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Das marokkanische Loch – Der Internationale Aero-Luxusexpreß Berlin, München, Marokko – Der Marabout – Das Geheimnis des deutschen Malers – Der Punkt außerhalb der Erde
Es ist immer von Vorteil, wenn man die Gelegenheit ausnützt. Derjenige wird vorwärts kommen, der von den Mängeln und Schäden der anderen lebt, wo er ein Loch findet, stellt er sich davor, und dem im Loche Befindlichen diktiert er seine Bedingungen.
Genendelsohn hatte sich vor das große marokkanische Loch gestellt. Dieses Loch befand sich in der Kasse des Sultans. Doch die Spielbank stopfte es zu und bald blühte ganz Marokko auf, so daß Europa bereits die Konkurrenz zu fürchten begann.
Namentlich Monte Carlo litt unter dem Casino von Hammam R'Uma. Die ganze Welt der Hochstapler und Krösusse überschwemmte das marokkanische Spielparadies, während die Riviera einsam und verlassen war.
Wir wissen, daß Genendelsohn und Fritz bereits in Berlin große Unternehmungen lanciert hatten. Auch in Marokko verstanden sie es meisterhaft. Fritz wurde wieder Generaldirektor, Söröny Generalsekretär, nur Genendelsohn verzichtete auf irgendwelche »General«-Titulatur und blieb hinter den Kulissen, wo er die jeden Abend abgelieferten Kassen revidierte und in Empfang nahm.
Eine Zeitlang ging alles großartig. Es dauerte sogar ein ganzes Jahr. Fritz bekam einen dicken Bauch, weil er als Pascha mit sieben Roßschweifen und dreizehn Favoritinnen wenig Bewegung hatte und nur von einem Diwan auf den anderen rutschte. Dazwischen repräsentierte er das Kasino und arrangierte italienische Nächte und Münchener Bockbierfeste. Die vielen Gäste, die täglich nach Hammam R'Uma mit dem neuen International-Aero-Luxusexpreß Berlin-München-Marokko kamen, verlangten Zerstreuung und vaterländische Vergnügungen.
Eines Tages lag Fritz wieder auf einem der vielen Diwans in der großen Marmorhalle des Palastes, als sein langer arabischer Diener auf den Knien anrutschte und sich ihm ehrfurchtsvoll näherte. Fritz hatte sich nun schon mit der Zeit an diese Zeremonie gewöhnt und fürchtete nicht mehr, daß Hassans Kopf auf dem Estrich des Bodens in tausend Stücke zerplatzen würde. Deshalb sah Fritz der Entwicklung dieses Bauchrutschens gelassen entgegen und ließ sich dabei von seiner dreizehnten Lieblingsfrau gemütlich die Schnurrbarthaare ausziehen, während eine andere ihn manikürte.
Hassan aber murmelte arabische Sprüche und sein ganzes Benehmen deutete darauf hin, daß etwas Bedeutendes vorgehen würde.
In der Tat sollte etwas Bedeutendes vorgehen.
Durch das halbmondförmige schwarz und weiß quadrierte Portal schritt ein alter, weißhaariger Priester, der berühmte Marabout Mokri Ben Mahmet. Langsam wandte er sich zu Fritz, mit der rechten Hand vollführte er den dreifachen Gruß des Islams, dann ließ er sich auf ein Kissen nieder, indem er die Beine kreuzte. Hassan brachte auf Fritzens Befehl Kaffee und Zigaretten, die dreizehnte Lieblingsfrau und die Maniküre verschwand geräuschlos, und als kein Laut der Außenwelt durch den Raum drang, begann der Marabout also zu reden:
»Sohn einer Ungläubigen, Kind einer fernen Welt! Du wirst dich wundern, daß ich meine Schritte zu dir wende. Ihr Menschen des Westens wundert euch immer. Wir, die wir unter der heißen Sonne des Ostens leben, wundern uns niemals. Wir wissen genau, daß wir selbst das größte Wunder sind, und daß alles, was fleucht und kreucht, genau solch großes Wunder ist. Was bleibt uns Kreaturen übrig, als Allah zu danken, daß er uns erlaubt hat, zu atmen und seine Wunderwerke zu genießen! Ihr aber, die ihr im Westen tobt und schreit, die ihr nicht genug habt am einfachen Mahl, zu dem ihr euch an den Tisch setzt, sondern die ihr euch stets und ständig den Magen überfüttern müßt mit unverdaulichen schweren Speisen, ihr armseligen Streber – – ihr wundert euch, wenn irgend etwas in eure Lebensbahn tritt, was in eurem kleinen Gehirn, das Allah genau so eingerichtet, wie das des niedrigsten Tieres, eine Empfindung hervorbringt, die nicht vorher überlegt war. Ihr Europäer nennt dieses Vorherempfinden: Disponieren. Ihr disponiert euer ganzes Leben lang und wehe demjenigen, der falsch disponiert hat. Ihr heißet einen solchen einen Pechvogel. Aber Allah kennt kein solches Geflügel, Allahs Vögel fliegen im Staube der glitzernden Sonnenstrahlen, die leuchtend aus dem äonenweiten Paradies auf Hoch und Niedrig, Arm und Reich fallen, alles in herrlichen Duft auflösend. Gepriesen sei Allah! Uallah – Uallah – Uallah!«
Der Marabout beugte sein ehrwürdiges Patriarchenhaupt und schüttelte seinen Oberkörper ein paarmal, als ob er eine schwedische Heilgymnastik vornehmen wollte. Dann fuhr er fort, indem er milde und liebreich seinen Gastgeber anblickte, der wie eine Salzsäule starr seinem Gegenüber zuhörte.
