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Einleitung – Die umgegossene Kaffeetasse – Schuft, das Hundevieh – Der erste Schrei des Helden – Tante Lieschens Schicksalskarten
Es war einmal ein Mann, der wollte die ganze Welt auf den Kopf stellen und sich selbst dazu, wenn ihm nicht im richtigen Moment jemand auf die Schulter geklopft hätte – – aber man muß nicht im Anfang schon die Pointe verraten und womöglich mit der Moral beginnen. Niemals ist die Moral am Anfang, die Moral ist immer zum Schluß, und es ist mit der Moral genau so, wie mit dem Brunnen, den man zudeckt, wenn das Kind hineingefallen ist. wenn alles vorüber, kommen alle alten Tanten und Onkels und alle sauertöpfischen Philister angerannt und klagen und jammern: »ach Gott, ach Gott«, schlagen die Augen vor Entrüstung nieder und schieben die Pupillen mit einem Ruck nach oben, so daß man nichts als das weiß des Augapfels sieht. Sie nennen das zum Himmel flehen und die Moral aus der Geschichte ziehen.
Wir haben nun noch Zeit bis wir uns moralisch entrüsten können über den Helden der abenteuerlichen Geschichte, die auf diesen Blättern berichtet und gezeichnet wird. Wir müssen sein Leben von Anfang an verfolgen, damit wir ganz genau wissen, mit wem wir es zu tun haben, und wieso, weshalb, warum.
Diese drei Beiwörter sind nämlich sehr wichtig, um einem Ding bis auf den Grund nachzugehen. Auch bei den Taten eines Menschen soll man die Fragezeichen nicht vergessen, denn alles läßt sich auf irgend etwas zurückführen und alles hat einen Beweggrund mit einem Ausrufungszeichen.
Jetzt haben wir aber genug philosophiert, wir wollen noch einmal von vorne anfangen: Also es war einmal ein Mann, der Fritz hieß und am Ende des vorigen Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, gerade einen Tag vor Pfingsten, im wunderschönen Monat Mai, als die ersten heißen Sonnenstrahlen über der Stadt brüteten. Die Sonne lachte nämlich über einer ganz kleinen Stadt, so über einer kleinen Stadt von einigen Tausend Einwohnern, die sich alle kannten, und von denen jeder genau wußte, was der andere seit den letzten zehn Jahren täglich zu Mittag gegessen hatte. In der ganzen Stadt gab es eigentlich nur ungefähr hundert Einwohner, die anderen zweitausendachthundert wurden nicht gerechnet, das waren Handwerker und Arbeiter. Und von den hundert Einwohnern, die nach ihrer eigenen Schätzung allein würdig die Stadt vertraten, behaupteten zehn Menschenpaare, daß nach ihnen eigentlich alles aufhörte. Nach ihnen und hinter ihnen, denn sie bildeten die »Gesellschaft«.
In dieser kleinen Stadt legte der Storch kurz vor Pfingsten an einem schönen Maimorgen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unseren Helden in eine propere und blütenweiße Wochenstube ab. Es war einer der ersten Störche, die aus Afrika wieder hinüber gekommen waren, der dieses Menschenbündel von sich warf. Er muß es wohl in den Sümpfen des Viktoria-Nyanza-Sees gefischt haben, wo nachts die Phantasien geboren werden und gespenstische Spuke durch die Nebel ziehen.
Die Tatsache ist nicht abzuleugnen, daß oben in der zweiten Etage des schönen Hauses am Markte, das dem Herrn Apotheker Krohn gehörte, an dem bewußten Morgen um acht Uhr ein mörderliches Geschrei ertönte. Man wird es heute nicht mehr feststellen können, ob der Storch in dem Augenblick, als er die rundliche rosenrote Frau Apothekerin in die mollige Wade biß, vielleicht mit seinem Schnabel den jungen Herrn Erdenbürger etwas zu unsanft karessierte. Wahr ist jedenfalls, daß Tante Lieschen, die im Nebenzimmer mit ihrem Bruder, dem Herrn Apotheker Kaffee trank, etwas tat, was sie sich noch lange Jahre hindurch nicht verzeihen konnte, was für sie gleichbedeutend war mit einer der sieben Todsünden: Sie goß voller Schrecken die volle Kaffeetasse um. Sie war nämlich, da sie ängstlich und nervös die ganze Nacht hindurch auf den feierlichen Moment gewartet hatte, bei dem erlösenden Schrei plötzlich aufgesprungen und hatte alle Regeln des Anstandes und der guten Sitte außer acht gelassen. So kann man sehen, daß selbst eine Dame, die wie Tante Lieschen widerspruchslos zur »Gesellschaft« der Stadt gehörte und somit die Feinheit lebenslänglich gepachtet hatte, im Moment der Leidenschaft zum gewöhnlichen Menschen herabsinken und eine Kaffeetasse umwerfen kann.
