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Zwölftes Capitel.
Ein Kuß.

Belinda fand, als sie das Hotel »Isabella« erreichte, ihre Stiefmutter allein. Sie war in den reizendsten, jugendlichsten Morgenanzug von Mousselin gehüllt und trug auf der Höhe ihres blonden Lockengebäudes ein bezauberndes Nichts von Spitzen, welches ein Häubchen, das Zeichen ihrer Wittwenschaft, bedeuten sollte.

»Belinda, Du allein, ohne Mr. Jones? Nun, im Grunde ist mir das eine rechte Erleichterung, denn ich bin wirklich zu angegriffen und elend, um die Gegenwart eines Mannes zu ertragen. Denke Dir, liebes Kind, in welcher peinlichen Erwartung ich mich befinde! Oberst Drewe ist angekommen und wohnt hier im Hotel.«

Keine von Rose's Lieblings-Attituden stand ihr so gut zu Gesicht, als die schüchterner, mädchenhafter Erregung. In dem weißen, jugendlichen Gewande, ein mit echten Valenciennes besetztes Stückchen Battist an die Lippen drückend, sah sie – selbstverständlich im halben Lichte und vom rechten Standpunkte aus betrachtet, wie ja jedes echte Kunstwerk es verlangt – nicht älter aus, als zweiundzwanzig Jahre.

»Es scheint, daß er gestern mit dem letzten Zuge angekommen ist,« fuhr sie fort, »aber ich habe sein Hiersein erst diesen Morgen erfahren. Der arme Mensch machte im Hofe Bekanntschaft mit Spencer und fragte sie aus; und – o, Belinda, ich glaube, die Dinge liegen schlimmer, als ich ahnte! Spencer sagte mir, seine Augen hätten Feuer gesprüht, als sie ihm mittheilte, daß Capitän Tempel hier ist. Es soll schrecklich gewesen sein.«

»Dann trifft sich's ja sehr glücklich, daß Du ihm heute aus dem Wege gehen kannst, Rose. Voriges Jahr wohnte hier im Hause eine schöne spanische Herzogin, und ehe die Saison vorüber war, hatten um ihretwillen sechs Duelle stattgefunden Wir wollen hoffen, daß es Oberst Drewe gelungen ist, seinen Zorn zu bändigen, ehe Du heute Abend zurückkommst.«

Mrs. O'Shea betrachtete einige Minuten schweigend das Muster der Spitzen an ihrem Taschentuche.

»Die Pflicht, welche mir obliegt, ist eine recht schwere,« seufzte sie endlich, ihre Augen mit sanftem und zugleich schmerzvollem Ausdruck zur Decke des Zimmers erhebend. »Ich hoffe, daß ich recht that, als ich einwilligte, meinen armen Roger zu heiraten. Ich hoffe es und glaube es. Eine Zurückweisung von mir würde Roger Tempel seines ganzen moralischen Haltes beraubt haben. Aber ich darf auch nicht vergessen, daß es noch andere, vielleicht ältere Anrechte giebt … Du sprachst vorhin scherzweise über Duelle, Belinda. Du weißt nicht, wie durchaus nöthig es mir ist, Oberst Drewe sobald als möglich und allein zu sehen. Wie oft haben in ähnlichen Fällen ehrenhafte Männer das Leben lassen müssen, weil es den Frauen an der nöthigen Umsicht fehlte,« setzte Rose feierlich hinzu.

»Aber wo bleibt er denn, Rose? Wo steckt denn dieser feuersprühende Oberst Drewe? Du mußt Dich beeilen, wenn Du ihn vor unserer Abfahrt noch sprechen willst. Es ist Zeit, Dich anzuziehen.«

»Ach, da liegt eben die Schwierigkeit, liebes Kind. Darf ich mich heute überhaupt entfernen?«

Und dann Belinda näher zu sich ziehend und ihre Stimme zu einem leisen Flüstern dämpfend, entfaltete Rose eine ganze Reihenfolge kleiner macchiavellistischer Pläne, durch welche sie alle Betheiligten den Tag über zu täuschen und hinzuhalten hoffte. Zunächst wollte sie Roger sagen, daß sie an Kopfweh leide und daß die Partie nach Spanien ohne sie gemacht werden müsse. Dann sollte Oberst Drewe empfangen werden. Das heißt, gleich sollte er nicht empfangen werden, sondern Spencer sollte ihn erst eine Weile von dem leidenden Zustand ihrer Gebieterin unterhalten, bis seine weicheren, zarteren Gefühle gehörig geweckt waren.

