Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Ob spät, ob früh

Und spät wie dir, du Feuergelbe,
Stahl sich die Liebe mir ins Herz,
Ob spät, ob früh, es ist dasselbe
Entzücken und derselbe Schmerz.

    Hermann v. Gilm: Die Georgine

»Ganz hergestellt, verlassen Sie sich drauf! Noch etwas zu tun ist absolut nicht notwendig. Wenn Sie aber durchaus wollen, daß auch das Überflüssige geschehe, dann schicken Sie ihn nach Reichenhall.«

»Schicken?« fragte die Baronin mit einem leisen Vorwurf in ihrem Tone.

»Führen also, wenn er nicht allein gehen darf.«

»Sagen wir: geleiten. Etwas mütterliche Aufsicht darf sich ein Sechzehnjähriger, der kürzlich eine Lungenentzündung überstanden hat, gefallen lassen.«

»Kürzlich eben nicht. Indessen bei Ihnen sind wir ja gewöhnt, nicht nur das Gute, sondern immer mehr als das Gute tun zu sehen. Geleiten Sie also den Sohn, und wenn das Geleiten auch ein Leiten sein soll, dann bitte ich: mit flottanten Zügeln. Luft geben, gnädigste Baronin! Bedenken, daß ein Mann aus ihm werden soll und nicht ein Nönnchen.«

»Ein Mann, ein Mann – im doktorlichen Sinne . . . das hat Zeit. Vorläufig steht er, so entwickelt er geistig und so groß er ist, der Männlichkeit viel ferner als der Kindlichkeit.«

»Wer weiß – wer weiß? Sie nicht, ich nicht, er selbst am wenigsten. Aber sich gefaßt machen auf das, was kommen muß und kommen soll. Nur vor Überraschungen hüte man sich, die sind unangenehm. Jede Mutter soll vorbereitet sein auf den Tag, an dem sie ihr Kind verloren hat, weil ein Jüngling aus ihm geworden ist.«

»Gewiß, Herr Doktor, lieber Freund. Jetzt aber glaube ich mein Kind noch zu haben«, sagte sie bewegter, als sie wollte, und eine hohe Röte überflog die zarten Wangen der schönen blonden Frau.

Der Doktor griff nach ihrem Pulse und versicherte ihr halb scherzend, eine Kur in Reichenhall sei für sie mindestens ebenso angezeigt wie für ihren Sohn. Die Wahl des Badearztes, an den die sogenannten Patienten sich wenden sollten, wurde getroffen, der Tag der Abreise bestimmt. Die Baronin stellte die Hausordnung fest, die während ihrer Abwesenheit zu beobachten war. Zuletzt suchte sie dann einen geeigneten Augenblick, um dem Gatten Kenntnis von ihren Beschlüssen zu geben. Das mußte in möglichster Schnelligkeit geschehen, sonst würde er sie gar zu früh mit seinem: »Im voraus einverstanden, liebes Käthchen«, unterbrochen haben, was doch schon manches Unbehagliche für ihn zur Folge gehabt hatte. Und das wollte sie ihm ersparen wie überhaupt alles Störende und Widerwärtige.

 

Vor achtzehn Jahren hatte er um sie geworben als ein damals schon hochgestellter Staatsbeamter, und freudestrahlend hatten ihre Eltern ihr das Ereignis mitgeteilt. Ihre Freundinnen – oh, wie war deren Zahl gewachsen! Ihr Bekanntenkreis, oh, wie hatte er sich erweitert! Alle priesen ihr Glück und überboten sich im Lobe ihres Bräutigams. Ein Elitemensch! Ein allverehrter Mann! Der Gedanke an ihn war untrennbar von dem Gedanken an einen Glanz. Seine äußere Erscheinung – glänzend, die Laufbahn, die er schon zurückgelegt hatte – glänzend, die Zukunft, die ihm entgegenlachte – glänzend.

Die von ihm Erwählte, das kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen aus verarmtem Adelsgeschlechte, war völlig geblendet und staunte über die andern, über sich, über ihn, über die Wichtigkeit, zu der sie plötzlich gelangt war. Sie staunte, wie das geschehen konnte ohne ihr Zutun; es war über sie verfügt worden, ehe sie sich's versah.

Aber als er, ein zweiter Graf Wetter vom Strahl, gefragt: »Fräulein Käthchen, wollen Sie mich?« den wohlgerundeten Arm um sie gelegt und den Bräutigamskuß auf ihren Mund gedrückt hatte, kam sie sich vor wie ihm angetraut.

Und dann nach ihrer Verheiratung sah sie ein, und es bereitete ihr nicht einmal eine Enttäuschung, daß sie in seinem Dasein nur eine Nebenrolle spielen könne. Seine Interessen lagen außerhalb der Familieninteressen. Im Amte blieb sein Herz, sein Geist, das Genie, von dem er gestreift war, zurück. Nach Hause kam ein feierlicher, schweigsamer Herr, der sich verwunderte, wenn seine Frau ihm Rechenschaft geben wollte von irgendeiner Anordnung, die sie getroffen hatte. Er billigte alles, was seine ruhige, umsichtige Käthe beschloß; er war leichtlebig zum Äußersten vor lauter Gleichgültigkeit. Als das Kind eintraf, sagte er nicht einmal wie Buddha: »Ein Sohn ist mir geboren, eine Kette ist mir geschmiedet.« Er empfand die Kette nicht. Sein Knabe wuchs prächtig unter der Obhut der Mutter heran; der vielbeschäftigte Vater bemerkte nicht, daß sein Junge ihn nie ansprach, immer erst ermahnt werden mußte, ihm guten Morgen oder gute Nacht zu sagen, von seinem Ein- und Ausgehen nicht mehr Notiz nahm, als wenn ein Schatten hin und her geglitten wäre. Für den Knaben bestand sein Elternpaar aus einer zärtlichen, allgütigen, immer anwesenden Mutter und einem großen, breitschultrigen Herrn, dem er Respekt zu bezeigen hatte. Wenn die Leute mit ihm von seiner Mutter sprachen, sagten sie immer »die Mama«. Beim Vater wechselte von Zeit zu Zeit die Titulatur. Er wurde, soweit Harald zurückdachte, »der Herr Ministerialrat«, später »der Herr Sektionschef« und seit einigen Jahren »der Herr Baron« genannt.

Diese letzte Wandlung machte Eindruck auf seinen Sohn. Der Titel eines Mannes, der nach der alten deutschen Reichsverfassung unmittelbar unter dem Kaiser stand, gefiel ihm sehr, und die Wichtigkeit des Vaters, der ihn tragen durfte, schien ihm erhöht. Er begann ein Verständnis für das stolze Nicken zu haben, mit dem der Baron jedes über Harald geäußerte Lob hinnahm. Selbstverständlich – du bist ja mein Sohn, bedeutete die schweigende Zustimmung.

Käthe jedoch jubelte im stillen. Die Triumphe ihres Einzigen waren zugleich Triumphe ihres Erziehungssystems, das im Fernhalten aller schädlichen Einflüsse von ihrem Kinde gipfelte. Sie erlaubte ihm weder den Besuch der Schule noch den Umgang mit minder gut behüteten jungen Leuten. Aber dafür hatte sie gesorgt, daß ihm seine Abgeschiedenheit nie empfindlich wurde. Sie verstand tausend Interessen in ihm zu wecken, ernste und auch spielerische. Seine große helle Stube war angefüllt mit Sammlungen, und in freien Stunden ordnete, ergänzte, katalogisierte er seine Mineralien, Pflanzen, Münzen, Kupferstiche, trieb Musik mit vielem Talent, machte seinem Fecht- und seinem Reitlehrer Ehre. Heiter und freundlich, wie er in die Welt blickte, blickte die Welt ihm entgegen und enthielt für seine unbefangenen Jünglingsaugen nur Licht und Schönheit und Erfüllung noch unbestimmter Hoffnungen und nicht ausgeträumter Träume. Nie hatte seine Mutter ihn anders als vergnügt und zufrieden gesehen, nie war er ihr anders als mit größter Liebe, Ehrfurcht und Dankbarkeit begegnet, hatte ihr immer ein grenzenloses Vertrauen gezeigt; und nun mußte sie doch ein Wort hören, das wie eine Ermahnung klang: »Leiten Sie ihn, aber mit flottanten Zügeln.« Hatte sie denn je die Zügel fest angezogen? Sie glaubte es nie getan zu haben, glaubte auch an ihrem Kind eine Überraschung nicht erleben zu können.

 

An einem regnerischen Junimorgen fuhren Mutter und Sohn mit dem Schnellzuge von Wien ab. Der Vater hatte die Seinen reichlich mit Geld versehen, ein Kupee erster Klasse für sie bestellt, ihre Dienerschaft in einem anstoßenden Waggon unterbringen lassen. Auf dem Bahnhof wurde freundlich Abschied genommen, und der Würdenträger kehrte, nachdem er der Pflicht Genüge getan, zu seiner Liebe – seinem Amte – zurück.

Als er über den Perron hingeschritten, pfeilgerade aufgerichtet, mit einer lässigen Berührung der Zylinderkrempe die Bücklinge des Bahngewaltigen und seiner Untergebenen erwidernd, hatte sich in dem Jüngling, der ihm nachblickte, ein nicht geringer Stolz auf seinen so hochgeehrten Vater geregt.

Die Baronin war, erschöpft durch die Mühen der Vorbereitungen zur Reise, schon in Purkersdorf eingeschlafen und erwachte erst in Pöchlarn. Sie saß mit dem Rücken gegen die Lokomotive in einer Ecke des Waggons, der Sohn in einer Ecke ihr schräg gegenüber. Er hatte ein Bein über das andre geschlagen und auf das erhobene Knie ein Buch gelegt, das er festhielt in der linken Hand; die Knöchel der geballten Rechten bohrten sich in die Wange. Seine Reisemütze war ihm ins Genick zurückgeglitten, blonde kurze Wellen der natürlich gelockten Haare schmiegten sich an seine weiße Stirn, seine Augenbrauen zogen sich zusammen, von Zeit zu Zeit bebten die Flügel der schmalen Nase, die halb geöffneten Lippen schienen durstig etwas Unsichtbares, Köstliches einzuziehen.

Er regte sich nicht, als der Zug anhielt; er überhörte die Frage, die seine Mutter an ihn richtete; er hätte vermutlich das Notsignal überhört.

Die Baronin betrachtete ihn mit unendlicher Liebe. Er sah klug und überlegen aus in seiner weltentrückten Versunkenheit; er war ein so hübscher Bursche! Schon fingen die Weiber an, ihn merken zu lassen, daß er ihnen gefiel . . . Sie sind so miserabel, die Weiber! Ihnen ist nichts heilig, nicht die Unschuld eines Jünglings, nicht die Verzweiflung einer Mutter . . . Entsetzliche Vorstellungen stürmten auf sie ein, und sie rief unwillkürlich laut und angstvoll seinen Namen.

Er sah auf: »Was willst du, Mama?«

»Nichts – eigentlich nichts . . . Wo sind wir denn? Haben wir Pöchlarn schon passiert?«

»Ich weiß wirklich nicht – ich habe gelesen.«

»Sehr aufmerksam. Ist es hübsch, dein Buch?«

»Nein, Mama, es ist hinreißend, es ist göttlich! . . . Es ist das Leben und auch die Poesie . . . es ist eine Offenbarung, Mama, leuchtet tief ins Innerste hinein, schmeichelt, droht, liebkost und schneidet ins Herz . . . es weckt auf . . . Mutter, ich glaube, ich habe bis jetzt geschlafen!«

Er war aufgesprungen, hob das Buch in die Höhe, schüttelte es, wie man die Hand eines Freundes schüttelt, und hielt das Titelblatt seiner Mutter vor die Augen. Sie las: Erzählungen von Iwan Turgenjew.

»Kennst du sie?« fragte er.

»Ich kenne viele Erzählungen von Turgenjew.«

»Auch die? . . . Auch die herrlichste?« Er schlug das Buch wieder auf und bezeichnete mit dem Finger den Titel der Erzählung: Die erste Liebe.

»Die eben nicht. Erzähle sie mir.«

»Ja, wenn ich das könnte! Wer kann so etwas erzählen?«

»Sage nur den Inhalt, ganz kurz. Um was handelt sich's? Was für Menschen kommen vor?«

»Ein junges Mädchen, Sinaïde. Ihre Mutter ist eine Fürstin – sehr arm und so gemein! Sie schnupft und führt immer Prozesse. Sie hat sich mit ihrer Tochter in ein baufälliges, enges und niedriges Nebengebäude auf der Besitzung des Vaters von Woldemar eingemietet.«

»Wer ist Woldemar?«

»Der Sohn des Gutsbesitzers, ein Bub . . .«

»Wie alt?«

»Ach Gott, sechzehn!« Er verzog geringschätzig die Lippen, er stand ja am Morgen seines achtzehnten Jahres. – »Der verliebt sich in die Sinaïde, alle verlieben sich in sie, ein Husarenoffizier, ein Doktor, ein Graf, ein Poet, jeder möchte sie heiraten.«

»Heiraten – wirklich?« fragte die Mutter übereilt, und unbefangen antwortete der Jüngling: »Jeder. Und sie macht sich über alle lustig, und keiner nimmt ihr etwas übel. Wenn sie nur kommen dürfen, sind sie glücklich. Den Woldemar hat sie gleich gefragt: »Gefalle ich Ihnen?« Und sie weiß doch, der arme Kleine möchte auf den Knien vor ihr herumrutschen; denn sie ist eine Königin, obwohl arm und schlecht angezogen – ein dunkles Wollkleid hat sie an und, denk dir, eine Schürze . . . Ist eine Fürstin und trägt eine Schürze . . . Aber sie ist klug und lieblich und hat goldig schimmernde Haare und eine Stimme mit Silberklang . . .«

Mein guter Bub, dachte die Baronin, du bist selbst in sie verliebt und wirst von nun an jedes hübsche Mädchen, das dir begegnet, für eine Sinaïde halten. »Und wie endet die Geschichte?« fragte sie.