Es war fast ein böses Vorzeichen, daß der nunmehr geborene Erdensohn sich mit einer Verletzung des Anstandes und der guten Sitte einführte, wenn er auch eigentlich selber nichts dafür konnte. Aber es ist erlaubt – wenigstens tat es Tante Lieschen später – Schlüsse zu ziehen, wie das Leben des jungen Fritz sich anders gestaltet hätte, wenn Tante Lieschens Arm nicht in Berührung mit der Kaffeetasse gekommen wäre. So lief die braune Zichoriensauce über die weiße Tischdecke und hätte sich beinahe noch auf den Teppich verirrt, aber Minna, das Mädchen für alles, die mit geröteten Backen draußen gehorcht hatte, erschien als rettender Engel und tupfte mit dem Wischtuch den Kaffeesee von der Bildfläche.
In dem Wohnzimmer, das neben der Wochenstube lag und in dem die ganze Nacht hindurch Kaffee getrunken worden war, befanden sich nun folgende vier Personen, deren Nervosität bis aufs Höchste gespannt war, die ängstlich dem Schreien da drinnen zuhorchten und deren Augen fast aus den Höhlen traten, weil sie jeden Augenblick hofften, Frau Meyer, die helfende Hebamme, würde im Türspalt erscheinen und einen nach dem anderen hineinlassen.
Wollen wir inzwischen ihr Herz klopfen und ihre Augen ruhig aus den Höhlen treten lassen. Wir wollen die Zeit benutzen, um uns diese vier Personen genauer anzusehen, die unser Held bald kennen zu lernen die Ehre haben wird.
Übrigens haben wir vergessen, mitzuteilen, daß zwischen Minnas Röcken Schuft, der Dackel, in das Zimmer hineingeschlichen ist, da er durch zweijährige Zugehörigkeit zur Familie sich die Berechtigung anmaßte, an den Ereignissen teilzunehmen und als vierte Person zu rangieren.
Da ist zuerst der Apotheker Herr Wilhelm Krohn. Ein Herr in den besten Jahren, so um die vierzig, blond, mit einem wohlgepflegten Bart, der noch aus der Zeit des siebziger Feldzuges stammte, und der einen gewissen Patriotismus zur Schau trug. Hinter seinen Brillengläsern hatte er ein paar graublaue Augen, die sehr lustig blinzeln konnten, wenn er abends am Stammtisch die Pointe einer Anekdote herausbrachte oder von seinen Abenteuern berichtete, die er in Berlin, wohin er von Zeit zu Zeit verschwand, zu erleben vorgab. Herr Krohn liebte eine gute Flasche Rotspon und eine lustige Kritik, und in der Stadtverordnetenversammlung hütete man sich, mit ihm anzubandeln, denn er nörgelte alles in Grund und Boden. Im übrigen hielt man ihn für einen furchtbaren Lebemann und munkelte allerlei über ihn.
Kann man bei dieser hereditären Belastung es einem eben geborenen Menschen verdenken, wenn er die Wege, die das Leben zu gehen auferlegt, so leicht wie möglich zu nehmen beabsichtigt? Aber wir wollen uns nicht wieder in philosophischen Betrachtungen verzetteln und Tante Lieschen nicht warten lassen, denn sie wird sonst noch ohnmächtig vor Neugierde. Über Tante Lieschen ist nämlich wirklich nicht viel zu sagen. Tante Lieschen ist die Schwester des Herrn Apothekers, sie wohnt im Hause, verzehrt ihr Erbteil und ist sonst, was man so nennt, eine gute Seele. Sie gehört, wie schon gesagt, zu jenen zehn Menschen der Stadt, die die »Gesellschaft« sind und hat nie in ihrem 48jährigen Leben den kleinsten Fehltritt gemacht, wenn man dieses kompromittierende Wort überhaupt in bezug auf Tante Lieschen anwenden darf. Ihre Korrektheit und ihre Feinheit ist vorbildlich in der Stadt und ihre einzige Schwäche ist ihr untrüglicher Blick in die Zukunft, den sie aus den Karten und aus dem Kaffeegrund hervorzaubert. Leider hat sie sich selber nur eine äußerst mäßige, aber dafür wohltemperierte Zukunft zaubern können, was vielleicht daran gelegen hat, daß ihr jegliches Verständnis für eine Vergangenheit fehlte.
