Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Autobiographische Schriften

Aus einem zeitlosen Tagebuch

Tagebuch, Buch der Tage,
Der dunklen, der hellen,
Der nur zu kurzen,
Der endlosen, der unvergeßlichen,
Im besten wie im schlimmsten Sinne.

Rom

Ostern, Auferstehungsfest! – Wie viele Ostern haben wir schon erlebt, wir alten Wiener, an denen uns empfindlich fröstelte und jeder Blick zum Himmel ein Blick in unendliches Dunkelgrau war, an denen ein scharfer Nordwest große Schneeflocken vor sich herjagte, die niederfallend der Stadt, für einige Augenblicke wenigstens, ein winterliches Aussehen gaben. Und dennoch! Wem verbindet der Gedanke an Ostern sich nicht mit etwas sonnig Durchleuchtetem, Frühlingshaftem und Verheißungsreichem?

Ist das die Zeit, in der man von Gräbern sprechen darf und von Friedhöfen? – Vielleicht wohl. Über Gräber geht ja der Weg zur Auferstehung, und die Blumen, die aus Gräbern blühen, sind ihr lieblichstes Symbol. So hielt ich eine Vorfeier zu den kommenden Festen bei meinen Besuchen der römischen Campi santi. Einer der kleinsten, aber der poetischste ist der akatholische Friedhof der Fremden bei der Cestius-Pyramide. Wenn seine Pforte sich hinter uns geschlossen hat, ist uns die Welt und ihr Getriebe versunken; wir selbst kommen uns vor wie Abgeschiedene, unerreichbar den Sorgen und Anforderungen des Tages in diesem kühlen, stillen Friedensport. Die Luft ist feucht und etwas schwer und trägt uns kräftigen Erdgeruch, von feinem Blumenduft durchweht, entgegen. Ruhevolle, weihevolle Stille herrscht, nichts ist laut, nichts ist bunt, kein Ton, keine Farbe. Zypressen, herrliche, in ihrer Vollkraft stehende Bäume, ragen pfeilgerade empor. Sie sind reihenweise auf den Boden gepflanzt, der stufenartig zur alten Stadtmauer aufsteigt. Ihnen zu Füßen liegt Grab an Grab unter einfachen Kreuzen, schlanken Obelisken, großen Katafalken, kostbaren, oft von Meisterhand ausgeführten Denkmälern. Aus dem Dunkelgrün des Efeus, aus Einfassungen von Buchs, aus üppig blühenden Veilchenbeeten schimmern sie hell hervor. Kaum erwehrt man sich des kindischen Gedankens: Könntet ihr doch wissen, ihr armen Toten, wie schön ihr gebettet seid!

Mein erster Weg führt zu einem Grabe, dessen Marmorplatte den teuren Namen Theo Schückings trägt. Ihre Schwester Gerhardine, die Witwe des freisinnigen Mitglieds des preußischen Abgeordnetenhauses Heinrich Rickert, hat in den schneeig weißen Stein die Worte einmeißeln lassen:

Du wählst das Gute, weil's das Gute ist,
Und eh du wähltest, hast du es getan.

So war sie, in diesen zwei Zeilen ist ihr ganzes Wesen gekennzeichnet. Wohl jedem, der sie gekannt hat! Er hat erfahren, daß Menschen leben, für die das Gute tun heißt, dem Gesetz ihrer eigensten Natur entsprechen.

Theo Schücking ruht in der Nähe des kleinen Tempels, in dem die Asche ihrer mütterlichen Freundin, Malvidas von Meysenbug, beigesetzt wurde. Das Frühjahr 1903 hat beide hinweggerafft, die vielgefeierte Verfasserin der »Memoiren einer Idealistin« und die feinsinnige Tochter des Schriftstellerpaares Levin und Luise Schücking. Rom, das ihre geistige Heimat gewesen ist, birgt nun ihren Staub, und liebreich bewahren treue Freunde, die hier leben, ihr Gedächtnis. Nicht vielen der Schläfer in diesem Gottesacker wird das zuteil. So mancher sogar berühmte Name erweckt in uns nicht mehr das Bild einer Persönlichkeit. Und die andern, die hier Verlassenen? . . . ein Blick auf ihr Denkmal, und wir gehen vorbei. Da liegt eben auch einer oder eine von denen, die herkamen aus oft weiter Ferne, sich Gesundheit zu holen oder Trost im Leide, Zerstreuung oder Nahrung für ihren Wissensdurst, ihren Schaffensdrang. Gar oft aber greift uns der Inhalt einer Inschrift an das Herz. Wir lesen vom schweren Abschied, den Eltern von einem vielgeliebten Kind genommen, für das sie Genesung erhofften im milden Süden, wir erbauen uns an einem hehren Bibelspruch, werden von freudiger Rührung erfüllt bei jeder mit frommer Zuversicht ausgesprochenen Hoffnung auf ein seliges Wiederfinden im ewigen Lichte.

Ein Grab ist auf diesem Campo santo, da hat der Schmerz der Sprache keinen Ausdruck entlehnt, er nahm von ihr nur die Worte: Maria Obolensky, Pietroburgo 1855; Luglio; Roma Marzo 1873. Dafür hat die bildende Kunst eine erschütternde Beredsamkeit entfaltet und ein unvergleichliches Denkmal aufgerichtet. Es erhebt sich vor uns unter einem leichten Glasdach; die Säulchen, die es tragen, sind von Efeu umrankt, er umschlingt sie in üppigen Gewinden, er klettert schon über das Dach, breitet wie beschützend grüne Ärmchen über die erblindeten, milchweiß gewordenen Scheiben. Mild abgedämpft fällt durch sie das Licht auf einen kleinen Bau aus Marmor – eine Gruft. Zur Spalte geöffnet ist einer ihrer eisenbeschlagenen Türflügel. Zwei hohe Stufen führen zum Eingang hinab, und auf der oberen ruht eine junge weibliche Gestalt. Sie trägt ein einfaches Gewand, dessen Falten sich dicht und weich an den zarten Körper anschmiegen. Ihr feiner Rücken ist gebeugt wie unter einer schweren Last, sie hat den Kopf abgewendet von der schauerlichen Tiefe und blickt vor sich hin, trostlos, wie fragend: Muß es sein? Ich bin so jung und doch nicht jung genug, um leicht zu sterben, wie Kinder sterben, weil sie noch nicht ahnen, wie schön das Leben sein könnte, wie köstlich schön.

Diese Gedanken schweben auf ihrer Stirn, ihr holdes Dulderangesicht spricht sie aus; das ganze Bildwerk atmet eine Trauer, von der jede kleinste Einzelheit durchatmet ist, jede Falte des Gewandes, jede Strähne der linden, reichen Haare, jeder Finger der verschränkten Hände. Gefaltet liegen sie auf dem rechten Knie, das linke ist gestreckt, und schon steht der Fuß auf der nächsten Stufe zum verhängnisvollen Eingang . . . Du armes Kind! Je mehr ich mich in deinen Anblick versenke, je mehr belebst du dich, und bekannte Züge sehen mir aus deinen Zügen entgegen. Du hast eine leid- und anmutvolle Schwester, ein Dichterkind, aus dem Geist und dem Herzen Turgenjews geboren, Lisaweta Michailowna. Sie hat das Glück mit Augen geschaut, hat es in ihren Armen schon gehalten und, kaum errungen, verloren. Du hast vom Glück vielleicht nur geträumt, und deine Sehnsucht ist verewigt in diesem beseelten Stein.

Ich habe das Werk bewundert und geliebt, aber den Namen des Meisters, der es schuf, nicht gewußt. Jüngst erst wurde er mir genannt: Antokolskij – und nun war das Geheimnis der Vollendung, die ich angestaunt hatte, mir gelöst.

Am Tage unseres Besuches des Friedhofs der Fremden fanden mein treuer Wandergefährte und ich uns auch im Nationalmuseum ein, dem mir besonders lieben. Nicht bloß um der Schätze willen, die es enthält, auch als Bauwerk. Vor mehr als anderthalb Jahrtausenden ein Teil der Diokletians-Thermen, dann Kartäuserkloster, heute der Aufenthalt edelster Reste griechischer und römischer Kunst. Sie füllen die Säle des ersten Geschosses, die herrlichen, nach Michelangelos Entwürfen erbauten Säulenhallen, sie sind eingezogen in die einstige Domäne der schweigenden Brüder. Das kleine Haus eines Kartäusers umschloß außer dem Wohnraum eine Loggia, die zu einem Gärtchen führte. Die Mauern, von denen es umgeben war, begrenzten eng sein irdisches Bereich, hemmten aber nicht seinen weiten, freien Ausblick zum Himmel. Wer war's, der zuerst das Gärtchen bebaut und gepflegt hat? Wer tat es nach ihm, und wer hat das Erbe ihres Fleißes angetreten? Wer hat die Zelle bewohnt, von deren Wänden uns jetzt heitere Darstellungen hellenischer Feste anlächeln, als diese Wände noch kahl und rauh waren und ihr ernster, ihr einziger Schmuck ein Kruzifix gewesen ist? – Hat ein menschen- und freudenmüder Weltmann vor ihm gekniet? Hat einen Forscher und Denker alle Weisheit und Wissenschaft auf weiten Umwegen am Ende hierhergeführt zu den Füßen des Kreuzes? Hat vor dem Dornengekrönten ein großer Büßer auf dem Angesicht gelegen, und mußte auch sein Gebet lautlos sein und der Aufschrei seiner Inbrunst und seiner Reue auf seinen Lippen sterben?

Wenn sie wiederkehren könnten, die stummen Mönche, wenn sie den Kreuzgang durchschreiten würden, der in seiner großartigen Einförmigkeit aufs Auge wirkt wie ein langgehaltener feierlicher Orgelton aufs Ohr – wenn sie ihn belebt sähen von den Werken einer heidnischen Kunst – Entweihung müßte es ihnen erscheinen, und überall träte sie ihnen entgegen, auf Tritt und Schritt, wie in der Säulenhalle auch in dem zum Garten umgewandelten Klosterhof. Sie grüßt noch aus Trümmern, die kunstvoll auf dem Boden zerstreut oder in grünen Gebüschen halb verborgen sind, ein Widerschein antiken Geistes spiegelt sich in Michelangelos Delphinenbrunnen, dem Mittelpunkt dieser Wunderwelt.

Als wir vom Campo santo kommend an ihn herantraten und seinen springenden Wasserstrahl im Sonnenglanz schimmern sahen, berührte es uns eigentümlich ergreifend, daß auch hier – eine Tote lag. Nicht jung die, und nicht schmächtig – eine halbtausendjährige Riesin mit grauem, schrundigem Leibe. Wie ein vorweltliches Ungeheuer nahm sie sich da hingestreckt aus: die vorletzte der noch übriggebliebenen Zypressen, die Michelangelo gepflanzt hat. In einer stürmischen Februarnacht ging sie zur Rüste. Hätte sie Widerstand geleistet, kurze Zeit, ein paar Wochen nur noch! Die Rosensträucher, die rings um sie her sproßten und bis hinauf in ihre höchsten Äste zierliche Ranken spannen, fingen schon an zu knospen. Wie bald, und sie hätten die Welke, die Morsche wieder umblüht und umduftet und jeden ihrer dürren Zweige und abgestorbenen Äste mit den Feuerfarben des Lebens und der Jugend geschmückt.

Aber – sie hat nicht mehr warten gewollt; zu bös hatte der strenge Winter ihr mitgespielt, zu arge Fröste hatten ihren greisen Körper durchzittert. Genug! knisterte es die verwitterte Rinde entlang, genug! brach es dröhnend aus den Höhlen ihres gewaltigen Stammes. Wie knapp am Boden abgehauen, sank sie nieder und ließ ihre Wurzeln der Erde und verletzte in ihrem Sturze keinen der ehrwürdigen Reste in ihrer Nähe. Sachte legte sie ihr noch von einigen dunklen Zweigen gekröntes Haupt auf den Boden hin, den Michelangelos Fuß betreten hat.

Heimat

Ein besonders stiller Sonntagnachmittag im Sommer bei uns auf dem Lande. Aus dem Hause ist alles ausgeflogen, die Spatzen in den Dachrinnen einzig ausgenommen. Im Garten herrscht die schönste Einsamkeit, lebendige, wonnige, atmende Ruhe. Feierlich breiten die Bäume ihre Zweige in die milde, regungslose Luft und trinken Sonnenschein. Die Vögel haben sich müde gesungen, kein einziges Stimmchen wird laut. Ich gehe langsam in den Laubengängen und zwischen den Wiesen hin und kann den Fuß auf keine Stelle setzen, die nicht vor langer, langer Zeit, oder vor einer noch nicht fernen, ein mir teurer Mensch betreten hat.

