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Unseres Helden erste Irrung – Skat und Liebe – Das Gedicht mit dem Fettfleck – Der Durchfall – Dichter und Kommerzienrat – Auf nach Berlin
Tante Lieschen hatte Recht gehabt, Fest und steif behauptete sie, sie hätte es schon längst gewußt, daß es so kommen würde. Und sie war ganz stolz auf ihre Prophetentätigkeit, obgleich ihr innerlich das Herz dabei blutete. Der Vater, Apotheker Wilhelm Krohn, meinte zwar, das hätte mit ihren Karten gar nichts zu tun, sondern er würde dem verdammten Bengel den Brotkorb höher hängen, und ihm noch eine Tracht Prügel versetzen. Eine hatte er ihm nämlich schon versetzt, und er war ganz außer Atem davon. Mama, die allzeit duldsame Seele, trocknete sich mit dem Schürzenzipfel eine heimliche Träne und seufzte. Minna, die in den dreizehn Jahren nach Fritzens Geburt noch festere Formen angenommen hatte, deckte den Tisch ab und erlaubte sich, innerlich entrüstet zu sein. Für ein Dienstmädchen in einem guten Hause schickte es sich nicht, bei Familientragödien ungefragt seine Meinung zu äußern. Aber man merkte an der Art, wie sie das Tablett mit dem Geschirr heraustrug, und an dem Klirren der daraufstehenden Gläser ihre starke Gemütsbewegung.
Was aber würde Schuft getan haben, wenn er diesen traurigen Anblick noch erlebt hätte? Aber leider mußte er infolge einer unliebsamen Bekanntschaft, die er mit einem Automobil machte, vor einigen Jahren schon diese schöne und undankbare Welt verlassen.
Wirklich, was hätte Schuft getan! Er wäre wahrscheinlich zu Fritzen in das Mansardenzimmer geschlichen und hätte ihn, den er nächst Minna seinen besten Freund nannte, in seinem großen Leid schweifwedelnderweise getröstet. So aber saß Fritz allein vor dem kleinen Tisch, der mit vielen Tintenklecksen geziert war, und sein Blick streifte schwermütig über die schneebedeckten Dächer der Stadt, die sich vor dem kleinen Fenster dehnte. Er war schmachvoll vom Tisch gewiesen und büßte wie ein Mönch des Mittelalters.
Tante Lieschen wiederholte inzwischen unten immerzu, daß man es ihm anstreichen müsse. Der Vater behauptete, es wäre eine Gemeinheit, und Frau Marie, die Mutter, gluckste und seufzte, aber sie sagte kein Wort, denn alles, was nicht mit Kochen, Obsteinmachen und Staubwischen zusammenhing, überschritt ihren Horizont.
Oben dachte Fritz über seine Sünden nach. Was hatte er eigentlich getan? Daß er als Tertianer Skat spielte, war erstens kein Verbrechen, sondern ebenso wichtig für sein späteres Leben, wie Lateinisch und Griechisch, womit sie in der Schule gestopft wurden, wie die Fettgänse. Ernstlich dachte er darüber nach, ob es nicht angebracht wäre, einen Lehrkursus für Skat auf dem Gymnasium einzurichten, anstatt z. B. des vielen Griechisch, das man nachher doch wieder verlernt. Skat aber würde man nie wieder verlernen, ohnedies hätte man dazu im Leben viel zu viel Gelegenheit. Und im Gegenteil, mancher lerne es nie ordentlich, welche Berechtigung hatte nun sein Schuldirektor, ihm für diese selbsttätige Aneignung, man möchte fast sagen fakultative Erlernung eines schwierigen Lehrgegenstandes, drei Stunden Karzer zu geben?