Die dritte Person ist Minna, das Hausinventar. Sie ist jünger wie Tante Lieschen und macht noch Anspruch auf eine Zukunft, auf die Tante Lieschen doch schon verzichtet hat. Ihre dicken roten Arme fuchteln in der Küche herum, und es gibt wenig Menschen, die sich entsinnen können, Minna jemals ohne die bloßen Arme gesehen zu haben. Ihre Charakteristik ist: »treu, ehrlich und kocht gut«. Was sie allerdings erst einmal schwarz auf weiß hat, da sie ihre Stellung nicht zu wechseln beliebt. Minna versteht im gegebenen Moment zu brummen und die richtige Antwort zu geben. Über ihre sonstigen menschlichen Eigenschaften wird man nicht viel erfahren können, denn sie hat in ihrer Kammer einen großen Reisekorb, in dem sie alles vorsichtig verschließt.
Die vierte Person haben wir bereits vorgestellt, sie befindet sich in diesem Augenblick unter dem großen geschweiften Sofa, wo sie mit zusammengekniffenen Augen nach Tante Lieschen blinzelt. Tante Lieschen nämlich hatte wirklich ihre Feinheit und Korrektheit vergessen und tanzte wie besessen im Zimmer herum, wobei die Schürzenbänder um sie herumflatterten. Mit den Händen machte sie Bewegungen, als ob sie winken wollte, und im halbflüsternden Ton sagte sie in einem fort zu ihrem Bruder: »Wenn's doch nur ein Junge wär'!«
Minna hatte die bloßen Arme auf die Hüften gestemmt und den Oberkörper vorgebeugt. Der Apotheker saß mit aufgestütztem Kopf am Tisch und schaute wie geistesabwesend über die Kaffeelache nach der Tür. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, daß man Vater wird, und das entsetzliche Warten ist schlimmer als ein Examen machen. Die Erregung der drei Menschen war aufs höchste gespannt und das Schreien des jungen Menschenkindes nebenan wurde immer gewaltiger. Nur Schuft, das Hundevieh, äugte in aller Seelenruhe unter dem Sofa hervor und war sich in seinem Hundeverstand nicht ganz klar darüber, was er von Tante Lieschen halten sollte. Selbst das Hundevieh vermißte in diesen Minuten die gewohnte Würde und Vornehmheit von Tante Lieschen, die doch zur »Gesellschaft« der Stadt gehörte.
Schuft schnappte gerade nach einer Fliege, die sich bis unter das Sofa verirrt hatte und versäumte somit den denkwürdigen Augenblick. Er schien sich aber darüber zu trösten, denn er tappste langsam und schweifwedelnd an Frau Meyer heran, die jetzt mitten im Wohnzimmer stand und in einem weißen Bündel Wäsche ein rotes Stückchen Menschenfleisch dem versammelten Publico entgegenhielt. Der glückliche Vater und die noch glücklichere Tante beschauten dieses Stückchen Zeitgenosse neugierig von allen Seiten und Minna konnte sich nicht enthalten, sofort eine riesenhafte Ähnlichkeit mit seinem Papa zu konstatieren. Und wirklich schien aus diesen Runzeln und aus diesem gesottenen Krebsgesicht die erbliche Apothekerschwerenöterei herauszublicken, denn plötzlich hörte das Brüllen auf und zwei graublaue Äuglein guckten in die neue Welt hinein, die ihnen bisher noch unbekannt war. Schuft hatte sich inzwischen auf die Hinterbeine gestellt und versuchte auf seine Weise mit dem Neuangekommenen Bekanntschaft zu machen, indem er das Wäschebündel mit der Nase beroch.
Das war unseres Helden Debüt auf der Weltbühne.