»Oh, traurig! Woldemar, so kindisch er ist, fühlt doch, daß sie mit ihm spielt wie die Katze mit der Maus, aber losmachen kann er sich nicht. Er schleicht um ihr Haus herum, wenn er nicht bei ihr sein darf, oder klettert auf die hohe Mauer eines halbverfallenen Treibhauses am Ende des Gartens und bleibt stundenlang dort oben ganz müßig. Er sieht kein Buch mehr an, studiert nicht mehr, geht nicht mehr spazieren, reitet nicht mehr aus. Einmal kommt sie . . .«

»Wer – sie?«

»Nun, Sinaïde, an der Mauer vorbei und sagt: ›Sie behaupten, daß Sie mich lieben. Springen Sie doch herunter auf den Weg, wenn Sie mich wirklich lieben.‹ Und er, natürlich, springt herunter.«

»Natürlich findest du das?«

»Aber Mama, man müßte sich doch schämen.«

»Und bricht den Hals, das arme Kind?«

»Nein, er verliert nur ein bißchen die Besinnung . . . Und da . . .«

»Nun, was geschieht?«

». . . da küßt sie ihn.«

»Solange er nicht bei Besinnung ist.«

»Auch ein bißchen nachher«, sprach er, über und über errötend.

»Und damit endet die schöne Geschichte?«

»Gott behüt's, Mama, was denkst du? . . . Sinaïde hat einmal gesagt: ›Ich kann niemand lieben, auf den ich herabsehen muß; ich brauche einen Mann, der mich selbst zahm machen könnte.‹ Und – denke! denke! – der kommt – und den liebt sie, und der ist – der Vater des Woldemar –«

»Den Vater des Woldemar liebt das junge Mädchen? Ach geh!«

»Du mußt nicht glauben, daß er alt ist, o nein! Nicht alt, schön und stolz, aber nicht gut – nicht einmal gegen sie . . . Er schlägt sie sogar – und Woldemar sieht das mit an.«

»Sieht es mit an – wieso – zufällig?«

»Ja.«

»Belauscht der Sohn den Vater?«

»Nein, nein, Woldemar ist kein Lauscher – ganz ohne Absicht kommt er dazu, hört und sieht. Der Vater lehnt am Fenster eines kleinen Hauses – das ist nicht mehr auf dem Gut; das ist in Moskau –, und am Fenster sitzt Sinaïde und hat den Arm auf die Brüstung gelegt. Der Vater verlangt etwas von ihr, das sie nicht tun will – ich glaube, er will, daß sie sich von ihrer Mutter trenne –, sie gibt nicht nach, da – heftig wie er ist, hebt er die Reitgerte, und ein harter Schlag trifft ihren entblößten Arm. Sie fährt zusammen, sieht ihn an, sagt nichts, hebt den Arm – und küßt die rote Schramme . . .«

Stoßweise brachte er das hervor; seine Stimme wollte ihm nicht recht gehorchen, und eine leichte Blässe überflog wie feiner durchsichtiger Reif seine rosigen Wangen.

Der besorgte Blick der Mutter streifte ihn. Daß es ihn so bewegte! Daß er mitempfand, was der kleine Woldemar empfunden haben mochte, als er die Vielgeliebte die Schramme küssen sah . . .

»Gepeitscht werden und seine Striemen küssen«, sprach sie in ungewohnt herbem Tone, »das ist niedrig.«

»So meinst du, Mama; Woldemar denkt: Das ist Hingebung, Leidenschaft, das ist Liebe!«

»In dem Fall ist dir also dieser kleine Junge eine Autorität . . . Aber sag einmal, wer hat dir das Buch Turgenjews empfohlen? Woher hast du's?«

»Ich habe es gekauft, zugleich mit einigen Sachen von Gorkij, der jetzt so gelobt wird in den Zeitungen. Es ist wahr, er packt gewaltig.« Der Jüngling nahm eine gewichtige Richtermiene an. »Sein erstes Buch hat mich entzückt, das zweite auch noch; beim dritten war mir, als ob ich Erde essen müßt . . . Und denk nur, er wagt es, die Werke Turgenjews Milchsuppen zu nennen.«

Gorkij! – Ihr Sohn sprach von Gorkij wie von einem ihm wohlbekannten Autor. Er las Bücher, die weder seine Mutter noch – darauf hätte sie schwören mögen – einer seiner Lehrer für ihn ausgewählt hatte. Nun, dachte sie, die unangenehme Überraschung ist schon da, und fragte sanft und traurig: »Harald, mein Kind, du gehst ganz einfach in die Buchhandlung und kaufst Bücher?«

»Was soll ich dort anders kaufen, Mama?«

»Und du gehst allein in die Buchhandlung?«

»Ach nein! Einer meiner Raben, Hugin und Munin, der gute, liebe Pater Renner geht mit oder Doktor Weber.«

»Und die sind einverstanden mit der Wahl, die du triffst?«

»Das weiß ich nicht, danach frage ich nicht, Mama – und sie finden es ganz natürlich, daß ich nicht um Erlaubnis bitte wegen jeder Kleinigkeit.«

Es kam ein wenig ungeduldig heraus. Nicht der Schatten einer Entschuldigung, daß er etwas tat, worauf seine Mutter doch nicht ganz vorbereitet sein konnte. Im Gegenteil, es sprach eher vorwurfsvoll aus seinen Augen.

Was blieb ihr übrig, als den Freundesrat zu befolgen und nicht auf dem Schein einer Herrschaft zu bestehen, deren Wesen ihr schon entwunden war. Eine schmerzliche Wehmut ergriff sie, sie hätte weinen mögen.

Sollte es wirklich geschehen sein, war ihr Sohn nicht mehr ihr Kind? Würde sie ihm nicht mehr bei jedem seiner Schritte folgen dürfen, nicht mehr völlig vertraut sein mit seiner Gedankenwelt, nur noch zufällig, wie eben jetzt, einen Einblick in sie gewinnen? Vor einer sonnig durchhellten Zeit sank es herab wie ein eisernes Gitter, dessen dunkle Stäbe einen Rückblick, aber keine Rückkehr mehr gewährten. Was hinter ihnen lag, war klar und licht und voll Frieden; was vor ihnen lag, war voll banger Fragen, quälender Zweifel, scheuer Hoffnungen.

Harald hatte sich wieder in seine Ecke begeben, sein Buch aber nicht mehr aufgeschlagen; er verwandte keinen Blick von der Aussicht aus seinem Fenster und rief: »Wundervoll, Mutter! Wundervoll!«

»Schade, daß es so neblig ist.«

»O nein, nicht schade! O Berge, o grüne, weiße, graue Bergketten, o Schönheit, die erraten, geahnt, im Geiste geschaut sein will, bevor sie sich dem körperlichen Auge enthüllt! . . . Sei viel hingerissener, liebe Mutter; schau, der dort weit drüben so gespenstisch aufragt, das ist der Watzmann, gewiß, er muß es sein. Meine Ehrfurcht, Majestät! Du nimmst dich da ganz anders aus als in der Geographie!«

Als sie sich dem lieblichen Reichenhall näherten, der Untersberg erschien, alle seine Märchen lebendig wurden und den jungen Reisenden umflogen in zahllosen holden und ehrwürdigen Gestalten, wurde er von einem Rausch der Wonne und der Zärtlichkeit ergriffen. Er stürzte auf seine Mutter zu, küßte stürmisch ihre Hände, eine um die andre, und versicherte ihr: »Du bist meine geliebte, gute, schöne Mutter!«

Und jetzt hatte er wieder seine sanften, liebreichen Kinderaugen, und jetzt kam ihr vor, als könne die Zeit, in der er ihr ganz gehörte, nicht vergangen sein.

 

Sie fanden am selben Tage noch eine gute Unterkunft im Hochparterre einer hübschen, etwas sezessionistisch angehauchten Villa unweit vom Kurparke. Die Wohnungen der Baronin mit ihrer Zofe und Haralds mit seinem Diener waren durch den allen Gästen des Hauses gemeinschaftlichen Speisesaal getrennt.

Von ihrem Besuche beim Badearzt, dem der Hofrat sie empfohlen hatte, kam die Baronin am folgenden Morgen in gedrückter Stimmung zurück. Ihr Sohn war gesund erklärt und ihm nur eine kleine Molken- und Badekur verordnet worden; sie aber, die auf vorübergehende Störungen ihres Wohlbefindens nie geachtet hatte, sollte nun doch etwas für sich tun. Der Arzt verordnete ihr unter anderm einen täglich zweistündigen Aufenthalt in der pneumatischen Kammer.

Eine Präventivmaßregel. Geboten ?– Nein. Wünschenswert? – Ja. Und – wenn man schon da ist . . . Es wäre doch unklug, die gute Gelegenheit nicht zu benützen. Der Arzt sprach zu, der Sohn beschwor, und die Baronin fügte sich. Aber schwer wurde es ihr. Wenn sie allen ärztlichen Weisungen gewissenhaft nachkam, war sie tagsüber getrennt von ihrem Sohne und sah ihn fast nur bei den Mahlzeiten, in Gesellschaft aller übrigen Hausgenossen. Eine Stunde des Alleinseins mit ihm behielt sie sich aber vor; frühstücken sollten sie zusammen um acht Uhr im Salon der Baronin oder auf der Veranda mit der Aussicht auf den Stauffen.

»Sei morgen pünktlich!« rief sie ihm nach, als er ihr gute Nacht gesagt hatte und sich in sein Zimmer begab.

Er war in aller Gottesfrüh auf den Beinen und rannte, im trunkenen Entzücken eines Neulings in den Bergen, ziellos umher, bevor er sich beim Kiosk einfand, wo er seine Trinkkur beginnen sollte. Einige Gäste waren eben aus dem gegenüberliegenden Kurpark getreten, um ihre zweiten Rationen in Empfang zu nehmen, schlürften ihre Molke oder ihr Mineralwasser, bekrittelten die orakelhaft dunkle Wetterprognose, die am Eingange des Parkes angeschlagen war.

Die servierende Frau streifte den Zettel mit der ärztlichen Verordnung, den Harald vor sie hinlegte, kundigen Blickes: »Halb Molke, halb Trinksole.«

»Auch mir meinen Göttertrank, seien Sie so gut«, fiel eine tiefe, weiche, wohllautende Frauenstimme ein, und Harald wandte sich. Da stand eine junge, stattliche, sehr einfach und sehr vornehm gekleidete Dame.

Eine österreichische Aristokratin – der Typus ist unverkennbar, besonders in einer kosmopolitischen Umgebung. Und es war ein auserlesenes Exemplar, das ihn hier vertrat. Schön und fein, noble, sorglose Anspruchslosigkeit der Ausdruck des ganzen Wesens: Ich bin, wie ich bin, und will nicht mehr scheinen.

Harald erkannte die Heimatsgenossin auf den ersten Blick, und der ihre begegnete dem seinen. Sie sah ihm aufmerksam und mit unverhohlen freudiger Überraschung ins Gesicht. Er, plötzlich furchtbar verlegen, beugte seinen Kopf über den Becher, der ihm inzwischen gereicht worden. Eine trübe, grünlichgraue Flüssigkeit befand sich darin, die er mit Widerwillen betrachtete.

»Und das trinkt man?« murmelte er.

Die Heimatsgenossin lachte leise und mitleidig, nahm ihren Becher und ging über die Straße in den Park.

Sie hatte ihn ausgelacht – natürlich; die Frage, die seine Verlegenheit ihm erpreßte, war doch gar zu albern gewesen . . . Und nun folgte etwas zum mindesten ebenso Albernes. Ihm fiel ein, daß Sinaïde den armen Woldemar bei ihrer ersten Begegnung auch ausgelacht hatte . . . Wie konnte ihm das jetzt einfallen? Was für ein Zusammenhang bestand da? Nicht in derselben Stunde zu denken, nicht in derselben Stunde zu nennen: eine russische Abenteurerin und diese von allen Geistern der Reinheit und Hoheit umschwebte Frau!

Seine Mutter ahnte nicht, wie gut er schon bemerkt hatte, daß er gar oft der Gegenstand lebhafter Aufmerksamkeit von Mädchen und Frauen war. Der geschmeichelten Eitelkeit, die sich bei solchen Gelegenheiten bei ihm meldete, folgte aber regelmäßig ein Gefühl der Abneigung und Geringschätzung. Was lag ihm daran, ob er »diesen Gänsen« gefiel oder nicht!

Diesmal war's anders. Das Wohlgefallen, mit dem die Unbekannte – nicht Fremde! – ihn angesehen hatte, war aber auch etwas andres und selbst ihr Lachen so unsagbar lieb. Freilich, daß sie über ihn gelacht hatte, war beschämend. Wie ein dummer Junge mußte er ihr vorgekommen sein in seiner Verlegenheit und mit seiner stupiden Frage. Er konnte dieses quälende Bewußtsein nicht loswerden und zog seine Mutter ins Geheimnis seiner stillen Leiden. Sie interessierte sich vor allem für die Dame.

