Albert Ehrenstein
Mörder aus Gerechtigkeit
Albert Ehrenstein

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Munglan

Wu Sung ärgerte sich sehr, lief hungrig die ganze Nacht durch und dachte: Geld will ich nicht ausgeben, wir werden es noch brauchen. Hier in der Gegend kenn ich niemand, was soll ich machen?!

Endlich kroch die Sonne hervor, er lief in der Morgenkühle weiter – noch zwanzig Li. In einer kleinen Weinstube unterwegs trank er ein wenig Wein und aß etwas Reis und Fleisch. Er war schon müd, als er in der Stadt We Tschou ankam. Er schritt die Hauptstraße hinunter und bemerkte irgendwo einen Menschenauflauf. Ohne neugierig zu sein – was in dieser Stadt konnte ihn betreffen? – ließ er sich von dem Trubel gegen den Mittelpunkt des Knäuels treiben, sah achtlos hin: dort stand ein Mann in Waffen, vor dem lagen zum Verkauf Wundermedizinen und Wundverbände, wie sie Jäger und Krieger oft kaufen. Wu Sung erkannte in dem wilden 150 Marktschreier einen alten Kameraden und Nothelfer aus seiner Soldatenzeit: seinen früheren Lehrer im Stockfechten, den tapfern Raufbold Li Kung, und rief ihm zu:

»Mein Lehrer! Schon lange nicht gesehn!«

Li Kung: »Wie kommst du hierher? Warte, bitte, bis ich meine Waren verkauft habe – das ist mein Broterwerb.«

Wu Sung war ungeduldig, und ohne daß er es wollte – unwillkürlich machte er sich mit den Händen und Ellenbogen Platz: alle, die ihm im Weg standen, purzelten auf die Erde oder liefen fort. Li Kung konnte ihm nicht bös sein, denn er wußte, Wu Sung meinte es nicht arg, war nur eben ein temperamentvoller Mensch, der, was er empfand, blindlings zur Tat werden ließ. Li Kung packte seine Arzneien zusammen, übergab sie einem Jungen, der die Waren nach Haus zu tragen hatte, und ging mit Wu Sung fort.

Li Kung sah Wu Sungs sorgenschweres Gesicht und wollte ihn aufheitern: »Du gingst vor längerer Zeit aus unserer Stadt und weißt also nicht, daß neulich eine Sängerin ankam, aus der Osthauptstadt. Ihre Stimme ist ebenso rein wie ihre Schönheit. Sie heißt Pei Siu Ying. Jetzt ist sie im Tee- und Freudenhaus und gibt täglich etwas Neues. Sie singt und tanzt oder singt nur und spielt ein Instrument oder erzählt Geschichten. Die Zuhörer versammeln sich dort wie Berg und Meer. Gehen wir, sie anschauen. Sie ist ein schöner Kopf und ein gutes Herz.«

Wu Sung hatte nichts dagegen und folgte Li Kung. Vor dem Tor des Freudenhauses hingen überaus viele 151 Seidentafeln mit goldenen Inschriften, die – wie auch die zahllosen Fahnen – zeigten, daß es von hohen Gästen oft mit Besuchen beehrt worden war.

Li Kung und Wu Sung traten ein, setzten sich auf den glückbringenden Ehrenplatz: die ersten grünen Drachenstühle, und schauten auf das Podium, wo ein Spaßmacher zu sehen war. Nachher trat ein alter Mann vor, auf seinem Kopf saß eine schwarze Mütze, er trug einen teefarbenen Mantel. In der Hand hielt er einen Fächer und erzählte:

»Alter Mann kommt aus der Osthauptstadt. Mein Name ist Pei Yü Tschang. Ich bin alt und habe nur eine Tochter, die singen, tanzen, blasen und spielen kann. Wir reisen durch die Welt, allen Zuschauern die Langeweile zu vertreiben.«

