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Erstes Capitel.
Die Traube in der Blüthe.

» Spaniens oder Clapham? Das ist die Frage.«

Ein funkelnagelneues Landhaus an der staubigen Straße von Clapham – auf der funkelnagelneuen Messingplatte an der Thüre die Inschrift: »Herr Augustus Jones« und übrigens nichts als Langweile und Anstand. Ein steifer, langweiliger Empfangssalon, ein eben solches Speisezimmer, einen ebensolchen Ehegemahl und alles Andere ebenso. Unter den Füßen schöne Brüssel-Teppiche und über dem Kopfe eine Sonne, die ungefähr so viel Luft, Wärme und Behagen verbreitet, wie eine Talgkerze. Dienstboten, die ihre Herrschaft ausspioniren und bestehlen – vielleicht einen Brougham mit dem Wappen und der Livrée der Familie Jones, unbestrittene Respectabilität, unbestrittenes Ansehen – als ob man sich dafür etwas kaufen könnte! Von Amusement, Spiel, Wettlaufen, genug von Allem, was man ein lustiges, fröhliches Leben nennt, gar keine Rede!

Das bietet Clapham!

Und Spanien?

Spanien, das da drüben über den Pyrenäen liegt, von wo gerade jetzt ein warmer Wind in Miß Belinda's Gesicht weht – was hat Spanien in die Wagschaale zu legen? Einen langweiligen Ehegemahl – das hätten beide Zukunfts-Aussichten mit einander gemein, aber die zweite ist doch in anderer Beziehung nicht ganz so trostlos.

Maria José de Seballos, Weinhändler und Agent in Sevilla, ist im Ganzen ein netter kleiner Mann, den – das ist gewiß – kein Ueberfluß an Geist drückt, der aber leichtfüßig walzt und Cachuca tanzt und mit einer recht leidlichen Tenorstimme Liebeslieder singt. Seine dunkeln Finger sind allerdings mit übermäßig viel Ringen geschmückt, seine dunkeln Locken duften für einen feineren Geschmack zu stark nach Bergamotöl, auch hat er eine bedenkliche Vorliebe für Speisen, die mit Knoblauch gewürzt sind, aber er ist doch – wenn vielleicht auch nur in Folge des malerischen Elementes seiner Nationalität – weit weniger ordinär, als Mr. Augustus Jones von Clapham.

Wie konnte sich das Leben an Don Jose's Seite gestalten?

Belinda folgerte in erster Reihe sehr richtig und vernünftig, daß eine Heirat mit dem kleinen Spanier sie noch lange nicht in die Nothwendigkeit versetzte, das Leben ausschließlich an seiner Seite hinzubringen. Maria José hatte natürlich mit seinen Agenturgeschäften zu thun, hatte als Weinhändler weite Reisen zu machen, ging sicherlich, wie alle Spanier, seinem Vergnügen im Club und im Kaffeehaus nach und seine Frau war während der Zeit frei und ihre eigene Herrin – ihre eigene Herrin in einer Straße von Sevilla, wo weder äußerer Schein, noch Respectabilität gewahrt werden mußten, wo der Boden unter ihren Füßen allerdings mit nackten Steinen belegt war, anstatt mit Teppichen, wo sie weder auf einen Brougham zu rechnen hatte, noch auf Livréebediente, aber dafür frei war – frei! Ueber sich hatte sie die gute, glänzende, spanische Sonne und wie viele Aussicht auf reizende Vergnügungen! … Tanz und Tertulia alle Tage, und Stiergefechte, Theater, Musik jeden Sonntag. Lust und Fröhlichkeit war in diesem Leben, mit einem Worte gesagt, die Regel, nicht die Ausnahme – und um alles das zu erreichen; brauchte sie sich nur für Maria José zu entscheiden, der persönlich mit Herrn Augustus Jones recht gut den Vergleich aushielt.

Belinda kreuzte die Arme über der Brust, schüttelte mit philosophischer Miene den Kopf, gähnte ein wenig, warf sich mit der bequemen südlichen Grazie, die wir an Murillo's Bettelkindern bewundern, ihrer vollen Länge nach in das Gras, schaute durch das Gezweig der sie beschattenden Korkeiche hinauf in den dunkelblauen Himmel und gab sich ihren weiteren Ueberlegungen hin.

Durch welche Laune des Schicksals kam das junge Mädchen, das von der Sonne gebräunt war, wie ein Maisfeld im Juni und körperlich und geistig so unabhängig schien, wie die junge Zigeunerin, die da drüben über die Berge streifte, zu dem hochklingenden Namen: Miß Belinda O'Shea? Zu einem Namen, der an den Moschus- und Millefleursduft der Boudoirs erinnerte, an Pope's Verse, an chinesische Theekannen, an Schminke und Perlpulver!