»Vornehm, meinst du, und gewiß kein Fräulein, eine Frau, und noch sehr jung?«

Darüber war er im Zweifel. Nicht sehr jung, hatte er beim ersten Anblick gedacht, aber als sie ihn anlachte, war sie ihm ganz jung, ganz jung vorgekommen. Auf das eine kam er immer wieder zurück: »Glaubst du, daß sie sich sehr lustig über mich macht?«

Die Mutter lächelte kaum merklich und streichelte seine feinen blonden Haare: »Ich glaube, Harald, daß sie nicht mehr daran denkt.«

 

Am nächsten Morgen geschah das Unerwartete: sie redete ihn an. »Nun, haben Sie Ihren Abscheu überwunden, haben Sie Ihre Molke getrunken?«

Wieder lachte es ihm so jung, so strahlend heiter aus ihren Augen entgegen; er senkte die seinen wie geblendet und murmelte eine unverständliche Antwort. Sie blieb einen Augenblick, die Fortsetzung erwartend, stehen; da keine kam, nickte sie ihm freundlich zu und ging wie gestern in den Kurpark.

Als sie fort war, brauchte er einige Zeit, um sich von seiner Gemütsbewegung erholen und nachdenken zu können . . . Was für ein rätselhafter Vorgang war das gewesen? – Eine unbeschreibliche Sehnsucht, sie wiederzusehen, hatte ihn erfüllt; einmal von ihr angeredet zu werden war ihm als der Inbegriff des Glückes erschienen. Er hatte sich genau ausgemalt, wie er sich dabei benehmen, auch das Gespräch, das folgen würde, Punkt für Punkt festgestellt. Daß sie gescheit war und Interesse für ernste Dinge hatte, daran zweifelte er nicht; er hatte es ihr angesehen trotz ihrer heiteren Freundlichkeit, und obwohl sie die Leute auslachen konnte. Er nahm sich vor, sie zu überraschen durch die Kühnheit der Gedanken, die er darlegen wollte, Gedanken, von denen weder sein bester Freund, Pater Renner, noch seine Mutter eine Ahnung hatten. Ihr sollten sie anvertraut werden. Sie würde überrascht sein, vielleicht erschrocken, aber sich doch sagen: Mit einem unbedeutenden Menschen habe ich da nicht gesprochen . . .

Nun war der Anfang dieses Traumes zum Erlebnis geworden; sie hatte das Wort an ihn gerichtet – und er? . . . Glühend stieg es ihm zu Kopf, wenn er sich seines Benehmens entsann . . .

Er hatte die Frage der feinen schönen Frau mit einem »Ja« beantwortet, das einhergepoltert kam wie ein Bauer ohne jegliches Gefolge . . . Sie hatte ihn gegrüßt, und er hatte nicht gedankt, hatte nicht einmal den Hut abgenommen! . . . Was mußte sie von ihm denken, für wen ihn halten? Für den Sohn eines Packträgers wahrscheinlich. Er litt Qualen. Obwohl es in Strömen goß, rannte er durch den Nonner Wald und hinauf bis zur Restauration und kam zu spät zum Frühstück.

Seine Mutter dachte an die flottanten Zügel und ersparte ihm jeden Vorwurf. Ein wenig klagen mußte sie aber doch und klagte denn über die elende Existenz in der pneumatischen Kammer. Eingesperrt, hinter Schloß und Riegel mit fünf andern Zellengenossen, zwei geschlagene Stunden lang in imposanter Nachbarschaft.

»Denke nur, den Platz neben mir hat der Kapellmeister Kolberg.«

»Der berühmte, der die Drei Sonaten komponiert hat, die so herrlich sind?«

Sie bejahte, und Harald war einen Augenblick abgelenkt von seiner Seelenpein.

»Hast du ihm gesagt, wie du ihn bewunderst?«

»Was dir einfällt! Das ist kein Mensch, an den man sich mit Lobeserhebungen heranwagt.«

»Du sprichst nicht mit ihm?«

»Nein. Er grüßt in einer Art, die mehr fernhält als anzieht, und ich erwidere mit einem Gruß, der zu verstehen gibt: Seien Sie ruhig, ich bin nicht zudringlich.«

»Und sag, Mama, wie sieht er aus? So bärbeißig wie auf seinen Bildern?«

»Beinahe.«

»Ist er klein oder groß?«

»Untersetzt, nicht schön, sein Gesicht hat einen slawischen Typus, scheint mir.«

»Scheint dir? Du hast ihn nicht genau angesehen?«

»Eigentlich nein. Berühmten Leuten ist das Angestarrtwerden eine Qual, und dann –« Ihr war der Aufenthalt in der pneumatischen Kammer so widerwärtig! Sie hatte, wenn sie eintrat, nur den Wunsch: Wäre ich wieder draußen!

»Das ist ja schrecklich, Mama; aber – muß es denn sein?«

»Es scheint wohl, wenn der Arzt es verordnet.«

»Fehlt dir denn wirklich etwas?« fragte er besorgt. »Du hast dich doch früher nie krank gefühlt.«

»Auch jetzt fühle ich mich ganz wohl.«

»Siehst du, und machst dich nur krank durch diese Kur.« Er hob den gesenkten Kopf und sprach mit plötzlich gefaßtem Entschluß: »Weißt du was, Mama? – Reisen wir ab!«

Sie war erstaunt. »Abreisen? Wir sind ja kaum angekommen.«

»Wenn auch. Es gefällt uns hier nicht, dir nicht und mir nicht; Reichenhall ist ein widerwärtiges Nest, ungesund für dich, und ich glaube auch – für mich.«

Seine Mutter suchte ihm zu verbergen, wie sehr diese letzten Worte sie beunruhigten, und sagte nur: »Du bist aufgeregt; das macht die Gebirgsluft, das wird sich geben. Jedenfalls sprechen wir mit dem Doktor.«

»Dem Doktor?« Er brach in Lachen aus, in ein Lachen, so scharf und grell, daß es hinreichte, nicht bloß den einen Doktor, sondern die ganze Fakultät mit Hohn zu überschütten.

Es half ihm nichts, er mußte am Nachmittag seine Mutter zum Arzte begleiten und wurde von ihm mit den Worten begrüßt: »Sie sind bei mir verklagt worden, Herr Baron« – der elegante Mann lachte ziemlich boshaft. »Was höre ich? Sie verderben unsern schätzbarsten Patienten den Geschmack an unsrer unschätzbaren Molke, zweifeln an ihrer Trinkbarkeit?«

Harald errötete: »Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Eine schöne Dame. Ist siebenundzwanzig Jahre alt und sieht aus, als wäre sie neunzehn . . . Eine große Dame, Pairsgattin, Exzellenz. Die Gräfin« – er nannte einen Namen, der ruhmvoll auf den stolzesten Blättern der Geschichte Alt-Österreichs steht.

Die ärztliche Behandlung nahm wenig Zeit in Anspruch. Unter den bestimmtesten Versicherungen, daß sie sich mit dem Aufenthalt in Reichenhall sehr bald befreunden dürften, wurden die Patienten entlassen. Wie bald bei einem der beiden seine Prophezeiung eintreffen sollte, konnte der Doktor nicht ahnen.

Sie hatte sich seiner erinnert, von ihm gesprochen, harmlos, wie es schien. Hatte nur gesagt, daß sie einen jungen Mann gesehen, der an der Trinkbarkeit der Molke zweifelte, nicht gesagt: Ich habe einen jungen Mann gesehen, der ein Lümmel war.

Auf dem Heimwege sprach seine Mutter: »Also die war's! Nun, von einer so schönen Frau ein bißchen ausgelacht zu werden kann man sich gefallen lassen.«

»Du kennst sie?« rief er aus.

»Gesehen habe ich sie, man hat sie mir gezeigt, gestern, in der Nähe des Deutschen Hauses, wo sie wohnt. Sie war in Gesellschaft andrer Kurgäste, sehr heiter, und scherzte mit einem alten Herrn, der ihr eifrig widersprach. Die andern hörten zu und schienen sich königlich zu unterhalten. Sie ist gewiß eine geistreiche Frau und hat einen ganz eigenen Charme. Reizend die dunkeln klugen Augen und der liebliche Mund.«

Harald nickte zustimmend und sprach nach kurzem Schweigen: »Ich bitt dich, Mama, schick ihr Blumen.«

»Welcher Einfall, wie käme ich dazu? Sie müßte mich für verrückt halten.«

»So schick sie ihr anonym.«

»Nein, nein. Es ist ihr vielleicht unangenehm, Blumen anonym zugeschickt zu bekommen.«

»Was denkst du nur? Sehr angenehm wird es ihr sein. Ganz gewiß. Tu's, tu's gleich, liebe, liebe Mutter! . . . In der Ludwigstraße gibt es so schöne Blumen. Rosen, groß wie ein Dessertteller, und Nelken, weiße und feuerrote mit gekräuselten, dichten, duftenden Blättern; die kaufe, und viele, viele! Komm, liebe Mutter!«

»Aber Kind, es regnet, und ich bin müd.«

»Ich trage dir den Schirm, ich führe dich . . .«

Sie widerstand noch eine Weile, aber schwach und schwächer. Eines von ihnen mußte nachgeben – er würde es gewiß nicht sein. Ich finde es einen Unsinn, dachte sie, teile aber das Schicksal so vieler Eltern und – begehe ihn. Unser Wille hält dem Ansturm des kräftigeren jugendlichen Willens nicht stand. Ist es ein Zeichen der Zeit, daß die bessere Einsicht die schwächere geworden?

So begaben sie sich denn in die Ludwigstraße. Bis zum Blumenladen begleitete er sie aber nicht; er sah nur von weitem zu, wie sie gütig und großmütig seinen Wunsch erfüllte. Eine Welle des Glückes schlug an sein Herz, sooft die Verkäuferin eine schöne Blume aus einem der Kelche in der Auslage nahm und sie dem Strauße einfügte, der sich unter ihren geschickten Fingern zu einem kleinen Kunstwerk gestaltete. Nun war's vollendet. Nun prangte es in heiterer Schönheit wie die Frau, für die es bestimmt war. Harald fand es auch sehr weise, daß seine Mutter die Adresse der Gräfin nicht selbst aufschrieb, sondern, um jede Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung zu vermeiden, durch die Verkäuferin aufschreiben ließ.

 

Die Blumensendung hatte eine wunderbar stählende Wirkung. Harald gab den Gedanken an die Flucht aus Reichenhall auf und sehnte sich nur nach einer Gelegenheit, der Frau, für die er eine so plötzliche, so heiße Bewunderung gefaßt hatte, zu beweisen, daß die Ungeschliffenheit bei ihm nur etwas Gelegentliches, nicht etwas Permanentes sei. Am nächsten Morgen befand er sich schon um sechs Uhr auf dem Gartenwege, der zwischen dem Luisenbade und den gegenüberliegenden Villen zum Kiosk führt, und spähte nach ihr aus. Als sie kam und ihren Becher verlangte, fing es eben wieder zu regnen an. Sie spannte den Schirm auf; ihr junger Verehrer näherte sich, blieb zögernd in der Entfernung von einigen Schritten stehen, den Hut in der Hand, den Kopf ehrerbietig gesenkt. So erwartete er den Augenblick, in dem sie an ihm vorübergehen werde. Wenn sie ihn grüßt, wird er beschämt und – beglückt sein. Grüßt sie ihn nicht, wird er es hinnehmen als schwere, aber verdiente Strafe und seine Mutter bewegen, heute noch mit ihm abzureisen.

Aber sie ging nicht vorüber, sie blieb stehen und sagte: »Guten Morgen, junger Herr. Warum lassen Sie sich anregnen? Haben Sie keinen Schirm?«

Er sah ratlos auf seine leeren Hände nieder und sagte: »Ich glaube nein.«

»So gehen Sie doch nach Hause und holen ihn; sonst verklage ich Sie wieder bei unserm gemeinschaftlichen Doktor . . .«

Damit wandte sie sich dem Kurparke zu, und Harald, wie gezogen von hundert- und hunderttausend Fäden, unwillkürlich, fast ohne eigenes Wissen, folgte ihr. Sie ging durch die Allee zum Gradierwerke und stieg die kleine Holztreppe hinauf, die zur Galerie führt. Ein häßliches Ding, so ein Gradierwerk. Unter seinem alle Häuser der Umgegend überragenden Dache sind dürre, schwarzbraune Reisigbündel aufgeschichtet und bilden Wände, an denen trübes Salzwasser in schweren Tropfen niederrieselt.

Harald hatte eilig einen Bogen umschritten und konnte ganz unbemerkt die Gräfin von weitem erblicken. Sie lehnte an der Brüstung der Galerie und sprach mit einem ältlichen Ehepaare, das unten auf dem Wege stehengeblieben war.

Vornehme Leute, ganz gewiß, die große, schlanke Dame im hellen Regenmantel, der hagere Herr im englischen Paletot. Das ist vielleicht derselbe alte Herr, mit dem sie neulich ein Wortgefecht geführt hat. Jedenfalls ein guter Bekannter. Ob sie es auch recht fühlen, diese Menschen, welch ein Glück es ist, zu denen zu gehören, die ihren Umgang bilden, in ihrer Gesellschaftssphäre leben . . . Die Beneidenswerten! Sie haben ja überhaupt, was kein persönlicher Vorzug, kein noch so großes persönliches Verdienst verleihen kann: das Gefühl eines angeborenen Anrechts auf alle weltlichen Ehren . . . Oh, die klugen Japaner mit ihrem Vorelternkultus! Sie wissen, was das heißt, sagen zu können: Aus dem Stamm bin ich herausgewachsen . . .