Sie alle haben den dankbaren, fruchtbaren Boden unserer Heimat geliebt, und wenn ich über ihn hinschreite, umgeben sie mich, die Erbin dieser Liebe, sie mir ins Dasein, ich ihnen in den Tod getreu. Die Erinnerung knüpft ihre feinen, starken Fäden, trägt mir liebe Bilder, liebe Worte zu. Auch manches begrabene Leid regt sich, ein Widerstreit erwacht. Aber nur der Schatten seiner selbst, ohne Härte und Herbigkeit.

Entschwundene Zeit! Erst das Heute lehrt, was in deinem Damals des Kampfes wert oder unwert war.

Wie die Linden duften! Süß und schwer, beinahe betäubend. Die alten Bäume sind mit einem dichten Regen junger Blüten ganz überschüttet. Schlußakkord vom Farbenjubel des Frühlings. Was jetzt erklingt in unhörbaren Tönen, aus dem tiefen Dunkel der Blutbuchen bis herauf zum wasserhellen Ton des weißen Ahorns, ist eine sanfte Symphonie in Grün. In ihrer Lautlosigkeit schmeichelt sie sich dem Auge ein, wird ihm Erquickung und Labe. Es genießt mit Wonne alle Schönheit, die ihm entgegenquillt aus jedem Blatt am Baume, jeder Blume auf der Wiese, genießt mit tiefem Entzücken den Frieden dieser segensreichen Stunde.

Der Teich liegt so regungslos wie eine große Glasscheibe und spiegelt den eintönig blauen Himmel wider. Ringsum in den Gebüschen, da haben die Nachtigallen in ihrer Braut- und jungen Ehezeit goldig tönende Sängerkriege geführt, haben eins das andre überboten mit Klagelauten flehender Sehnsucht, mit Flöten und Schluchzen, mit dem Jubeln und Jauchzen triumphierender, beglückter Liebe.

Jetzt ist es aus. Der kleine Vogel schweigt über die Familienfreuden und -sorgen, die er sich ersungen hat.

In den das Buschwerk überhängenden Zweigen hat sich etwas geregt und kommt herabgeflogen auf den Weg. Etwas Kleines, Herziges, Weiß und Schwarzes mit Spindelbeinen. »Guten Abend, Fräulein oder vielleicht Frau Bachstelze.« Sie begibt sich dicht an den steinernen Rand des Teiches, der platt voll ist, läuft schnell und still wie eine Maus, bleibt stehen, tunkt den Schnabel ins Wasser, läuft ein Stückchen weiter, tunkt wieder, und sooft sie das tut, hat eine winzige Mücke ihre Existenz aufgeben müssen. Und wer weiß, was für eine fröhliche und ihrer Fröhlichkeit bewußte Mücke das war. Jetzt ist sie ein bewußtloser Bachstelzenbestandteil geworden.

So wäre denn eigentlich mein Traum vom unendlichen Frieden nun ausgeträumt. Was uns lebendig und glücklich scheint, lebt von Tod und Qual.

Die große Stille wird durch ein plätscherndes Geräusch unterbrochen.

»Da sind Sie ja, Madame Schwalbe. Dürften wohl auf der Jagd nach einem fliegenden Wild etwas tiefer ins Wasser geraten sein, als Ihnen lieb war.«

»Durchaus nicht; es war ein Flugbad in der Eile. Ich habe sechs aufgerissene Schnäbel zu stopfen.«

Richtig, sechs Schwälblein, nicht größer als die Faust eines dreijährigen Kindes, hocken auf der Querstange neben dem Teiche, die zum Ruheplatz für die noch nicht flugsichere Jugend angebracht worden ist. Sie hocken und schauen und warten, und so geschwind wie ein geschleuderter Stein kommt die Mutter aus der Luft herabgestoßen und hat irgendein erbeutetes Lebewesen, ein Würmchen, das sich kläglich krümmt, eine Larve oder eine Fliege im Schnabel. Alle Wartenden strecken die Hälse und erheben ein ungestümes Geflatter. Dann Ruhe. Eins ist mit einem guten Bissen versorgt worden, die andern sind voll Neid, aber auch voll Hoffnung. Die Mutter ist ja gleich wieder auf Raub ausgeflogen und auch bald wieder in Sicht. Neues Geflatter erhebt sich, und abermals ist ein aufgerissener Schnabel gestopft worden. Und so weiter, einer nach dem andern, bis alle versorgt sind, keins vergessen worden und keins zweimal beteilt.

Frau Schwalbe hat zum Besten der Brut ihre Grausamkeiten mit großer Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe vollbracht.

Nach dem Abendessen die Lektion – ein Ballett in der Luft. Die Mutter, vielleicht auch der Vater und eine Anzahl Verwandter fliegen den Kleinen etwas vor, überbieten sich an Grazie und Eleganz in ihrem lautlosen, wonnigen Gleiten und Schweben. In Ellipsen, in Spiralen, in engen und weiten Ringen kreisen sie über dem Wasser, tauchen die Brust in seine Kühle, kosen ganz hingegeben mit weit ausgebreiteten Flügeln die linde Luft, die sie sanft und liebreich trägt, jagen einander nach, schießen plötzlich wie Pfeile in Wolkennähe empor.

Und die Kleinen gucken, gucken, gucken, stoßen einander an, fragen: Wollen wir's nicht auch probieren? – Und eins schüttelt sich, hebt sich, fliegt und – kann's und ist ein Meister schon nach dem ersten Versuch.

Die übrigen lassen sich nicht spotten, folgen dem Beispiel, tun es glorreich, und große Freude über den famosen Nachwuchs herrscht in der ganzen Kolonie. Ein allgemeines lautes Gezwitscher erhebt sich, schallt hell über den Teich, tönt beifällig von den Zweigen. Nun weh den Mückenschwärmen, die dort tanzen im Abendsonnenschein. Die fliegen können, werden auch jagen können. Gott behüte das kleine, lustige Mückenvolk vor dem Wolfshunger junger Schwalben.

»Wird sie nicht behüten«, sprach eine alte Dicke, die es im Gedankenlesen weit gebracht haben mußte. »Sie, Angehörige der Würger, die alles fressen, nur daß es bei euch essen heißt, scheinen mir eine sentimentale Heuchlerin. Was steht denn Tausenden der Meinen von Ihresgleichen bevor, wenn wir im Herbst reisen, dem Licht und der Wärme nach? Wissen Sie das?«

»Ich weiß«, erwiderte ich kleinlaut.

»Nun, wir Tiere klagen nicht und klagen nicht an. Wir jagen auch nicht zu unserm Vergnügen und fressen bloß aus Notwendigkeit; ohne Liebe und ohne Haß erfüllen wir das Gesetz des großen Tieres Erde, das einem allerhöchsten und unerforschlichen Schöpferwillen folgen und unaufhörlich Leben hervorbringen und verschlingen muß. Verstehen Sie?«

»Sehr gut.«

»Und werden das Getier nicht mehr bejammern, das uns zur Nahrung angewiesen ist?«

»Nicht mehr.«

»Also, gute Nacht.«

Und sie flog fort, ihrem wohlbestellten Neste zu in einer Mauerritze des Pferdestalls.

 

Wieder herrschte eine melodische Stille, eine atmende Regungslosigkeit. Nur hoch oben im Wipfel der feinen, schlanken Birken schaukelten und wippten, wie spielend vor dem Schlafengehen, einige kleine Blätter. Langsam zog das graue Dämmern heran, und wieder erfüllte mich das Gefühl eines unendlichen Friedens. Doch war das nur der Abglanz des Friedens in meiner eignen Brust. In den Hainen, den Gängen, den Beeten drängten überall die Starken vor den Schwachen und diese vor noch Schwächeren ans Licht, entfalteten sich auf ihre Kosten, gediehen durch die ihnen entzogene Kraft.

Und mir war, als führe auch das scheinbar Leblose die Sprache der Schwalbe.

Eine Heldin

Wie hat der Sturm gerast, wie wanden und beugten sich die Bäume, wie schmerzlich stöhnte ihr Geäst! Die welken Zweige knisterten und brachen, vom Stiele gelöste Blätter und ein Schnee von losgerissenen Jasminblüten tanzten einen tollen Wirbeltanz, gequält schlug das hohe, samenschwere Gras jagende, wild gekräuselte Wellen, und der Anblick, den der Garten bot, war der eines großen Leidens. – Blutbuche, du Blume unter den Bäumen, du üppigzarte mit dem dicht umwachsenen Stamme, den harmonisch, wie eine schöne Melodie ausklingenden Zweigen empfandest die Qual am tiefsten. Gnade! spiele nicht so unbarmherzig mit mir! schienest du Sturmgepeitschte zu rauschen . . . Deine Nachbarin, die stämmige Fichte neben dir – die klagte nicht, die nahm den Kampf mit dem schonungslosen Element trotzig auf.

Vor Jahren, ja, da ist der Sturm ihrer Herr geworden, mitten entzweigerissen hat er ihren jungen edlen Leib. Einer klaffenden Wunde glich der breite, schräge Spalt, der ihr Inneres bloßlegte. Ihr Haupt, das keine andere Last je getragen als die ihrer duftenden Zapfenkrone oder die silberweiß schimmernder Schneeflocken, das keine andere Berührung je gefühlt als die der Flügel kleiner Sänger, die es jubelnd und zwitschernd umflogen, ihr stolzes Haupt lag auf dem Boden, und elendes Gewürm kroch heran und ergriff Besitz von der Todgeweihten.

Aber durch die Äste des kräftigen Strunks ging ein wundersames Beben; sie reckten und streckten sich, die niedrigsten selbst, selbst die auf dem Wiesengrunde ruhenden bogen ihre Spitzen zur Höhe strebend empor, wie durchzittert vor Sehnsucht und Ehrgeiz, selbst Wipfel zu werden . . . Und der zerspellte Baum wuchs und wuchs in verjüngter Kraft, nicht mehr schlank wie früher, rüstiger, gedrungener, dem Kampfe besser gewachsen; trieb Zweige voll Mark und Saft, mit Nadeln schimmernd wie Seide, zäh und biegsam wie feinster Stahl, und bekrönte sich mit einem pfeilgeraden majestätischen Wipfel.

So steht die Heldin heute da, und wenn die andern Bäume wanken und sich im Sturme biegen, läßt sie sich wie spielend von ihm schaukeln, und wenn die Gefährten ächzen und stöhnen, erhebt sich in ihrem dunkeln Gezweige ein tiefes, fast drohendes Murmeln; sie klammert sich mit ihren Wurzeln eisenfest in die Muttererde und wiegt, umwettert und umtobt, in stolzer Ruh das immergrüne Haupt.

Die Linden

Da stehen wir, die alten Linden und ich. Sie in vier langen Reihen auf dem breiten Wege, ich auf der Rampe, die neben ihm herläuft. Da stehen wir und sehen einander an.

Was ist aus uns geworden? Was aus mir, die so müd an euch vorüberschleicht, und was aus euch? Wißt ihr noch, Linden, daß ihr einst üppige grüne Gewänder trugt, die samtweich und seidig schimmernd an euch niederwallten und sich auf dem Rasen ausbreiteten wie Schleppen von Königsmänteln? Wenn der Wind euer Laub durchrauschte, gab es ein Brausen wie von Orgelklängen, und ihr recktet und wiegtet euch voll Majestät in der gewaltigen Melodie. Und wenn leise Lüfte in eurer Blätterunendlichkeit spielten, da war's wie ein Traum von lieblichen Liedern, ein geheimnisvoll wortloser Gesang, der mein Kinderherz mit einer unaussprechlichen großen Seligkeit erfüllte, von der heute noch, wenn ich seiner gedenke, ein Reflex in mir erwachen kann.

Nun brauset und orgelt und singt ihr nicht mehr. Ihr stöhnt und knirscht, wenn der Sturm euch schüttelt; knisternd lösen sich dürre Zweige und Reislein von eurem Geäst und bedecken den Boden rings um eure einst kraftstrotzenden Stämme. Wie gespaltet und zerklüftet sehen die aus, wie neigen einzelne von ihnen sich so müde zur Seite, voll Sehnsucht, an die Brust der Mutter Erde zu sinken. Mein grüner Dom, unter dessen lebendiger Kuppel ich gewandelt bin in wonnigen Andachtsschauern, wo ich gejubelt, gebetet, angebetet habe, was ist aus dir geworden?