Belinda war beinahe siebzehn Jahre alt, besaß aber wenig von den theoretischen Reizen, welche Poeten und Romanschreiber diesem Alter andichten. Hände und Füße waren zu groß für den schlanken Körper, ihre Taille war noch formlos, Gang und Bewegungen eher knaben- als mädchenhaft und dennoch, obgleich fern von Allem, was man im Norden und in großen Städten »damenhaft« nennt, besaß sie für ein tiefer schauendes Auge den ganzen echt weiblichen Reiz, welcher der Rebenblüthe eigen ist. Im Ballschlagen, dem nationalen Vergnügen der Basken, nahm sie es mit jedem Straßenjungen ihrer Größe in ganz St. Jean de Luz auf.

In der Erregung des Spiels zeigte sie nicht weniger heißes Blut als ihre Cameraden, und bei Streitigkeiten über die Berechnung der Points war sie gelegentlich versucht, die Sache in der kräftigen Ausdrucksweise dieser Cameraden auszufechten; außerdem konnte sie rudern, schwimmen und pfeifen. Dennoch blickte, in seltsamen Widerspruch zu alledem, aus den großen, dunkeln Augen der armen, verlassenen Belinda die sanfteste Mädchenseele und wenn ihr Sprachschatz kein sehr gewählter war, so besaß sie dagegen die beste Gabe, welche ihrem Geschlecht vom Himmel verliehen werden kann, ein schönes, sanftes Organ.

Von ihrer sonstigen, etwa in späterer Zeit zu erhoffenden Schönheit wollen wir hier nicht sprechen. Belinda befand sich in jenem Stadium der Entpuppung, in dem zuweilen, wie mit einem Zauberschlage, aus einem häßlichen, blassen, knochigen Mädchen ein schönes Geschöpf wird. Augen, Mund, Füße, Hände, Alles schien jetzt zu groß für sie, und was ihren Anzug betraf, ihr abgetragenes Kleid voller Flecken, ihre ungestopften Strümpfe …

Doch ich glaube, ich muß etwas näher auf das frühere Leben meiner Heldin eingehen, ehe ich das Publicum mit diesen unschönen Einzelheiten bekannt mache.

So möchte ich denn vorausschicken, daß das Blut von Grafen und Königen – irischen Königen! – in Belinda's Adern floß. Ihre Mutter, Lady Elisabeth Vansitart, fünfte Tochter des Grafen von Liskeard, verliebte sich in dem romantischen Alter von einundvierzig Jahren in einen gewissen, liebenswürdigen, leichtsinnigen irischen Major, Cornelius O'Shea, den sie auf einem Balle kennen lernte, und heiratete ihn. Zwei Jahre ertrug sie – um dies milde Wort zu brauchen – die Vernachlässigung, welche sie von ihrem schönen Manne erfuhr, dann hatte die arme Seele das Glück, zu sterben, indem sie Cornelius als Vater eines Töchterchens, der Heldin unserer Geschichte, hinterließ.

Wie der leichtlebige Major O'Shea, der selbst nicht mehr in der ersten Jugendblüthe stand, dazu gekommen war, die ältliche Lady Elisabeth zu heiraten, wußte Niemand zu sagen – es wäre denn, daß es um ihres Titels und Standes willen geschehen, und daß der ruinirte Mann, mit den bequemen Grundsätzen, gehofft hätte, sich durch die gräfliche Familie wieder empor zu bringen.

Welches aber auch immer seine Beweggründe, welches seine Enttäuschungen gewesen sein mochten, so hatte sich der Major, wie selbst seine besten Freunde zugestanden, beim Tode seiner Frau tadellos benommen. Er trug einen Trauerflor von der ganzen Höhe seines Hutes, schwur: niemals mehr eine Karte oder einen Würfel zu berühren – ein Gelübde, das er volle drei Wochen hielt! – und schrieb einen sehr schön empfundenen und sehr gut stylisirten Brief an seinen Schwiegervater. Trotz aller rührenden Anspielungen auf das Kind, das ihm seine Elisabeth, die eine Heilige gewesen hinterlassen, erhielt er indessen nur eine kurze, hochmüthige Antwort.

Nachdem Cornelius sich so seiner Pflichten als Wittwer entledigt, blieb ihm nichts übrig, als zuzusehen, wie er die des Vaters am besten erfüllen könnte. Die Summe von dreitausend Pfund, in welcher das bescheidene Vermögen Lady Elisabeth's bestand, wurde dem Kinde in unantastbarer Weise gesichert.

»Meine Kleine wird wenigstens keine Bettlerin sein,« pflegte er mit Thränen in seinen gutmüthigen, irischen Augen zu sagen, »und wenn es der Vorsehung in ihrer Weisheit morgen gefallen sollte, mich abzuberufen, so würde das Vermögen ihrer Mutter mein Engelskind, meine Belinda, wenigstens vor dem Aeußersten schützen.«

Als das »Engelskind« das Alter von sieben Jahren erreicht hatte, wurde es jedoch ohne jeglichen Scrupel für jährlich vierzig Pfund in ein Kloster zu Cork geschickt, in dem man keine Ferien gab und Major O'Shea stellte seine Person und seinen Stammbaum noch einmal auf dem Heiratsmarkte aus. Was ihm diesmal zufiel, war nicht der welke Sprößling eines vornehmen Hauses, sondern die blühende Wittwe eines gut situirten Advocaten in London und zum ersten Male seit ihrer Geburt sollte Belinda die in diesem Falle mehr bittere, als süße Bedeutung des Wortes »Daheim« kennen lernen.