In seiner Eifersucht auf das Ehepaar, das so einfach aussah, so ohne Umstände mit der Standesgenossin plauderte und dazwischen den Gruß einiger Vorübergehender mit schlichter Höflichkeit erwiderte, dachte er aber nicht nur an die Japaner, er dachte auch – an seinen Vater. An die huldvolle Berührung der Hutkrempe zum Dank für die Bücklinge der Eisenbahnbeamten . . . Er entsann sich seiner eigenen stolzen Gefühle über die Verleihung des Freiherrntitels; und was ihm vor kurzem sehr nobel vorgekommen war, kam ihm plötzlich nur aufgeblasen vor und armselig der Adel, dessen Geschichte nicht zugleich Geschichte des Vaterlandes ist.

Ganz klein und unglücklich bis ins Mark lief er aus dem Parke, an hübschen Villen vorbei durch den triefenden Wald, über Wiesen und Anhöhen und erinnerte sich erst um neun Uhr, daß er um acht zum Frühstück bei seiner Mutter sein solle.

Sie hatte auf ihn gewartet, machte ihm keinen Vorwurf über seine Unpünktlichkeit; sie sprach von einer Ausfahrt, die sie unternehmen könnten, wenn das Wetter besser würde. Er sagte sehr gleichgültig zu allem ja, aber plötzlich kam ihm ein Einfall, und er begann mit seinem üblichen: »Weißt du was, Mama?«

Sie lächelte ihn an: »Noch nicht.«

»Du solltest die Gräfin kennenlernen.«

»Sollte ich? – Mein armer Bub, das liegt nicht in meinem Belieben.«

»Warum denn? Warum denn nicht?«

»Damen ihres Kreises und Frauen des meinen . . .«

Er unterbrach sie: »Damen, Frauen . . . als ob du keine Dame wärst . . . Du bist eine, du bist viel mehr als der Papa und ich . . . Der Großvater sagt immer: ›Mein Adel ist älter als der von so manchem Fürsten.‹«

»Das macht es nicht aus. Die Koterie, in der man lebt, macht es aus. Die Gräfin wird von der ihren gewiß eng umschlossen, und mich da einzudrängen fällt mir nicht ein.«

Sie hatte sanft und ruhig gesprochen, aber in der bestimmten Weise, gegen die – er wußte das wohl – jede Einwendung vergeblich war.

 

Am Nachmittag sandte er wieder einen Strauß schöner Blumen anonym ins Deutsche Haus. Diesmal wurden sie durch seinen Diener und in einem andren Laden als die früheren besorgt. Und von neuem brachten sie ihm Glück. Die Gräfin grüßte ihn freundlich, als er sie am nächsten Morgen, wie gestern chapeau bas, beim Kiosk erwartete, und lud ihn ein, sie auf ihrem Morgenspaziergang zu begleiten.

Sie gingen in die Riedelallee und freuten sich, daß es endlich aufgehört hatte zu regnen. Es war mild und sonnenlos. Maria-Theresientage nennt man in Österreich diese sanften, stillen, an denen der Himmel in einem einförmigen Silbergrau erschimmert, kein Lüftchen sich regt, kein greller Ton den leisen Farbenwohllaut unterbricht und in den Herzen der Menschen die Ahnung künftigen Friedens erwacht.

Das Gespräch bewegte sich anfangs in ausgefahrenen Gleisen, dann fragte die Gräfin: »Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß ich sehr überrascht war, als ich Sie zum erstenmal gesehen habe? Der Grund davon ist, daß Sie meinem ältesten Sohn merkwürdig ähnlich sehen. Sie haben seine Art, in die Welt zu gucken, seine Gesichtsform, seinen mädchenhaften Teint . . . Nur«, fügte sie hinzu und blickte ihn heiter an, »errötet er nicht so oft wie Sie; er ist noch nicht in dem Alter, in dem man ohne Ursache errötet.«

Diese Worte erweckten in ihm ein seltsam unangenehmes Gefühl. Sie hatte einen ältesten Sohn, hatte also mehrere Söhne, hatte ein reich ausgefülltes Dasein.

Ihr Willy, sagte sie, der gar zu gern schon groß sein möchte, werde sehr stolz sein zu hören, daß sie einen jungen Herrn kennengelernt habe, der lebhaft an ihn erinnerte und gewiß schon sechzehn Jahre alt sei.

Das war arg . . . Erst peinlich berührt, dann beleidigt. Essig in eine Wunde. »Exzellenz! ich bin siebzehn.«

»Wirklich? . . . Seit wann?«

Er murmelte etwas Undeutliches; er schämte sich zu gestehen: Seit vorgestern.

Sie schritten rasch aus, begegneten nur wenigen Spaziergängern auf dem breiten, mit jungen großblättrigen Linden bepflanzten Weg. Die Aussicht entfaltete sich immer reicher vor ihnen. Links die phantastischen Zacken und Spitzen des Lattengebirges, das schlank emporsteigende dunkle Müllnerhorn, vor ihnen der Stauffen und seine grünen Vor- und Nachläufer, rechts, weithin gegen Salzburg sich breitend, das offene, fruchtgesegnete Land. Im Hintergrund der Gaisberg wie ein Traum von einem Berge, wie hingemalt mit heller Wasserfarbe auf hellen Grund, mehr geahnt als gesehen.

Die Gräfin bemerkte, daß ihr Begleiter schönheitsblind und verstimmt neben ihr herging, und sagte: »Ich habe Sie für jünger gehalten, als Sie sind, und Sie nehmen mir das übel. Warten Sie nur – die Zeit kommt furchtbar rasch, in der wir es den Leuten übelnehmen, wenn sie uns mehr Jahre geben, als wir annehmen wollen.«

Sie hatte durch den Doktor erfahren, wer er sei, und teilte ihm mit, daß ihr Mann seinen Vater kenne und ihn sehr hochschätze: »Sie werden in seine Fußstapfen treten; Sie sind gewiß ein ausgezeichneter Student . . . Nicht widersprechen! Lassen Sie mir meine gute Meinung. Sie sind es von allem Anfang an gewesen – schon vor der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium.«

»Ach, wegen der!« sprach Harald wegwerfend.

»Ja, ja, wegen der. Ich höre, daß gerade sie von manchem der Herren Professoren den armen Buben recht schwer gemacht wird.«

Ihr bangt um ihren Willy, dachte Harald und lächelte mitleidig: »Es kommt auch vor, daß die Herren Buben es den armen Professoren schwer machen. Im ganzen sind die Professoren gut und froh, wenn sie einen durchbringen können.«

»Wenn das nur nicht so schwer wäre! In zwei Jahren kommt mein Willy dran! . . .«

Er zuckte überlegen mit den Achseln und begann ein wenig zu flunkern. Ihm hatten die Studien keine Schwierigkeiten gemacht. Er hatte immer noch Zeit gehabt, sich nebenbei mit Zeichnen und Malen und Musizieren zu beschäftigen. Auch mit seinen Sammlungen, Münzen, Briefmarken und so weiter.

»Sie überraschen mich; nein wirklich, Sie imponieren mir!« sagte sie und gab sich Mühe, ihn mit ernster Miene anzusehen. Es gelang nicht ganz. Um den noch so jungen Mund spielte etwas, tief drin in den sprechenden Augen leuchtete etwas, das sehr heiter war. Nicht spöttisch, nur heiter; sie hatte aber vom Imponieren gesprochen, und damit stimmte der Ausdruck nicht vollkommen überein.

Abermals errötete er bis an die Haarwurzeln und brachte dann unvermittelt hervor: »Die ersten Klassen sind aber wirklich ganz leicht.«

»Ein großer Trost für mich, denn mein Bub ist ein miserabler Student.«

Sehr geschmeichelt durch das Vertrauen, mit dem sie ihn in eine so beschämende Familienangelegenheit einweihte, sprach Harald leichthin: »Er kann nichts dafür; es wird Atavismus sein.«

»Was meinen Sie?«

»Nun – Atavismus. Seine Ahnen sind Turnierhelden, Kreuzfahrer, Feldherren gewesen; die Wissenschaften waren ihnen schnuppe. Davon haben nun ihre Nachkommen die nicht trainierten Gehirne, sagt mein Freund Pater Renner.«

»So, Pater Renner sagt das?«

»Exzellenz kennen ihn?«

»Er bugsiert ein paar Neffen von mir durch das Gymnasium; zwei solche Raubritternachkommen mit nicht trainierten Gehirnen.«

»Es kann sich machen mit der Zeit«, versetzte er tröstend.

»In Generationen vielleicht. Wer weiß, was für Gelehrte meine Ururenkel noch werden!«

Der scherzende Ton kränkte ihn. Was hatte er nicht alles von einer Unterredung mit ihr erwartet; wie reich an Gedanken und Eindrücken sollte sie sich gestalten! Und nun – statt tief zu werden, verflachte das Gespräch immer mehr . . .

Er führte es wieder auf das Gymnasium zurück, das er aber sehr von oben herab behandelte. Die Fragen, die er an die Wissenschaft stellte, konnten dort nicht beantwortet werden. Als die Gräfin ihr Erstaunen ausdrückte, steigerte er sich immer mehr. Mit abgewendetem Gesicht und unter fortwährendem Erröten brachte er stoßweise Anschauungen hervor, über deren Verwegenheit er selbst erschrak. Sie betrafen in erster Linie die Religion. Bei seinen Erörterungen bediente er sich vieler Fremdwörter und gelangte zu dem Schlusse, der Zweifel stände höher als der Glaube und die kühne Negation höher als der Zweifel.

»Sagen Sie mir, junger Freund«, fragte die Gräfin, »pflegen Sie auch Ihre Mutter einzuweihen in die Schlüsse, zu denen Ihr Nachdenken Sie geführt hat?«

Nein. Mit seiner Mutter sprach er von solchen Dingen nicht. Sie war eine fromme Frau und glücklich in ihrem blinden Glauben. Um keinen Preis würde er ihn erschüttern wollen; der Glaube seiner Mutter sei ihm heilig.

»Und der meine ist es Ihnen nicht?« Wieder flog das sonnige Lächeln über ihr Gesicht, das ihn entzückte und ihm weh tat.

Vorwurfsvoll sah er ihr in die braunen, leuchtenden Augen. »Das ist etwas anderes! Auf meine Mutter könnten meine Anschauungen Einfluß nehmen . . . vielleicht Einfluß nehmen . . .« verbesserte er sich. »Auf Sie, Exzellenz« – und nun ergriff ihn eine unerklärliche Verwirrung, und seine Stimme war umflort –, »gewiß nicht.«

»Das meine ich selbst. Also nur kühn vorwärts mit den Bekenntnissen! Heraus mit der Sprache über alles, was Sie auf dem Herzen haben und was Sie bedrückt und Sie, wenn es verschwiegen bliebe, in eine falsche Richtung treiben könnte. Gradaus allerwege! ist meine Devise. Nun aber hören Sie: ich bin eigentlich hierhergekommen, um eine Schweigekur durchzumachen; gehen wir jetzt schön still nach Hause. Reden auch Sie nicht mehr; zwingen Sie mich nicht, Ihnen meine Bedenken auszusprechen oder – meine Bewunderung.«

Sie traten den Rückweg an und befanden sich eine Viertelstunde später an der von Harald und seiner Mutter bewohnten Villa. Auf diese schritten vom andern Ende der geraden Straße eine Dame zu und ein Herr, bei dessen Anblick die Gräfin ausrief: »Hans Kolberg – wenn die Entfernung mich nicht täuscht. Nein, wirklich, es ist der große Unnahbare!« Sie erzählte, daß sie ihn in Bayreuth kennengelernt habe und in ihm die unliebenswürdigste Berühmtheit, die es geben könne; besonders abwehrend gegen Frauen und ganz besonders gegen solche, die ihm huldigend nahen. Was mag die Dame, mit der er spaziert, für ein Zaubermittel angewendet haben, um diesen Löwen zu zähmen? So lebhaft und angeregt sah man ihn in Gesellschaft nie!

Die Dame, der Kolberg die Ehre erwiesen hatte, sie zu geleiten, blieb vor dem Eingang zum Vorgarten ihrer Villa stehen. Sie wechselte mit ihm noch einige Worte; dann küßte er ihr die Hand und empfahl sich mit tiefer Verbeugung.