»Und dann,« fügte Rose hinzu, »dann werde ich mich bemühen, ihm die Dinge in einem Lichte darzustellen, das seine Eitelkeit so wenig als möglich verletzt. Glücklicherweise ist meine Verlobung bis jetzt nicht veröffentlicht worden, und ich weiß, daß ich ihm, wenn wir allein sind, mancherlei sagen kann, was ihm diesen harten Schlag verschmerzen hilft. Der arme, arme Stanley! Wenn ich ihn nur bereden könnte, mit dem Abendzuge ruhig nach England zurückzukehren! Roger würde dann von diesem Besuche nicht mehr erfahren, als ich ihm mitzutheilen für gut finde – und –«

»Und Du wirst nicht mehr als eine, zwei, drei Unwahrheiten gesagt haben!« fiel Belinda ein, indem sie bei der Aufzählung die Finger zu Hilfe nahm. »Drei große und ein Dutzend kleiner nebenbei. Wozu willst Du Kopfweh vorschützen? Warum Beide täuschen und hintergehn, anstatt offen und gerade zu handeln und dann den Dingen ihren Lauf zu lassen?«

»Wenn Du erst einige Jahre älter bist, Kind wenn Du erst unter der Eifersucht der Männer gelitten hast, wie ich, dann wirst Du einsehen, daß mit dem ›offen und gerade handeln,‹ wie Du es nennst, nicht viel auszurichten ist,« entgegnete Rose. »Die Männer wollen getäuscht sein, wenn man ihnen damit unangenehme Dinge und Augenblicke ersparen kann, und diejenige Frau, welche es versteht, sie in anmuthiger Weise – merke wohl, ich sage in anmuthiger Weise – hinter's Licht zu führen, erscheint ihnen immer als die liebenswürdigste.«

Rose sprach damit ihre innerste Ueberzeugung aus, und wenn man sich in Momenten cynischer Stimmung im Kreise der Bekannten umsieht, könnte man wirklich meinen, daß ihren einfältigen Lippen diesmal ein Wort der tiefsten Weisheit entfallen wäre.

An der Thüre des Hotels traf Belinda mit Roger zusammen, welcher sich, leider mit geringem Erfolg, bemühte, besorgt auszusehen, während Spencer ihm von Rose's Kopfweh berichtete.

Spencer war eine charakteristische Figur; eine halbverwelkte Blondine, welche sehr reichlichen Gebrauch von billigen Schönheitsmitteln machte, und so affectirt und coquett wie manche wirklich vornehme Dame. Sie war eine schlechte Copie ihrer Gebieterin, aber doch eine Copie von großer Aehnlichkeit. Wie oft könnten sich die Damen der guten Gesellschaft überhaupt in ihren Zofen spiegeln, wenn es ihnen dazu nicht an gesundem Menschenverstande gebräche!

Spencer warf Roger unter ihren gemalten Augenlidern hervor schmachtende Blicke zu, zog ihren Mund in Formen, die er von Natur nicht besaß und fabricirte Dutzende von unnöthigen, großen und kleinen Lügen, wo Rose ihr nur eine oder zwei harmlose Unwahrheiten aufgetragen hatte.

Während sich diese kleine Comödie an der Thür des Hotels abspann, trat ein großer Mann von militärischem Anstande lauschend an das mit Jasmin und Weinranken umzogene Fenster des Speisesaales.

Sein ganzes Aussehen trug das nicht zu verkennende Gepräge eines Menschen, dem das Schicksal übel mitgespielt hat. Jedenfalls mußte Oberst Drewe in der letzten Zeit viele Unfälle und allerlei Mißgeschick erlebt haben. Der Mann schien unruhig, wurde roth, heftete einen langen Blick auf das hübsche, unbefangene Gesicht seines Rivalen, dann trat er zurück, fuhr aber – wir müssen es gestehen – trotz aller militärischen Ehrbegriffe fort, zu horchen.

»Rose kann uns also nicht begleiten?« fragte Roger.

»Rose! Er nennt sie Rose!« Der unsichtbare Lauscher zog sein Taschentuch und trocknete sich die Stirn.

»Was sollen wir thun, Belinda. Wollen wir die Partie auf einen andern Tag verlegen?«

»Mrs. O'Shea läßt Sie bitten, das auf keinen Fall zu thun, Capitän Tempel;« sagte Spencer. »Es ist nur einer jener kleinen Anfälle von Migräne, die Sie ja kennen.«

»Ah, die er kennt, wirklich?« dachte der Mann hinter den Wein- und Jasminranken.

»Ich fürchte, Mrs. O'Shea war gestern Abend zu lange mit Ihnen im Freien, Capitän Tempel;« fuhr die Zofe fort. »Sie beklagte sich schon über Kopfweh, ehe sie sich zur Ruhe legte.«.

Roger gab sich abermals Mühe, betrübt auszusehen, ohne daß es ihm recht gelingen wollte.