Wir dürfen dreist behaupten, daß sich Kinder in einem Nonnenkloster fast niemals unglücklich fühlen. Mag man eine Blume auch auf das Sorgfältigste von dem belebenden Einflusse der Sonne und des Lichtes abschließen, ihre Natur wird doch bei dem leisesten Hauche des Himmels, der sie trifft, ihr Recht behaupten, und allem Zwang zum Trotz wird auch der farbloseste, verkommenste Stengel zum Leben erwachen. Man versuche es immerhin, das Frauenherz durch Befolgung aller möglichen priesterlichen und klösterlichen Vorschriften abzutödten – kommt es mit Kindern in Berührung, so entfaltet sich in jeder dieser bleichen Vestalinnen der mütterliche Instinct sofort zur Blüthe. Hatte Belinda niemals die schrankenlose Liebe und Hingebung einer Mutter kennen gelernt, so war ihr doch, aller Wahrscheinlichkeit nach, im Kloster ein volles Maß von Zärtlichkeit und Sorgfalt zu Theil geworden. Kaum aber befand sie sich eine Woche unter dem Dache ihres Vaters und seiner neuen Gattin, so drang das kalte Eisen der Vernachlässigung – die für eine sensitive Kindernatur so viel schmerzlicher ist, als selbst der launenhafteste Wechsel zwischen Härte und Liebe – in ihr junges Herz.

Die zweite Mrs. O'Shea war eine Frau, die von allen ihren Bekannten als ein »liebes, süßes Geschöpf« bezeichnet wurde, und damit ist eigentlich die Art ihres Wesens charakterisirt. Ein weißer Teint, ohne jede Andeutung von Sommersprossen, blondes Haar, blonde Wimpern, Taubenaugen und eine Stimme, so sanft, wie der leise flüsternde Zephyr. In der That »ein süßes, liebes Geschöpf,« dessen Toilette und, was mehr sagen will, dessen ganzes Behaben tadellos genannt werden mußte – nur daß Mrs. O'Shea die Kinder nicht liebte.

Nichts konnte ihren Charakter und ihre Denkungsart besser kennzeichnen, als ihr Benehmen gegen die kleine Stieftochter.

»Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn der kleine Liebling aufwüchse, ohne mich als seine Mutter zu betrachten,« sagte Mrs. O'Shea (vielleicht nicht ganz ohne den Nebengedanken, daß der »kleine Liebling« den Grafen von Liskeard Großpapa nennen durfte!) »und,« fuhr sie fort, »obgleich der Major sehr gleichgiltig gegen diese Hauptfrage des Lebens ist, so empfinde ich es doch als meine erste Pflicht, das Kind sogleich unter protestantischen Einfluß zu bringen.«

Leider war es einer verdrießlichen Londoner Wärterin in einer düstern Londoner Hinterstube vorbehalten, diesen protestantischen Einfluß auszuüben, und sobald sich herausgestellt hatte, daß sich bei der hartköpfigen Aristokratin, selbst mit Hilfe Belinda's keine Anknüpfung ermöglichen ließ, so konnte kaum eins der Straßenkinder, welche das kleine Mädchen durch die vergitterten Fenster ihres Gefängnisses mit Neid beobachtete, in Bezug auf Liebe, übler daran sein, als sie.

Wäre sie eins jener lieblichen Geschöpfchen gewesen, die sich als Schmuck und Zierde verwenden lassen, so wären die Würfel ihres Lebens wohl anders gefallen. Eine so rosige, zierliche, kleine Puppe mit blonden Locken, die neben einer andern rosigen, blondgelockten Puppe im Wagen sitzen konnte, wäre kaum weniger anziehend, wenn auch im Ganzen etwas lästiger gewesen, als ein echter Mops. Aber Belinda war nichts weniger als eine Schönheit. Sie war ein eckiges, braunes Kind mit dunkeln, zu großen Augen, welche beobachtend und ernsthaft aus dem magern Gesichtchen hervorschauten, und dunkeln Haaren, die nach der in manchen irischen Klöstern angenommenen französischen Sitte, nach Knabenart, kurz abgeschoren waren. Und so, da sich alle äußeren Zufälligkeiten gegen sie verbündeten, ließ man Belinda verkümmern – das heißt, man nährte ihren kleinen Körper, nach der Sitte englischer Kinderstuben, mit gebratenem Hammelfleisch und Reispudding – aber ihre Seele, ihre nach Liebe verlangende Seele, ihr sehnsüchtiges Kinderherz blieben ohne Nahrung.

Getrieben von der gebieterischen Nothwendigkeit einer liebedürftigen Natur, versuchte das Kind, sich den Wärterinnen anzuschließen; aber Mrs. O'Shea's Haushalt war – unbeschadet der taubenhaften Sanftmuth der Herrin – einer von denen, in welchen die weiblichen Dienstboten so oft und ununterbrochen wechseln, wie die Figuren in einer Pantomime. Liebte Belinda den einen Monat eine Sarah, so mußte sie sich im nächsten, wohl oder übel, an eine Marie gewöhnen, nach welcher eine neue Sarah oder eine Hannah kam.