Das Gong wurde geschlagen, Pei Siu Ying trat hervor. Sie grüßte. Wu Sung kam ihr Gesicht und ihre Gestalt sonderbar bekannt vor, ohne daß er sich genau erinnern konnte, wo er sie gesehen hatte. Das Gong ging ganz leise, bis sie mit einem schmalen, länglichen Taktbrett aus Ebenholz auf den Tisch schlug. Sofort war alles ruhig. Sie sprach ein kurzes Gedicht:

»Neue kleine Vögel zwitschern,
Ihre Hälse sehnen die Eltern zurück;
Alte Mutter ist mager, doch die Jungen sehr dick.
Kleider und Essen erringen,
Fällt uns Menschen zu schwer im Leben.
Oh, hätten wir es so warm wie die fetten
Mandarin-Enten, die sich immer gut betten.« 152

Li Kung und die andern spendeten lautes Lob. Das Mädchen fuhr fort:

»Heut ist auf Siu Yings Plakat deutlich zu lesen der Titel einer bekannten Erzählung. Es ist eine lustige, ja literarische Liebesgeschichte.«

Sie sang zuerst, dann erzählte sie die Ballade. Die Leute fanden kein Ende des Beifalls. Einige Male – wenn sie eine kleine Pause machte – sagte ihr Vater: »Wir brauchen lange nicht so viel Geld, wie nötig ist, ein berühmtes Pferd zu kaufen; aber unsere Kunst muß auch belohnt werden, die klugen Herrschaften werden so viel Einsicht schon haben. Der Beifall der werten Herrschaften ist schon vorbei, geh hinunter.« Auf dem Podium ging Belangloses vor. Pei Siu Ying nahm einen Teller in die Hand:

»Das Geldtor ist oben, der glücklichste Platz ist der oberste. Ich werde beim ersten Platz beginnen. Wenn meine Hand kommt, lassen Sie sie, bitte, nicht leer vorübergehen.«

Der Vater: »Sieh zu, mein liebes Kind; die Zuschauer werden dich schon nicht leer ausgehen lassen, sie werden dir gern etwas schenken.«

Sie ging zuerst zu Li Kung und Wu Sung, die spendeten reichlich. Dann bat sie einen dicken Mann, der neben ihnen saß, um eine Kleinigkeit. Er steckte die Hand in die Tasche, wie um Geld herauszunehmen, zog aber keine Münze hervor, sagte entschuldigend: »Heute hab ich kein Geld bei mir, morgen werd ich Ihnen das Geld zusammen geben.«

Pei Siu Ying naserümpfend: »Wenn einmal Essig nicht sauer genug ist, ist er das zweitemal noch viel 153 dünner! Der Herr sitzt auf dem ersten Platz des grünen Drachen, bitte – seien Sie ein Vorbild für all die andern!«

Der Dicke wurde vor Scham rot und lispelte: »In diesem Augenblick hab ich tatsächlich nichts bei mir, es ist nicht, daß ich geizig bin.«

Pei Siu Ying: »Der Herr kommt, um Gesang zu hören – wie können Sie vergessen, etwas Geld mitzubringen?«

Der Dicke: »Ich geb Ihnen nächstens drei oder fünf Tael Silber, das spielt keine Rolle, aber heute hab ich wirklich mein Geld vergessen.«

Pei Siu Ying: »Der Herr hat heute keine Münze bei sich, da braucht er nicht zu erzählen von drei oder gar fünf Tael Silber. Das ist geradeso, als ob Sie mir von Pflaumen erzählen würden, um meinen Durst zu löschen. Malen Sie schnell einen Kuchen, meinen Hunger zu stillen!«

Ihr Vater rief: »Mein Kind, du hast keine Augen! Siehst du denn nicht, ob es ein Bauernfilz vom Dorf oder einer aus der Stadt ist, warum bittest du so lang? Geh zu den anderen, bitte die Verständigeren zuerst.«

Der Dicke: »Ich bin nicht unverständig!«

Pei Yü Tschang: »Wenn Sie das alles verstehen, werden den Hunden zwei Hörner aus dem Kopf wachsen.«

Die Zuhörer lachten. Der Dicke wurde böse und schimpfte: »Verfluchter Zuhälter! Wie dürfen Sie mich beleidigen?!«