»Wenn Rose es ausdrücklich wünscht, daß wir gehen sollen, Belinda – Rose ist so selbstlos und möchte Andere nicht in ihrem Vergnügen stören! – so ist's am Ende am besten, wir thun wie sie wünscht;« sagte Roger. »Wir bilden eine ganz nette kleine Gesellschaft, Sie, Miß Burke und ich –«

»Und Mr. Jones,« setzte Belinda hinzu. (Warum fuhr Oberst Drewe beim Klange dieser jungen Stimme so zusammen?) »Vergessen Sie nicht, daß Mr. Jones von seiner Gebirgstour zurück ist.«

»Mr. Jones? Ach ja, Mr. Jones« – sagte Roger in gänzlich verändertem Tone. »Wenn ich mir die Sache genauer überlege, habe ich doch vielleicht nicht den Muth, die Partie zu unternehmen. Wenn mich Miß Burke allein zwischen den Ruinen hätte, könnte sie mir wieder einen Vortrag über das Wahlrecht der Frauen halten, und ich wäre vielleicht, ehe ich wüßte wie mir geschehe, zur Theorie der Frau der Zukunft bekehrt. Es ist doch wohl sicherer, daß ich mich nicht in diese Gefahr stürze.«

Belinda wendete sich mit einer kurzen Bewegung von ihm ab.

»So amusiren Sie sich, so gut Sie können auf eigene Hand, Capitän Tempel!« rief sie über ihre Schulter zurück. »Mr. Jones geht gar nicht mit nach Spanien, sondern befindet sich in einer Stunde auf dem Wege nach England. Miß Burke und ich werden ganz allein einen recht belehrenden Spaziergang machen. Leben Sie wohl! Ich habe keinen Augenblick mehr zu verlieren.«

Damit hüpfte die schlanke, leichte Gestalt zum Hofe hinaus – aber sie hatte noch kein Dutzend Schritte zurückgelegt, so hatte Roger Tempel sie eingeholt und befand sich auf dem Wege nach Spanien. Sein Schrecken vor Miß Burke und ihren Lehren schien plötzlich verschwunden.

Spencer sah den Beiden neugierig nach.

Wären auch alle Menschen einem Liebeshandel gegenüber blind – einer Kammerzofe bleibt dergleichen nicht lange verborgen. Spencer sah ihnen nach und stellte ihre eigenen Betrachtungen an über das künftige Glück Capitän Tempel's und ihrer Gebieterin.

Auch der Unbekannte folgte ihnen aus seinem Versteck von Weinreben und Jasmin mit den Blicken.

 

Wir erwähnten schon, daß der Tag ein hoher baskischer Festtag war. Die Landleute von fern und nah hatten sich in St. Jean de Luz zusammen gefunden und nur mit Mühe bahnten sich Belinda und Roger einen Weg durch die engen Gassen. Auf einem freien Platze an der Hauptstraße des Städtchens war das volksthümliche Ballspiel im vollen Gange. Die Partie bestand aus den besten Spielern von beiden Seiten der Grenze und die Zuschauer fingen bereits an, bei jeder unerwarteten Wendung des Spieles in Feuer und Eifer zu gerathen.

Etwa fünfzig Schritte davon wurde ein Bauer- oder Schäferspiel aufgeführt. Die Bühne war vor einer der ärmlichern Schänken von rohen Brettern aufgezimmert, die man auf leere Weinfässer gelegt hatte. Um die nächste Straßenecke bog eine Procession von Priestern und singenden Knaben, welche die Sacramente von Kirche zu Kirche trugen. Ueberall schlug man das Tambourin, überall tanzte und trank man.

Belinda fühlte sich wie in einem Traume befangen – aber es war kein schmerzliches Träumen mehr. Ihre Kindheit war freilich zerstört für immer – und alles Gold der Zukunft war für Rose, nicht für sie. Aber jetzt war Roger bei ihr, nicht bei Rose. Der Ausflug nach Spanien dauerte gewiß sieben bis acht Stunden – und diese sieben bis acht Stunden konnte sie von ihrem spätern Leben, das sie getrennt von ihm zubringen sollte, abrechnen! Ihre Hand lag auf Roger's Arm; er behauptete, sie bedürfe seiner Hilfe, um sich durch das Gedränge zur arbeiten. Seine Augen sagten ihr, daß er sie schön fand, und ihr thörichtes Herz klopfte vor Vergnügen und sie bedurfte nichts auf der ganzen, weiten Erde, als was der Moment ihr bot.