Traure nicht über uns, tönt es mir von den Linden zurück. Wir werden noch vielmals unser Laub jugendfrisch erneuern und es mit einem duftenden Blütenschleier überziehen, und Hunderte von Vögeln werden in unsern Zweigen nisten und Millionen Bienen uns summend umschwärmen, während hier auf Erden jede Spur von dir verweht sein wird. Wir werden nicht um dich trauern, traure du nicht um uns. Und auch nicht um die Zeit, in der unsere Enge deine ganze Welt umschloß. Wir haben dir breite Fenster in unserm Dickicht geöffnet, blicke hinaus. Vor dir liegt das heimatliche Land, von dem jede Scholle dir teuer ist, und ein Stück der Unendlichkeit des Himmels. Blicke hinaus ins Begrenzte und Unbegrenzte, tu's mit der verdoppelten, vertausendfachten Liebe des Scheidenden, tu's mit der seligen Wehmut des Entwachsenden. Segne, benedeie, träume deine letzten dunkelhell beschwingten Erdenträume vor dem Erwachen in der Ewigkeit.

*

Ich habe kleine Wahrzeichen, an denen ich die Menschen zu erkennen glaube. So, zum Beispiel, bilde ich mir ein, daß, der nicht heiß und inbrünstig gebetet hat, wenn auch nur ganz kurz, in einem großen, schwerwiegenden, nie vergessenen Augenblick höchster, schmerzlichster Not oder höchster Glückseligkeit, immer etwas Ungelöstes in seiner Seele behält, eine unerschlossene Knospe, einen unbefruchteten Keim. Er kennt den höchsten Aufschrei des Menschenherzens nicht – das unwillkürlich herausgestoßenes Gebet. Er wird unzugänglich sein für alles, was sich der Herrschaft des Verstandes entzieht, er wird kein Versteher sein, wenn auch klug, gut und hilfreich seiner Absicht nach. Im schönsten Fluß unsrer liebsten und besten Gedanken werden wir bei ihm plötzlich wie auf eine Eisscholle stoßen. Es hat sich in ihm nie das schönste Wunder begeben.

 

Wir erheben uns nie höher, als wenn wir in Gedanken versinken.

 

»Du bist erbärmlich, du bist nichts«, sprach der Gedanke zum Einfall. Dieser erwiderte: »Ich möchte wissen, ob du dich irgendwo einfinden kannst, wo ich nicht früher gewesen bin.«

 

Talent ist Glück – doch wenn es sich entfaltet
Durch Mut und Kraft in reicher, voller Pracht,
Dann ward zur Frucht die Blüte ausgestaltet,
Wir haben dienstbar uns das Glück gemacht.

J. F.

»So.«

Es war merkwürdig, was sie aus diesem »So« zu machen wußte. Wenn sie es sagte, im ernsten Gespräch mit einem ihr geistig Ebenbürtigen, langsam und nachdenklich, da kam es wie eine Pause auf dem Wege des Suchens nach dem letzten Grund der Dinge. Wenn es bestimmt und durchdringend klang, dann bekräftigte sie damit einen ihrer weisen und ureigenen Gedanken. Ein anderes Mal warf sie es leicht hin, als bequemes Auskunftsmittel, als ein Zeichen barmherziger Anteilnahme, wenn ein Langweiliger redete, den niemand anhören wollte. Sie sagte es heiter, aufmunternd und frisch, wenn einer einen Ausspruch getan hatte, der ihr gefiel, und dann tat es dem, dem es zugestimmt, mehr Ehre an, als Lob- und Preisgesänge aus dem Munde vieler getan hätten.

*

»Das Jahr 1804, Kants Todesjahr, ist Feuerbachs Geburtsjahr gewesen. Kant hat das Werk der deutschen Aufklärung abgeschlossen und dem neuen deutschen Idealismus die Bahn geöffnet. Feuerbach singt der nachkantischen Spekulation das Todeslied. Er schließt den Bund mit der Naturwissenschaft, ruft die Philosophie auf den festen Boden der Realität zurück«, sind Worte von Professor Dr. Friedrich Jodl.

So dürfte man vielleicht sagen: die Psychologie hatte sich verstiegen. Da kam die Physiologie und zeigte ihr den Weg.

 

Der still beherzt um höchste Güter wirbt,
Dem stirbt die Welt, bevor der Welt er stirbt.

 

Sich glücklich fühlen können auch ohne Glück – das ist Glück.

 

Hast du ein feines, leishörendes Ohr,
Den Stimmen des Weltalls zu lauschen,
Dann tönt dir aus kleiner Muschel hervor
Des Meeres Branden und Rauschen.

 

Wenn ich nicht schlafen kann, rufe ich meine Gedanken und sage: Kommt, unterhaltet mich, meine Gedanken!

 

Ein Grammatiker war gestorben. Er hatte eine glückliche Ehe mit seiner Frau geführt, obwohl die Gute, allen seinen Bemühungen zum Trotz, nie korrekt sprechen lernte. Nach seinem Hinscheiden warf sie sich verzweifelnd über seine Leiche und rief: »Wie soll ich leben ohne dir?«

»Ohne dich«, verbesserte der Tote.

 

Eigensinn – Rückgrat des Schwachen.

Der alte Meister

»Wir befehden dich, warum nimmst du den Kampf nicht auf?«

»Weil ich eure Zukunft schon als Vergangenheit sehe.«

St. Gilgen

Auf meinem Heimweg vom Spaziergang schloß eine Bäuerin sich mir an. Wir plauderten. »Neulich«, erzählte sie mir unter anderem, »hat eine Dame einer armen Frau zwei Kronen geschenkt. Die is nach Haus gegangen und hat ihrem Mann das Geld gezeigt. Zuerst fahrt er sie an: ›Hast vielleicht gebettelt?‹ Dann besinnt er sich, daß er jetzt seine Schuld im Wirtshaus zahlen könnt, und sagt: ›Gib her!‹ Aber sie weigert sich, sie braucht das Geld selbst zum Ankauf einer neuen Sichel. Der Streit war gleich fertig, sie sind ›raufet‹ worden, und er hat sie so hart an die Wand geworfen, daß sie umgefallen is und sich ein paar Rippen gebrochen hat. Die Tochter weint und schreit, rennt um den Doktor, der kommt, hilft die Frau ins Bett bringen, untersucht, macht Umschläge, verspricht, daß bald alles wieder gut wird, und begehrt für seine Mühe zwei Kronen.

›Jesses‹, sagt der Mann, ›nein, das Glück, daß wir die zufällig grad im Haus haben.‹«

Beim Vorlesen einer meiner Arbeiten

Wenn die Zuhörer nicht gleich in Ekstase geraten, denk ich: Da haben wir's! einmal wieder etwas Mißglücktes! Und geraten sie in Ekstase, dann denk ich: Sie verstehen nichts.

*

Daß alles vergeht, weiß man schon in der Jugend; aber wie schnell alles vergeht, erfährt man erst im Alter.

 

Von so manchem Buche kann man sagen: Dran ist viel, aber drin ist nichts.

 

Abgeschrieben kann das Leben nie werden, dazu ist es zu reich.

 

Was du sagen willst, sagen können, wie du willst – hohe Kunst.

 

Mitrennen aus Angst, für einen lahmen Alten gehalten zu werden, wie erbärmlich! Besser tausendmal, sich von dem vorwärtsstürmenden Trosse zertreten, als sich von ihm fortreißen zu lassen.

 

O ja, es gibt ein Mittel, die Ehen und die Literaturen zu verbessern: Abschaffung der bräutlichen Mitgift, Abschaffung der Schriftstellerhonorare.

 

Es ist für unsere Seelenruhe ebenso notwendig, vergessen können, wie nicht vergessen können.

 

Auch nichtgeschriebene Briefe kommen manchmal an.

 

Sich verbeißen in seine Arbeit, auf sie hoffen, an ihr verzweifeln, mit ihr ringen bis zur Erschöpfung, bis zur Selbstvernichtung – es ist eine Qual, aber eine mit Glückseligkeit verwandte.

An Louise Schönfeld-Neumann

7. Dezember 1901

Die Blumen hold, die deine Kunst uns streute,
Du Vielverehrte! sie verblassen nicht;
Vor unsern Augen stehen sie noch heute
In Farben licht.

Den Blumen, die so reich in andrer Leben
Dein edler Geist und deine Güte flicht,
Auch ihnen wurde Zaubermacht gegeben,
Sie welken nicht.

Wenn Blumen nun bei deinem Fest erscheinen –
In stiller Schönheit prangen sie ja wohl –,
Dann sind von all der Lieblichkeit der deinen
Sie nur Symbol.

*

Auf dem Heimwege aus einer großen Gesellschaft ist mir heute dieses Märchen eingefallen.

Es war einmal ein alter, weiser König, der so viel nachgedacht und studiert hatte, daß er darüber völlig den Schlaf verlor. Die berühmtesten Ärzte wurden berufen, verschrieben die bewährtesten Narkotika, erfanden neue, wandten sie an – nichts half. Die Schlaflosigkeit des Königs wurde immer unerträglicher, und die Doktoren rieten ihm endlich, alle Medikamente aufzugeben und sein Heil in der Langweile zu suchen. Unermeßliche Langweile, meinten sie, müsse ihm doch Schlaf bringen. Er faßte Vertrauen zu dieser Methode, umgab sich mit den fadesten Menschen des Landes, ließ sich die »Familie Halden« und den »Tom Jones« vorlesen. Wer irgend im Rufe stand, langweilig zu sein, erhielt einen Posten am Hofe des Monarchen, und der Verfasser eines Theaterstücks, bei dessen Aufführung nicht nur das gesamte Publikum, sondern auch – nie dagewesen! – der Dichter selbst einschlief, bekam den Staatspreis.

Aber leider, ihren wahren Zweck erreichte die Dichtung nicht; der König blieb wach in seiner Loge, bis endlich auch die Schauspieler einschliefen und die Aufführung ein Ende hatte. Damit die Ruhe des Herrschers ungestört sei, wurde vollkommene Lautlosigkeit zum Gesetz erhoben. Wagengerassel war verpönt, den Hunden das Bellen bei Strafe ewiger Gefangenschaft untersagt. Im Parlamente wurden alle Pultdeckel abgeschraubt, reden durfte nur, wer stockheiser war, und sogar Ohrfeigen durften nicht schallen. Ehemalige Ausrufer mußten lernen, sich in der Zeichensprache auszudrücken; nur die Taubstummeninstitute genossen den Vorteil, von der Schweigkommission unbelästigt in den Straßen zu spazieren.

Zuletzt schien die Hauptstadt bloß von Maulwürfen bewohnt.

In diese Lautlosigkeit brach eines Morgens plötzlich ohrenbetäubender Lärm herein. Die Bevölkerung drängte sich jauchzend und schreiend dem Tore zu, durch das der Königssohn an der Spitze seines Heeres eingezogen kam, ruhmgekrönt, als Sieger über den Erbfeind, den er in einer Reihe glorreicher Schlachten gänzlich niedergeworfen hatte. Unter Fanfaren, Trompetengeschmetter und Paukenschlägen marschierten die Regimenter ein. Das Volk jubelte, brüllte. Der Prinz wurde samt seinem Berberhengste in die Höhe gehoben und unter frenetischem Triumphgeschrei zum Königsschlosse getragen.

Der alte, schlaflose König wankte ihm bis zur Terrasse der breiten Freitreppe entgegen und begrüßte mit weit ausgestreckten Armen seinen Heldensohn.

Mit noch höherem Entzücken wurde der Prinz von seiner Braut, der schönsten Prinzessin der Welt, erwartet, und die Hochzeitsfeierlichkeiten sollten sogleich stattfinden.

Der König befahl, sie prunkvoll auszurichten. Je lärmender, lauter und lustiger es dabei zuging, um so besser. Er erklärte, an allen Vergnügungen teilnehmen zu wollen, und verbat sich die Einsprache seines Sohnes und der Ärzte.

»Was hätte ich noch zu fürchten, da ich nichts mehr zu hoffen habe?« sagte er. »Die schönste, kunstvollste Langweile hat mir auch nicht eine Stunde Schlaf gebracht, ihr zum Trotze gehe ich elend an Schlaflosigkeit zugrunde, bin aufgegeben und wünsche mir nur noch ein baldiges Ende. Laßt mich tun, was ich kann, um es herbeizuführen.«

So gab es denn Festlichkeiten im ganzen Lande, und die des Hofes eröffnete eine großartige Brautsoiree, zu der alles geladen wurde, was nobel und vornehm war.