* * *
Acht Tage nach Pfingsten, es war immer noch im schönen Monat Mai, und die Sonne brütete noch immer über der Stadt, kam Tante Lieschen eines Nachmittags in die Küche zu Minna, die gerade damit beschäftigt war, alles schön blank zu putzen. Das Geschirr war bereits gewaschen und die Töpfe und Teller standen blitzsauber in Reih und Glied. Minna fuchtelte mit dem Putztuch herum, und die Schwefelsäure hielt sie in der linken Hand. Daß Tante Lieschen zu ihr hineinkam, war weiter nicht aufregend, zumal jetzt wo die »Frau« noch lag und Tante Lieschen sozusagen das Wirtschaftszepter führte. Plötzlich drehte sich Minna um. »Herrjehses,« sagte sie, »wat is denn? Sie sind ja janz von sich. Is 'n wat passiert mit'n Jungen? Is wat mit'n Soxleth los, reden Sie doch bloß en Ton, Fräulein Liese.«
Aber Tante Lieschen konnte kaum sprechen, sie zog die Brauen ganz in die Höhe und sagte immer noch nichts, und wenn Tante Lieschen nichts sagte, dann mußte es sich unbedingt um eine Staatsaktion handeln. Ihr feistes Gesicht, das eigentlich niemals schön gewesen war, wurde immer ernster und ernster, das Doppelkinn wurde immer länger und länger, die Lippen zuckten, aus ihren Augen stahlen sich kleine Tränen und ihre Hände falteten sich wie zum Gebet. Das ganze dicke alte Persönchen geriet in konvulsivisches Zucken; Minna ließ voller Schrecken die Flasche mit der Säure fallen, daß sie laut auf den Steinfließen aufknallte und Tante Lieschen die Scherben ins Gesicht spritzten: »Um Gottes willen, is er dot?« schrie Minna, sie dachte natürlich an den kleinen Fritz, um den sich seit acht Tagen alles im Hause drehte.
Das war das erlösende Wort, das Tante Lieschen die Sprache wieder gab.
»Sie sind wohl verrückt, Sie dumme Person! Wie können Sie denn so was sagen, er lebt Gott sei Dank, aber, aber – – es wird schlimm werden.«
Und Tante Lieschens Züge wurden wieder ernst und jetzt machte auch Minna ein trübes Gesicht, denn was Tante Lieschen erzählte, war wirklich nicht zum Spaßen. Sie hatte nämlich Fritzchen die Karten gelegt und daraus erfahren, daß es ihm noch sehr, sehr böse im Leben ergehen werde. Aber sie wollte doch lieber ganz sicher gehen und die Stichprobe machen, und nun setzte sie sich mit Minna an den Küchentisch und legte noch einmal Patience. Die beiden Frauen vertieften sich in die Karten und Minna war ganz aufgeregt. Sie guckte über Tante Lieschens Schulter hinweg, und es war ihr zumute, als wenn Tod und Leben von dem nächsten Augenblick abhängen würde. Es war auch schrecklich, wie die Karten lagen. Herzdame und Herzkönig waren übern Weg zum Pik-As, was ja immerhin ganz gut wäre, denn Pik bedeutet doch Geld und das wäre das Wichtigste heutzutage. Aber diese Herzdame! Das ist nämlich die Liebe und schon bei den ersten Karten hatte sich diese Dame dazwischen gedrängt, und Tante Lieschen sagte, das eben wäre das Schlimme für Fritzen, das in seinem zukünftigen Leben zuviel geliebt werden würde. Sie selbst verabscheute diese Art der Lebensbetätigung. Erstens war sie zu fein dafür, und zweitens hätte sie ja beinahe einmal jemanden ihr Herz geschenkt, doch das war schon zu lange her und sie hatte immer nur gelesen und gehört, daß bei der Liebe nichts Rechtes herauskomme. Minna aber zeigte mehr Verständnis dafür, und als die Patience allmählich aufging, meinte sie ganz kurz: »So oder so, wie't kommt, so kommt's, da is nischt ze machen, der eene hat Jlück und der andere keens, und sterben müssen wir doch mal alle. Det Beste is, abwarten und denn Tee trinken.«
Damit hatte sie ihre ganze Philosophie erschöpft und sagte beruhigend zu Tante Lieschen: »Jehen se man n' bisken zum Kleenen rin, ick werde derweile den Fenchel auskochen.«
Tante Lieschen ging schweren Hauptes heraus. Sie schüttelte mit dem Kopf, wie sollte das bloß noch enden, die Karten trügen nicht.
Fritz aber lutschte inzwischen vergnüglich am Gummipfropfen der Lebensfreude.