und mit ihm zechte, versprach er mir, daß ich Sie heiraten soll. Ich will in den nächsten Augenblicken eine Unterhändlerin suchen und um Sie anhalten; meine Verbindung mit Ihnen, mein Fräulein, wird sicher bald ihren Tag und ihre Stunde haben – ach, die seidenen Fäden der Trauerweiden können die Trennung nicht hindern!«

Jaosien: »Ich fürchte, die Dinge waren in einem früheren Leben anders bestimmt, unsere Herzen anders verbunden. Obgleich mein Vater mich Ihnen versprochen hat – noch sind in Ihrem Haus Ihre beiden ehrwürdigen Eltern. Mein lieber Herr, erinnern 305 Sie sich nur immer eines auf Blumenpapier niedergeschriebenen Eidschwurs, damit keiner von uns das Herz des andern belüge. Wenn auch Ihre Eltern nicht tun sollten, was Ihre Sklavin wünscht, so werd ich Sie doch niemals betrügen, niemals einen andern heiraten. Ich wünsche mir nichts mehr als ein Grab nach des Todes rötlicher Dämmerung.«

»Mein Fräulein! Ich hab im Angesicht der Blumen den allwissenden Geistern zugeschworen: wenn ich nicht bis zu meinem hohen Alter mit Ihnen vereinigt bleiben kann, will ich meine Familie verlassen, mein Leben aufs Spiel setzen und Ihre Spur überall aufsuchen. Tot oder lebendig werd ich Ihrer niemals vergessen, ich bin entschlossen, bis über meinen Tod hinaus immer derselbe zu bleiben. Wenn Sie nun von mir scheiden und in Ihr seidenes Gemach zurückkehren, trauern Sie nicht um mich Armseligen, Ihr Blumenantlitz verlierend, in Wehmut vergehend!«

»Ich verbiet Ihrem Geist ebenfalls den Schmerz; wenn der Himmel unsere Verbindung will, wird sie stattfinden an den gelben Sitzen des Ruhmes!«

So trauerten sie Hand in Hand, ohne den Lauf der Zeit zu bemerken, bis unerwartet die Sonne am roten Westhimmel stand, Trauerweiden vergoldend.

Wahrlich! die glänzende Wolke wird leicht zerstreut, die leuchtende Perle leicht zerbrochen, der Schmerz, nach Norden und nach Süden auseinander gerissen zu werden, brach an: Sie hörten die Stimmen mehrerer Menschen, und da es schwer war, unbemerkt fortzukommen, schieden sie schnell. Beim Weggehn wandten sie sich mehrmals um, statt fünf Schritte 306 machten sie immer zehn. Sie hätten am liebsten den Schatten der Bäume vernichtet, da er dem einen die Gestalt der andern barg.

 


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