Sie versuchte, die Straßenkinder der Nachbarschaft zu lieben, deren Spielen sie von ihrem Fenster aus mit sehnsüchtigen Augen folgte, glückliche, lustige Straßenkinder, die wenigstens die Freiheit hatten, den kümmerlichen Antheil an Himmel und Erde, welchen ihnen das Schicksal gönnte, nach Möglichkeit auszubeuten.

Sie versuchte – aber nein, hier war kein gewaltsames Versuchen nöthig – sie liebte durch alle Jahre der Vereinsamung und Vernachlässigung ihren Vater mit der ganzen Kraft ihrer glühenden Seele.

Allerdings sah sie wenig genug von ihm. Major O'Shea war durch seine zweite Frau zu einem Vermögen von dreißig- oder vierzigtausend Pfund gekommen und er brachte dies Geld unter die Leute, wie ein Cavalier. »Wie, ein Ungeheuer!« sagte Mrs. O'Shea, als sich ihr die Thatsache, daß sie ruinirt und ihr Vermögen verschwunden war, nicht länger verheimlichen ließ. Sie behauptete, wenn sie gewußt hätte, daß der Major ein blutarmer Mann war, der nicht einmal so viel sein nannte, um den Rock zu bezahlen, in welchem er sich hatte trauen lassen, so würde sie niemals darein gewilligt haben, Equipage anzuschaffen, Livrée-Diener zu halten, und Sonntags warm zu speisen, welches letzteres überhaupt ganz und gar gegen ihre religiösen Grundsätze verstieß.

Nur gelegentlich, etwa zwei Mal in drei Monaten, wandelte Cornelius die Laune an, sich, mit der Pfeife im Munde, in die Kinderstube zu begeben, um dort mit Belinda ein Stündchen zu schäkern und herumzutollen. In noch selteneren Fällen, nur wenn er einige besonders vornehme Freunde zu Tisch hatte, befahl er der Bonne, Miß O'Shea zum Dessert herunterzubringen, freilich nur – was glücklicherweise für Belinda keinen Unterschied machte – um seine Verwandtschaft mit der Familie des Earl of Liskeard erwähnen zu können; und an einigen wenigen glückseligen Sonntagen durfte das Kind, das vor Freude beinahe Thränen vergoß, an seiner Hand in einem der Parks spazieren gehen.

Das war der ganze Aufwand von väterlicher Liebe, welcher die einsame Kindheit Belinda's erheiterte, und im Laufe der Zeiten schlief selbst dieser spärliche Verkehr zwischen Major O'Shea und seiner Tochter mehr und mehr ein. Seine Verhältnisse gestalteten sich schwieriger; der armen, blondgelockten, rosenwangigen Thörin, deren Vermögen er vergeudet, dämmerte nach und nach eine traurige Erkenntniß auf. Vorwürfe, darauf folgende lange Abwesenheiten, schmerzliche Einschränkungen, der Abfall selbstsüchtiger Freunde – alles dies trat in natürlicher Reihenfolge nach einander ein, und als endlich der letzte Schlag fiel und Alles zusammenbrach, blieb der Familie, als Subsistenzmittel für die Zukunft, nichts, als Belinda's Zinsen.

Das Haus in May-Fair mußte mit einem in Bayswater vertauscht werden, dieses mit einer Miethwohnung; die Miethwohnung sank, von einer gewissen sogenannten Eleganz, herab zur bloßen bürgerlichen Anständigkeit, die Anständigkeit zu einem Miethpreise von achtzehn Schillingen die Woche, und zu Schmutz und Unbequemlichkeit ohne Grenzen. Belinda wurde, statt mit gebratenem Hammelfleisch und Reispudding, mit den kalten Ueberresten vom gestrigen Tage genährt, gleichviel aus was sie bestanden. Pudding gab es überhaupt nicht mehr und anstatt, wie früher, über französischen Vocabeln zu gähnen, oder Tonleitern auf dem Pianoforte zu trommeln, mußte sie Gänge besorgen, Kleider ausbessern, Chignons kräuseln, falsche Zöpfe flechten, mit einem Worte, ihrer Stiefmama als Näherin und Kammerjungfer dienen.

Dennoch wurde Belinda durch den Glückswechsel nicht besonders tief berührt. Kinder von gewissem Alter lieben Umschläge der Verhältnisse, welche eine Veränderung der gewohnten Lebensweise mit sich bringen, wenigstens so lange, als die Sache den Reiz der Neuheit besitzt. Belinda liebte von Natur Veränderung, Bewegung und Thätigkeit jeder Art und fand daher ihre Rechnung besser in einem gewissermaßen zigeunerhaften Haushalte, als in der steifen, langweiligen Pracht des früheren.

Außerdem hatte sie jetzt mehr von ihrem Vater, und so zweifelhaft dieser Vortheil Andern, die mit den Augen der Vernunft sahen, auch erscheinen mochte, so war es für Belinda, die ihn mit dem Auge der Liebe betrachtete, doch ein Großes.