Er grübelte und grübelte. Draußen wurde es allmählich dunkler, und die Dämmerung schob dünne, blaue Gaze über die Schneefläche. Er rückte unruhig auf seinem Rohrstuhl hin und her, es war ihm nicht ganz geheuer zumut. Sollten die Handflächen seines Herrn Vaters mit den Flächen eines gewissen Teiles seines Körpers zu starke Reibungen hervorgebracht haben? Oder hatte der Mangel eines richtigen Mittagbrotes ein zu großes Loch in seinen Magen gefressen? Hierbei dachte er wehmütig an Minna. In diesem Augenblick verkörperte sich für ihn der ganze Begriff »Weiblichkeit« in Minna. Er verzichtete auf seine sonstigen lyrischen Beziehungen zum schwächeren Geschlecht und seine Vorstellungen davon wurden rein substantieller Art. Konnte ihm das Blondhaar von Grete Schulz, konnten ihm ihre blauen Augen ein Schweinekotelett ersetzen, das Minna vielleicht für ihn an die Seite gestellt hat? Und das war ja sein Pech überhaupt. Bei dieser ganzen traurigen Affäre, wegen der er nicht nur drei Stunden im Karzer gesessen, sondern auch noch die Familientragödie mit unangenehmen Berührungen seines Körpers heraufbeschworen hatte, spielte nicht nur der Skat eine gewisse Rolle, sondern auch Grete Schulz, der er in angeborener Ritterlichkeit Fensterpromenaden machte. Allerdings war er sich noch nicht über die Grundzüge der Liebe einig. Denn wenn er die zwölfjährige Grete Schulz mit Hulda verglich, die in dem kleinen Lokal, in dem er mit den anderen Gymnasiasten Bierorgien feierte, Hebedienste verrichtete, so konnte er sich des peinigenden Gefühls nicht erwehren, von Zweifeln verzehrt zu werden, wen liebte er eigentlich? Liebte er die üppige schwarze Hulda oder die dünne blonde Grete? Das Lehrerkollegium schien sich mit solchen Seelenproblemen nicht abzugeben und lochte ihn ein. Aber Gott sei Dank blieb ihm seine Phantasie und seine lyrische Begabung.
Als es draußen fast dunkel war, hatten sich seine Schmerzen gelindert. Er konnte auf dem Rohrstuhl wieder ordentlich sitzen und hatte somit sein körperliches Gleichgewicht neu hergestellt. Aber auch seine Seele war ruhiger geworden, denn der Flug seiner Gedanken hatte sich in einem zehnstrophigen Gedicht konzentriert, das er sich beeilte mittelst der Petroleumlampe niederzuschreiben. Das Poem betitelte sich »Die Liebe« und war im Heineschen Versmaß gehalten und entwickelte ganz neue Ideen über diese merkwürdige Erscheinung im menschlichen Leben.
Zweimal hatte es inzwischen schon an seiner Tür geklopft.
Die Feder raste über das Papier und sein Geist und seine Verse rasten mit. Dann stand Minna hinter ihm und setzte ihm das Abendbrot auf den Tisch. Mit Heißhunger griff er nach dem kalten Schweinskotelett, Minna aber nahm das Blatt Papier in die Hand und fing an zu lesen:
»Was ist die Liebe, o mein Gott?
»Die Liebe ist doch unendlich!
»Ich greife in meine Leier hinein
»Und singe: die Liebe ist schändlich. – –
»Jotte doch, Jotte doch, Fritze, du bist ja n' Dichter!«
Sie legte ehrfürchtig das Blatt wieder auf den Tisch, aber mit ihren dicken Händen hatte sie einen großen Fettfleck darauf gemacht.
Fritz verzehrte noch drei belegte Butterbrode und verzichtete bis zum Schlafengehen auf weitere philosophische Meditationen, denn schließlich hat das Leben auch seine realen Seiten.
* * *
Wir müssen erklären, weshalb wir dieses kleine Ereignis aus dem Dasein eines Schuljungen mit so großer Wichtigkeit vorgebracht haben. Für die Entwicklung unseres Helden und für die Psychologie seines Lebenswandels ist es unerläßlich, daß man erfährt, wie Begabung und Vererbung einen Menschen notwendigerweise auf einer vorgeschriebenen Linie laufen lassen. Wäre Fritzens Vater seine Mutter gewesen, und hätte also Fritz nicht seinem Vater, sondern seiner Mutter geähnelt, so wäre er ein stilles, duldsames Menschenkind geworden. So hatte aber er nur von der Mutter die Statur, und vom Vater die Frohnatur; also war er gezwungen, seine erblichen Belastungen väterlicherseits auszuleben und mütterlicherseits dicker zu werden. Wir sind überzeugt, daß nicht jeder Leser diese genealogischen Verhältnisse klar und deutlich auseinander halten wird, und wenn wir nun gar noch hinzufügen, daß Fritz doch auch noch mit Tante Lieschen verwandt war, von der er außer seinem späteren kleinen Vermögen noch die »Feinheit« erbte, so müssen wir behaupten, daß sich das Charakterbild unseres jungen Helden immer schwieriger gestaltet. – – –
Wir werden nun sehen, wie Tante Lieschen leider fünf Jahre später mit ihrer Kartenprophezeiung wiederum Recht behielt.