Die Unterhaltung befand sich im vollen Gange, als der König erschien und nachdrücklich verlangte, daß um seinetwillen auch nicht ein einziges Gespräch unterbrochen werde. Aufmerksam folgte er der Konversation, die unermüdlich dahinfloß wie ein Wässerchen im Rinnsal. Manchmal erhob sich ein Gekicher, oder es wurde laut gelacht über einen Witz, eine Anekdote, eine üble Nachrede; aber die Sache kam dem König ziemlich schal vor, er staunte über die Geistestemperenzler, die ihr Genügen fanden an so magerer Kost, und gedachte in seiner Güte ihnen eine bessere vorzusetzen.

»Was sagen Sie denn, meine Herren und Damen«, fragte er, »zu unserem großen Astronomen, der neulich einen neuen Planeten entdeckt hat?«

Keine Antwort. Die Angeredeten sahen einander verstohlen an. Einzelne schwache: »Ach ja!« ließen sich vernehmen. So manchen jungen, hübschen Mund umflog ein spöttisches Lächeln, der getreue Hofstaat war von Bestürzung ergriffen. Einer der edlen Diener las vom Gesicht des andern den schmerzlichen Gedanken ab: Unser guter Herr wird schwach. Jetzt spricht er in Gesellschaft gar von Planeten!

Der König bemerkte, daß er mit seinem Ausflug ins Astronomische keinen Erfolg gehabt hatte, und begann von Büchern zu reden, von Kunst und Künstlern und von allerlei sehr interessanten Dingen, machte aber damit ebensowenig Glück wie mit seinem Planeten.

Halb und halb verlegene: »Ach ja!« ließen sich abermals hören, ein zustimmendes Räuspern kam zutage, dann begannen die in einiger Entfernung Sitzenden und Stehenden miteinander zu flüstern, ihre Nachbarn mischten sich ein, man klatschte und lachte, man unterhielt sich wieder, befand sich wieder in seinem Element, die fröhliche Ungeniertheit war zurückgekehrt. Und wenn der hohe Gastgeber ein Wort einwarf, zerplatzte es – obwohl das Wort eines Weisen und eines Königs – wie ein Bläschen im Gerinnsel.

Der alte Herrscher sah ein, daß er sich's gönnen dürfe zu schweigen, weil er aber die Wohlerzogenheit selbst war, gab er sich alle erdenkliche Mühe, aufmerksam zuzuhören. Es kostete ihn eine große Anstrengung, erschöpfte ihn. Sein Gesicht wurde immer bleicher, die Spannung der Züge ließ langsam nach, der Glanz der Augen trübte sich . . . Und nun – der Arzt, der seinen erlauchten Patienten unablässig beobachtete, wagte kaum zu glauben, was er sah –, Seine Majestät hatten die Hand mit dem Taschentuch zum Munde gehoben, um ein Gähnen zu verbergen. Seine Majestät hatten – das seit Jahren nicht mehr Erlebte war geschehen –, Seine Majestät hatten gegähnt! . . . Nicht lang, und die seltene Erscheinung wiederholte sich, das Haupt des Königs sank in die Kissen des Sessels zurück, die Augen schlossen sich – er schlief.

Zugleich mit dem Arzte war der Prinz des Wunders gewahr worden und hätte beinahe einen lauten Freudenschrei ausgestoßen, doch bezwang er sich, blickte im Kreis umher und legte, gebieterisch Ruhe fordernd, den Finger an die Lippen. Aber der Doktor winkte mit ausgebreiteten Armen.

»Weiterreden! weiterreden, ums Himmels willen! . . . O Prinz, sehen Sie diesen tiefen, gesunden, wonnigen Schlaf! Gepriesen sei der gnädige Zufall, dem die Wissenschaft einmal wieder eine herrliche Entdeckung verdankt: Das Arkanum gegen die Schlaflosigkeit der Weisen ist gefunden, es heißt: Die Salongespräche der Weltleute!«

*

Seine Leidenschaften überwunden haben, aber fähig geblieben sein jeder höchsten und tiefsten, jeder feurigsten und jeder zartesten Empfindung, das wäre ein idealer Zustand.

 

Zuviel Talent kann man nicht haben, aber zu viele Talente.

 

Boccaccios Novellen und die Briefe der heiligen Caterina von Siena, wieweit sie auch sonst auseinanderliegen, enthalten die erste klassische Prosa Italiens und werden heute noch als mustergültig angesehen.

(Aus einem Buche, dessen Titel ich vergessen habe)

 

Der Roman »Phädra« von Malvida von Meysenbug konnte in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lang keinen Verleger finden, weil er für unmoralisch erklärt wurde. In unseren Tagen würde höchstens seine Lehrhaftigkeit die Bedenken der Verleger erregen.

 

Wenn die Leidenschaft räsoniert, deräsoniert sie.

 

1903

Der alte Direktor der Pariser Académie des inscriptions, dem ein Gefäß mit dem Zeichen M. J. D. D. vorlag, entzifferte aus diesen Buchstaben die Huldigung: Magno Jovi Deorum Deo. Aber das verwitterte Gefäß war ein halb zerstörter Senftopf und seine Inschrift eine Verkürzung der Worte: Moutarde Jaune de Dijon.

(Neue freie Presse: Falschkünstler und Kunstfälschung. F. Sch.)

 

Ein Leid, das die Menschen uns antun: ein Leid, das wir durch das Schicksal aus zweiter Hand erfahren.

 

Mit einem Buche:

Ob es in dieser Welt
Sich wirklich so verhält,
Dafür kann ich nicht stehn;
Ich – hab es so gesehn.

 

»Auf der Erdenwelt, die ich so oft mit meinen Besuchen beehrt habe, sieht es jetzt gar nicht so aus, wie's mir wohlgefällig ist«, sagte Zeus. »Geht einmal hin, einige dienende Geister, untere Götterchen, und tilgt mir eine Anzahl übler Eigenschaften aus der Erdenwelt fort.«

Die Abgesandten beeilten sich, den Befehl zu erfüllen. Sie säuberten, fegten, rupften, waren schon seit einiger Zeit in voller Tätigkeit, als, mit fliegenden Haaren, keuchend, händeringend, die Wohltätigkeit einhergestürmt kam. »Was tut ihr?« rief sie von weitem schon. »Unselige, was fällt euch ein? . . . Seht mich doch an, ich bin abgemagert, meine rosigen Wangen sind erblaßt, meine strotzende Fülle ist dahin, ihr Tölpel habt die Eitelkeit weggeputzt!«

 

Wir erhalten den Umgang mit so manchen Menschen, die uns wert und auch notwendig sind, sehr oft nur um den Preis kleiner Verlogenheiten aufrecht. Diese kleinen Verlogenheiten pflegt man Rücksichten zu nennen.

 

Was ist der Ruhm eines Seiltänzers in den Augen eines Gelehrten? Was ist der Ruhm eines Gelehrten in den Augen eines Seiltänzers?

 

»Dank! Dank!« sagte ein großer Lump zu seinem Wohltäter, der ihm abermals aus der Not geholfen hatte. »Ich werde Sie nie wieder anbetteln.«

Der Wohltäter lächelte: »Dein Elend wird für dich betteln«, erwiderte er.

Eine etwas ältliche Verliebtheit und eine ganz junge Langeweile saßen einander gegenüber, wechselten schiefe Blicke und dachten beide im stillen: Wirst du mich oder werde ich dich fressen?

 

Vom Arzte und vom Lehrer wird verlangt, daß er Wunder tue, und tut er sie – wundert sich niemand.

 

Der erste Glückliche war der erste Beter.

 

Die Kunst soll sein ein Gotteshaus:
Tritt fromm hinein, tritt kühn heraus.

 

Ein Sprüchlein, von meinem Vater oft wiederholt:

»Ich habe gehabt«, ist ein armes Wort.
»Ich hätte gern«, ist töricht,
»Ich werde haben«, ist auch kein Hort,
»Ich habe«, das klingt gehörig.
Drum was du hast, das halt für viel,
Wünschen, hoffen kennt kein Ziel.

 

Was ist das für ein armes Leben, das nicht reich an Leiden war!

 

Ich habe gegen das Büchlein »Aus Franzensbad« dieselbe Abneigung, die manche Mutter gegen ein vor der Ehe geborenes Kind hat.

 

Zuhören können. Es gehört dazu die Fähigkeit der Selbstentäußerung und Aufnahmefähigkeit und, wenn es sich um ernste Dinge handelt, Wissensdurst. In vielen Fällen aber braucht man, um einen guten Zuhörer abzugeben, etwas schauspielerisches Talent.

 

Durch wieviel Kompliziertheit muß man sich durchringen, bis man endlich zur Einfachheit gelangt.

 

Die Vergnügungssucht ist unersättlich und frißt am liebsten – das Glück.

Schutzengel

Von Sladek

Aus dem Böhmischen

Es wallt zu meinem Bettchen
Ein Engel Gottes her;
Ich glaub, wir sind mit Kettchen
Verbunden, ich und er.

Ich seh ihn oft im Traume
Bewachen meine Ruh,
Mit warmem, weichem Flaume
Deckt er mich liebreich zu.

Und wird mir manchmal bange
Im Schlaf, halb unbewußt,
Da küßt er meine Wange,
Drückt mich an seine Brust.

Wie Sommerluft so milde
Haucht er: »Mein Sternelein.«
Wenn nicht ein Traumgebilde,
Ist's wohl mein Mütterlein.

*

Die Hoffnung auf den Sperling fern am Dachesrand
Ist schöner als die schönste Taube in der Hand.

 

Kein andres Leiden braucht soviel Teilnahme und findet so wenige wie das selbstverschuldete.

 

Der Ärmste bettelt um eine von Not und Qual befreite Stunde, der Arme betet um einen schönen Tag, der Reiche verlangt ein glückliches Leben.

 

»Wie schwer erträgt derjenige die harte Zucht des Lebens, der die Zucht der Schule nie erfahren. Das werden die jüngsten unter den gegenwärtigen Generationen, die unter dem Zeichen der Milde scheinbar so herrlich heranwachsen, einst noch zu spüren bekommen.«

Prof. Dr. August Sauer

Die Störungen gehen vorbei, aber die Furcht vor den Störungen bleibt immer.

 

Die vielen toten Gegenstände, die uns an Lebendiges erinnern, werden selbst lebendig.

 

Da kommt ein Besucher und sagt in höchst bedauerndem Tone: »Sie sind allein?« Der Arme! wenn er wüßte, wie gut umgeben ich war – bevor er kam.

 

Ich liebe viele Menschen, aber die vielen liebe ich nicht.

 

Dilettanten haben nicht einmal in einer sekundären Kunst etwas Bleibendes geleistet, sich aber verdient gemacht um die höchste aller Wissenschaften, die Philosophie. Den Beweis dafür liefern: Montaigne, La Rochefoucauld, Vauvenargues.

 

Die Jugend ist außerordentlich gut gegen mich, und ich erkenne es mit größter Dankbarkeit an. Manchmal komme ich mir aber doch vor wie der ur-uralte Papagei, den niemand mehr verstand, weil er eine tote Sprache sprach.

 

Die Klugen sind nicht treu.

 

 

Ich war ein junges Mädchen, beinahe noch ein Kind, meine traumhaften Ansichten, meine Sympathien und Antipathien wechselten wie Aprilwetter; aber eines stand immer klar und felsenfest in mir: die Überzeugung, daß ich nicht über die Erde schreiten werde, ohne ihr eine wenigstens leise Spur meiner Schritte eingeprägt zu haben.

 

Viel getan haben heißt, oft Undank ernten; zuviel getan haben heißt, immer Undank ernten.

 

Das Talent hat dem Kunstgesetz entsprochen, bevor es von ihm wußte; der edle Mensch hat das Gute getan, ohne damit ein Moralgesetz erfüllen zu wollen.

 

Wie vieles wurde nur aufgeschrieben, um wieder ausgestrichen zu werden, und hat doch aufgeschrieben werden müssen.

Für den Ballabend der »Concordia« am Kaisertag

Wir feiern dieses Jubeljahr
Nach unsrer Art und Weise,
Ein jeder bringt sein Scherflein dar
Zu dessen Ruhm und Preise.
Man gibt sogar sich selbst ein Fest
In seines Kaisers Namen;
So tanzen denn zu allerbest
Auch hier die Herrn und Damen.

Doch wenn sich dreht und schwingt sich
Der anmutsvolle Reigen,
Wie tönt es oft so feierlich
Aus munterm Klang der Geigen;
Liegt doch gar edle Melodie
All der Musik zugrunde,
Wir lieben sie, wir sangen sie
Schon einst mit Kindermunde.