Auf dem Bahnhofe wurden sie von der Schicklichkeit in Gestalt von Miß Burke eingeholt. Sie nahmen Billets nach Hendaye, der letzten Station diesseits der Grenze, und eine Viertelstunde später wandelten sie in der glühendsten Sonnenhitze nach den Ufern der Bidassoa hinab. Hier wollten sie, dem Rath von Murray's Handbuch folgend, ein Boot nach Fontarabia nehmen, das, dem Anschein nach in der Entfernung eines Steinwurfes, drüben über der glitzernden Schlammfläche des Hafens lag. Aber der Mensch und Murray denkt, – das Schicksal lenkt!

Die drei Reisegefährten stiegen in eins der schwerfälligen Boote mit flachem Kiel, welche zwischen Frankreich und Spanien herüber und hinüber fahren. Die rothhemdigen Bootsleute versicherten in einem nur Belinda verständlichen Dialekt, daß die Fluth noch hoch genug stehe, um die Gesellschaft sofort nach Fontarabia zu bringen, aber schon auf halbem Wege saß das Boot im Schlamme fest. Die Bootsleute versuchten das Fahrzeug durch Schieben und Stoßen wieder flott zu machen, aber vergeblich. Sie schwuren, fluchten und lachten endlich – und wenn der Spanier lacht, so bedeutet das nichts Gutes.

»Was ist nun zu thun?«

Wenn die Excellenzies es durchaus wissen wollen, so ist Folgendes zu thun. Entweder sie bleiben drei kleine Viertelstunden wo sie sind und gehen dann auf eigenen Füßen an's Land, oder sie lassen sich gleich jetzt von den Bootsleuten hinübertragen, oder sie warten, wenn sie Zeit dazu haben, denn es wird mehrere Stunden dauern, auf die Rückkehr der Fluth. Die Excellenzies wollen nur die Gnade haben, zu befehlen, was geschehen soll. Einstweilen zieht jeder der Bootsleute eine kleine Rolle Papier aus der Tasche und beginnt mit der vornehmsten Gelassenheit seine Mittags-Cigarrette zu drehen.

»Ich stimme dafür, uns sogleich an's Ufer tragen zu lassen!« rief Belinda. »Die Schicklichkeit, Miß Burke? Was geht uns die an! Mir ist's lieber, eine Unschicklichkeit zu begehen, als den Sonnenstich zu bekommen.«

»Und ich,« sagte Miß Burke, »ich würde lieber umkommen, als daß mich die Arme eines solchen Mannes, überhaupt irgend eines Mannes, umfaßten. Ich werde dies Boot, so lange ich lebe, nur auf meinen eigenen Füßen verlassen.«

Es war unmöglich, sie nur um eines Haares Breite von diesem Vorsatze abzubringen. Sie erklärte, warten zu wollen, bis die zunehmende Ebbe ihr erlauben würde, selbst durch den Schmutz an's Land zu waten; sie war fest entschlossen zu warten, und wenn es bis in die Nacht hinein dauern sollte; sogar die Sonnenhitze konnte sie zu keinem andern Entschlusse vermögen, – denn die Arme eines Mannes, selbst wenn es die eines Bootsmannes in rothen Aermeln waren – sollten die Frau der Zukunft nicht entweihen.

»Nun, wenn das wirklich Ihr fester Wille ist,« sagte Roger hinterlistig, »wenn wir Sie durchaus nicht bestimmen können, Ihren Entschluß zu ändern, Miß Burke, so ist's vielleicht am besten, wenn wir Beiden, Belinda und ich, uns an's Land begeben, uns nach einem Hotel umsehen, das Mittagessen bestellen u. s. w. Sie werden dadurch später mehr Zeit gewinnen, Fontarabia zu sehen und« –

»Lassen Sie mich nur allein, Sir,« entgegnete Miß Burke streng und würdevoll, indem sie ihren Sonnenschirm aufspannte. »Es bedarf gar keiner Complimente. Miß O'Shea, ich muß Sie bitten, bei Ihren Plänen für heute von mir ganz und gar abzusehen. Was, die Bootsleute bezahlen? Nein, ich danke!« (Roger hatte, befangen in seinen altmodischen Vorurtheilen über die Hilflosigkeit der Frauen, die verzeihliche Schwäche begangen, seine Börse zu ziehen.) »Ich werde die Rechnung mit den Leuten in's Reine bringen, wenn sie ihre Verpflichtungen erfüllt haben, wenn ich mich unversehrt auf festem Boden befinde – nicht eher.«

Und dabei blieb es. Einer der Männer hob Belinda aus dem Boote, so leicht, wie ein Kind etwa ein Kätzchen aufhebt, und trug sie durch das seichte Wasser. Capitän Tempel vertraute sich den starken Schultern des Andern an, und wenige Minuten später standen sie auf spanischem Boden und waren allein.

»Und nun, Señora Lagrimas, möchte ich wissen, was uns Beide hindern könnte, nach der Alhambra zu gehen?« sagte Roger.