Pei Yü Tschang: »Wenn ich Sie armen Bauern vergleichsweise – den von einem Dreifamiliendörfchen 154 ausbenützten einzigen Ochsen nenne, schadet es auch nicht!«

Einige, die den Dicken kannten, riefen warnend: »Das dürfen Sie nicht sagen, das ist der Freund des mächtigsten Bürgers dieser Stadt!«

Pei Yü Tschang hörte nicht darauf und nannte den Geizkragen ruhig einen Eselskopf. Der Dicke wollte die Schmähungen nicht länger erdulden, sprang von seinem Stuhl auf, lief aufs Podium, packte den alten Mann bei den Haaren, nannte das Mädchen, das sich vergebens dazwischendrängte, eine »Zehntausend Aussätzige liebende wertlose Hündin!« und hätte den Greis noch weiter mißhandelt, wenn nicht Wu Sung die Streitenden auseinander gerissen hätte – sehr unsanft für den Dicken. Während Vater und Tochter ihren Dank zu stammeln versuchten, flüchteten die Zuschauer – um nicht in eine Gerichtsverhandlung als Zeugen hineingezerrt zu werden – aus dem Freudenhaus, das auch Wu Sung und Li Kung rasch verließen.

Sie gingen in eine dem Teehaus benachbarte große Weinstube, die beide von früher her gut kannten. Der Weingeselle fragte, wieviel Wein er bringen dürfe.

»Zwei Flaschen!« befahl Wu Sung, »auch Gemüs und Fleisch.«

Der Bedienende fragte ihn nach genaueren Wünschen, Wu Sungs üble Laune kam zum Vorschein: »Bring, was du da hast und stör uns nicht mit deinen dummen Fragen, ich werd alles zahlen.« 155

Sie begannen sich von ferne höflich über Fechtkunst zu unterhalten, nach und nach ihren wahren Sorgen unmerklich näherrückend, als sie durch heftiges Weinen in ihrer Unterhaltung gestört wurden. Wu Sung wurde darüber zornig und stieß alle Flaschen und Gläser vom Tisch. Der Weingeselle kam bestürzt herbei und fragte, was denn los sei?

»Wie können Sie mich durch so ein Weinen stören lassen, ich zahl alles, gebe gutes Trinkgeld und will mich dafür in Ruh unterhalten können.«

Der Weingeselle: »Bitte, ich habe Sie nicht stören lassen, die da weinen – das ist ein Straßensänger mit seiner Tochter, und die wissen gar nicht, daß Sie hier sind.«

»Holt sie herbei!« schrie Wu Sung und schnitt dem Gebückten weitere Reden ab. Nicht lange, da kam ein junges Mädchen von achtzehn bis zwanzig Jahren und ein alter Mann – es waren die zwei aus dem Teehaus. In der Hand hielt er verlegen irgendein Musikinstrument aus Holz. Beide machten ihre Verbeugungen. Das junge Mädchen sprach, zu Wu Sung gewandt:

»Entschuldigen Sie, hoher Herr, wenn wir Undankbaren wieder unseren Retter stören – aber lassen Sie sich unsere Geschichte erzählen. Die arme Eselin heißt ursprünglich Munglan – Sie stutzen über diesen unbescheidenen Namen – aber am Abend, als ich Unglückliche das trübe Licht dieser Scheinwelt erblickte, träumte mein Vater, der alte Magister Jao, und in seinem Traum schien es ihm, als sähe er in einem leeren Tal eine schattige Gynandria wachsen. 156 So kam es, daß er seiner Tochter den anspruchsvollen Namen Munglan gab – Traum von einer Gynandria. Mein Vater starb früh vor Hunger. Weil meiner Mutter reicher Bruder uns nichts zu essen geben wollte, hängte Vater sich in einer Neujahrsnacht vor der Tür des geizigen Verwandten auf. Sie stutzen? Das befremdet Sie? Aber, ach, auch meine beiden Brüder waren bereits lang vorher davongelaufen, weil sie das Elendleben zu Hause nicht mehr ertragen konnten – wir haben nie wieder was von ihnen gehört. Entschuldigen Sie, hoher Herr, wenn ich Sie mit meinem belanglosen Schicksal behellige – aber es hat noch kein gutes Ende. Frau Fang, meine ehrwürdige Mutter, wurde krank, erblindete, und da sie sich in ihrem langen Siechtum keine Arzneien und keinen Arzt gönnen konnte, verkaufte sie mich auf meine flehentliche Bitte endlich an diesen braven alten Mann, meinen Ziehvater, der mich in den leichten, mir aber sehr schweren Künsten unterrichtete. Mit dem Geld wollte ich meiner kranken, blinden Mutter die gehörige Pflege verschaffen; aber eh es etwas nützte, starb sie, und da auch mein Ziehvater nichts mehr hatte, verkauft ich mich weiter: für einen Sarg. Das war mein Frühlingsgelächter. Wir kommen aus der Osthauptstadt, ich wollt allenthalben und auch hier meinen reichen Verwandten Wang Kai Wei suchen; der gab uns zwar früher nichts, aber vielleicht half er jetzt einem jungen Mädchen, das nichts Böses getan hat, aus diesem mangelhaften Leben. Leider wohnt der Verwandte hier. Infolge des Selbstmords meines Vaters nahm man ihm seine 157 hohe Würde, er mußte fliehen, und lebt nun hier als reicher Schlächter unter dem Namen Tschêng. Man nennt ihn auch mit einem Spitznamen den ›Beschützer der Stadt Kuan Si‹. Rachsüchtig zwang er mich auf sein Kopfkissen, ich mußte seine Geliebte werden und außer Liebe ihm eine Bescheinigung geben, daß ich als seine Nebenfrau einen Kaufpreis von dreitausend Geldstücken von ihm erhalten hätte – was aber gar nicht wahr ist. Nun, nach drei Monaten, wurde seine Frau plötzlich oder angeblich eifersüchtig, und er warf mich aus seinem Haus und brachte mich in ein elendes Gastwohnhaus. Obendrein verlangt er von mir die dreitausend Geldstücke zurück, die er mir gar nicht gegeben hat; da wir sie nicht hatten, prügelt er uns. Arme Leute können keine Richter bezahlen. Wir gehen also täglich singen und versuchen, so das nie erhaltene Geld abzuzahlen. Wir gingen sogar in die Freudenhäuser singen. In den letzten Tagen hatten wir geringe Einnahmen, obwohl man uns hier liebt – man mißgönnt dem Blutsauger Tschêng das uns abgepreßte Geld. Heut abend traf uns das Mißgeschick, dem dicken Herrn, der nicht zahlen wollte, zu mißfallen – er ist zum Unglück der Geschäftsfreund des Tschêng. Infolge des Tumults gab's keine Einnahme – nichts abzuliefern! Da packte uns Verzweiflung, und wir mußten endlich weinen über unser trostloses Schicksal. Entschuldigen Sie uns, bitte; wenn wir weinten, war es gewiß nicht unsere Absicht, Sie damit zu stören.«

Wu Sung hatte sie längst erkannt. Gewiß, es war seine Schwester Munglan, die er zum letztenmal gesehen 158 hatte, als er aus dem Haus lief – da war sie ein Kind von acht Jahren gewesen. Aber trotzdem ihm Tränen der Wut salzig über die Lippen liefen, im letzten Augenblick biß er die Zähne hart zusammen. Er mußte froh sein, daß sie seinen Namen nicht zufällig vor Li Kung genannt hatte; da er ihr jetzt nur wenig zu helfen vermochte, durfte er sich nicht zu erkennen geben. Er durfte sie nicht auch noch mit seinem schweren Schicksal belasten, er hatte kein Heim mehr, kein Dach für seine arme, kleine Schwester; von Räubern eines Schatzes und seines guten Namens beraubt, hatte er auch noch seinen älteren Bruder mit ins Unglück gestürzt und vielleicht schon morgen in die Hauslosigkeit mitgerissen. Vielleicht, daß sie sich bald einmal in besseren Tagen alle drei in der Osthauptstadt treffen konnten, glückselig zusammenlebend. Vorläufig galt es, sich zu beherrschen und das grimmige Unglück zu meistern. Wu Sung wandte sich mühsam von Munglan ab zu dem alten Mann:

»Wir sind nur Weintrinker. Das alles geht uns nichts an. Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Wer und was ist denn dieser Beschützer der Stadt Kuan Si, und wo ist er zu treffen?«

Der alte Mann stotterte: »Meinen Künstlernamen kennen Sie, mein Familienname ist King. Der Tschêng wohnt unter der großen Brücke, ist ein Schlächter, aber weil man vor seiner Gewalttätigkeit Angst hat, nennt man ihn höflich ›Beschützer der Stadt Kuan Si‹. Wir wohnen vor dem Osttor in einer kleinen Herberge.«

»Pfui«, spie Wu Sung aus, »ich dachte, der Herr 159 Tschêng wäre wenigstens ein gebildeter Mann; doch er ist ein Schlächter, ein fetter Lump!«

Li Kung: »Er hat das hiesige Militär gebeten, hier ein Fleischgeschäft eröffnen zu dürfen. Na, jetzt möcht der Kerl eine arme Sängerin um ihr Gewicht betrügen und mit ihrem Fleisch Geschäfte machen!«

Wu Sung: »Wartet ihr drei hier, ich werde gehen und diesen Fleischer ein wenig totschlagen!«

Die drei hielten ihn fest und versuchten, den Wutübermannten zu beschwichtigen. »Komm her, alter Mann«, beruhigte sich endlich Wu Sung, »ich gebe dir Reisegeld, willst du morgen in die Osthauptstadt zurückfahren?«

Ziehvater und Tochter dankten herzlich: »Aber unser Wirt wird uns nicht fortlassen, denn Herr Tschêng wird Geld von ihm verlangen«, meinten beide.

Wu Sung: »Das macht nichts, ich werde das alles erledigen.«

Er zog aus seiner Tasche zehn Taels, legte sie auf den Tisch und bat Li Kung, ihm etwas Geld bis morgen zu borgen.

»Oh, ich gebe das andere«, sagte Li Kung, kramte in seinen Taschen und brachte mit Müh und Not zwei Taels hervor.

»Geizkragen!« schnauzte Wu Sung ihn an. »Wirst du die Blutprobe besser bestehen? Die Geldprobe hast du schlecht bestanden!« Dann riet er dem Alten: »Nimm diese zwölf Taels als Reisegeld und packt eure Sachen zusammen. Morgen früh komm ich zu euch, dann wollen wir sehen, ob euer Wirt euch fortläßt.« Die zwei dankten ihm und gingen froh nach Haus. 160 Dann gab Wu Sung dem Li Kung die zwei Taels zurück. Sie aßen und tranken, bis Li Kung aufstand und dem Wirt zurief: »Ich zahle morgen!«

»Macht nichts, macht nichts!« stöhnte der Wirt. Vor der Tür nahmen sie Abschied voneinander, jeder ging seines Weges, Wu Sung in eine Herberge – sehr niedergeschlagen. Er aß nicht, ging gleich zu Bett. Er sah so merkwürdig drein, daß sich sein Wirt fürchtete, ihn irgendwas zu fragen.

Kaum der alte King das Reisegeld in Empfang genommen hatte, mietete er einen Pferdewagen, der am andern Morgen etwas weiter weg vom Osttor auf sie warten sollte. Am Abend noch packten sie ihre Sachen zusammen, zahlten die Miete. Am nächsten Morgen standen Ziehvater und Tochter früh auf und sahen schon Hauptmann Wu Sung mit großen Schritten auf ihre Herberge zukommen.

»Wo wohnt Herr King?« fragte Wu Sung einen Diener. Der lief gleich zu King und meldete, Besuch komme.