Und heut bei Tanz und Fröhlichkeit
Klingt leis im Ohr das alte –
Ein Lied, uns heilig und geweiht –,
Das teure »Gott erhalte!«

*

Die Bauern in der Umgebung von Certaldo, wo Boccaccio seine letzten Tage verlebte, hielten ihn für einen Zauberer. Sie waren überzeugt, er vermöge, an einem Rande des tiefen Tals hinschreitend, mit einem einzigen Winke eine Brücke aus Kristall zum jenseitigen Rand hinüberzuwerfen. Auf dieser schritt er ruhig dahin, hoch erhaben über die Menschen und ihre Wohnungen.

 

Wenn ihr es doch glauben wolltet, ihr rastlos Suchenden: nur in göttlicher Naivität wird das große Kunstwerk geschaffen.

 

Nichts ist ansteckender als das schlechte Beispiel, das der Feind dem Feinde gibt.

 

Ich bin ein Kind meiner Zeit und will es sein; aber ein Kind meiner Tage will ich nicht sein.

 

Ohne unbewußte Voraussicht kein Talent.

 

Die geniale Frau Amalie Haizinger war mit Begeisterung nicht bloß Schauspielerin, sondern auch Komödiantin. Ein Beispiel davon gab sie uns nach einem Diner bei Baronin Stolzenberg. Sie hatte, sprühend von Witzen und guten Einfällen, die ganze Gesellschaft köstlich unterhalten und war nun im Begriff, sich zu empfehlen.

»Nächstens komme ich zu Ihnen«, sagte sie zur liebenswürdigen Hausnichte, die ihr das Geleite gab.

»Das wird mich außerordentlich freuen, aber Sie finden mich nicht mehr in meiner früheren Wohnung. Ich bin in das Haus des Baron F . . . in der Kärtnerstraße gezogen.«

Frau Haizinger blieb stehen: »Wie? Was? . . . In dem sei Haus? Na, ich dank! da bleiben Sie keine sechs Wochen. Das ist von allen Wiener Hausherren der zuwiderste, sekkiert seine Parteien aufs Blut. Ein wüschter Kerl.«

In dem Augenblick öffnete sich die Tür, der Diener meldete: »Herr Baron F . . .«, und der trat ein.

Mit Frau Haizinger ging plötzlich eine vollkommene Veränderung vor. Eitel Liebenswürdigkeit, erhob sie die Arme und rief dem Baron zu: »›Ein gutes Omen, murmelte das Volk‹, grad haben wir von Ihnen gesprochen. Ich hab meiner lieben Freundin gratuliert. Sie ist ja übersiedelt ins F.sche Haus. Na, besser aufgehoben könnt sie nirgends sein, nicht einmal in Abrahams Schoß.«

Der Baron, solcher Lobsprüche ganz ungewohnt, nahm sie mit um so größerem Wohlgefallen auf, deprezierte und dienerte äußerst geschmeichelt.

Sie aber, die ihrem Beruf immer Getreue, wandte den schönen Kopf, blinzelte zu uns herüber, und ihre Augen, die schon so viele bezaubert hatten, fragten: Habe ich gut gespielt?

Wir mußten uns zusammennehmen, um nicht zu applaudieren.

 

Der von einem ausgezeichneten Lehrer nicht alles ertragen kann: Härte, Hohn, Prügel, ist kein lernbegieriger Schüler.

 

Ich habe mein Leben damit zugebracht, nicht nur den ändern, sondern auch mir selbst zu sagen: So sind wir! Seien wir vernünftiger und besser. Mein Predigen hat den anderen nichts genützt; sie fragten nur: Was haben wir ihr getan, daß sie uns haßt? Daß ich ihnen aus Liebe predigte, merkten sie nie. Ihnen nützte ich also nicht. Mir selbst aber habe ich genützt. Ein schlechter Prediger, der nicht vor allem sich ins Gebet nimmt. Nun, das darf ich sagen, weil es wahr ist: Ich nehme mich ins Gebet.

Morgengrauen

Was regt sich in der Dämmerung
Wie lautlos leises Klingen? –
Es ist der Tag, der schon beginnt,
Sein schaffend Lied zu singen.

*

Gorkij sagt: »Ich liebe Turgenjew, er ist ein so sanfter und angenehmer Schriftsteller. Wenn wir ihn lesen, ist uns, als ob wir geschlagene Sahne trinken würden. Wir denken: Es ist lange her, seitdem sich das ereignet hat; es ist überlebt.«

O Gorkij! dein Name wird verraucht sein wie Qualm, während der Name Turgenjew noch wie ein Stern leuchten wird.

 

»Man hat seine Langweiligen, wie man seine Armen hat«, sagte eine französische Dame. Wohl! und unsere Barmherzigkeit wird durch jene auf eine viel härtere Probe gestellt als durch diese. Die Armen verlangen demütig unser Mitleid und unser Geld, die Langweiligen nehmen ohne Bitte und ohne Dank ein Stück von unserm Leben: unsere Zeit.

 

Man bleibt ein Tor bis ins höchste Alter, aber man hat nicht mehr das Recht, ein Tor zu sein. Oh, jung sein, jung sein und das Recht haben, ein Tor zu sein!

 

Die Leute können sich nicht satt darüber schreiben, daß heutzutage zuviel geschrieben wird – das schreibe ich.

 

Wir dürfen das Wort, das ein Weiser jüngst ausgesprochen hat: »Zurück zu Kant heißt über ihn hinaus«, auch auf unsere Dichter anwenden und sagen: »Zurück zu Goethe, Schiller, Kleist, Grillparzer heißt über sie hinaus.«

Sind die Kinder schon geboren, die diesen Aufschwung erleben sollen?

 

Heilige, stille Einsamkeit, Mutter aller Gnaden!

Einem Patienten des Doktors N.

Die Kur hat dich von der Krankheit kuriert, aber wer kuriert dich von der Kur?

*

»Erlaubt ist, was gefällt.« Ja – wem gefällt, um Gottes willen!

 

Einen Gedanken möcht ich erbeuten,
Einmal einen einzigen nur,
Dem nicht mit zwanzig andern Leuten
Leider zugleich ich käm auf die Spur.

 

Meine liebe Freundin, Gräfin Anna Pongracz, sprach einmal das vortreffliche Wort: »Jeder Gabe mancher Menschen liegt eine Rose bei; den Gaben anderer, wenn auch ihnen unbewußt, immer ein Dorn.«

 

Die Reue nicht aus Furcht vor den Folgen des Unrechts, die Reue einzig und allein aus dem Schmerz hervorgegangen, daß wir das Unrecht begehen konnten, ist die echteste, wahrste und vielleicht die bitterste Reue.

 

Eine Anekdote, die mein Vater gern und oft erzählte: Ein österreichischer Kaufherr, der eine Reise nach Australien unternommen hatte, schickte von dort seinem in Wien lebenden Bruder einen ungewöhnlich schönen und gelehrigen Papagei. Heimgekehrt, war eine seiner ersten Fragen: »Na, wie habt ihr denn meinen Papagei gefunden?«

Eine kleine Verlegenheitspause trat ein, dann brachte die Hausfrau schonend hervor: »Ein bissel zach war er halt.«

»Zach? – um Gottes willen, ihr habt ihn doch nicht gebraten und gegessen? Er hat ja vierzehn Sprachen gesprochen.«

Der Bruder schlug die Hände zusammen: »Jesses! warum hat er denn nix gsagt?«

 

Ich war längst nicht mehr jung, hatte gelernt, gelesen, gelitten, nachgedacht, bevor ich Umschau hielt in meinen Manuskripten, eine Auswahl von dreihundert Aphorismen traf und sie veröffentlichte. Das erste Urteil über mein Büchlein erfuhr ich durch eine zwanzigjährige Hausgenossin.

»Ach, Frau Baronin«, sagte sie, »wenn ich mich hinsetzen wollte – in einer Stunde hätte ich ein solches Buch beisammen.«

Sie war wirklich überzeugt, daß dazu nichts gehöre als ein bißchen Sitzfleisch.

 

Nervenaufreibend ist der Umgang mit unliebenswürdigen Menschen, die uns Mitleid einflößen.

 

In St. Gallen landete ein Luftballon, und ein Knabe, der ihn sinken sah, sagte: »Mutter, grad jetz' isch der Mond abekeit, mitsamt de Manne.«

 

Das sind bedrohliche Menschen, die ein schmächtiges Talentchen und eine gewaltige eiserne Ausdauer haben.

 

Man darf eine noch nicht ganz fertige Arbeit nie einem allzu verständnisvollen Publikum vorlesen; es ergänzt zuviel. Warm- und feinfühlende Menschen, die kein eigentliches Kunsturteil haben, aber gescheit sind und voll Interesse und Wohlwollen, die sind das rechte Publikum für noch nicht endgültig Abgeschlossenes. Ihnen merkt man es gleich an, wo eine Linie schärfer gezogen werden muß, wo ein Übergang fehlt, wo – das Schlimmste! – die Stimmung ins Schwanken gerät.

 

Der Kunst täte not: weniger Schulen und mehr Schule.

 

In einem modernen Gedicht kommt der merkwürdige Ausdruck vor: »Der flimmernde Blumenduft.« Wieso? Flimmern kann man doch nur sehen, Blumenduft nur riechen. Da muß die Nase die Gefälligkeit gehabt haben, das Geschäft des Auges, und das Auge die, das Geschäft der Nase zu übernehmen. Man wird noch sagen dürfen: Nase und Augen haben einander unter die Arme gegriffen.

 

Die Sonne ging glorreich unter, die feuerflammende Weltbeherrscherin warf noch einen Gruß dem bleichen Jüngling Mond zu, der beim Glanze ihrer Herrlichkeit sich ausnahm wie ein Flöckchen. Jetzt ist sie versunken, und er beginnt zu schimmern.

 

Im Jahre 1841 hat Fanny Elßler ihre letzte Tournee in Amerika unternommen. Es war ein Triumphzug. Das schönste Erlebnis hatte sie aber während einer Ballettvorstellung in New York. Da trug eine Frau ein schönes kleines Kind zu ihr heran und bat sie, es nur einen Augenblick in die Arme zu nehmen. Fanny Elßler erfüllte gern ihren Wunsch, küßte und herzte das holde kleine Geschöpf. Die Frau nahm es wieder an sich, umhüllte es mit ihrem Tuche und sagte: »Niemand soll dich mehr berühren. Weil dieser Engel dich geküßt hat, wirst du glücklich sein.«

Es war einmal eine andere Tanzkunst und ein anderes Publikum.

 

Gewissensfreiheit, ja, ja. Er meint die Freiheit, kein Gewissen zu haben.

 

Es gibt etwas, wofür die Sprache kein Wort, der Geist aber einen Begriff hat – etwas zwischen nicht-mehr-hoffen und verzagen.

 

Alte Tagebücher – Sündenregister, Leidenregister. Alte Briefe – Friedhofsblumenflor.

 

»Ich kenne jemand, der mich liebt, mich versteht, mich bedauert, dessen Lebensaufgabe es ist, mich glücklich zu machen, jemand, der alles für mich tun und durchsetzen wird, jemand, der mich nie mehr verraten wird, obwohl er mich schon einmal verraten hat. Und dieser Jemand bin ich selbst. Erwarten wir nichts von den Menschen, wir hätten nichts davon als Enttäuschung und Kummer. Aber glauben wir fest an Gott und an unsere eigene Kraft, und, meiner Treu, da wir ehrgeizig sind, rechtfertigen wir unsern Ehrgeiz durch irgend etwas.«

So schrieb Marie Baschkirtscheff 1876, als sie fünfzehn Jahre alt war. Zwölf war sie alt, als sie begann, ihr Tagebuch zu schreiben. Man soll es lesen, denn es trägt etwas bei zur Lösung des Rätsels der heutigen Welt.

 

Mit einem Buche:

Mit schlimmsten Namen darfst mich nennen,
Darfst mit mir gehn ins strengste Gericht,
Darfst mich zerreißen, verlieren, verbrennen;
Nur mich verleihen, das darfst du nicht.

 

Unserer Zunahme an Verstand und Einsicht ist eine Grenze gesetzt. Im hohen Alter hört auch beim Begabtesten die Fähigkeit auf, sich geistig höherzuentwickeln. Für das Besserwerden gibt es keine Grenzen. Die Fähigkeit, geduldiger, nachsichtsvoller, mitleidiger, liebreicher zu werden, behält der edel angelegte Mensch bis ans Ende. Ebenso verhält es sich mit dem Wissen und mit dem Glauben. Neue Kenntnisse erwerben, in sich aufnehmen, zu einem Teil des eigenen Geistes und produktiv machen ist dem Greise versagt. Aber sein Glauben kann immer gleich jung und stark und feurig bleiben, und wohl ihm, wenn es ein Glaube an das Schöne, Erhabene, Heilige ist.