Cornelius stieg die Stufenleiter des Lebens mit einem Gleichmuth und einer Sorglosigkeit hinab, welche die Bitterkeit des Kelches, den Rose zu leeren hatte, noch um ein Bedeutendes verschärfte. Die Erfahrung, die er jetzt machte, war für ihn, wie man sich erinnern wird, keine ganz neue, und es ist merkwürdig, wie leicht Männer seines Schlages sich an solchen Wechsel der Verhältnisse gewöhnen, so lange ihnen die Quelle des Alkohols reichlich genug fließt. O'Shea hatte schon in frühern Lebensperioden fadenscheinige Röcke getragen, eine Taverne besucht, anstatt eines Clubs, Wachholderbranntwein und Wasser getrunken, anstatt Burgunder und Champagner, und fiel beinahe mit einem Gefühl des Behagens in die alte bekannte Weise zurück.

Belinda, die nicht im Stande war, an dem, was sie liebte, Fehler zu bemerken, fand Papa's Ergebung in sein Schicksal groß und erhaben.

Seine Kleidung ging nach und nach vom Fadenscheinigen und Schäbigen in etwas weit Schlimmeres über, seine Nase wurde röther und röther, sein Gang, seine Haltung und die Stunden seines Nachhausekommens wurden immer unsicherer, aber in Belinda's Augen war und blieb er der beste, theuerste Vater, der unvergleichlichste, gütigste, opferfähigste Gatte.

»Rose muß ihre Lockenchignons, ihr Perlpulver und ihre seidenen Kleider ganz so haben, als wenn wir noch reich wären, indessen Papa seine ältesten Kleider und zerrissene Stiefel trägt und bei Alledem heiter und vergnügt ist;« dachte Belinda mit der blinden Parteilichkeit und Ungerechtigkeit ihres Alters und die Weisheit der ganzen Welt würde sie nicht überzeugt haben, daß in Rose's Chignons und seidenen Kleidern eine Art von muthvoller Widerstandskraft liegen könne, während ihres Vaters fettiger Rock, seine zerrissenen Stiefel und seine Branntweinlaune vielleicht die schlimmste Feigheit, ein träges, saumseliges, thatloses Gehenlassen bekundete.

Der Unterschied zwischen den Beiden beruhte darin, daß Cornelius wußte, sein letzter Trumpf war ausgespielt, während Rose noch einen solchen in der Hand hielt – ihren Onkel Robert nämlich, einen verknöcherten, reichen Mann, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte und in seiner Villa in Brompton lebte. Wäre dieser Onkel eine Tante gewesen, Belinda's Schicksal hätte sich sicherlich ganz anders gestaltet, denn keine alte Dame hätte der Liebenswürdigkeit widerstanden, die Cornelius O'Shea zu entfalten vermochte, wenn es ihm darauf ankam, Jemand zu bezaubern. Auf das verhärtete, zähe Herz und die tauben Ohren Onkel Robert's machten die Künste des Irländers, seine zur Schau getragene Reue und selbst seine Anspielungen auf die Ehre der hohen Verwandtschaft keinen Eindruck und der alte Mann sprach seine Meinung in den unzweideutigsten Worten aus.

Rose hatte sich und ihr Vermögen einem Lump anvertraut; von Geburt und Familie sollte man Onkel Robert nicht sprechen, denn er betrachtete nur Denjenigen als Gentleman, der als solcher handelte. Rose, die arme Thörin, mußte nun liegen, wie sie sich gebettet. Sollte aber der Schelm, ihr Ehemann, jemals das Weite suchen und seine unwürdige Person für immer in irgend ein anderes Land der Erde verpflanzen, so sollte Onkel Robert's Haus dem Kinde seiner Schwester nicht verschlossen bleiben. Der alte Mann hatte keine lebenden Verwandten als Rose, und so wußte sie mit Bestimmtheit, daß ihr das Verschwinden O'Shea's nicht allein die Thüre des Onkels öffnete, sondern daß sie auch auf einen Platz in seinem Testament zu hoffen hatte.

Diese letzte Karte hielt Mrs. O'Shea noch in der Hand und sie benutzte dieselbe mit jener instinctiven Kenntniß der männlichen Natur, die jeder, auch der oberflächlichsten Frau verliehen ist.

Onkel Robert war ein in der Wolle gefärbter Demokrat, folglich mußte er Gefallen an dem Geklätsch aus dem Kreise der »obersten Zehntausend« finden, sei es auch nur, um Beweise für seine eigene radicale Theorie daraus zu ziehen, und Rose wußte ihm bei ihren Besuchen ganz allerliebste Sachen von den Spielschulden der einen großen Dame und den kleinen, liebenswürdigen Schwächen der andern zu erzählen, und dabei immer sehr geschickt der Verwandtschaft und der vertrauten Beziehungen ihres armen O'Shea zu dieser Aristokratie zu gedenken. Onkel Robert war so stolz auf sein Geld, wie nur irgend ein durch eigenes Verdienst reich gewordener Mann in England, und nichts erfüllte ihn so sehr mit dem angenehmen Gefühl des Besitzes, als der Anblick fremder Armuth; dennoch würde es ihn außer sich gebracht haben, wenn die Diener seine Nichte dürftig gekleidet, als arme Verwandte, in einem Merinokleide und mit ausgebesserten Handschuhen gesehen hätten. Rose hütete sich also wohl, ihre Armuth in für ihn anstößiger Weise zur Schau zu tragen.