»Kommen Sie, bitte, herein, Herr Offizier!« bat der Alte.

»Was heißt hereinkommen!« polterte Wu Sung. »Nehmt sofort eure Sachen und kommt heraus.«

Sie nahmen ihre Paketchen und wollten die Herberge verlassen. Aber der Wirt erklärte: »Die dürfen nicht fort!«

»Haben sie Schulden und wieviel?« fragte Wu Sung.

Wirt: »Die Schulden hier sind alle bezahlt, aber Herrn Tschêng müssen sie noch zahlen, und wenn sie weglaufen, muß ich es bezahlen!« 161

In Wu Sung stieg Zorn hoch: »Gib das Herrn Tschêng«, schrie er den Wirt an und schenkte ihm eine Ohrfeige, daß Blut aus Mund und Nase rann; einige Zähne fielen heraus, andere klapperten im Mund. Der Wirt erhob sich mühsam und lief, so schnell er konnte, ins Geschäftszimmer zurück – wagte sich nicht mehr hervor. Dann stiegen der alte King und Munglan in den bestellten Wagen, dankten nochmals und fuhren fort. Wu Sung setzte sich vor das Herbergstor, auf einen Sessel – gab acht, daß niemand den beiden nachlief. Nach zwei Stunden erhob er sich und ging zu Tschêng unter die Brücke. Schlächter Tschêng hatte in seinem Geschäft zwei große Schaufenster; drinnen und vor der Tür hing das Fleisch. Er selbst saß an der Kasse und beaufsichtigte seine Gesellen. Wu Sung blieb vor der Tür stehen und rief: »Schlächter Tschêng!«

Der schaute hinaus und dienerte. »Jawohl, werter Herr, was steht zu Ihren Diensten?«

Ein Geselle mußte einen Stuhl bringen, Tschêng lud Wu Sung ein, sich niederzusetzen.

Wu Sung: »Der Marschall verlangt zehn Pfund mageres Fleisch, kein bißchen Fett darf dransitzen.«

Tschêng befahl seinen Gesellen, das Magerfleisch zu schneiden, wie gewünscht.

»Nein!« rief Wu Sung, »der Geselle hat doch keine saubern Hände, machen Sie es selbst.«

Tschêng schnitt das Fleisch und packte es gut ein. Darauf befahl Wu Sung: »Noch zehn Pfund Fett, ohne daß etwas Mageres dransitzt!« 162 Schlächter Tschêng fragte verwundert: »Das wird wohl zu etwas Besonderem gebraucht?«

Wu Sung: »Was geht das Sie an, fragen Sie nicht, tun Sie, wie befohlen!«

Mittlerweile war der geprügelte Herbergswirt mühsam herbeigehumpelt. Einen großen Verband um den Kopf, wollte er Tschêng das Vorgefallene erzählen – als er Wu Sung erblickte. Er versteckte sich schnell hinter einer Haustür und guckte, vorsichtig spähend, hervor, ob Wu Sung bald fortginge. Tschêng hatte jedes Stückchen Fleisch abgetrennt und packte schon Wu Sung das saubere Fett ein.

»Noch zehn Pfund Knochen wünsch ich – ohne Fleisch, ohne Fett, nur reine Knochen«, befahl Wu Sung.

Die Gesellen saßen auf ihren Stühlen und hatten nichts zu tun, aber dem Meister Tschêng lief der Schweiß von der Arbeit über die Stirn.

»Sie wollen wohl einen dummen Scherz mit mir treiben, wie kann ich Ihnen Knochen ohne Fleisch geben?!«

Wu Sung warf ihm statt jeder Antwort das Paket mit dem blutigen Fleisch so wuchtig ins Gesicht, daß Tschêng taumelte.

»Was?!« brüllte der Schlächtermeister Tschêng, riß ein Beil vom Klotz, damit auf Wu Sung los.

Der aber stand bereits in der Mitte der Straße, wo er den Angriff Tschêngs erwartete. Der Herbergswirt im Versteck riß den kranken Mund torweit auf – sprachlos vor Schmerz und Schreck.