Die Frage wurde im Scherz gestellt, unglücklicherweise aber begegneten Belinda's Augen in dem Momente denen Roger's mit einem langen, traurigen, sehnsuchtsvollen Blicke – dann senkten sie sich verlegen zu Boden, und damit war Alles gesagt.

 

Von hundert Fällen pflegt es in neunundneunzig so zu gehen, daß die unwillkürliche Beredtsamkeit des Blickes, des Tones oder der Berührung dem besonneneren Worte vorauseilt und der darauf folgende Moment, mag er Monate oder Minuten dauern, ist sicherlich der schönste im ganzen Kalender der Liebe, besonders einer Liebe, der es nicht beschieden ist, ihr Ziel auf Erden zu erreichen; die nichts hat, als die Gegenwart. Fast in jeder andern Lage des Lebens schauen wir armen Sterblichen vor- oder rückwärts – nur in diesem flüchtigen Moment hoffnungsloser, unausgesprochener Leidenschaft sind wir zufrieden. Wir denken nicht an die Zukunft, die kommenden traurigen Jahre entschwinden unserem Bewußtsein, wir wissen nur, daß wir uns lieben und zusammen sind. Und vielleicht wiegt die Seligkeit dieses einen Augenblickes alles Glück auf, das Liebende erwartet, welche hassen dürfen, in ungestörter Vereinigung ein halbes Jahrhundert hindurch an demselben Feuer mit einander zu sitzen.

Belinda und Roger nahmen die Sehenswürdigkeiten von Fontarabia so gewissenhaft in Augenschein, als wären sie irgend ein prosaisches Paar, dessen Lebensroman mit pecuniären Berechnungen begonnen hat und das sich die Langeweile nun auf einer Hochzeitsreise zu vertreiben sucht. Sie besichtigten die Schanzen, welche, von der Zeit geschwärzt, noch als die Ruinen daliegen, in welche die englischen Geschosse sie verwandelt. Sie schauten hinab auf jene drei berühmten Flußübergänge, den Schauplatz des wilden, nächtlichen Gefechtes, in welchem der Herzog dem alten Soult den Uebergang über die Bidassoa Schritt für Schritt abgewann. Sie schlenderten durch die Hauptstraße des Städtchens, die – mit ihren blumenbedeckten Balkonen, ihren aus dem dreizehnten Jahrhundert stammenden Säulenhallen und den von beiden Seiten überhängenden Dächern, welche kaum ein Streifchen des dunkelblauen Himmels sehen lassen – sicherlich eine der eigenthümlichsten Straßen der Christenheit ist. Dann begaben sie sich nach der Kirche. Sie vergaßen nur zweierlei, erstens: ein Hotel zu suchen und das Mittagsessen zu bestellen, und zweitens: die Existenz einer Dame, welche sich Miß Burke nannte.

Um die Kirche von allen Seiten in Augenschein zu nehmen, brauchten sie mehr als eine Stunde Zeit, obgleich das Gotteshaus kein Kunstwerk irgend welcher Art besaß. Die vergoldeten Heiligen, die Madonnen, die Reliquien unterschieden sich in Nichts von denen anderer Kirchen – und dennoch besichtigten die beiden jungen Ketzer jede Station und blieben vor jedem Altar so still und andächtig stehen, als bewunderten sie die Herrlichkeiten der Peterskirche in Rom. Das gedämpfte Licht, die Stille und Einsamkeit des Ortes schienen sie so gänzlich von der in Sonnengluth schimmernden Welt draußen abzuschließen. Schweigend und ohne daß der Eine das Auge des Andern suchte, schlenderten sie neben einander hin – der Himmel allein wußte, was in den beiden Herzen vorging.

Endlich fing die Orgel an zu tönen. Man spielte zuerst einen träumerischen Walzer, dann eine Arie aus einer der Verdi'schen Opern. Ein schläfrig aussehender Priester schlich im Schiffe entlang und knöpfte während des Gehens seinen Rock zu; ihm folgte ein eben so schläfrig aussehender Chorknabe mit Meßbuch und Rauchfaß. Dann trat eine Taufgesellschaft in die Kirche. Alle lachten und plauderten mit jener liebenswürdigen, vertraulichen Unbefangenheit gegenüber der Mutter Kirche, welche die allerkatholischste Nation charakterisirt.

Belinda und Roger schlüpften zu einer Seitenpforte hinaus, die der schläfrige Priester offen gelassen hatte und welche einige halsbrecherische Stufen hinab in die Sacristei führte.