Jeder, der schon einmal in seinem Leben in arge Bedrängnis gekommen ist, sei es durch Geldmangel, durch Todesgefahr, durch einen Gerichtsvollzieher oder durch einen unterwegs verloren gegangenen Reisekoffer, kann ermessen, daß des Lebens ungemischte Freude keinem Irdischen zuteil wird. Was jedoch sind alle Qualen der Hölle gegen ein Abiturientenexamen? Selbst in dem Falle, daß man es mittels einer guten Vorsehung besteht, wenn einen nun noch die Vorsehung im Stiche läßt, und die ganze Ochserei und das entsetzliche Büffeln, die vielen auswendig gelernten Horazverse und Geschichtszahlen nicht dazu ausreichen, das Joch der Schule abzuschütteln, dann kann sich jeder, der einen Funken von Verständnis im Herzen hat, die Stimmung ausmalen, in der ein durchgefallener Abiturient vom Gymnasium den Heimweg antritt.
So sehr wir im vorigen Kapitel von freudigen Ereignissen aufgenommen waren, so wenig angenehm ist es uns, auf diesen zehn Seiten eine gewissenhafte Chronik zu führen. Man kann sich vorstellen, daß der durchgefallene Herr Fritz Krohn zu Hause mit derjenigen Achtung empfangen wurde, die einem Durchgefallenen von den Familienmitgliedern immer entgegengebracht wird. Sofort wurde ein Familienrat befohlen, der nach der Suppe sich konstituierte, und an dem Minna somit Gelegenheit hatte beim Servieren teilzunehmen.
Frau Marie drückte nach alter Gewohnheit eine weiche Träne aus den kleinen Äuglein auf die weiche Wange. Tante Lieschens Doppelkinn hatte gewaltige Dimensionen angenommen, und unter den dicken Augenbrauen rollte es und wetterte es. Papa Krohns kritischer Zug um die Nase hatte sich mit den Jahren noch verstärkt. Fritz, groß und dick, saß ziemlich apathisch am Tisch und stocherte in den Speisen, wenn man sich diese vier Personen, die von Zeit zu Zeit durch Minna als Fünfte vermehrt wurden, in einem geräumigen Zimmer, umgeben von Nußbaummuschelmöbeln vorstellt, so hat man ungefähr ein Bild des traurigen Familienidylls am Tage des durchgerasselten Abiturientenexamens.
Bei den Preißelbeeren erklärte Fritz, daß er die Schule ebenso satt hätte, wie die ewigen Preißelbeeren, worüber seine Mutter äußerst entrüstet war, denn sie hatte das Kompot selber eingemacht. Allerdings etwas zu reichlich, und so überfütterte sie in diesem Winter die Familie damit. Fritz erklärte kategorisch, das ganze Examen wäre Mumpitz und der Mathematiklehrer hätte ihn nur durchfallen lassen, weil er wüßte, daß er Gedichte macht. Und im Leben kümmerte sich keiner darum, ob man die Logarithmen auswendig weiß und die Kubikwurzeln ziehen kann, und kein Mensch draußen in der Welt Interesse daran, ihm die Zahl Pi bis zur achten Stelle abzufragen. Er, Fritz, wolle ein Dichter werden oder ein Kommerzienrat, denn entweder wollte er Ruhm erwerben oder Geld, und zu beiden hätte er das Examen nicht nötig, sondern nur Genie. Genie hätte er, das wüßte er bestimmt; sogar eine Masse Genie. Und dann redete er noch so viel krauses Zeug durcheinander, daß der Vater aufbrauste und ein donnernder »dummer Junge« an seinen Kopf flog. Tante Lieschens Doppelkinn schwabbelte bedenklich, und ihre dichten Augenbrauen zogen sich in die Höhe. Der Junge imponierte ihr. Aber als Fritz von Berlin sprach, wohin er jetzt seine Schritte führen wollte, schüttelte sie bedenklich den Kopf. Berlin hatte für sie etwas, man möchte fast sagen »abstraktes«. Berlin war gleichbedeutend für sie mit einem Müllhaufen, auf den man die nicht mehr brauchbaren Reste wirft.