»Ein Handkuß!« sagte die Gräfin, »ein Handkuß von Hans Kolberg! Ich weiß keine noch so hohe Frau, die nicht jetzt an der Stelle der Dame dort hätte sein mögen. Wer sie nur ist?«

»Ich kann es Ihnen sagen, Exzellenz!« erwiderte Harald, und aus seiner Stimme klang ein nur mühsam unterdrücktes stolzes Jauchzen: »Es ist meine Mutter!«

 

Einige Tage vergingen gleichförmig, »still und bewegt«, würden die Romantiker sagen. Sooft das Wetter es erlaubte, machten Mutter und Sohn Ausflüge in die Umgebung. Er hatte ihr triumphierend erzählt, wie hoch die Ehre angeschlagen werde, mit Kolberg verkehren zu dürfen. Immer wieder brachte er die Rede auf ihn und sagte einmal: »Warum verabschiedest du ihn vor dem Hause? Lade ihn doch ein, uns zu besuchen.«

»Wozu denn? Ich weiß ja, daß er ablehnen würde. Er hütet sich vor jeder Gelegenheit, mit fremden Leuten zusammenzukommen, gebraucht seine Kur und bringt den Rest des Tages auf Wanderungen in den Bergen zu.«

»Immer allein wie ein rechter Menschenfeind.«

»Ich glaube nicht, daß er ein Menschenfeind ist.« Damit wollte sie abbrechen, aber Harald fuhr in gereiztem Tone fort: »Nicht immer gleich aufhören, Mama, wenn von Kolberg die Rede ist. Mit mir darfst du doch von ihm sprechen, wenn auch mit niemand anderm.« Er sah ihr in die Augen und setzte hinzu: »Ich weiß den Grund.«

»– So?«

»Er schenkt dir sein Vertrauen – gib es zu.«

»Das tu ich, Kind, nur dessen rühmen mag ich mich nicht.«

»Ach, Mama, wer denkt daran! Aber daß du so geizig bist mit dem Vertrauen, so übergeizig! Daß du dich fürchtest, es zu mißbrauchen, wenn du Dinge berührst, die alle Welt weiß.«

»Zum Beispiel?«

»Daß er verheiratet war mit der berühmten Tragödin Helmstädt, daß sie ihn sehr unglücklich gemacht und daß er sich von ihr getrennt hat.«

»Freilich, das wissen alle; und wenn es alle wissen, wozu davon erzählen?«

»Mein Gott, Mama, es interessiert einen doch! Neulich erst stand in den Zeitungen, daß seine Frau jetzt in Paris ist und daß er mit ihr einen Prozeß führt um seine kleine Tochter. Er soll da schonungslos vorgehen. Du mußt es ja auch gelesen haben.«

»Du kennst meinen Abscheu vor dem Zeitungsklatsch; die Hälfte nicht lesen, die Hälfte nicht glauben. So halte ich's. Kolbergs Kompositionen entzücken mich. Aus ihnen schöpfe ich die Kenntnis von dem Menschen, die mir wertvoll ist, und verzichte gern auf jede andere.«

»Ja, ja, das bist du; das große Publikum verlangt mehr.«

»Ein Mehr, das um soviel weniger ist! Wenn man aber von ihm nur weiß, was in den Zeitungen steht, muß man doch begreifen, daß er jetzt nicht gestimmt ist, Gesellschaften zu besuchen und Komplimente einzuheimsen.«

»Jetzt, sagst du? Er soll von jeher nicht nur Komplimente, sondern auch jedes Zeichen von Bewunderung und Liebe mit Füßen von sich gestoßen haben.«

»Welche Übertreibung!« rief die Baronin mit einer Ungeduld, die ihren Sohn befremdete. »Kein Künstler wird Bewunderung und Liebe, wenn sie echt und nicht zudringlich sind, von sich stoßen.«

»Von ihm sagt man's.«

»Man sagt es. Ist das ein Grund?«

Er war an die Strenge nicht gewöhnt, die aus diesen Worten klang. Verletzt sprang er auf mit dem Ausruf: »Mama!«

Sie blickte betroffen zu ihm empor, und in ihrer Frage: »Nun, Harald?« lag eine Bitte.

»Nichts«, antwortete er. »Nichts, Mama.«

»Du wolltest mir etwas sagen; sag es doch.« Ihre Stimme liebkoste ihn wieder mit voller, weicher, mütterlicher Zärtlichkeit.

»Später, vielleicht später einmal.«

Und nun war er es, der dem Gespräch eine andere Wendung gab.

 

Am folgenden Morgen erfuhr Harald eine bittere Enttäuschung. Er sah die Gräfin beim Molkenhäuschen stehen, aber nicht allein, sondern von einer kleinen Gesellschaft umringt. Wieder das dünne Ehepaar mit den langen Gesichtern und den schmalen Nasen, dann zwei junge Mädchen, die so laut lachten und sprachen, daß alle Vorübergehenden sich nach ihnen umsahen, was sie aber gar nicht zu kümmern schien. Auch ein junger Mann befand sich da, der ein fahles, glattrasiertes Gesicht und langgeschlitzte, schläfrige Augen hatte. Bei den Scherzen der Damen lächelte er, was sich aber nur wie ein Seitwärtsschieben der Lippen ausnahm.

Harald war des Weges zwischen schattigen Gärten gekommen und bemerkte die fremden Leute zu spät, um noch umkehren und – was er so gern getan hätte – entfliehen zu können. Auch hatte die Gräfin ihn schon gesehen und nickte ihm freundlich zu. Er hob den Hut, eilte vorbei und hörte noch eine der jungen Damen fragen: »Qui est-ce?« Eine Naivität vornehmer Wienerinnen, die glauben, »Qui est-ce?« sei für eine geringere Sorte der Menschheit weniger verständlich als: »Wer ist's?«

Er hörte auch noch: »Joli garçon!« sagen. Dann war ihm, als ob hinter ihm gekichert würde.

Er nahm den kürzesten Weg ins Freie, rannte ziellos einem Tag entgegen, der für ihn ein verlorener war. Er wollte allein sein mit seiner Erbitterung, sie auskosten, sich ihr ganz hingeben.

In den Nonner Auen am Fuße des Stauffen, in die er geriet, herrschte noch tiefe Einsamkeit, göttliche, vor dem Geräusch der störenden Menge, der »vielen, allzuvielen« gesicherte Ruhe. Einer regnerischen Nacht war ein Morgen gefolgt, der für lang erlittenes Wetterungemach entschädigt. Die Nebelschleier hatten sich von den Gebirgszacken und Höhen losgeknüpft und glitten als kleine Rauchwölkchen über die Wiesen im Tale dahin. Es gab kein Gräschen ohne Tau, keine dürstende Blume; alles war erquickt, belebt, beseelt. Die Blätter der Bäume glänzten wie kleine Spiegel, in die ein Schein des großen Lichtes am Himmel fällt, und in ihren Zweigen regte sich's, schoß umher, zwitscherte und sang.

Und in dieser heiteren und lieblichen Welt schritt Harald dahin und hatte keinen Blick, kein Ohr für die tausend Stimmen des Seins und Werdens um ihn her, keinen Dank für das wohltuende Arom der balsamischen Frühlingsluft. Was kümmerte der friedliche Frühling da draußen in der Natur ihn, der einen brausenden, stürmenden Frühling in der eigenen Brust trug? Er fühlte nur sich, nur die eigene ungestüme Lebenskraft, die ihrer selbst noch unbewußte Lebenssehnsucht.

Sein kräftiges Ausschreiten, ja, das tat ihm wohl! Und als in der Nähe des Waldes der Pfad zu steigen begann, reizte es ihn, die Anhöhe im Laufe zu nehmen. Bald jedoch machte der Weg eine jähe Biegung, und mitten auf ihm sah Harald in einer Entfernung von kaum zwanzig Schritten eine wuchtige Männergestalt sich langsam vorwärts bewegen. Es war der Kapellmeister, der, den Bergstock in der Hand, den Rucksack auf dem Rücken, eine seiner einsamen Wanderungen antrat. Er trug eine weite Lodenjoppe, stramm über die starken Beine gespannte Strümpfe und genagelte Schuhe. Unter der Krempe des Jägerhutes sahen dichte graue Haare hervor. Harald blieb stehen, unschlüssig, ob er an ihm vorbeieilen oder warten solle, bis Kolberg außer Sicht war. Aber auch der war stehengeblieben, hatte sich umgewendet und sah ihn an. Harald grüßte und ging zögernd auf den Musiker zu, und ihm war, als hätte noch nie ein so abwehrender und durchdringender Blick ihn getroffen wie der, den diese Augen, blau wie im Feuer erhitzter Stahl, auf ihn richteten. Von einem peinlichen Unbehagen ergriffen, entschuldigte er sich: »Verzeihen Sie, Herr Direktor, verzeihen Sie.«

»Was verzeihen?« fragte Kolberg, und seine Stimme war überraschend frei von Härte und Ungeduld.

»Ich habe Sie gestört.«

»Gestört?«

»Sie waren gewiß in Gedanken.«

»So – ja so! Ein Musiker ist immer in Gedanken, meinen Sie.« Er faßte ihn wieder scharf ins Auge. »Wohin rennen Sie denn eigentlich?«

»Nirgends hin, Herr Direktor, und wenn ich Sie nicht störe und wenn Sie es mir erlauben . . . Dürfte ich ein bißchen mit Ihnen gehen?«

Die Antwort war ein Gemurmel, das man mit etwas gutem Willen für eine Zustimmung nehmen konnte, und Kolberg setzte seine Wanderung fort.

Harald wagte nicht zu sprechen; verstohlen nur blickte er den Meister von der Seite an. Er bewunderte sein männliches Profil, die vom Hut nur halb verdeckte breite, gleichsam gedankenschwere Stirn, die leicht gebogene Nase und die schön geschwungene Linie ihres Flügels, den Mund, der unbedeckt blieb vom feinen, stellenweise wie Silber schimmernden Vollbart. Um die fest geschlossenen Lippen spielte ein eigentümlich anziehender, milder, beinahe freundlicher Ausdruck.

Plötzlich wendete sich der Meister dem Jüngling zu und sprach: »Sie heißen Harald. Ihre Mutter hat Sie mir neulich gezeigt, von weitem; Sie sehen ihr ähnlich.«

»Ja«, sagte Harald, und ganz unvermittelt folgten dieser Zustimmung die Worte: »Meine Mutter ist eine gute Musikerin, Herr Direktor. Meine Mutter hat mir im Winter beinahe jeden Abend eine Ihrer Drei Sonaten vorgespielt . . . O Herr Direktor! Der Anfang der ersten und der Schluß der zweiten, da brennt man, da wird einem eiskalt, da wünscht man nur eins . . .«

»Nur eins? . . . Doch eins! . . .«

»Ja. Den, der es gemacht hat, dazuhaben . . .«

»Wozu?«

»Um ihn anzubeten.« Er hatte es bloß geflüstert und senkte die Augen.

»Was sind Sie jung! Einen anbeten, dem ein Stückwerk gelang.«

»Ein Stückwerk, Herr Direktor?«

»Da ein Anfang, dort ein Ende – was ist's mit dem Ganzen? . . . Das Ganze eine Glorie, das wäre schön! Ist aber nicht unsre Sache; darauf wird die Welt noch lange warten . . . Das vollkommene Kunstwerk schafft nur der vollkommene Mensch. In unabsehbarer Ferne liegt die Zeit. Aber sie kommt . . . Wohl jedem, der vermag, auf sie zu hoffen; wohl jedem, der Augenblicke kennt, in denen er, über sein kleines Ich hinausgewachsen, ihr Erscheinen geahnt hat – zu ahnen glaubte.«

Sie waren an eine Stelle gekommen, von der aus man einen freien Ausblick auf den Untersberg hat. Kolberg stand lange still und vertiefte sich in die Betrachtung des herrlichen Bildes.

»Da«, sagte er endlich. »Wenn Sie das Bedürfnis haben anzubeten, den, der das gemacht hat, beten Sie an. Da ist sie, nach der wir ewig ringen, obwohl wir wissen, daß sie uns unerreichbar ist – Vollkommenheit.«

»Die haben Sie oftmals erreicht, Herr Direktor.«

Kolberg überhörte die Worte, wiederholte: »Da ist sie«, und streckte die Arme aus. »Mein alter Liebling, mein Berg; sehen Sie, wie er prangt in seiner stillen Majestät, in leisen grauen Tinten, in lauter Farbenpracht. Die Allmutter Sonne, die warme, gütige, küßt sein ehrwürdiges Greisenangesicht; eine schimmernde Wolke liegt an seinem Herzen wie ein schönes Weib in schneeweißem Mantel. Genien der Sage umschweben ihn, kindliche Träume fliegen durch eines Weisen Haupt.« Seine Augen blieben lange mit ernstem Entzücken, unersättlich im Schauen, auf die Landschaft gerichtet. »Anbetungswürdig!« sagte er plötzlich. »Vor dem Urheber dieses Werkes auf die Knie! Warum sehen Sie mich so verwundert an? Ist es Ihnen merkwürdig, daß ein Schaffender an den Schöpfer glaubt?«

»Nein – ach nein!«

»Und ebensowenig kann es Ihnen merkwürdig sein, daß einer, den der Anblick des Vollkommenen in seliges, unaussprechliches Entzücken versetzt, die Überzeugung hat: Nicht der Furcht, wie eure Klugen behaupten, entsprang das Gebet . . . Das erste Gebet, das zum Himmel stieg, hat jubelvolle Dankbarkeit gesprochen, und spricht ein Musikus es heut, dann wird's ein Lied oder«, er lächelte, »irgendein Satz von irgendeiner Sonate.«

»Etwas Herrliches gewiß! Aber, Herr Direktor . . .« Es zuckte um Haralds weiche Kinderlippen, als sie sich zu dem Einwand öffneten: »Wenn nur nicht auch soviel Häßliches in der Welt wäre und Grausames und soviel« – sein gepreßtes Herz tat ihm weh –, »und soviel Leiden.«

»Je nun – nur nicht ertragen, sich nicht unterwerfen, nur kämpfen gegen sie! Im Kampfe stählt sich die Kraft . . . Nur kämpfen! kämpfen wollen.« Er senkte die Stimme; ihr Ton wurde allmählich so leise, daß Harald das scheue Gefühl hatte, der unberufene Zeuge eines Selbstgesprächs zu sein. »Wollen können, immer, felsenfest, unerschütterlich, ist alles . . . Nur wollen können! nur den Glauben an den Willen nicht verlieren, weil er uns schon so oft betrog.«

Seine Rede wurde ganz unverständlich; er starrte vor sich nieder; seine kräftige Gestalt beugte sich wie unter dem Druck eines schweren Schicksals. Aufseufzend hob er nach einer Weile das Haupt mit jähem Entschluß. »Aber – ich muß ja fort. Adieu. Ihrer Mutter meine Verehrung, meine tiefste Verehrung.«

Rüstig schritt er die Anhöhe empor, indes Harald unbeweglich stehenblieb und ihm nachblickte.