Die Sacristei ist viel älter, vielleicht mehrere Jahrhunderte älter als das Hauptgebäude der Kirche, und mit Priestergewändern, Baldachinen, defecten Heiligenbildern und ähnlichem geistlichen Zubehör gefüllt. Unsere »liebe Frau der Schmerzen« stand, in violetten Atlas gekleidet, an dem einen Ende des Raumes, an dem andern: unsere »liebe Frau der Freuden,« in goldgelber Seide. Alles roch nach altem, versetztem Weihrauch, nach Moder und Knoblauch – wo röche es in Spanien nicht nach Knoblauch?

›Wie wäre es, wenn sie ein Fenster öffneten, um Ihre armen ketzerischen Lungen ein wenig von diesem künstlichen Duft der Heiligkeit zu befreien und ihnen statt dessen etwas reine Himmelsluft zuzuführen?‹

Gesagt, gethan! Sie öffneten das Fenster und entdeckten einen Balkon, oder vielmehr eine gemauerte Terrasse von etwa zwölf Fuß Länge, die, gegen die Sonne geschützt und außerordentlich kühl, zur Siesta einzuladen schien. Vor ihr breitete sich, wie ein Panorama, die Stadt, die Flußmündung und der Hafen aus.

»Vielleicht können wir von dieser Höhe aus etwas von Miß Burke sehen!« rief Belinda, welche plötzlich einen verspäteten Gewissensbiß empfand.

»Lassen Sie uns nicht eher von Miß Burke sprechen, bis wir dazu gezwungen sind, Belinda;« sagte Roger. »Aber Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig, und der Moment ist gerade passend, sie mir zu geben. Mr. Jones ist abgereist, und meine herzlichsten Wünsche begleiten ihn – aber sagen Sie mir, wie ist das gekommen? Wer schickte Mr.Jones fort?«

»Das weiß ich nicht – das heißt, ja freilich, ich weiß es;« erwiderte Belinda mit lobenswerther Klarheit. »Mr. Jones reiste ab – nun – weil er fand, daß es nicht gut war, länger zu bleiben!«

»Ich merke, Sie haben ihn schlecht behandelt, Belinda. Beichten Sie. Vor vier Tagen noch war es Ihr heißester Wunsch, Mr. Jones' Diamanten zu besitzen. Wissen Sie noch, was Sie am ersten Abende unserer Bekanntschaft sagten? An jenem Abende, als Señora Lagrimas versprach, mir die Alhambra zu zeigen?«

Belinda wendete sich schnell ab, aber doch nicht so schnell, daß Roger nicht bemerkt hätte, wie sie über und über roth wurde.

»Ja, ich habe schlecht an ihm gehandelt,« entgegnete sie. »Ich habe unrecht an ihm und mir gethan, von Anfang bis zu Ende, und ich schäme mich, daran zu denken. Aber ich bin plötzlich älter und vernünftiger geworden. Es scheint mir, als ob Jahre verflossen wären, seit Sie und Rose nach St. Jean de Luz kamen.«

»Ist Ihnen die Zeit mit uns so lang geworden?«

Er erhielt keine Antwort. Obgleich sie von Mr. Augustus und seinen Diamanten sprachen und sich unterhielten, wie sie es auch in Rose's und Miß Burke's Gegenwart hätten thun können, so sagte doch ein geheimer Instinct dem jungen Mädchen, daß der verhängnißvolle Augenblick gekommen war. Ihr Herz klopfte, daß sie seine Schläge hören konnte. Und wenn ihr Leben davon abgehangen, so hätte sie die Augen nicht zu Roger aufschlagen können.

»Uebrigens werden Sie uns ja bald los sein;« fuhr Roger fort. »Spencer scheint sich nicht besonders zu amusiren und Rose sagt, sie wage es nicht, zwei Tage länger hier zu bleiben. Wollen Sie uns denn nicht ganz vergessen, wenn – o, Belinda, mein Liebling.«

Und nun war es aus mit ihrer Selbstbeherrschung.

Die Thränen strömten ihr über die Wangen, und Roger hielt ihre Hände in den seinigen und sprach Worte, wie er nie, selbst damals neben dem Käfig des Rhinozeros nicht, zu Rose gesprochen hatte.

»Ich war so elend!« stammelte Belinda, »so elend, so hoffnungslos und doch dabei so glücklich. Denken Sie nicht schlecht von mir – denken Sie deshalb nicht schlecht von mir und sagen Sie es Rose niemals, niemals!«

»Schlecht von Ihnen denken, Belinda, Kind, das ist ein grausames Wort. Was, um Gotteswillen, müßte ich dann von mir selber denken?«

»Und Sie werden es Rose niemals erzählen – ich meine, wenn Sie fort sind und Alles Ihnen nur noch wie ein Traum erscheint? Sie werden Rose nie etwas davon sagen, und mich nicht allzusehr tadeln, wenn Sie einmal an mich denken?«

»Dich tadeln, geliebtes Kindl« rief Roger, indem er das halb vor Glück, halb vor Scheu zitternde Mädchen an seine Brust zog.