In dem kleidsamsten Hütchen, den frischesten seidenen Kleidern, den tadellosesten Handschuhen stattete sie ihre thränenreichen Besuche in Brompton ab; versäumte dabei nicht, dem Onkel zu klagen, daß dies Kleid, dieser Hut die letzten Stücke ihrer schönen Garderobe seien und wie schwer es jeder Frau falle, der Thorheit verfeinerter Lebensgenüsse zu entsagen, und selten kehrte das »liebe, süße Geschöpf« ohne eine Anweisung auf seinen Banquier, niemals mit ganz leeren Händen in den Schooß ihrer Familie zurück.

Endlich, es war an einem schönen Frühlingsmorgen, sprach Onkel Robert seine endgiltigen Bedingungen für eine vollständige Versöhnung aus. Major O'Shea sollte nach Amerika, nach einer der Colonien, oder, ganz nach seinem Belieben, sonst wohin gehen, jedenfalls aber England verlassen und feierlich schwören, wenigstens zwei Jahre im Auslande zu bleiben. Dagegen versprach Onkel Robert, die Nichte bei sich als Dame des Hauses aufzunehmen, und an O'Shea vor seiner Abreise dreihundert Pfund auszuzahlen; eine Summe, die – wenn der Major das Herz auf dem rechten Flecke, und den ernstlichen Willen hatte, zu arbeiten und sich anzustrengen – hinreichend war, ihm eine bescheidene Unabhängigkeit schaffen zu helfen.

Als die Botschaft kam, war Cornelius nicht daheim, d. h. er war nicht in der schmutzigen Wohnung, welche die Familie zur Zeit inne hatte, sondern seit etwa vierzehn Tagen verreist, in Gott weiß welcher Mission, die er seiner Frau und Tochter gegenüber die »Doncaster-Frühjahrs-Versammlung« nannte. Er kam an demselben Abende spät nach Hause, wurde im Sprechen mehr denn sonst vom Schlucken unterbrochen und hatte gerade noch einen Sixpence mehr in der Tasche, als das Cab kostete, welches er benutzt hatte.

Rose theilte ihm das großmüthige Anerbieten ihres Onkels mit, während er nach dem Abendessen heißes Wasser mit Wachholderbranntwein trank, und Belinda, neben ihm sitzend, einen sehr zerrissenen Strumpf mit großen Stichen ausbesserte.

»Natürlich ist es unmöglich!« seufzte Rose mit Thränen in den sanften Augen. »Aber ich hielt es für meine Pflicht, das Anerbieten zu erwähnen, wenn auch nur als Beweis für die christliche Gesinnung meiner Verwandten. Natürlich ist eine solche Trennung unmöglich!«

»Unmöglich, Rose?« rief O'Shea, indem sich sein aufgedunsenes Gesicht verklärte; denn die bloße Erwähnung von dreihundert Pfund, sowie die Aussicht, seinen häuslichen Bedrängnissen zu entgehen, reichte hin, um in dem sanguinischen Manne die beinahe sichere Aussicht auf eine zu gewinnende Million zu eröffnen. »Wer sagt, daß es unmöglich ist? Bin ich nicht der Mann dafür? Ist Cornelius O'Shea der Mann, welcher auf seine eigenen Gefühle Rücksicht nimmt, wenn es sich um das Glück und die Aussichten seiner Familie handelt?«

Und in weniger Zeit als nöthig, um dies niederzuschreiben, waren Beide, Mann und Frau, mit dem heldenmüthigen Entschluß fertig, das Opfer zu bringen.

Ueber die Details kam man noch leichter hinweg. Cornelius wollte sein Glück in Amerika versuchen, »dem besten Lande der Erde für einen entschlossenen, befähigten Mann,« die arme Strohwittwe, Rose, sollte inzwischen eine Zufluchtsstätte in Brompton suchen, und Belinda mit ihren, von dem mütterlichen Vermögen herrührenden einhundertzwanzig Pfund konnte als unabhängig betrachtet werden. Man konnte sie für die nächsten zwei Jahre, bis die Zeit der Verbannung ihres Vaters abgelaufen, in ein nicht zu theures Pensionat schicken und Onkel Robert hatte, mit ebensoviel Klugheit als Güte, bereits erklärt, sie könne während der Sommer- und Weihnachtsferien sein Haus stets als ihre Heimat betrachten.

Belinda unabhängig, Cornelius im Besitz von dreihundert Pfund und seiner Freiheit, Rose wieder im Genusse eines Kirchenstuhles, eleganter Toilette und in Livree gekleideter Diener – welche gütige Fee hatte ihren Zauberstab geschwungen, um alle diese Wunder hervorzubringen!