Dem Jüngling war zumute wie einem, der tausend angesponnene und plötzlich abgerissene Fäden eines seltsam dunkelhellen Gewebes in seinen Händen hält.

 

Ein paar Wochen vergingen, in denen Harald die Gräfin täglich sah; aber freilich immer nur in Gesellschaft anderer. Das war für ihn mehr Qual als Freude. Es kam nicht mehr zu einem längeren Gespräche, und er hätte ihr so viel zu sagen gehabt. Er dachte ja nichts, was er nicht mit ihr in Verbindung brachte, worüber er nicht ihre Meinung hören, womit er nicht ihr Interesse erwecken wollte. Aber sie war unzertrennlich von den zwei Komtessen, die für einige Zeit in ihrer Obhut standen, und gar oft schloß sich ihnen der junge Herr mit dem schiefen Lächeln an. Den haßte er; und einmal, als die Gräfin über einen seiner Scherze herzlich lachte, da haßte Harald einen Augenblick auch die Heißverehrte. Und als sie, seine Verstimmung sogleich bemerkend, fragte: »Was gibt's, Harald? Wer hat Ihnen etwas getan?« da hätte er sein Leben darum gegeben, ihr antworten zu dürfen: Sie! Sie! Sie! – mit Ihrem Lachen über die blöden Scherze eines Laffen!

Zu Hause nahm er oft Turgenjews Novelle zur Hand. Sie hatte etwas von ihrem ursprünglichen Reiz für ihn eingebüßt. Der »Knabe« Woldemar flößte ihm Geringschätzung ein; daß etwas Neid dabei war, ahnte er nicht. Was wußte er überhaupt von sich selbst? Wußte er, ob er noch einen freien Willen habe? »Wollen können ist alles«, hatte der Meister gesagt; und konnte Harald noch wollen? Da stand er am Morgen mit dem Vorsatz auf: Heute weiche ich ihr aus, und befand sich trotzdem plötzlich in ihrer Nähe; und dann – was kümmerte ihn das Geschwätz der andern? . . . sie sprach mit ihm, wenigstens eine kleine Weile, und immer von ernsten Dingen. Freilich in ihrer munteren Art.

»Was ist in Ihnen vorgegangen seit gestern?« fragte sie; »Sie sollen mir Ihre Gedanken sagen.«

Ihr ahnte nicht, daß er da mehr zu verschweigen als zu sagen hatte.

Es kam aber auch vor, daß er mit fest auf den Boden gehefteten Augen an ihr vorbeirannte, weil er sich eben gefragt hatte, was er in ihrer Gesellschaft zu suchen habe. Er, der Beamtensohn, gehörte nicht zu ihr. Seine Mutter selbst, die so gern ausglich, alles so gern im mildesten Lichte sah, jeden Mißklang so gern in Harmonie auflöste, hatte ihn gewarnt: »Wir gehören nicht in diese Kreise: ihre Lebensanschauungen und besonders die Bemessung des Wertes oder Unwertes der Dinge sind zu verschieden.«

»Du kannst das doch nicht empfunden haben«, hatte er ihr einmal erwidert. »Du stehst ihnen der Geburt nach ganz gleich.«

»Ja, aber ich bin eine Beamtenfrau.«

»Sind denn nicht viele von ihnen und viele ihrer Söhne auch Beamte?«

»Ein großer Unterschied! In ihren Augen gibt der Mann dem Amte den Rang, bei uns das Amt dem Manne.«

Eines trüben Nachmittags, an dem die meisten Kurgäste sich im Parke hielten, sah Harald die Gräfin mit dem eleganten jungen Herrn – ihrem Vetter, wie er jetzt wußte – und den zwei Komtessen vor der Kolonnade auf und ab gehen.

Längst schon drohte ein Regenguß, und mit sogar im Gebirge ungewöhnlicher Heftigkeit wurde die Drohung erfüllt. Die Schleusen des Himmels öffneten sich, und alles flüchtete in die Halle. Auch Harald war der Treppe, die zu ihr führt, schon nahe, als sich dicht vor ihm lautes Kindergeschrei erhob. Ein etwa zweijähriges, höchst elegant gekleidetes Mädchen stand mitten in einer Wasserlache, streckte die Ärmchen aus und schrie: »Viens! Viens!« und auf der obersten Treppenstufe, unter dem schützenden Dache, stand eine junge Dame, fabelhaft schön und kostbar angetan in Spitzen und Gaze, das kleine Haupt bekrönt von einem Bänder- und Federnbaldachin, streckte ebenfalls die Arme aus und rief ebenfalls: »Viens! Viens! Viens, ma chérie!«

Aber »chérie« wollte durchaus abgeholt werden. Sie heulte wie ein verlassenes Jagdhündlein; der große Hut war ihr in den Nacken gerutscht; der Regen, in den sich auch schon Hagelkörner mischten, prasselte nieder auf ihr blondes Haupt. Plötzlich, mit einem lauten Gekreische des Zornes, warf sie sich zu Boden, wälzte sich und strampelte in der Nässe herum. Nun raffte ihre Mutter die Schleppe zusammen und schickte sich an, auf die Kleine zuzueilen; zwei Herren in Regenmänteln wollten ihr zuvorkommen . . . Aber schon hatte Harald das Kind vom Boden aufgehoben, um es der »maman«, nach der es zeterte, zu bringen. Es schrie und wehrte sich und schlug mit Händen und Füßen nach ihm; er hatte alle Mühe, es festzuhalten, verlor unterwegs seinen Regenschirm, wurde böse und brummte einmal ums andere zwischen den Zähnen: »Kröte! Kröte! boshafte Kröte!« Nun sprang er die Stufen zur Kolonnade hinauf und wollte seine ungebärdige Last ihrer Eigentümerin übergeben. Aber die Französin streckte beim Anblick des beschmutzten, triefenden Kindes die Hände mit einem entsetzten: »Oh mon Dieu!« abwehrend aus. Harald stand ratlos da und war in der größten Versuchung, seine zappelnde Bürde ihrer »maman« vor die Füße zu werfen.

Die laute Szene hatte viele Zuschauer, darunter die Gräfin, die Komtessen, den Vetter, und der grinste. Einige lachten; zartfühlende Damen meinten, es handle sich um Kindermißhandlung, und begannen den armen Harald sehr unzart zu beschimpfen. Er, mit dem wütenden Kind in den Armen, spielte eine lächerliche Figur – Schicksalstücke: vor ihr! vor ihr! Aber die Qual hatte nur kurze Dauer. Einer der hilfreichen Herren im Regenmantel übernahm das Kind, der andere lief, einen Wagen herbeizuholen, die Dame nickte: »Merci, Monsieur!« und fort waren sie.

»Das war eine schwierige Lebensrettung!« sprach die Gräfin zu Harald, der sein Taschentuch gezogen hatte und die Spuren der nassen Kinderfüßchen von seinem lichten Sommerrocke abzuwischen suchte.

Ihm war das Weinen nah: »Zu dumm«, murmelte er, »so ein boshafter Fratz!«

»Aber temperamentvoll, die kleine Französin, und bildhübsch! Nehmen Sie sich in acht – was wir da sahen, war vielleicht ein Vorspiel . . . So fangen manchmal die interessantesten Romane an.«

»Wenigstens«, erwiderte Harald noch sehr mißmutig, »habe ich Zeit, mir die Sache zu überlegen.«

»Baron, Baron!« sprach eine helle Stimme, und neben ihm stand die jüngere der Komtessen und reichte ihm, herzig salutierend, seinen Regenschirm. »Da ist er. Sie haben ihn verloren, und ich wollte auch etwas retten.«

Er war äußerst überrascht und geschmeichelt. »Oh! – Oh! Nein – das ist wirklich, das ist zu gnädig, wirklich . . .«

»Bravo, Kitty! ich sage es ja, an dir ist ein preux chevalier verdorben«, sprach die Gräfin, »und nun kommt, meine vier Kinder, wir wollen Tee trinken beim Zuckerbäcker. Sie nehmen meine Einladung doch an, Harald?«

Wie gern! wie von ganzer Seele gern! rief es in ihm. Und – was geschah? Welch ein Wunder begab sich? Warum verneinte sein Mund, da sein Herz bejahte? Was für ein böser Dämon legte ihm ein ablehnendes: »Danke, danke vielmals!« auf die Zunge?

»Danke – nein?« fragte die Gräfin.

»Dan-ke.«

»Aber Harald.« Es lag ein leiser, gütiger Vorwurf in den zwei Worten.

Wirklich, es ist unsinnig, davonzulaufen vor ihr, vor dem Komteßchen, das so nett für ihn gewesen ist. Schon zögerte er, war schon im Begriffe, sein »Danke« in ein: Wenn Sie also erlauben! zu verwandeln, als die faden Augen des jungen Herrn ihn spöttisch anzwinkerten. Willst du gebeten werden? Ist es üblich bei euch? sollte das wohl heißen. Nun gab es kein Überlegen mehr: »Exzellenz, meine Mutter erwartet mich.«

Er verbeugte sich tief und ging und fühlte, daß man ihm nachschaute, und hatte davon ein höchst unangenehmes Prickeln im Rücken.

»Es ist schon der ganze Hofrat«, sagte der junge Herr. »Steif und zimperlich und macht sich rar.«

»Der?« rief die Gräfin, »die Unbefangenheit und Natürlichkeit selbst. Wie er daherkam im Kampf mit dem kleinen Rangen, das Herz voll Empörung und in den Augen eine so herzige Schüchternheit und Angst, ausgelacht zu werden, mußte ich an ein junges Reh denken, das plötzlich aus dem Wald in diese Kolonnade geraten wäre.«

»Und du gerätst ins Poetische«, erwiderte der Vetter, ärgerlich über den Widerspruch. »Das kommt davon, daß er dich anschwärmt.«

»Er soll nur. Ganz gut, wenn ein junger Mensch schwärmen kann. Wer von euch trifft das heutzutage noch? Wer vermag sich auf eigene Kosten ein Idealbild, das dem Urbild sehr wenig ähnlich sieht, in die blaue Luft hinzumalen und es wunschlos anzubeten?«

»Wunschlos, Kusine? Du bist wirklich naiv.« Er zog sein allerschiefstes Gesicht. »Wunschlose Schwärmer gibt's nicht, auch nicht unter den Miniatur-Hofräten.«

 

Harald teilte seiner Mutter sein neuestes Erlebnis mit und fand soviel Trost, als er zu empfinden fähig war. Nach einer Weile kam dann die schon mehrmals wiederholte Frage: »Sag, Kind, solltest du nicht an deinen Vater schreiben?«

Freilich sollte er, es war seit vierzehn Tagen nicht geschehen, und Harald wußte, daß sein Vater in den Briefen an die Mutter kein Wort darüber verlieren würde. Bei der Rückkehr aber bekäme der säumige Briefschreiber eine Bemerkung zu hören, die nicht so leicht zu verschmerzen war. Er ging auf sein Zimmer, legte einen Bogen Briefpapier vor sich hin, und das Datum und die Ansprache flossen ihm leicht aus der Feder, auch die erste Seite bedeckte bald ein umständlicher Wetterbericht; mit der zweiten ging's schon etwas langsamer; die Nachrichten über den Gebrauch der Kur mußten vorsichtig gebracht werden; die Gefahr, in früheren Briefen schon Gesagtes zu wiederholen, war groß. Nun schien aber diese Klippe umschifft, und die fast unüberwindliche Aufgabe stellte sich erst ein, als die dritte Seite an die Reihe kam: worüber schreiben? Worüber schreibt man an jemand, mit dem man noch nie ein vertrauliches Wort gewechselt hat? Harald mußte an den armen kleinen Woldemar denken, der, genau wie er selbst, von seinem Vater nie etwas anderes erfahren hatte als freundliche Gleichgültigkeit.

»Bist du fertig, Harald, und kommst mit mir?« Seine Mutter stand auf der Schwelle, zum Ausgehen angekleidet. »Es hat aufgehört zu regnen; ich will ein bißchen an die Luft.«

»Ach Mama! Ach Mama!« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, streckte die Arme empor und rang die Hände: »Es ist so schwer!«

»Schwer – was denn?«

»Den Brief zu schreiben, den Brief an den Vater.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Ich kann mir nicht helfen – ja! Mein Gott, was mich interessiert, interessiert ihn nicht . . . Sag nicht nein! Sag nicht nein! Wenn du's noch so sehr leugnest, ich fühl es doch.«

»Es wäre sehr traurig, Harald.«

»Mich hat es nie traurig gemacht . . . Aber warte, setz dich – ich weiß jetzt einen Schluß.« Und er schrieb sorgfältig mit schönen großen Buchstaben:

»Eben kommt Mama, um mich zu einem Spaziergang abzuholen. Wir müssen uns beeilen, denn es hat kaum zu regnen aufgehört und dürfte bald wieder anfangen. Lebe wohl, lieber Vater! Ich hoffe, daß diese Zeilen Dich in bestem Wohlsein finden, küsse Deine Hand und bin Dein dankbarer Sohn Harald.«

Und nun ging's an das Hinmalen einer titelreichen Adresse. Seine Mutter trat zu ihm und beugte sich über seine Schulter.