 

Es kann eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Nächstenliebe, nach Wahrheitsliebe, nach Gerechtigkeit aus dem Abscheu hervorgehen, der die Sehenden unter uns gegen Lügenhaftigkeit, Verleumdung, blindes Hassen, blinde Selbstverherrlichung ergriffen hat.

 

Lou-Andreas Salomé Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte.

Eine große Dichterkraft hat sich bemüht, ein unlösbares Problem zu lösen. Es ist ihr nicht gelungen, aber Respekt flößt sie uns ein.

 

Mein leitender Gedanke bei Rittmeister Brand: Die Erziehung bedeutet viel bei dem Gros der Menschen. Über die ganz Schlechten vermag sie nichts, über die ganz Vorzüglichen fast nichts, sie sind meistens den Erziehern zu sehr überlegen. Heranziehen, zu sich heranziehen (o Weisheit der Sprache!). In dem Sinne er-ziehen wird ein weiser und edler Mensch einen andern von Natur edlen Menschen immer können.

 

Eine wohlgenährt aussehende Frau, eine Beamtenwitwe, kommt in Audienz zu Kaiser Franz und klagt ihm ihre Not. Die Pension, die sie genießt, ist gar gering und schützt sie nicht vor Hunger.

»Aber mei liebe Frau«, sagt der Kaiser, »Sie schaun nit danach aus, als ob Sie hungern täten; Sie sein ja ganz rosenfarb und potlett.«

»Ach, Majestät«, erwidert die Frau, »aufs Aussehen kommt's gar nicht an. Majestät haben gewiß alles, was sich nur wünschen können zum Essen, die allerbesten Sachen, und sind doch krachendürr.«

 

Nach einer Aufführung des Egmont – Laube war damals Direktor des Burgtheaters – sagte ein hoher Herr zu mir: »Der Egmont ist doch das schwächste Stück von Laube.«

Natürlich teilte ich diese Äußerung meinem borstigen Freunde mit, und er lachte herzlich darüber. Konnte auch lachen, denn der Tadel war schmeichelhafter als das höchste Lob, das er je als Bühnendichter erfahren hat.

 

Die Kinder gingen durch den Wald und sangen:

Zirlipinzigen,
Die kleinwinzigen,
Zitteraalig netten,
Wenn wir sie nur hätten!
Mit den Vögeln fliegen sie,
Auf den Wolken liegen sie,
Schwimmen mit den Fischen;
Wer wird sie erwischen?

Sie sangen ihr Lied unverdrossen, fingen immer wieder vom Anfang an, sobald sie damit fertiggeworden waren.

»Was singt ihr da?« fragte ich, »was soll denn das heißen?«

Sie sahen mich an und lachten mich offenbar – aus. Ein Knabe sprach mit Überlegenheit: »Was braucht es denn zu heißen?«

 

Glücklich, der nach seinem Sinne leben kann, ohne dabei eine Pflicht zu verletzen.

Am 4. April 1878

Nach dem Mißerfolg der Bozena

»Es geht mir mit meinen Erzählungen, wie es mir mit meinen Dramen gegangen ist. Die ersten errangen einen ehrenvollen Erfolg, die nachfolgenden bereiteten mir Enttäuschungen auf Enttäuschungen.

Ich habe ein Ende gemacht mit dem Schreiben von Theaterstücken, ich werde hoffentlich die Kraft haben, mit der Schriftstellerei überhaupt ein Ende zu machen.«

Diese Worte finde ich viele Jahre später in einem alten Notizbüchlein. Die ersehnte Kraftprobe wurde nicht abgelegt.

 

Mit einem Exemplar der Bozena an L. G.

So wenig ohne Fehl
Die Heldin wie das Werke,
Die Schwachen hoffen sehr
Auf deiner Nachsicht Stärke.

 

Zur sechsten Auflage der Bozena

Wie war doch, alte Bozena,
Dein Lebenslauf gesegnet!
Verständnis suchend zogst du hinaus
Und bist der Liebe begegnet.

*

Ich war verschlossen, an Vertrauen arm? –
Dann bin ich's unbewußt, daß Gott erbarm.
Nicht kluge Vorsicht ist mir angeboren,
Im Glauben nehm ich's auf mit jedem Toren,
Zur Lüge fehlt mir Feigheit und Geduld.
Mein Denken all, mein Hassen und mein Lieben,
Es steht so klar auf meiner Stirn geschrieben –
Daß ihr nicht lesen lernt, ist eure Schuld.

 

Der vortreffliche Mérimée fragt einmal: »Une femme peut-elle jamais aimer un homme, qu'elle aura vu grossier une fois?«

Wie die Französinnen es damit halten, weiß ich nicht, aber unsere deutschen Frauen – treffen's.

 

Ein nackter Affe hat mir noch nie soviel Mitleid eingeflößt wie ein Affe in seidenem Jäckchen, mit einem Barett auf dem Kopfe und einem kleinen Gewehr auf der Schulter.

 

Scribe sagt in seiner Erzählung Le roi de carreau: »Ich will mich jetzt beeilen, ein dickes, sehr geistreiches Buch zu schreiben, um dann das Recht zu haben, während meines ganzen Lebens dumm zu sein.«

 

Wie so manche Schriftstellerin gibt es, die Gutes und sogar Bleibendes geleistet hat und die von sich sagen darf: »Ich bin zur Arbeit immer nur gekommen, wenn ich nichts mehr zu tun hatte.«

 

Prinzessin von Banalien

Ich fühlt mich jung, als ich es schrieb,
Das Märchen von der blinden Lieb;
Nun beugt mich tief des Alters Joch –
Und an mein Märchen glaub ich noch.

 

Komteß Muschi

Mir wurde übelgenommen,
Daß ich die Muschi schrieb.
Ich tat's den Muschis zu Frommen
Und ihnen auch zulieb.

*

Mein Bruder Victor schrieb einmal an meinen Mann: »Der beste Mensch ist weiblichen Geschlechtes, der schlechteste auch. Wir sind uninteressante Mittelware.«

 

Theaterdirektor und Dichter

– »Zu geistvoll ist Ihr Stück,
Ich sag es uns zur Schande:
So feinen Dialog
Schätzt niemand hierzulande.« –
»O Bitternis im schlechten Trostgewande!
Ich wollt, ich wär ein Schaf
Und brächte was zustande.«

 

Wachsen sollst du, immer wachsen, du sollst die Schultern deines Vorgängers zum Schemel deiner Füße machen.

Schon gut. Wie soll ich aber dem auf die Schultern treten, der sich auf den Kopf gestellt hat?

 

Modern, ihr Kinderchen? –
Nun denn, Nun denn, in Gottes Namen.
Man sagt mit Aber und mit Wenn
Auch dazu endlich amen.
Doch die vor ehrlicher Kritik
Nie ungestraft passierten,
Die sie verfolgt durch dünn und dick,
Sind die Modernisierten.

Unser Harzer

Die Kanarischen Inseln hießen bei den Alten insulae fortunatae

Ich möchte deinen Gesang beschreiben können, kleiner Vogel; ich möchte Worte wissen, die Töne zu malen verstehen.

In deinem Gesang ist Jubel und Rührung, Sehnen und holder Übermut. Er wird angekündigt durch einen pfeilgeraden Pfiff. Ach, ein Pfiff! das ist, als ob man sagen würde – ein runder Würfel. Ein Pfiff im Flötenton, der nur ankündigt: Jetzt kommt es mich an, hat mich, jetzt wird gesungen!

Das rosige Schnäblein bewegt, öffnet sich, die Kehle schwillt, und nun ist es, als ob der kleine Vogel Tausende von winzigen Federn hätte, die er schüttelt, und als ob jede einzelne der Federn ein süßes Stimmchen hätte und als ob alle diese Stimmchen sich vereinigen würden zu einem lieblich und leise rauschenden Chor. Das war die Einleitung, nun kommen die Soli, sind mit weichen Trillern geziert, folgen einander rasch und stürmisch und dann wieder sanft getragen nach Einkehr und Besinnen. Jedes bringt kühn oder zage, glucksend wie verborgene Quellen, zärtlich wie das Geschluchze der Nachtigall eine neue Weise, spinnt unser Herz in das goldene Gewebe ihrer Schmeichellaute ein, umkost die Phantasie. Und diese immer Flugbereite nimmt die Töne auf, macht ihr Schwingen zum Schweben, zum Fliegen im blauen Äther, im funkelnden Sonnenschein, im silberflutenden Mondenlicht. Zeit- und Raumüberwinder, tragen sie uns in die Heimat der Ur-Urahnen des kleinen Sängers. Verlorene Klänge längst verstummter Lieder, und noch in ihnen ein gehauchter Widerhall farbenprächtiger Melodien aus dem Fabelland, in das ein Schönheit anbetendes Volk dereinst seine himmlischen Gefilde hingeträumt.

Der kleine Vogel schweigt, und alles ist fort, die ganze gefühlte, geschaute Welt. Und wenn es auch nur eine Welt in einem Tautropfen war und wenn ihr auch nur einige Augenblicke Dauer gegönnt waren, wir haben in ihr durch Augenblicke ein höheres Leben gelebt.

Ihr Schöpfer, der dumme kleine Gefangene, hüpft behende von einer Sprosse seines Käfigs zur andern, pickt Hanfkörnlein vom Boden auf, dreht und wendet sein Köpfchen. Mit seinen wie aus einem schwarzen Brillanten herausgeschliffenen Äuglein guckt er den Fremden an, der ihm eine überflüssige Aufmerksamkeit widmet, und denkt, scheint mir: Wie froh bin ich, daß mein Haus gute, feste Stäbe hat, sonst könntest du mich am Ende fangen wollen, du böses, großes Tier.

*

E. Zickendraht: Beiträge zur Kenntnis der Moosflora Rußlands (Moskau 1894-1901).

Ein auch für Laien hocherfreuliches Buch; eine bewunderungswürdige Arbeit.

Ist Zickendraht nicht der glücklichste Mensch? Während um ihn die Bomben fliegen, Anarchisten im Kampfe liegen mit aller gesellschaftlichen Ordnung, Massenmorde und Massenhinrichtungen stattfinden, das ganze große Rußland konvulsivisch zuckt und ringt, wandert er durch die Gouvernements Moskau und Wladimir, Archangelsk, Wologda, wandert nach Russisch-Asien und studiert Moose.

 

Das Wort »unbeschreiblich« sollte der Schriftsteller nie gebrauchen. Freilich kann er nicht alles beschreiben, aber in seinem Leser muß er ein Bild, ein Gefühl, eine Ahnung dessen erwecken können, was sich nicht beschreiben läßt.

 

Mein Neffe, sechs Jahre alt, und mein Großneffe, vier Jahre alt, prügeln einander, und der Kleine ruft dem Großen zu: »Du bist ein Schweinehund!«

Der Große stutzt, hält mit Tätlichkeiten inne und fragt: »Was ist ein Schweinehund?«

Der Kleine muß gestehen: er weiß es nicht.

Sie beschließen, die Tante zu fragen. Diese ist über die Sache auch nicht im klaren, sie muß erst im Brehm nachsehen, geht zum Bücherschrank, holt den Brehm und schlägt nach.

Die Büblein stürzen hinzu: »Such nur, schau nur! Was ist er? Weißt du's schon?«

»Ich hab ihn«, sagt die Tante.

»Also! Also!«

»Der Schweinehund kommt im Innern von Afrika vor und ist ein hübsches, gescheites, gutes Tier.«

Der Kleine zum Großen, feuerrot und knirschend: »Du bist kein Schweinehund!«

 

Ein feiner, wohlerzogener junger Mann, Sohn eines deutschen Gelehrten, war einem Ruf als Erzieher in ein österreichisches Fürstenhaus gefolgt, und ihm wurde etwas unheimlich zumute, als er an seinem Bestimmungsorte eintraf. Das historische Palais, die breite Treppe, die prachtvollen Räume, die feierliche Dienerschaft, all das wirkte sehr imponierend auf ihn. Sein Herz klopfte heftig, und sein Atem war beklommen, als ein Kammerdiener, der aussah, wie er sich einen Minister vorstellte, ihn in einen Salon führte und ersuchte, ein wenig zu warten. Einige Minuten später öffnete sich die Tür, und die Fürstin trat ein. Eine schöne, ernste, königliche Erscheinung. Sie begrüßte ihn mit einigen wohlwollenden Worten, setzte sich und wies ihm ihr gegenüber einen Platz an. Dann sprach sie mit Hochachtung von seinen Eltern, die persönlich zu kennen der Fürst das Vergnügen hatte, teilte dem neuen Hausgenossen die Tageseinteilung mit und den Stundenplan, gab eine bündige Charakterisierung seiner zukünftigen Zöglinge. Jedes Wort, das sie sagte, war außerordentlich gescheit. Der bescheidene Jüngling fühlte sich ganz klein neben soviel Größe.