»Blonder Sohn einer unheiligen Erde, wenn du dich genug gewundert haben wirst – und ich nehme an, daß das Erstaunen, das deine Züge ausdrückt, jetzt jenem ersten Eindruck gewichen ist, der wie ein Blitz über das Antlitz des Überraschten fährt – höre, weshalb ein Marabout deine Schwelle betreten hat, die durch ferne Gegenwart neu geweiht ist, nachdem sie der Fuß des Fremdlings entehrt. Also höre: Euer rastloser Wahnwitz, der seit Jahrhunderten über die Meere geschwommen, über die Erde mit Dampfkolossen gerast, unter der Erde nach Erz, Kohlen und Gold gegraben, hat sich vermessen, in die Lüfte zu fliegen, um Gott, den Unerreichbaren, sich zu nähern und sein Reich streitig zu machen. Wehe euch Kleinlingen, die ihr nichts weiter als Menschen geblieben seid! Mit Staunen sahen meine Landsleute eure Flotte in der Luft – sie staunten wirklich, denn auch ein Orientale darf einmal in seinem Leben erstaunen, wenn die Religion es vorschreibt. Selbst unser allverehrter Kalif, der große Sultan (hier beugte sich Mokri Ben Mahmet wieder auf den Estrich und machte die merkwürdigen gymnastischen Übungen mit seinem Oberkörper), benutzte die Erfindung der Europäer, um seine Feinde endgültig zu besiegen. Zu seinem Heile und zum Heile Marokkos – Uallah – Uallah – Uallah!!!« – – (Hier trat oben beschriebene Zeremonie von Neuem in Funktion, dieses Mal sogar mit bedeutend verschärfter Schüttelung sämtlicher Gliedmaßen, so daß Fritz jeden Augenblick fürchtete, der alte Herr vor ihm würde vom Schlage getroffen.)
Nachdem einen Augenblick Ruhe eingetreten, zündete der Marabout eine neue Zigarette an, trank die achtzehnte Tasse Kaffee und setzte seine Rede fort:
»Die Erde ist rund und sie dreht sich. Unsere Vorfahren wußten dies alles, längst bevor Ihr in Europa daraus eine große Geschichte gemacht und darüber Kriege geführt habt. Aber wir begnügen uns damit, daß es so ist und daß daran nichts mehr zu ändern wäre. Ihr aber müßt alles schwarz auf weiß haben und glaubt, daß erst dann etwas Wert hat, wenn es geschichtlich oder wissenschaftlich festgelegt ist. Die Welt ist so und nicht anders. Immer fängt es an und immer hört es auf. Gebären und Sterben – nur Allah ist ewig – Punkt! Wer in dieser Wahrheit lebt, ist glücklich. Die anderen sind zu bedauern, denn sie suchen die Wahrheit und finden die Lüge, willst du die Wahrheit finden, blonder Sohn Europas?« – –
In der hohen, maurischen Marmorhalle war es still geworden; Fritz schaute, jetzt wirklich zu einer Salzsäule erstarrt, wie hypnotisiert auf den gebräunten Alten vor ihm auf dem roten Teppich und seine Augen tanzten, geblendet durch die schwarzen und weißen Quadern der Mauern verwirrt im Raume umher.