Der nächste Tag war ein Sonntag. Major O'Shea färbte seinen Backenbart, den er im kalten Schatten der Armuth hatte grau werden lassen, bürstete seinen Rock aus, zog ein paar lavendelfarbene Handschuhe an und ging am Nachmittag im Park spazieren, den Hut so unternehmend auf dem Kopfe, ein ganzes Aussehen so heiter und vergnügt, wie in den schönsten Tagen seiner Jugendzeit.

Rose, die am Vormittag in der Kirche gewesen war – denn sie hielt es für ihre erste Pflicht, dem Herrn ihren Dank darzubringen für das Glück, das er ihr und ihrem theuren O'Shea bescheert hatte! – begab sich nach beendigtem Gottesdienst nach Brompton und verwendete den übrigen Theil des Tages dazu, die künftige Gestaltung der Dinge zu besprechen und Pläne zu tausend Annehmlichkeiten für sich selbst mit Onkel Robert zu entwerfen.

Belinda, die arme kleine Närrin, weinte sich indessen in ihrer leidenschaftlichen Trauer blaß und krank.

Sie verlangte weder nach Respectabilität, noch nach einem Pensionat, noch nach einer Heimat während der Ferien. Sie brauchte nichts, als das Einzige, das sie auf Erden liebte, ihren unwürdigen, alten Vater – und den sollte sie verlieren!

»Wir haben eine sehr verschiedene Art, unsere Liebe zu beweisen,« sagte Mrs. O'Shea, als sie elegant, blühend, voll Hoffnung für die Zukunft nach Hause zurückkehrte, und das Kind in seinen Schmerz versunken, schmutzig, mit vom Weinen geschwollenen Augen, ohne Speise und Trank, vor dem erloschenen Kamin fand. »Ich glaube, daß ich mehr als irgend Jemand durch Deines Vaters Abwesenheit leiden werde, das kann mich aber nicht abhalten, zu thun, was recht ist. Ich will ihm den dornigen Pfad der Pflicht, den er zu gehen hat, nicht durch nutzlose Thränen und Klagen noch mehr erschweren.«

Von diesem Abend bis zum Augenblick der Abreise ihres Vaters, die etwa acht Tage später erfolgte, hielt Belinda ihre Gefühle besser im Zaume. Sie häkelte heimlich eine kleine Börse, auf welche eben so heimlich viele, viele salzige Tropfen fielen, steckte die von ihrem geringen Taschengelde erübrigten Sparpfennige hinein, und legte sie am Tage der Abreise in die nicht abweisende Hand ihres Vaters. Der Instinct sagte ihr, welche Art von kindlicher Liebesgabe Cornelius die liebste war.

Als der Moment des Scheidens gekommen, hing sie zitternd, stumm und ohne Thränen an seinem Halse, während Rose, die eigentlich nichts empfand, als ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, sich fast die Augen aus dem Kopfe weinte, und sich in allen erdenklichen Gemeinplätzen erging, über die Grausamkeit des Schicksals, sowie über den tiefen, tiefen Schmerz, den es ihr bereitete, sich der Pflicht und den Interessen ihres Mannes in Ergebung unterordnen zu müssen.

Dann kam die Uebersiedlung nach Brompton, Rosenholz und Mahagoni, vorzügliche Diners, Freunde aus der City, Onkel Robert's Geldprotzenthum und Alles das schien Mrs. O'Shea sehr zu behagen.

Dann – nicht ganz zwölf Monate, nachdem Belinda den letzten Kuß auf ihres Vaters Lippen gedrückt – traf, von fremder Hand an Onkel Robert adressirt, ein Zeitungsblatt aus New-York ein, welches die traurige Nachricht von Cornelius O'Shea's Tode brachte.

Das arme, kleine Mädchen, das sich zu Brighton in einer Erziehungsanstalt zweiter Classe befand, wurde in aller Eile nach Hause gerufen; die Rouleaux der Villa in Brompton blieben schicklicherweise vier Tage heruntergelassen, wurden am fünften, dem imaginären Tage der Beerdigung, halb in die Höhe gezogen, und Rose hatte zum zweiten Male im Leben Gelegenheit, ihren Schmerz unter den bezauberndsten Trauertoiletten zu verbergen.

Onkel Robert sprach viel über die wunderbaren Fügungen der Vorsehung, zog in Gegenwart der Dienerschaft die Mundwinkel tief herunter und verfaßte, ehe noch eine Woche in's Land gegangen war, ein neues Testament, in welchem er sein ganzes Vermögen, bis auf den letzten Heller und ohne jede beschränkende Bedingung, seiner theuren Nichte Rose verschrieb.

Kurz der Major hatte, indem er starb, die beste That gethan, deren er im Laufe seines fünfzigjährigen Lebens fähig gewesen, und Jedermann sagte sich das – Jedermann mit Ausnahme Belinda's. Die Natur, die für Alles ein Ausgleichungsmittel besitzt, gab dem vernachlässigten kleinen Mädchen wenigstens etwas zu lieben und zu beweinen, wenn auch nur einen Cornelius O'Shea.