Die Orgel tönte noch immer drinnen in der Kirche; man hörte die Stimme des Priesters, der die Taufhandlung verrichtete. Unten am Ufer spielten die Fischerkinder und riefen einander zu und im Hintergrunde hob und senkte der atlantische Ocean seine Wellen.

Belinda wußte nicht, ob alles dies eine Minute oder eine Stunde gedauert hatte. Das menschliche Herz verliert in der höchsten Wonne, wie im tiefsten Schmerz jedes Maß für die Zeit. Sie wußte nur Eins, daß Roger sie liebte, daß sie bei ihm war, daß ihre Hand in der seinen ruhte, sein Athem ihre Wange berührte, sein zärtliches Flüstern –

»Zeigen Sie mir die Priestergewänder,« rief eine Stimme im härtesten Touristen-Französisch. »Wenn ich sie gesehen habe, werde ich bezahlen, eher nicht«

Und in die Sacristei mit dem Notizbuch in der Hand, trat Miß Burke, deren kleine spitze Nase von der Sonne geröthet und deren Stiefel mit dem Schlamm und Schmutz des Hafens bedeckt waren. Ein kleiner schmutziger Knabe in schmutzigem Chorhemd – ein junger Kirchenbeamter – begleitete sie.

Belinda und Capitän Tempel kamen sogleich vom Balkon herein. Belinda, der, wie wir wissen, die kleinen conventionellen Unwahrheiten nicht geläufig waren, neigte den Kopf und schwieg. Roger dagegen hatte die Keckheit, sein Vergnügen über das unerwartete Erscheinen Miß Burke's auszusprechen, und zu behaupten – obgleich ihm Miß Burke dabei starr in's Gesicht sah, sogar ohne Erröthen zu behaupten – sie hätten sich soeben nach ihr umsehen wollen.

»Das merke ich,« entgegnete die Dame kurz. »Sie sahen sich zwischen dem götzendienerischen Trödelkram einer papistischen Kirche nach mir um! Und darf ich vielleicht fragen, ob Sie sich auch um ein Hotel gekümmert und das Mittagessen bestellt haben? Wenn ich nicht irre, Capitän Tempel, ließen Sie mich unter diesem Vorwande allein im Boot.«

»Freilich – aber – ich – ich glaube, wir sind an keinem Hotel vorübergekommen,« sagte Roger in reuigem Tone. »Aber wenn Sie und Belinda inzwischen hier bleiben wollen –«

»Ich habe schon ein Hotel gefunden und das Mittagessen bestellt,« erwiderte Miß Burke. »Wenn ich in Gesellschaft von Herren reise« (sie sprach das Wort Herren mit spöttischer Betonung aus), »wenn ich mit Herren reise, pflege ich stets alle praktischen Angelegenheiten selbst zu besorgen. Ich bin glücklicherweise an Unabhängigkeit gewöhnt.«

Dabei wendete sie sich verächtlich ab und fuhr fort, mit Hilfe ihres kleinen Führers den »götzendienerischen Trödelkram« weiter in Augenschein zu nehmen. Die Meßgewänder, die in fernen Klosterzellen von frommen, einfältiglichen Händen gestickt waren, unsere »liebe Frau der Freuden« und unsere »liebe Frau der Schmerzen« – das Alles wurde von der Frau der Zukunft in der trockensten, geschäftsmäßigsten Weise besichtigt und für künftige literarische Zwecke in ihrem Notizbuche verzeichnet.

Belinda blieb geflissentlich an ihrer Seite und suchte Roger zu vermeiden. Miß Burke's Stimme, der Ausdruck ihrer Augen hatten das arme Kind in rauher Weise aus dem Elysium in die Welt der Thatsachen zurückgeführt. Fünf Minuten vorher hatte sie, glücklich bis zum Schmerz, in den Armen des Geliebten gelegen, ohne an die Zukunft zu denken und ohne sich ihrer Schuld oder Unschuld bewußt zu sein. Jetzt war er wieder Capitän Tempel, Rose's Bräutigam, und sie war von ihm geschieden für ewige Zeiten! Diese Umarmung war die erste und die letzte gewesen. Das Glück, welches, maßvoll vertheilt, oft für ein ganzes langes Frauenleben ausreicht, hatte für sie nur die Dauer eines Kusses gehabt und war vorüber!

Und all' die Zeit tönte die Orgel weiter und die Sonne schien durch die gemalten Fenster der Sacristei und die Kinder lärmten unten am Ufer des Flusses, und der kleine spanische Führer mit dem malerischen Gesichte und dem schmutzigen Chorhemd erzählte gedankenlos von Heiligen, von Wundern und Madonnen. Die ganze äußere Welt war so voll Sonnenschein und so voll heiterer Töne, wie zehn Minuten vorher, nur ihre innere Welt hatte Schiffbruch gelitten und war zu Grunde gegangen!