Nun stand sie auf, er schnellte empor, und die hohe Frau sagte freundlich: »So. Jetzt kommen Sie, gehen wir zu die Buben.« – Zu die Buben! Ein dankbares, befreites Lächeln flog über sein Gesicht, die Last einer bedrückenden Überlegenheit war an ihm herabgeglitten, etwas nicht durch und durch Erhabenes, ja sogar Hilfsbedürftiges blickte ihn mitten aus ihr mit lieben, hellen Kinderaugen an. Und er, der bis jetzt nur einige unsichere: »O gewiß! – Ohne Zweifel« hervorgebracht hatte, sprach fest und warm: »Ja, Durchlaucht, ja gern.«

Er war in dem Hause zu Hause, das ihm später ein zweites Vaterhaus geworden ist.

 

Es hat einer eine Dummheit gemacht.
Nun ja, er ist noch so jung! –
Welch eine liebenswürdige Entschuldigung.
Es hat einer eine Dummheit gemacht.
Nun ja, er ist schon alt! –
Welch eine beschämende Entschuldigung.

 

Wenn ich ein Brechmittel brauche, hole ich es lieber aus der Apotheke als aus der Buchhandlung.

 

»Arzneimittel der Seele« war die Überschrift der Bibliothek im Palaste des Osymandias. Stellen wir einmal eine Bibliothek aus den Werken unserer neuen und neuesten Autoren, mit Ibsen an der Spitze, zusammen und setzen dieselbe Überschrift darüber. Würde sie passen?

 

»Ich bin die Mächtigste«, sprach die Natur, und – die Mode lachte: »Komm du nur in meine Hände, und wir wollen sehen, wie ich dich zurichte!«

 

An . . .

Ist deine Kraft gestählt,
Dann sollst auf sie du bauen;
Ich wünsch dir, was mir fehlt,
Ich wünsch dir Selbstvertrauen.

 

Eines der schönsten, reichsten Bücher, die ich kenne, ist Windelbands Die Philosophie im Geistesleben des neunzehnten Jahrhunderts. Lies! lerne! du wirst mehr, du bist gewachsen, wenn du seine klare Weisheit in dich aufgenommen hast.

 

So manches papierne Denkmal hat mehr Bestand als ein Denkmal von Erz.

 

Je älter wir werden, um so strenger mit uns selbst müssen wir sein. Unsere Schwächen, unsere Fehler, alle unsere schlechten Eigenschaften leben in uns fort, die Kraft, sie zu beherrschen, nimmt ab. Nur die unnachsichtigste Strenge, die stete Beobachtung der Motive unseres Tuns und Lassens, unserer Urteile, unserer Zu- und Abneigungen kann uns vor dem Herabsinken in senile Unerträglichkeit retten.

 

Was man noch tun kann, wenn man gar nichts anderes mehr tun kann, ist das, wozu man Talent hat.

 

»Der Pfropfen springt, in Wehmut sei geweiht
Das erste Glas und seine duftge Blume
Der früh entschwundnen frohen Jugendzeit,
Dem still geträumten, nie erfüllten Ruhme.

Das zweite Glas dir, holdes Frauenbild,
Und meiner Liebe unerloschnen Gluten,
Ich sehe dich, du lächelst freundlich mild
Entgegen mir aus diesen goldnen Fluten.

Das letzte Glas trink ich mir selber zu,
Um keine Hoffnung hab ich mehr zu werben,
Ein rasches Ende, eine lange Ruh . . .
Die Flasche leer – es liegt das Glas in Scherben.«

Dieses Gedicht hat Louise von François unter den Papieren ihres verstorbenen älteren Bruders, den sie sehr liebhatte und von dem sie oft sprach, gefunden. Sie vermutete, es sei von ihm.

 

Ich lese mit Bewunderung den Ekkehard von Scheffel wieder. Ein solches Buch könnte eine Frau nicht schreiben; es ist ein durchaus männliches Buch. Die gründlichen Studien zuerst, dann die genaue Kenntnis der Landschaft, die man nur auf langen, einsamen Wanderungen erwirbt, endlich diese reiche Erfindungsgabe. Es quillt nur so aus dem Boden, strömt aus der Luft, von überallher kommt es gesprudelt, gestoben, geflogen, und was kommt, ist fesselnd und warm, kühn und schön und lebendig.

 

»Von den Engländern kann man nichts Gutes sagen, ohne zu sündigen«, behauptete ein Burgunder im 15. Jahrhundert. Was damals einer ausgesprochen hat, wird heute von Tausenden und Abertausenden wiederholt.

 

Es geschieht zu jeder Zeit etwas Unerwartetes; unter anderem ist auch deshalb das Leben so interessant.

 

Beethoven ging in Baden auf einem schmalen Fußsteig, der durch eine feuchte Wiese führte, spazieren. Da kamen ihm, in einiger Entfernung von einer Hofdame und einem Kammerherrn gefolgt, Kaiser Franz und Kaiserin Carolina Augusta entgegen. Beethoven nahm sofort eine herausfordernde Miene an und schritt, die Nase in der Höhe, den Hut im Genick, die mit einem Stock bewehrten Hände auf dem Rücken, auf die beiden zu und bald auch stolz an ihnen vorüber. Den Majestäten war nichts übriggeblieben als, um ihm auszuweichen, ins nasse Gras zu treten. Dort blieben sie stehen, blickten ihm nach, und der Kaiser sagte: »An so Leut muß man sich erst gwöhnen.«

Eheliche Treue

Den Mann, der einmal sein Ehrenwort gebrochen hat, möchtet ihr nicht mit einem Hölzchen anrühren, aber der Mann, der alle Augenblicke seinen Eid bricht, büßt an seinem Ansehen bei euch nicht das geringste ein.

*

Wozu? Immer zu etwas, im Guten oder im Schlimmen. Der böse oder der gute Gedanke, der dir durch den Kopf geflogen ist, das weise oder das törichte Wort, das du ausgesprochen hast, alle haben eine unendliche Reihe von Ursachen und werden eine unendliche Reihe von Folgen haben.

 

In seinem Werke Russische Zustände behauptet E. B. Lanin, der Russe sei der Wahrheitsliebe, »dieser lebendigen Kraft des menschlichen Fortschritts«, vollkommen bar, und zitiert folgende russische Sprichwörter:

Das Lügen begann mit der Welt und wird erst mit der Welt sterben.

Der Roggen schmückt das Feld, und die Lüge verschönert die Sprache.

Traure nicht um die Wahrheit, sondern suche dich gut zu stellen mit der Falschheit.

Von der Falschheit lebt der Mensch, und sie ist nicht das Kraut, daran er stirbt.

Lügen ist nicht wie Teig kauen; man erstickt nicht daran.

 

Ehrlich und herzlich den gelten lassen, der uns nicht gelten läßt – höchste Noblesse!

 

Man kann unterscheiden zwischen einer Höflichkeit, die anzieht, und einer Höflichkeit, die fernhält.

 

Du staunst, weil ein anderer etwas tut, das dir unbegreiflich ist? Wer weiß, ob du nicht heute noch etwas tust, das dir selbst unbegreiflich sein wird.

 

Entlasse dein Talent beizeiten, warte nicht, bis du von ihm entlassen wirst.

 

Es ist der Kunst zu eng geworden im Bereich des Schönen: sie hat sich ein ungeheures Gebiet erobert, in dem sie nun schwelgt – das Gebiet des Häßlichen.

 

Wer klug ist und stark, die Mode mißachtet und ihr um keinen Preis Gefolgschaft leistet, erlebt manchmal den Triumph, daß sie ihm nachgelaufen kommt.

 

Lesen ist ein großes Wunder.

Was hast du vor dir, wenn du ein Buch aufschlägst? Kleine, schwarze Zeichen auf hellem Grunde. Du siehst sie an, und sie verwandeln sich in klingende Worte, die erzählen, schildern, belehren. In die Tiefen der Wissenschaft führen sie dich ein, enthüllen dir die Geheimnisse der Menschenseele, erwecken dein Mitgefühl, deine Entrüstung, deinen Haß, deine Begeisterung. Sie vermögen dich in Märchenländer zu zaubern, Landschaften von wunderbarer Schönheit vor dir entstehen zu lassen, dich in die sengende Wüstenluft zu versetzen, in den starren Frost der Eisregionen. Das Werden und Vergehen der Welten vermögen sie dich kennen, die Unermeßlichkeit des Alls dich ahnen zu lassen. Sie können dir Glauben und Mut und Hoffnung rauben, verstehen deine gemeinsten Leidenschaften zu wecken, deine niedrigsten Triebe als die vor allen berechtigten zu feiern. Sie können auch die gegenteiligen, die höchsten und edelsten Gedanken und Gefühle in dir zur Entfaltung bringen, dich zu großen Taten begeistern, die feinsten, dir selbst kaum bewußten Regungen deiner Seele in kraftvolles Schwingen versetzen.

Was können sie nicht, die kleinen, schwarzen Zeichen, derer nur eine so geringe Anzahl ist, daß jeder einzelne von ihnen alle Augenblicke wieder erscheinen muß, wenn ein Ganzes gebildet werden soll, die sich selbst nie, sondern nur ihre Stellung zu der ihrer Kameraden verändern! Und hinter die Rätsel dieser Eigenschaft, die ihnen anhaftet, zu kommen, uns den Weg zu ihren Geheimnissen zu eröffnen wird einem Kinde zugemutet, und ein Kind vermag's – wenn das nicht ein Wunder ist . . .

 

Der rote Haß, der gelbe Neid, die flammensprühende Eifersucht, die in allen Farben schillernde Verleumdung, die qualvolle Krankheit waren mit der Aufgabe betraut, ein großes Talent lahmzulegen. Eines nach dem andern versuchte es – keinem gelang's. Aber woran alle diese starken, bunten Leidenschaften und Kräfte gescheitert, das vollbrachte ohne Mühe ein farbloses, kühles, gefühlloses Wesen in seinem halb unbewußten Stumpfsinn – die Gleichgültigkeit.

 

Das ist heute ein merkwürdiger Sonnenuntergang. Der Horizont hat dieselbe dicke, graublaue Farbe wie die langgestreckte Kette der Beskiden. Da fängt es auf einmal an, hinter den Wolkenmassen rot aufzuleuchten, durch den Dunst glüht ein geschlitztes Riesenauge mit weithin strahlenden, lohenden Wimpern und wirft einen Blick über die Berge hin, der sie und den Himmelssaum wie mit einem feurigen Schwert entzweischneidet.

 

Der heilige Anarchist Angelus Silesius spricht:

Für Böse ist das Gesetz;
Wär kein Gesetz geschrieben,
Die Frommen würden doch
Gott und den Nächsten lieben.

 

Von Euklid ist der Satz, daß es nur ein Wahres gebe, und das sei das Gute, das man aber auch anders: Gott, Vernunft und so weiter benennen könne.

 

Eine junge Literatur ist feurig und keusch. Unsere senile hat sich von der Leidenschaft zum Gelüste gewendet, vom Rührenden, Ergreifenden zum derb Packenden, vom Harmonischen zum Lärmenden und Mißtönigen, vom Schönen zum Fratzenhaften. Sie sucht nach neuen Kunstformen und findet neue Moden, und grauenhaft ist die Wechselwirkung zwischen den Büchern und den Lesern.

 

Die Kunst des Sokrates: aus dem Schüler durch Fragen ein »schaffendes Erinnern« hervorzulocken.

 

Ein vortreffliches Buch: erstens verschlingt man's, zweitens liest man's, drittens schafft man sich's an.

 

Im hohen Alter, in dem man wirklich das Recht hätte zu sagen: »Ich kann nicht mehr warten«, wie geduldig wird man da!

 

Verwöhnender als der verwöhnendste Umgang ist die Einsamkeit.

 

Napoleon war ein großer Erzieher. Aus einem Kellner, einem Fechtmeister, einem Schleichhändler, einem Faßbinder hat er die Marschälle Murat, Augereau, Masséna und Ney gemacht.