»Ich besorge, daß die Adresse das Ausführlichste an deinem ganzen Briefe ist.«

»Ach geh! . . . Übrigens – weißt du was, Mama? – der Vater . . . wenn ich ihm ausführlich schriebe, er würde es nicht lesen, er hat ja keine Zeit. Das denkt man und schreibt dann auch nicht gern.« Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände, wandte den Kopf und sah zu ihr empor. »Ganz anders wär's, wenn ich dir schreiben würde oder zum Beispiel einem . . . Errate – wem! Ich habe ihn, weißt du, neulich getroffen im Nonner Wald.«

»Und an den zu schreiben wäre dir leicht?«

»Ja; ich weiß jetzt, daß er ganz anders ist, als ich ihn mir vorgestellt habe. So gar nicht hochmütig, so gar nicht stolz auf seine großartige Kunst. Stückwerk, sagt er. Was für Ziele müssen ihm vorschweben, wenn er die gering findet, die er erreicht hat!«

Seine Mutter drückte ihre Wange an seinen Scheitel: »Nicht wahr? Und das ist alles ehrlich empfunden, und man hat auch nie nur den leisesten Zweifel wie bei andern Künstlern: Du meinst es gar nicht so, erwartest nur einen Widerspruch.«

»O nein, dazu ist er zu groß. Je mehr ich über ihn nachdenke, je besser begreife ich ihn. Er geht den Leuten aus dem Wege, weil er sich nicht verstellen kann . . .« Er brach plötzlich ab und fuhr dann mit einem raschen Blick auf seine Mutter fort: »Was mir einfällt, Mama! Er hat da eine kleine, kleine, ganz entfernte Ähnlichkeit mit dir . . . Auch du weichst gern den Leuten aus, und bei dem Ausweichen seid ihr einander begegnet, und jetzt schenkt er dir sein Vertrauen, und du weißt alles von ihm.« Er sprang auf und stand nun vor ihr und rief: »Und solltest mir auch alles sagen!«

»So?« sie lächelte ihn an. »Was er mir sagt, sind keine Geheimnisse; wenn es aber Geheimnisse wären, würde ich sie nicht verraten.«

»Verraten ist ein garstiges Wort.«

»Über anvertrautes Gut eigenmächtig verfügen ist auch nicht schön.«

»Ich würde doch keinen Mißbrauch treiben . . . Ich bin dein Sohn.«

»Du darfst trotzdem nicht verlangen, daß ich dir anvertrautes Geld ausliefere, wenn auch um damit Wohltaten zu erweisen. Steht es anders mit anvertrauten Geheimnissen?«

So ganz einleuchten wollte ihm dieses Argument nicht: »Es wäre aber doch besser, die Wahrheit zu wissen, als nur den Klatsch der Leute und der Zeitungen. Was die zusammenschreiben! Gestern erst habe ich gelesen, die Frau Kolbergs hätte einem Interviewer erzählt, daß sie und ihr Mann sich gegenseitig unglücklich machen, aber nicht ohne einander leben können. Das ist doch lächerlich.«

»Es wäre lächerlich, wenn es Hänsel und Gretel beträfe; da es einen großen Künstler und eine große Künstlerin betrifft, ist es tragisch.«

»Ich begreif's nicht, ich begreif's nicht! Sie hat sich doch gegen ihn viel zuschulden kommen lassen –«

»Sagt man.«

»Und er, der so gut versteht, sich die Menschen vom Halse zu schaffen, kann sie nicht loswerden? Das ist doch merkwürdig; und du mußt zugeben . . .«

»Nichts gebe ich zu. Wer weiß; vielleicht verdankt er den Qualen, die er durch diese Frau leidet, seine erschütterndsten Inspirationen.«

»Und wenn es so ist – trotzdem. Er sollte ein Ende machen. Daß er's nicht kann . . .«

»– Oder nicht will!«

»Oder nicht will – gefällt dir das?«

»Danach frage ich nicht, ich klügle nicht an ihm herum, denke nicht: Du solltest so tun, so oder anders sein. Ich denke: So tust du, so bist du, und damit fertig.«

»Das ist Respekt, Mama, das ist Bewunderung . . . Er ist dir sehr lieb.«

»Ja«, bestätigte sie einfach und freimütig. »Die Menschen, die wir zugleich bewundern und bedauern, werden uns sehr lieb.«

Er blickte sie aufmerksam, er – staunte sie an. Waren ihm denn erst jetzt die Augen aufgegangen über seine Mutter, oder hatte sie sich verändert? – Daß sie noch jung aussähe und schön sei mit ihrer feinen Gestalt, ihren goldblonden Haaren, ihrem durchsichtigen Teint, hatte er oft gehört und als ausgemachte Sache betrachtet. Gewiß, sie sah so jung und schön aus, wie die Mutter eines erwachsenen Sohnes nur irgend aussehen kann. Nun aber – was ihm da entgegenschimmerte aus ihren Augen, aus ihrem ganzen harmonischen Wesen, war ein rätselhafter Schein von etwas – nicht Jungerhaltenem, nein: Junggebliebenem, Jungseiendem – etwas Mädchenhaftem.

Ein Sonnenstrahl hatte das Gewölk durchbrochen und drang durchs Fenster, gerade an die Stelle, an der sie stand.

»Mama!« rief Harald, »wie schön du bist! Schau nur, die Sonne findet's auch. Sie schickt dir einen Liebesboten, er küßt deine Haare, dein Gesicht, und – schau nur, schau, Mama, er legt sich dir zu Füßen.«

»Laß das gut sein. Die Sonne hat uns zum besten. Tun wir, als ob wir's nicht merkten. Komm.«

 

Die Komtessen und der Vetter waren abgereist, und die Welt war wieder schön. Ob sonnig, ob regnerisch, jeder Tag ein Festtag; denn jeder brachte eine Stunde, in der Harald die Gräfin auf einem Spaziergang begleiten oder mit ihr in der Kolonnade umherwandeln durfte. War diese Stunde vorbei, dann war es auch der Tag, den er durchlebt hatte, und der Tag, den er durchträumte, begann. Da stiegen die großen Taten, die er einst vollbringen wollte, vor ihm auf. In kühnen kräftigen Zügen, ohne auf Einzelheiten einzugehen, entwarf er das Bild einer erfolg- und ruhmreichen Zukunft – der seinen. Er sah die Zeit kommen, in der sein Name von Tausenden mit Ehrfurcht genannt und er der Stolz seines Vaterlandes sein würde und auch ihr Stolz. Das erleben und dann eines Heldentodes sterben, womöglich für sie oder wenigstens unter ihren Augen, wäre die schönste Erfüllung des allerschönsten Traumes.

Eines warmen Sommermorgens waren sie auf dem Wege nach St. Zeno; die Gräfin wollte die Kirche besuchen und den Friedhof, der neben ihr liegt und eine der lieblichsten Ruhestätten ist, die Lebende ihren Toten bereitet haben. Freundlich der Blick ins offene Land gegen die Salzburger Berge hin, erquickend die schützende Nähe der dunkeln Anhöhe des Kirchholzes und der Luftwellen, die mit Harzdüften getränkt über die kleine Totenstadt gleiten.

Harald befand sich in einer seiner hellsten Stimmungen. Die Gegenwart so wonnig! Die Zukunft eine noch geschlossene Riesenblüte, die nur auf die rechte Stunde wartete, um sich prangend zu entfalten. Sein Herz floß über von unendlicher Dankbarkeit, und in dem Augenblick verstand er die Worte des Musikers: Das erste Gebet hat jubelvoller Dank gesprochen.

Sie wohnten dem Gottesdienste bei und gingen dann auf den Friedhof.

»Jetzt müssen Sie Geduld haben«, sagte die Gräfin, »von einem Friedhof bringt man mich so bald nicht fort.«

Das nahm ihn wunder. »Denken Sie denn gern an den Tod?«

»Nein, weil ich nicht gern an einen Schmerz der Meinen denke; ein Grauen vor dem Tode habe ich nie gekannt. Was mich auf einem Gottesacker – wie merkwürdig tief ist dieses Wort! – so sehr ergreift, ist der Gedanke an die Trauer der Zurückgebliebenen.«

»Es werden aber nicht alle Verstorbenen betrauert.«

»Und wenn es auch nur die wenigsten wären! Der da liegt, könnte es sein, sage ich mir und bringe denen, die sich leidvoll nach ihm sehnen, mein Scherflein Mitgefühl dar, von dem sie freilich nichts wissen.«

Sie ging von einem Grabhügel zum andern, las die Inschriften auf den Kreuzen, war gerührt von der Sorgfalt, mit der die Wohnung der unter ihnen Ruhenden geschmückt und betreut wurde.

»Es ist doch Kultus des Staubes«, sagte Harald.

»Nein, nein! An den Staub, in den allmählich, was da ruht, zerfällt, denkt man nicht, man denkt an ein geliebtes, körperlos gewordenes Wesen, das von uns weiß, dem unsre Sehnsucht einen Weg zu uns bahnt und dessen Nähe wir dann fühlen. Das ist, scheint mir, bewußt oder unbewußt der Anlaß zu unserm Gräberdienst.«

»Frau Gräfin! Sie glauben, daß ein Verkehr besteht zwischen den Lebenden und den Verstorbenen?«

»Jawohl, das glaube ich.«

»Da will ich morgen sterben, damit ich immer bei Ihnen sein kann!« rief er aus, und sein Erröten über die unbedachten Worte war unaussprechlich tief, und sein Ärger darüber trieb ihm neue Blutwellen ins Gesicht.

Die Gräfin legte sanft ihre Hand auf seinen Arm: »Sie sind ein Kind, ein sehr liebes, sehr junges Kind.«

Sie kamen am großen Kruzifix bei der Kirchenmauer vorüber. Dort kniete ein greises Weiblein, dürr wie ein welker Zweig, und man hörte sie im inbrünstigen Gebet flüstern: »Erlös ihn! Erlös die arme Seele!«

Sie hatte die Fremden kommen gehört und sich umgesehen. Blitzschnell wich der fromme Ausdruck aus ihren Zügen, ein böses Wort trat auf ihre Lippen, und wenn sie es auch nicht aussprach, man verstand: Was habt ihr hier zu suchen, Neugierige? Haltet euch fern von unsern heiligen Stätten.

Beim kleinen Friedhof der Klosterschwestern hinter der Kirche machte die Gräfin wieder halt. Da lagen sie in Reihen gebettet unter schmalen, schmucklosen Hügeln. Alle gleich. Die Namen bildeten die einzige Verschiedenheit in der Gemeinschaft dieser stillen Schar. Im Leben vom selben Schicksal getroffen, wie ungleichmäßig mochten sie es empfunden haben!

»Afra«, las die Gräfin, »die Schwester Ökonomin, ich habe sie gekannt. Es gab Leute, die wissen wollten, daß sie aus sehr vornehmem Hause stamme. Zu gebieten verstand sie, das ist wahr. Klein und verwachsen, flog sie durch die Gärten, die Wirtschaftsräume und Ställe wie eine aufgeregte Biene; ihr langer Schleier fegte hinter ihr her. Sie ordnete an, tadelte, lobte, energisch, klug und weise. Die Knechte und Mägde lachten und gehorchten . . . Da, neben ihr: Therese, ihr Widerspiel; groß und breit, ein Bild der Kraft, sehr laut in den Äußerungen ihres Mißfallens und so gar nicht gefürchtet! – Abgott und Marterholz der kleinen Klosterzöglinge. Brave Therese!«

Der Nachruf weckte einen Widerhall. »War mei Tant. Gott hab s' selig.« Die Gräfin wurde freundlich gegrüßt; freundlich von einer Trauernden. Eine Bäuerin in schwarzem Gewande war auf dem Wege von der Totenkapelle herübergekommen. Ungefähr so mochte die brave Therese in ihrer Jugend ausgesehen haben, nur weniger fein als diese Frau mit ihrer blühenden Gestalt, ihrem zarten Gesicht und ihren zutraulichen blauen Augen. Die waren aber ganz verweint, und die weißen Zähne blinkten zwischen schmerzverzogenen Lippen hervor. Neben dem schönen Weibe ging ein etwa fünfjähriges Büblein in Bauerntracht ernst, fast würdevoll einher und hielt den grünen Jägerhut mit beiden Händen an die Brust gedrückt.

Die Gräfin betrachtete das Paar teilnahmsvoll, deutete auf den Traueranzug der Frau und fragte: »– Ein Witwenkleid?« – »Jo – jo –« war die Antwort. »Arme Frau – armer kleiner Bub. Ihr Einziger?« – »Jo«, erwiderte sie mit einer Mischung von Stolz, Schmerz und Liebe. »Dos ist jetzt der Bauer.«

Die Gräfin streichelte seine steifen, strohgelben Haare und wiederholte: »Armer Bub, armer kleiner Bub!« und ihr traten Tränen in die Augen.