Die drei Reisegefährten nahmen ihr Mittagessen, das aus fremden Gemüsen mit vorherrschendem Knoblauchgeschmack bestand, in einer der bescheidensten Posadas des Städtchens ein, tranken ihren Kaffee oder wenigstens das, was der Wirth so nannte, auf offener Straße, während die Bevölkerung von Fontarabia, weltlichen wie geistlichen Berufs, neugierig zuschaute. Dann senkte sich die plötzlich eintretende südliche Nacht auf die Ebene und die Berge hernieder, und sie mußten sich zur Heimkehr rüsten. Die Belinda verheißenen sechs Stunden des Glückes waren beinahe verflossen. Beinahe – welche verhängnißvolle Rolle spielt dies kleine Wort so oft in unserem Leben!

Miß Burke bestand darauf, daß man die Verhandlungen wegen eines Wagens ihr, und ihr allein überlassen sollte.

»Capitän Tempel hatte das Boot genommen, das uns übersetzen sollte,« bemerkte sie. »Wenn wir heute noch nach Frankreich zurück wollen, so wird es gerathen sein, die geschäftlichen Abmachungen mir zu überlassen. Es bedarf eines gewissen moralischen Muthes, mit diesen falschen, glattzüngigen Spaniern zu verhandeln, und die Männer besitzen diese Eigenschaft gewöhnlich nicht. Ich aber habe sie.«

Die Folge sollte das beweisen. Nach halbstündigem heißen Kampfe war es Miß Barke gelungen, die Forderungen des Cochero auf die geringste Summe herabzudrücken, für welche nur je sterbliche Wesen über die Grenze nach St. Jean de Luz befördert worden waren, und als Frucht des moralischen Muthes stellten sich heraus: das älteste, wackelichste Fuhrwerk, das sich in Fontarabia auftreiben ließ, und eine Rosinante, so mager und schattenhaft, wie nur Doré's Griffel in seinen Illustrationen zum Don Quixote sie geschaffen hat.

Noch einmal zeigte sich hier das Walten jener Macht, jene Wirkung verborgener Ursachen, die wir Schicksal zu nennen pflegen.

Hätte Miß Burke einen anständigen Wagen gemiethet, so wären die Drei auf dem Rückwege zusammen geblieben und Roger und Belinda hätten nicht die Möglichkeit zu einem vertrauten Gespräch gefunden. Aber dies schlotterige Fuhrwerk war so schwer beweglich und das Pferd so kraftlos, daß sie nur im Schneckenschritt vorwärts kamen, und als sie endlich den nach dem Behobia-Passe aufsteigenden Theil des Weges erreicht hatten, war das Thier nicht mehr von der Stelle zu bringen. Der Kutscher stieg ab, fluchte auf Spanisch, Französisch und Baskisch, knallte mit der Peitsche, stemmte die Schulter an die Räder, oder that es wenigstens pantomimisch – Alles vergebens. Die arme Rosinante vermochte das Gefährt keinen Schritt weiter zu ziehen.

›Die gnädigen Damen und der Herr müßten, wenn sie diese Nacht noch St. Jean de Luz erreichen wollten, den Weg zu Fuß fortsetzen. Es ließ sich nicht ändern. Das Pferd war seinerzeit eines der besten Pferde Spaniens gewesen – aber Alles in der Welt ist vergänglich – seine schönen Tage sind vorüber. Wenn Ihro Gnaden sich zu zwei Pferden hätten entschließen können! …‹

Roger und Belinda sprangen ohne Weiteres aus dem Wagen; Miß Burke weigerte sich; sie fand es gegen ihre Principien, auszusteigen. Der Mann hatte es übernommen, sie von Fontarabia nach St. Jean de Luz zu befördern, und er sollte seinen Verpflichtungen nachkommen, und wenn er die ganze Nacht dazu brauchte.

So ging das Schicksal seinen Weg. Das gebrechliche Fuhrwerk schleppte sich mit der heldenmüthigen, principientreuen Miß Burke langsam vorwärts, fluchend folgte der Kutscher und Belinda und Roger blieben noch einmal allein. Allein, aber wie weit getrennt und dabei doch wie viel näher verbunden, als vor wenigen Stunden, während sie vor den Altären der alten dunkeln Kirche von Fontarabia standen!

Jetzt war der Moment der Versuchung wirklich da. Sie hatten sich nur umzudrehen, so lag die Straße nach der Alhambra so schnurgerade vor ihnen, als nur immer ein Weg vor ihnen liegen konnte. Und dazu lebte in Beider Herzen die Erinnerung an jenen einen Kuß!



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