 

Mein Freund Albrecht Wickenburg erzählte mir, daß seine Großmutter eine ausgezeichnete und unermüdliche Leserin gewesen sei. Unter den vielen Büchern, die sie liebte, blieb ihr aber doch Don Quijote das allerliebste. Die Taten und Worte des ingeniosen Hidalgo waren für sie eine unerschöpfliche Quelle ihr besonders sympathischer wehmütiger Lächerlichkeit und heiterer Rührung.

In ihrer letzten Krankheit, als sie nicht mehr selbst lesen konnte, mußten ihr täglich wenigstens ein paar Seiten aus der Geschichte ihres alten Freundes vorgelesen werden. Der Tod nahte heran. Sie sah ihm unendlich ergeben entgegen, empfing mit tiefer Andacht und Frömmigkeit die Tröstungen der Kirche, nahm zärtlichen Abschied von ihren guten, treuen Kindern und sagte dann: »Jetzt aber lest mir noch etwas vor aus meinem Don Quijote

Ihr Wunsch wurde erfüllt, und sie starb lächelnd.

 

Briefe von geliebten Menschen verbrennt man gleich oder nie.

 

Wir Alten sind die Milden und Gelinden,
Weil wir im Abschiednehmen uns befinden;
Wie könnten wir noch denen grollen,
Die wir so bald verlassen sollen?

 

Ich bin im Leben wohl auch manchem gemeinen Menschen begegnet, aber spazieren sind wir miteinander nicht gegangen.

 

Ohne Talent zur Liebenswürdigkeit kein Talent zum Glücklichsein.

 

Alles Egoismus. Unsere Trauer um einen geliebten Menschen – Egoismus. Was er uns war, was er uns geleistet hat, wie er sein Leben an das unsere verschwendet hat, unser Vermissen dieser helfenden, wachenden, schützenden Liebe – Egoismus. Man bewundere doch nicht die Treue in der Trauer um einen Toten! Wenn sie echt ist – echter Egoismus –, kann sie sich immer nur steigern.

 

Daß sie nicht zu besitzen brauchen, was in erster Reihe den Menschen stark, tüchtig und widerstandsfähig macht: den heiligen Eigensinn des Fleißes, eiserne Ausdauer, die stolze Kraft des Verzichtenkönnens, das ist die Armut der Reichen.

 

Glückliche Frauen, die ein schweres Leben haben, gibt es viele.

 

Wenn du einer Familie eine deiner Familiengeschichten erzählst, hast du mit unvorsichtiger Hand den Zapfen eines Sturzbades aufgedreht.

 

Wir können es nicht lassen zu fragen, und das arme »Warum?« kommt hervorgekrochen, wandert hin und her, pflanzt sich auf da und dort. Ob von schüchterner, ob von kecker Art, ob es verweilt, sich vertieft oder nur flüchtig vorüberhuscht, ob es mit Flüchen empfangen wurde oder mit lauten Jubelrufen – am Ende gleitet es immer unbefriedigt und beschämt in sein Nebelreich zurück.

 

Ein guter Mensch zertrat zufällig einen Wurm. Das tat ihm sehr leid, und er drückte dem Sterbenden sein innigstes Bedauern aus. »Wie kann ich mein Unrecht sühnen?« fragte er, und der Wurm versetzte: »Dafür ist gesorgt; meine Nachkommen werden dich fressen.«

 

Wir suchen gern unsere Abneigung gegen einen Menschen aus seinen Fehlern zu erklären. Dies ist häufig Selbsttäuschung; auch unsere eigenen Fehler können dieser Abneigung zugrunde liegen.

 

Baron Münch-Bellinghausen (Friedrich Halm) nahm gewöhnlich mit großer Geduld auch die albernsten Ausstellungen hin, die ihm an seinen Dramen gemacht wurden. Einmal aber fand er sie doch zu arg und rief zornig aus: »Die Leut glauben wirklich, vor lauter Dummheit schreibt man die Stück.« – Dem vortrefflichen Doktor Faust Pachler, der sein treuester Freund und Verehrer, aber auch sein unerbittlichster Kritiker gewesen ist, warf er vor: »Er bohrt und bohrt so lang, bis er einen Fehler findet; dann spießt er ihn auf eine Nadel und präsentiert ihn dem Autor.«

 

Wenn Scarron sich in Geldnot befand, widmete er sein neuestes Werk irgendeiner hohen Persönlichkeit, wenn er bei Kasse war – dem Hündchen seiner Schwester.

 

Heutzutage werden Bücher »lanciert«, wie man eine Zahntinktur lanciert, ein Mittel gegen Sommersprossen oder gegen das Ausfallen der Haare.

 

Gedichte von . . . – Wenn Gespenster dichten könnten, würden sie solche Gedichte machen.

 

Schillertag

Dem Tage Heil, an dem in allen Weisen
Wir unsern Schiller jubelvoll lobpreisen!
Noch gestern hätte keiner ihm gehuldigt,
Der sich vorher bei Goethe nicht entschuldigt.

*

Als der kleine Herzog Ruprecht sein Röckchen einem armen Jungen geschenkt hat, kommt das Christkind, mit diesem Röckchen bekleidet, sich zu bedanken.

Karl von Hase: Heiligenbilder

 

»Ich, mein lieber Meister«, sagte ein junger Mann zu Ernest Renan, »habe in meinen Überzeugungen nie gewankt.«

Worauf ihm der Verfasser der Origines du christianisme erwiderte: »Wie ich Sie beneide! . . . Da haben Sie also nie nachgedacht.«

 

In seiner schönen Studie: Renan als Dramatiker sagt Brandes: »Europas Ideale wurden in Nazareth geboren.«

 

Gesegnet mein Wille zum Leiden! Ich verdanke ihm meinen inneren Frieden, meinen Mut im Lebenskampfe, meine Kraft und Stärke. Traurig lächeln muß ich, wenn ich allenthalben verkünden höre, das heranwachsende Geschlecht solle eine Erziehung zur Lebensfreude erfahren. Was für eine Gattung Freude mag das sein, von der diese Erzieher träumen? Zur gemeinen Lebensfreude braucht man nicht erst erzogen zu werden, den Weg zu ihr finden Menschen und Tiere von selbst; es kann also doch nur von einer schönen und erhabenen Daseinsfreude die Rede sein, und den Weg, der zu ihr führt, haben wir gekannt, ehe einer der Lebensfreude-Verbreiter, die jetzt so laut werden, geboren war. Wir wußten, daß dieser Weg das Streben nach Selbstvervollkommnung ist, daß in ihr das einzig reine Glück der Erde besteht und daß es nur durch den Willen zum Kämpfen und zum Leiden errungen werden kann.

 

Mit Dornen ist zum Quell der Gnadengaben
Der dunkle Weg bestreut,
Gerungen mußt du, mußt gelitten haben,
Gesündigt und bereut.

»Ich warte.«

Er hat sie sehr geliebt und war von ihr noch viel, viel mehr geliebt worden. Und hatte sie verloren. Sie war nun lange tot und die Trauer um sie lange überwunden; er durfte sich ihr nicht hingeben, er gehörte der Welt und, mit allen Kräften seines Innern, seiner Kunst.

Einmal, während einer seiner Wanderungen in Italien, führte ihn der Weg in eine Villa, wo er einst Studien gemacht hatte zu seinem berühmtesten Bilde.

Damals war seine Frau, seine Freundin und – wie oft – Beraterin, noch bei ihm gewesen, so müde an dem Tag. Sie hatte sich auf eine steinerne Bank in die Nähe des Eingangs gesetzt und zu ihm gesagt: »Geh nur, sieh dich um, schaue, zeichne, laß dir Zeit. Ich warte.«

Er war fortgegangen und bald umfangen worden vom Märchenzauber einer Wildnis, in der nur noch Trümmer von der einstigen großen Vergangenheit erzählten. Er hatte bewundert, gezeichnet, geträumt, geruht und sich kein einziges Mal auch nur flüchtig erinnert: Sie wartet.

Heute, nach vielen Jahren, war er wieder da, durchschritt die verwahrloste Stätte und fand alles wieder, wie es einst gewesen. Nur lagen noch mehr umgestürzte Statuen im Grase, und noch mehr altes Gemäuer war unter den Laub- und Blütenkaskaden verschwunden, die sich darüber ergossen.

Zuletzt, als er wieder beim Eingang anlangte, stand er vor der steinernen Bank, auf die damals seine Gefährtin so müde gesunken war. Er sah die Getreue vor sich und besser als damals, denn heute sah er die Spuren eines tiefen Leidens auf ihrem Gesichte. Die Sehnsucht nach ihr ergriff ihn heißer, als er sie je gefühlt, der kraftvoll beherrschte Schmerz um sie durchdrang ihn bitter und qualvoll, weil nicht ganz vorwurfslos.

Und ihr geduldiges: »Ich warte«, schnitt ihm wie mit einem Messer ins Herz.

*

Daß du gestorben bist
Schon vor so langer Frist,
Sagt es auch der und die,
Ich glaub es nie.

 

Mit der Sehnsucht nach dem Dauernden sind wir Vergänglichen geboren. Nach Dauer geht unser Hoffen und Streben. Der Ehrgeizige will sie einem Schall – seinem Namen – erringen, der Fromme für ewig seinem zur Seligkeit gesteigerten Glück, der Künstler in heißem Bemühen seinem Werke. Bleiben will der arme Waller, fortdauern in den Herzen Dauerloser wie er, fortdauern, wenn auch nur in dem Baum, den er gepflanzt, in dem Stückchen Boden, das er urbar gemacht hat. Nach Dauer in jeder Art und Gestalt strebt das milliardenfach widergespiegelte Bild der Vergänglichkeit – der Mensch.

 

Die Entfernungen der Sterne bemessen, genau bekannt sein mit ihrem Lauf, die Farbe ihres Lichtscheins unterscheiden können ist nicht genug – man muß sie auch singen hören.

 

Der Himmel ist geöffnet über mir,
Und eine Stimme, solchen Wohllauts voll,
Wie niemals ihn ein Erdenkind vernahm,
Der ewgen Liebe und der Allmacht Stimme
Vereint zu einem wundersamen Klang,
Ruft laut aus lichten Höhen: »Komm – o komm!«
Ich aber steh auf einem uferlosen,
In Eisesfrost erstarrten Ozean;
Da grünt kein Baum, da wellen keine Hügel,
Da ragt kein Bergesgipfel wolkennah;
Die Sehnsucht flammt, doch hebt sie nicht empor,
Und Flügel – Flügel – hat mir Gott versagt.

An den Tod

Wie lang noch wirst du kalt und bleich
An mir vorüberschreiten?
O laß mich in dein stilles Reich
Beherzt und freudig gleiten.
Bevor erfüllt mein letzter Traum,
Mein letztes Wort gesprochen,
Bevor von meinem Lebensbaum
Die letzte Frucht gebrochen!

*

Beherzt im Leiden,
Im Glück bescheiden,
Gerecht in beiden
Der armen Welt,
Die viel verspricht
Und wenig hält;
Doch ob sie bricht,
Ob stählt den Mut,
Nur immer tut
Gar wohl bestellt,
Was Gott gefällt.

 

Jedes treue Rückgedenken,
Jedes Sich-in-Leid-Versenken
Um ein längst entschlafnes Glück
Bringt Verlornes uns zurück.
Fühle nur sein Näherschweben,
Fühl sein leises Dich-Umweben,
Fühle geisterhaft vereinen
Fernes Sehnen sich dem deinen.

Gedanken

Einst kamt ihr im Sturme, ihr kamt wie die brausende Flut, wie Blitze aus dunklem Gewölke, wie Morgenlicht, wie dräuender Zorn, ihr kamt wie funkelnder Haß, wie allbezwingende Liebe, in jagender Flucht, in lastender Schwere, ihr kamt quälend, friedenmordend, zu rütteln an den ehernen Pforten des Glaubens, wie scharfes Gift zu nagen an jeder Wurzel schöner Pietät und innigen Vertrauens. Ihr kamt wie Engelsscharen auf regenbogenfarbigen Flügeln und verklärtet mir die Welt, ihr brachtet Wärme, Kampf, Stärke, Begeisterung, ihr brachtet Leben, verlangtet Leben und Gestalt, und bekamt Leben und Gestalt.

Und jetzt – was seid ihr jetzt? Bleiche Schatten, die ziellos gleiten, hin und her und auf und ab, formlos ineinander, auseinander schweben, nicht zu fassen, nicht zu ballen, arme, wallende Nebel, graue Träume, die entgleiten, zerfließen, bevor sie noch ausgeträumt sind.

 


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