Wenn einer nach Berlin zog, dann war es gewöhnlich deshalb, so meinte sie, weil er zu Hause nichts mehr taugte. Von den zehn Menschen, die in der Stadt die »Gesellschaft« bildeten (in den letzten achtzehn Jahren hatten sich trotz Geburten und Sterbefällen diese zehn Menschen weder vermehrt noch vermindert) würde es niemals einem eingefallen sein, nach Berlin zu ziehen. Tante Lieschen wußte übrigens genug von der Reichshauptstadt, denn sie las den Berliner Lokal-Anzeiger, und ihre Freundinnen und Freunde hatten ihr manches von dem Sündenbabel erzählt.
Wir werden jetzt Tante Lieschen bald aus dem Auge verlieren, denn Fritzens eigentliches Leben beginnt erst im nächsten Kapitel, und Tante Lieschen wird sich nur noch erlauben, ein oder das andere Mal in Fritzens Dasein einzugreifen, ohne daß dieses Eingreifen besondere Wellen nach sich zieht. Beim Schluß nun dieser ziemlich geräuschvollen Familiensitzung hatte es Fritz durchgesetzt, daß er nach Berlin gehen würde, nachdem er mit seinem Vater einen Kompromiß eingegangen war, die kaufmännische Karriere zu ergreifen. Tante Lieschen hatte schließlich auch zugestimmt, da ihr Fritz etwas von Großkaufleuten, Bankdirektoren und Petroleumkönigen erzählte, und er verstand es, so wundervoll und begeistert von seinen zukünftigen Unternehmungen zu sprechen, daß selbst dem Herrn Apotheker innerlich ganz warm wurde. Äußerlich allerdings brummte er ein paarmal »Dummheiten«. Und Frau Marie überlegte bereits bei sich, daß es doch sehr vorteilhaft wäre, wenn Fritz in Berlin Kaufmann würde, da sie dann durch seine Vermittelung ihre Einkäufe zu Engrospreisen machen könnte.
So war es also beschlossen, daß Fritz Krohn, der durchgefallene Abiturient, in der nächsten Woche die Stadt verlassen würde, um in der Reichshauptstadt Karriere zu machen.
Abends, als Minna in Fritzens Zimmer kam, um aufzuräumen, paffte er eine von seines Vaters großen Zigarren und las mit einer seltenen Befriedigung in Zolas Nana. Er bereitete sich für die Großstadt vor. Minna stellte sich bewundernd vor ihn hin, dann sah sie ihn ganz traurig von der Seite an und sagte zu ihm: »Fritze, Fritze, nu wirst de doch keen Dichter, und ich hatte mir schon so drauf jefreut.«
Fritz aber antwortete: »Ein Dichter wird man nicht, ein Dichter ist man, Kommerzienrat kann man werden, und das werde ich. Ein Dichter bin ich und bleibe ich.«
Das war Minna zu hoch. – – –
»Na juten Nacht! Und mach man noch 'n bißchen das Fenster auf, bevor du schlafen jehst, damit der Rauch rauszieht.«
In der Nacht träumte Fritz von Berlin, von Nana, von Abenteuern, und seine Frau Mama lag derweile unruhig auf ihrem Kopfkissen und packte in Gedanken den Koffer des Sohnes. Auch Tante Lieschen war es schwer zumut, denn sie hatte bange Zweifel, ob es in Berlin auch eine »Gesellschaft« gäbe, die »fein« wäre, und ob Fritz da den Anschluß fände. Nur der Herr Apotheker freute sich darauf, daß er Fritzen nächste Woche nach Berlin bringen könnte, und dann hätte er öfters einen Grund, dorthin zu fahren, weil er seinen Sohn besuchen müßte.
Wir aber lassen jetzt die gesamte Familie Krohn den Schlaf des Gerechten schlafen und wollen von Minna, Tante Lieschen und Frau Marie Krohn Abschied nehmen, da wir ihnen vorläufig nicht mehr begegnen werden, wir wollen nur noch berichten, daß der letzte Gedanke von Fritzens Mama war, als sie doch endlich nach all den Aufregungen einschlafen konnte, sie dürfe um Gottes willen nicht vergessen, für ihn noch sechs Paar wollene Socken stricken zu lassen.