Uebrigens lehnte sich Belinda jetzt mehr denn je gegen Onkel Robert's elegante Einrichtung, seine Diners, seine Tafeldecker u. s. w. auf, denn Alles das war, wie sie mit durch Thränen blitzenden Augen sagte, mit ihres Papa's Leben erkauft. Hätte man ihn nicht aus England fortgetrieben, so wäre er nicht gestorben und sie hätte ihn nicht verloren. Sie konnte und wollte nicht in Brompton bleiben, man sollte sie fortschicken, ganz gleichgiltig an welchen Ort der Erde, wenn es nur nicht Brompton war. Sie wollte in irgend welche Schulanstalt des Auslandes gehen, nach Boulogne, nach Berlin, wohin man sie schickte – und stellte nur die einzige, für ihr Alter seltsam klingende Bedingung, daß man sie dort ließe, bis sie alt genug wäre, um selbst über ihr Leben bestimmen zu können und daß sie in den Ferien nicht nach Brompton zu kommen brauchte.

Und bald fand sich auch eine Gelegenheit, diese Grille des Kindes zu befriedigen. Rose las eines Morgens in den Spalten der »Times« folgende Anzeige:

»Günstiges Anerbieten für Eltern und Vormünder. – Eine Dame, welche sich literarisch beschäftigt, in vollkommen unabhängigen Verhältnissen lebt und vorgeschrittenen Anschauungen über die Ansprüche und Bestimmung ihres Geschlechtes huldigt, würde eine junge Dame von guter Familie, die ihre Bildung durch Reisen auf dem Festlande erweitern und vervollständigen möchte, unter ihren Schutz nehmen. Die pecuniären Bedingungen mäßig, aber jedenfalls pränumerando zu entrichten. Referenzen gegenseitig auszutauschen.«

Die nächste Post vermittelte eine Anknüpfung zwischen Mrs. O'Shea und der Dame mit den vorgeschrittenen Anschauungen. Bald darauf machten sie persönlich Bekanntschaft und tauschten ihre Gedanken und Meinungen über die Bestimmung des weiblichen Geschlechts, sowie ihre Empfehlungen aus. Nach einigem Hin- und Herreden über die geschäftliche Seite des Abkommens wurde dasselbe zu einem befriedigenden Schlusse geführt, und Belinda, die sich mit finsterem Trotz Allem unterwarf, was sie von Rose, Brompton und Onkel Robert trennte, that den ersten bedeutungsvollen Schritt im Leben.

Die Dame, in deren Schutz sie sich begab, und von der wir später mehr hören werden, hieß Miß Lydia Burke, ein Name, der in der literarischen Welt allerdings nicht unbekannt, auch vielfach in Verbindung mit Reden und Vorträgen über zeitgemäße Themen genannt wurde – und unter der Leitung dieser Dame, oder vielmehr ohne jegliche Leitung von ihrer Seite, hatte Belinda ihre »Bildung« bis jetzt vervollständigt.

In den Verhältnissen von Brompton hatte sich seitdem nichts Wesentliches verändert, als daß Onkel Robert gestorben war. Der Trauerfall hatte sich etwa drei Monate vor dem Zeitpunkte ereignet, mit welchem unsere kleine Erzählung beginnt. Auf ihren Reisen, die sie bald hierhin bald dorthin führten, hatte das junge Mädchen einige oberflächliche Sprachkenntnisse aufgelesen, hatte, in etwas zigeunerhafter Weise, tanzen gelernt, hier und da ein wenig Musik getrieben, vor Allem aber eine frühzeitige Kenntniß der menschlichen Natur erworben. Das Leben hatte ihr – vielleicht nicht immer auf seinen unbefleckten Seiten – als Lehrbuch gedient, und die Vernachlässigung, zuweilen nicht die schlechteste Erzieherin, war ihr Lehrmeister gewesen.

Die Dame von unabhängiger Lebensstellung, welche es sich zur Aufgabe gemacht, die Irrthümer und Mißbräuche zu bekämpfen, welche sich in Bezug auf das weibliche Geschlecht seit sechstausend Jahren eingebürgert – eine Dame, deren Geist, sich mit den Idee einer künftigen höheren Bestimmung der Frauenwelt trug, hatte gewiß nicht Zeit, sich um die eine, arme, unbedeutende Seele in ihrer unmittelbaren Umgebung zu kümmern. Nur in wenigen Menschen vereinigen sich ja große Anschauungen und Sinn für die kleinen Details des Lebens. Der Geist Miß Lydia's gehörte zu jenen weit- und vielumfassenden, welche sich mit elenden Kleinigkeiten, wie Näh- und Stopfnadel nicht abgeben. Newton vergaß sein Mittagessen – sollte eine Miß Lydia Burke an ein Loch im Strumpfe denken! …

Aber das bringt mich genau zu dem Punkte zurück, bei welchem mich ein gewisser Stolz auf meine arme, kleine Heldin zu diesem Rückblicke zwang – die Löcher in Belinda's Strümpfen.



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