Tschêng wollte Wu Sung mit der linken Hand 163 festhalten und mit der beilbewehrten Rechten auf ihn losschlagen, als Wu Sung ihm durch seine Schnelligkeit zuvorkam, mit der einen Hand des Schlächters Arm festhielt und ihm den Fuß in den Leib stieß. Tschêng fiel vor Schmerz um, das Beil entsank seiner Hand. Wu Sung trat ihm mit dem Fuß auf die Brust, mit beiden Fäusten schlug er ihn ins Gesicht, wie Hagel niederprasselt, und brüllte:

»Als ich armer Soldat noch dem alten Marschall diente, hat er alle Räuber und Feinde in die Flucht getrieben, so ist er wirklich der Beschützer der Stadt Kuan Si. Wie kannst du wagen, dich so zu nennen?! Du bist ein Schlächter, aber du bist auch ein Vampir! Deine Nichte, eine arme Sängerin saugst du aus, und meinen Vater, den armen Magister Jao hast du getötet!«

Seine Faust fiel mit solcher Wucht auf Tschêngs blutige Nase, daß die gleich schief wurde. Schlachter Tschêng schrie: »Gut! Sie schlagen sehr gut! Hören Sie nur ein wenig auf, lieber Neffe!«

Wu Sung in seiner rachsüchtigen Wut wußte nicht, daß seine Faust so hart war wie Stein und Tschêng nicht mehr atmen konnte. Als er das endlich bemerkte, bekam er Angst, dachte: ›Ich habe hier niemand. Wer soll mich im Gefängnis pflegen? Denn wenn Tschêng tot ist, werd ich eingesperrt. Am besten: ich fliehe!‹

Er rief dem regungslos daliegenden Schlächter zu: »He! Sie tun so, als ob Sie ohnmächtig wären. Ich gehe jetzt essen. Aber wenn ich wiederkomme, dann bekommen Sie noch so eine Tracht Prügel.« 164

Er richtete sich auf, ging mit großen Schritten in seine Herberge, packte seine paar Sachen zusammen – verließ schleunigst die Stadt.

Die Familie und die Gesellen Tschêngs und auch der verprügelte Wirt bemühten sich um den besinnungslosen Schlächter; aber sogar der Arzt konnte nach halbtägigen Bemühungen einwandfrei nur den Tod feststellen.

Nun gingen Tschêngs Familie und Nachbarn zum Amt mit der Anzeige, Offizier Wu Sung habe den Schlächter Tschêng grundlos totgeschlagen. Bei den Beamten war aber bereits Li Kung ihnen zuvorgekommen und hatte durch milde Geldspenden Verschleppung und zarte Behandlung der Sache erreicht. Der Gerichtsbeamte nahm die Anzeige zwar entgegen, aber er knurrte widerwillig: »Ich kann ihn nicht gleich festnehmen, weil er zum Militär gehört.«

Erst einen Tag nach dem Totschlag wurden Gerichtsbeamte ausgesandt, Wu Sung zu verhaften. Als sie endlich in die Herberge eindrangen, jammerte der Wirt: »Offizier Wu Sung ist eben vor einem halben Tag fortgegangen mit Stock und Schwert und wenigen Sachen. Ich habe gedacht, er hätte einen Marschbefehl irgendwohin erhalten und ihn nicht weiter zu fragen gewagt.«

Die Beamten erbrachen die Tür des Zimmers – fanden natürlich nichts. Sie suchten gewissenhaft einkehrend alle Kneipen, Weinstuben, Tee- und Freuhäuser ab, wohin sonst Offiziere zu gehen pflegten; nirgends Spuren – niemand hatte ihn gesehen.

Die Gerichtsbeamten schleppten schließlich den Wirt 165 zum Amt; es wurden Steckbriefe erlassen, mit einer Beschreibung des Totschlägers Wu Sung. Wer so mutig war, ihn festzunehmen, sollte tausend Geldstücke bekommen. Die Leiche des Schlächters ward auf Staatskosten untersucht und verscharrt.

 


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