Was wollte der Alte von ihm? Irgend etwas Schreckliches überfiel ihn, eine furchtbare Angst beklemmte sein Herz, als wenn plötzlich ein Kriminalbeamter zu jemand herantritt und liebenswürdig aber bestimmt einem ins Ohr flüstert: »Mein Herr, im Namen des Gesetzes!« was war das für eine Geschichte, die der alte Priester ihm da versetzen wollte? Was geht ihn die Wahrheit an? Sollte Genendelsohn dahinterstecken und irgend eine Schiebung versuchen, um ihn aus seinem sorgenlosen Dasein wieder in die weite Welt zu jagen?
Ein Seufzer klang durch den Marmorsaal. In jedem spannenden Moment nämlich, der im Leben der Menschen eine Rolle spielt – nicht nur in Romanen gibt es »spannende Momente«, im Leben selbst kommen sie noch häufiger vor – also jeder spannende Moment wird bekanntlich durch einen Seufzer unterbrochen. Seufzer kommen aus dem Magen – nicht aus dem Herzen. Das Herz hat keine Organe, die irgend einen Laut von sich geben könnten. Der Magen jedoch, überhaupt der ganze Unterbau des Menschen, ist mehr für Geräusche geeignet, die auch dem anderen vernehmbar sind. Zu der Gattung dieser Nebengeräusche gehört der Seufzer. Ein tiefer Seufzer klang durch den Marmorsaal. wie eine dicke, schmutzige Schlange, die aus grüngläsernen Augen ihr Opfer betrachtet, hatte sich Mokri, der Marabout, der den braunen Burnus um sich geschlungen, mit dem Oberkörper aufgerichtet und sein Gegenüber fest anblickend, sprach er:
»Armseliges Menschenkind, du liebst das Gold und den Ruhm, ich aber lebe von Bananen, und wenn es hoch kommt, leiste ich mir am Freitag einen Schafkäse, aber er bekommt mir nicht, da frühere Sünden mir den Magen verdorben haben. Ich will dir Geld und Ruhm gewähren, denn du gefällst mir und ich möchte, daß Europa und Amerika und Asien und Afrika und Australien ein einziges Volk von Brüdern und Schwestern werde. Alles habt ihr erfunden, ihr Narren, alles bis auf eins, das ist der Ring um die Erde, der die Menschheit eint. Die ganze Erde eine Gemeinschaft, ein Ineinandergehen der Interessen, eine einzige Gesellschaft. – – – Ich werde dir den Ring schenken, der das größte Geheimnis der Welt erschließt, der dich zum reichsten und berühmtesten Manne aller Zeiten machen wird. Du wirst fragen, warum ich selbst meine Erfindung nicht ausnütze? Nein, mein Sohn, das wäre eine Sünde gegen Allah, der mich erleuchtet hat. Kurz nur ist mein Leben und in meinem Stern habe ich gelesen, daß heute noch nach Sonnenuntergang meine Seele in das ewige Land der Huris einziehen wird und meinen Körper werden sie morgen unter die dicken Steine legen und eine Moschee über meinen sterblichen Resten bauen – Uallah – Uallah – Uallah!!!« –
Das braune Burnuspaket pendelte im Takte der Silben, dann aber ertönte die Stimme Mokris leise und gläsern, als wenn sie schon aus dem Grabe käme, das doch erst für den Abend vorgesehen war.
»Um die Erde wirst du einen eisernen Ring bauen, mein Sohn – vernehme, wie ich es will: Nicht weit von hier ist der Äquator. Dort schneiden sich die Erdhälften. Auf meinen Wanderungen zu den Gläubigen traf ich vor langen Jahren in einsamer Wüste einen Mann, der Eigentümliches tat. Er suchte einen Punkt außerhalb der Erde. Jahrelang suchte er, und da er ein Deutscher war und dazu noch ein Malkünstler, suchte er mit deutscher Gründlichkeit. Er suchte nach dem Punkt außerhalb der Erde, wie ja alle Künstler das Ideal außerhalb der Möglichkeit suchen, wir wurden miteinander befreundet und schließlich, nachdem der Maler mich in seine Pläne eingeweiht, half ich mitsuchen. Eines Tages aber fanden wir den Punkt. Es toste ein heißer Samum über die Wüste und zitternde Bilder stiegen in den Sandwolken auf und nahmen unsere Sinne gefangen. Da plötzlich fand ich den Punkt. Es war, als wenn er von selbst zu mir gekommen; ich hatte den Punkt außerhalb der Erde. Voller Freude begebe ich mich zu meinem Maler, um ihn zu dem endlich gefundenen Ort zu führen, da sehe ich, wie eine mächtige Riesenschlange sich um meinen Freund gewickelt hat, und ihn langsam erdrosselt. Es gab keine Möglichkeit, ihn zu retten, und sterbend rief er mir noch zu, daß ich in seinem Rucksack ein vollständig ausgearbeitetes Projekt vorfinden würde. Dieses Projekt des deutschen Malers will ich dir vererben, damit das deutsche Volk nicht eines Ruhmes verlustig geht, der ihm von einem seiner Söhne zugedacht war.
Also: der Punkt außerhalb der Erde liegt nicht weit von hier am Aequator. Morgen schon wird dich mein treuer Diener Jusuff dorthin führen. Auf diesem Punkt errichtest du einen Holzblock, wie ihn die Holzsäger benützen. Einen zweiten Block setzest du daneben, einen dritten und so fort, immer einen neben den anderen, den ganzen Aequator entlang. Auf die Blöcke legst du zwei Eisenbahnschienen, die wiederum mit zwei über ihnen liegenden parallelen Linien durch eiserne Querbalken verbunden sind, nach Art der Eisenbahnbrücken. Nun stellst du an jedem Block einen Mann auf und läßt ihn das Holz mit Petroleum tränken. Ferner legst du eine elektrische Leitung um den Aequator. Auf ein gegebenes Kommando werden sämtliche Blöcke Feuer fangen und zu Asche verbrennen, so daß nur das eiserne Gerüst um den Äquator übrig bleibt, das wie ein Ring frei um die Erde schwebt. Jedes Eisenteilchen wird gleichmäßig von der Erde angezogen und der Ring wird sich daher nicht bewegen.
Du bringst nun, um die ewige Rotation des Ringes aufzuhalten, eine Maschine mit einem Schaufelrad an, die gegen den Ring arbeitet. Steht nun der Ring still, so baust du daneben einen zweiten mit geringerer Hemmung und dann einen dritten und so fort, bis es hundert Ringe sind, die nebeneinander laufen. Jeder läuft etwas langsamer als der andere. Auf dem obersten Ring baust du Glaspavillons, die du ja nach dem Geschmack der Zeit einrichten kannst, durch die hundert Reifen läßt du einen elektrischen Aufzug gehen, damit der Reisende nicht zu klettern braucht. Der Ring kreist so schnell, daß man mittags in Marokko einsteigen, nachmittags in Berlin einen Besuch machen und vor dem Schlafengehen noch in St. Franzisco einen Abendschoppen nehmen kann. Man wird in vierundzwanzig Stunden um die Erde fahren.
Ja, noch mehr, man wird es in zwölf Stunden fertig bekommen, wenn man erst den Nordpol mit dem Südpol durch einen gleichen Ring verbindet, was nur eine Frage der Zeit ist. Aber vorläufig wird es euch heißhungrigen Erdenwesen wohl genügen, euren Planeten in eines Tages und einer Nacht Länge zu durchqueren.« – –
Hier endete Mokri Ben Mahmet, der weise Marabout, und trank schnell eine Tasse Kaffee, denn das viele Sprechen hatte ihn angestrengt.
Fritz Krohn war wie versteinert. Das größte Problem der Welt, der Stein der Weisen, lag vor seinen Füßen. Er fühlte plötzlich einen Riesenmannesmut in seinen Knochen und stramm sich aufrichtend, klemmte er das Monokel, das ihn auch in sein orientalisches Dolce far niente-Leben treu begleitet hatte, in sein blaues deutsches Auge und sagte:
»Eminenz – Ihr Vertrauen ehrt mich, ich werde von Ihrem Vorschlag Gebrauch machen und mir erlauben, Ihnen einen Gewinnanteil gutzuschreiben –«
Aber der Marabout winkte bescheiden mit der Hand ab, erhob sich langsam und schritt gemessen durch das runde Portal. Draußen setzte er sich auf den Sattel seines Kamels, das Tier jedoch schien in seiner wiederkäuenden Beschäftigung unangenehm gestört worden zu sein, denn beim Erheben stolperte es und begrub seinen Reiter unter dem schweren Gewicht. Als die Gläubigen von dem großen Unglück hörten, stürzten sie in Scharen herbei und erhoben ein Jammergeschrei: Mokri Ben Mahmet, der Weiseste aller Weisen fiel einem Kamel zum Opfer – der größte Geist dem dümmsten Vieh…
Im nächsten Kapitel werden wir nun sehen, wie Fritz wirklich der »Zeitgenosse« wurde, von dem nicht nur die Welt, sondern auch die Geschichte sprechen wird. Denn er hatte ein Patent in Händen, das ihm keiner streitig machen konnte, nicht einmal das Deutsche Reichs-Patentamt.