Sie denkt, daß ihre Söhne dasselbe Unglück erfahren können; das ergreift sie, sagte sich Harald, und eine unerklärliche Bitterkeit stieg in ihm auf.

Sie verließen den Friedhof und waren bald auf dem Heimwege. Die Gräfin schlug ein rascheres Tempo an. Sie hatte noch viel zu tun – Briefe zu schreiben, Abschiedsbesuche zu machen; denn: »Meine Kur ist beendet, und morgen, lieber Harald, morgen reise ich ab.«

Das traf ihn wie ein Schuß in die Brust. Er hatte kühne Unternehmungen geplant, sich als großen Mann gesehen, allerlei Möglichkeiten erwogen, nur die eine nicht – daß ihre Badekur ein Ende nehmen und daß sie abreisen konnte.

Er blieb stumm, und sie ahnte nicht, was sie ihm getan hatte. Sie sprach von ihrer Abreise, wie wenn das etwas ganz Einfaches und Natürliches wäre, sprach auch von ihren Kindern, ihrer Lebensweise auf dem Lande. O Gott, ja! Sie hatte ein reich ausgefülltes Dasein; Bekannte, Freunde, ein großer Kreis bewegte sich um sie . . . Das Interesse, das sie ihm geschenkt hatte, verdankte er der Ähnlichkeit mit ihrem Sohne . . . Was war er ihr? –

Vor dem Deutschen Hause verabschiedete sie ihn und betraute ihn mit einer Botschaft. »Es ist längst meine Absicht gewesen, Ihre Mutter zu besuchen. Ich bin nur leider bis jetzt nicht dazu gekommen. Heute nachmittag finde ich mich aber ein. Bitte fragen Sie, ob die Baronin mich empfangen will. Keine Antwort heißt: ja.«

 

Er traf seine Mutter in der Villa nicht mehr an. Sie hatte lange auf ihn gewartet und war dann ausgegangen. Der Diener brachte ihm das Frühstück auf sein Zimmer; er setzte sich davor hin, vergaß aber zu essen, legte die verschränkten Arme auf den Tisch und das Gesicht auf die Arme und preßte seinen Mund auf die Stelle, wo die Hand der teuren Frau geruht hatte.

So fand ihn seine Mutter bei ihrer Rückkehr. Er war aufgefahren, als sie eintrat, und hatte sie fremd und bestürzt angesehen, wie mit einer stummen Bitte: Frag nicht, frag nicht, was mir ist! Stumm wie seine Bitte war ihre Antwort: Sei ohne Sorge! Ich verstehe und schweige; ich weiß alles von dir; du hast nichts erlebt, was ich nicht mit dir erlebt hätte.

Er kündigte ihr den Besuch der Gräfin für den Nachmittag an. Ob am frühen oder am späten, hatte sie nicht gesagt. So streifte er denn schon bald nach dem Mittagessen in der Umgebung der Villa herum, und sein Herz begrüßte jeden Wagen, der sich näherte, mit freudigem Klopfen. Eine Stunde war schon vergangen, die zweite neigte sich dem Ende zu, er hatte die Hoffnung auf ihr Kommen fast verloren, als die sehnlichst Erwartete endlich herangefahren kam. Leicht und rasch stieg sie aus dem Wagen und ließ sich von Harald durch die hübschen Gartenanlagen zur Terrasse geleiten, von der aus man in den Salon trat.

Ein entscheidender Augenblick war nah. Sie würden einander kennenlernen, seine Mutter und sie, und mußten, mußten ja einander gefallen . . . und lag dann nicht der Gedanke an ein Wiedersehen nahe – und war dann doch nicht alles aus, wie er geglaubt hatte, und gab es doch noch etwa wie Glück im Leben?

Er öffnete die Tür vor der Gräfin und unterdrückte kaum einen Ausruf der Überraschung. Ein Besuch, zu jeder andern Zeit hochwillkommen, in diesem Augenblick störend, hatte sich eingefunden – Hans Kolberg.

Beim Eintreten des Gastes erhob sich die Hausfrau von ihrer Sofaecke und er sich von dem Fauteuil, auf dem er gesessen hatte. Die beiden Damen begrüßten einander, und Harald rang mit stiller Verzweiflung, während er sich tief vor dem Kapellmeister verneigte. Die Gräfin erinnerte Kolberg an ihre Begegnung mit ihm in Bayreuth, und es gelang ihr auch bald, ein allgemeines Gespräch in Gang zu bringen, das aber nur scheinbar mit Vergnügen geführt wurde. Harald litt Qualen. Die einzig schöne Stunde, in der zwei Wesen, die ihm die liebsten und teuersten waren, einander hätten nahetreten und kennenlernen sollen, da verfloß sie – unwiederbringlich und war nicht ausgenützt worden. Das Band, das sich nicht jetzt, nicht hier zwischen den zwei Frauen anknüpfte, würde nie angeknüpft werden – dafür kannte er seine Mutter und ihr Vorurteil gegen ein Eindringen in die Gesellschaft der »Dynasten«.

Die Gräfin hatte schon einige Male verstohlen nach der Pendeluhr an der Wand hingesehen. Nun sprach sie ihr Bedauern aus, daß ihr erster Besuch ihr letzter und auch so sehr kurz sein müsse, aber sie habe ein Telegramm von ihrem Manne bekommen, das ihn ankündigte. Er kam, sie abzuholen, und sie fuhr nun direkt auf den Bahnhof, um ihn zu erwarten.

Sie erhob sich, alle standen auf. – Ihr Mann kam, um sie abzuholen, und jetzt fuhr sie ihm entgegen! Harald rang nach Atem; ihm war, als bräche ringsum Finsternis ein und als schwanke der Boden. Er preßte die geballte Faust auf den Tisch und sprach sich zu: Feigling! Feigling! Was soll's? Was soll das heißen? Nimm dich zusammen, Feigling!

Die Willenskraft siegte; er behielt die Herrschaft über sich. Abermals öffnete er die Tür vor der Gräfin, abermals begleitete er sie. Auf die guten Worte, die sie zum Abschied an ihn richtete, konnte er nichts erwidern . . . Nur verneigen konnte er sich und kerzengerade dastehen, nachdem sie in den Wagen gestiegen war. Er konnte auch mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft die Tränen zurückhalten, die ihm wie Funken in die Augen sprangen, als sie sich vorbeugte, ihm still und lieb ins Gesicht sah und ihm mit der weich behandschuhten Rechten schmeichelnd über die Wange glitt . . . Er zuckte zusammen, und sie zog die Hand zurück, erschrocken über den schwermütigen und leidenschaftlichen Blick, der zu ihr emporflammte . . . War's möglich? . . . Hatte ihr Vetter mit dem Gerede, das ihr so lächerlich vorgekommen war, nicht ganz unrecht gehabt? Sein: »Du bist wirklich naiv, Kusine!« fuhr ihr durch den Sinn, ein peinigender Zweifel ergriff sie und ein Selbstvorwurf, in den sich aber auch ein Gefühl des Ärgers mischte.

Sie gab das Zeichen zur Abfahrt, und statt, wie sie gewollt hatte, zu sagen: Auf Wiedersehen! sagte sie: »Adieu, Harald!« und setzte in Gedanken hinzu: Dummer Bub! verdirbt sich und mir und meinem Willy eine rechte Freude. Dummer Bub! – Lieber, armer Bub!

 

Die Mutter Haralds war ans Fenster getreten und hatte die Gräfin in den Wagen steigen und wegfahren gesehen.

»Sie ist fort. Mein armer Junge erfährt jetzt den ersten großen Schmerz seines Lebens«, sagte sie.

»Mög er ihn tief und nachhaltig empfinden!« rief Kolberg aus. »Es ist ein schöner, beneidenswert schöner Schmerz und voll Heilkraft für die Zukunft.«

»In dem Augenblick fühlt er aber nur das Leiden, und es ist vielleicht zu mächtig für seine junge Kraft. Ich kann mir nicht helfen – auch wenn Sie's töricht finden –, ich klage Turgenjews schwüle Novelle an. Sie hat dem Kinde, das Harald bis jetzt gewesen, eine Welt von Empfindungen erschlossen, die besser noch eine Weile unentdeckt geblieben wäre.«

Sie hatten ihre früheren Plätze wieder eingenommen; der Musiker schien ungeduldig und wenig geneigt, auf ein Gespräch über den Liebesgram eines Knaben einzugehen.

»Nein, nein«, sprach er abschließend, »danken Sie Gott und dem großen Dichter, dessen Schöpfung etwas beitrug zum Erwachen dieser Jünglingsliebe in dieser Zeit und für diese Frau. Es ist etwas Schönes um eine erste heiße Sehnsucht, die als Opferflamme vor einem Unerreichbaren brennt. Wohl jedem, der sich in der Blüte seines Daseins nicht ans Erreichbare, viel zu leicht Erreichbare weggeworfen hat. Das Versinken im Sumpfe ist so nah. Und wenn der Ekel kommt und wenn der tolle Jubel der Lust in einen Verzweiflungsschrei nach den höchsten Lebensgütern ausklingt, dann gibt es einen furchtbaren Kampf . . . Der Mensch, den Sie kennengelernt haben, liebe Freundin, hat ihn gekämpft und sähe ihn gern Ihrem Sohn erspart.«

Er griff nach ihrer Hand, und sie blieb in der seinen ruhen.

»Ich meine«, fuhr er fort, »etwas von dem Waten im Sumpf bleibt haften, zieht immer wieder zurück. Davor rettet nur eins, und das hat es gegeben: ein Auffliegen zur Heiligkeit . . . Aber dazu langt der Stoff, aus dem ich gemacht bin, nicht. Ich bin kein Sieger im Streite. Jedesmal noch hat das Weib, das mein Schicksal geworden ist, mich zu sich zurückgeführt, über kurz, über lang, für kurze, für lange Zeit. Und – da liegt der Zwiespalt – nicht bloß durch ihre Reue, ihre wilde Liebe – auch durch die dämonische Gewalt ihrer Kunst . . . Nun bin ich wieder auf dem Wege zu ihr, will mein kleines Mädchen vor ihr retten . . . Die Pflicht soll mir die Kraft geben, nach der ich lechze und ringe. Die Pflicht und die Erinnerung an Sie, an jede Stunde, die ich mit Ihnen verlebte, an die guten, weisen Worte, die Sie zu mir sprachen, an den Frieden, der sich in Ihrer Nähe über meine sturmgepeitschte Seele senkte . . . Ich habe Ihnen für soviel zu danken . . . Sie ahnen nicht, für wieviel . . .«

Er blickte sie an mit Bewunderung und Ehrfurcht. Sie erhob die Augen nicht; eine feine Röte bedeckte ihre Wangen: »Das gilt von mir«, sprach sie. »Ich hatte Ihnen ja schon soviel zu danken, bevor wir einander kennenlernten, persönlich, meine ich; denn gekannt habe ich Sie und, wie ich glaube und hoffe, auch verstanden – längst vorher aus Ihren Werken.«

Er senkte den Kopf und heftete seine Lippen auf ihre Hand und fühlte, daß die Pulse dieser zarten, schlanken Hand, die regungslos in der seinen ruhte, fieberhaft pochten. Sein Herz wogte vor innigster Rührung, vor unaussprechlichem, über jede Erwartung befriedigtem Stolz.

»Ja!« sagte er mit tiefer Durchdrungenheit, »wenn das Schicksal es gut mit mir gemeint hätte, Sie wären mir früher begegnet.«

Er hatte sich erhoben, und auch sie war aufgestanden, und von neuem ergriff er ihre Hand, die den Druck der seinen erwiderte und auch nicht zurückgezogen wurde, als die Tür sich öffnete und Harald eintrat.

Der Jüngling stutzte beim Anblick Kolbergs, und seine Miene verriet deutlich die Frage: Noch da?

Nun ein paar Abschiedsworte: »Leben Sie wohl, gnädige Frau.«

»Gott behüte Sie, Kolberg.«

Er ging, und Harald beantwortete die Aufforderung seiner Mutter, den Direktor zu begleiten, verneinend: »Ich bleibe bei dir . . . Tut's dir weh, daß er abreist?«

»Es tut mir leid. Ich sehe ihn wohl nie wieder; und er ist mir doch sehr lieb geworden.«

Diese ruhigen Worte und der bewegte Ton, in dem sie gesprochen wurden, paßten nicht zusammen.

Sie hatte sich in einem Fauteuil am Fenster niedergelassen. Harald stand neben ihr an die Wand gelehnt, die Arme gekreuzt, gequält und grollend.

Ihm war, als sei ein Reichtum angetastet worden, der sein ausschließendes Eigentum gewesen, seit er atmete. Für unberührbar hatte er ihn gehalten; für unerschöpflich und unberührbar. Das war so natürlich und so selbstverständlich, daß man nicht einmal dafür dankte. Es war eben, weil es sein mußte.

Und jetzt, in dem Augenblick, bekam er zu fühlen: Ein Einbruch kann stattfinden in das Heiligtum meines angeborenen Rechtes.

Beide schwiegen lange; die Mutter nach Fassung ringend, der Sohn aus Trotz. Endlich sprach sie: »Harald, du mißgönnst einem Menschen, den du bewunderst und von dem du weißt, daß er unglücklich ist, meine Teilnahme. Sehr ungroßmütig, Harald.«

»Ach Mama, ich bitte dich! ich bitte dich!« Er streckte die Hände abwehrend aus: »Unglücklich dieser Beneidenswerte! So berühmt, so gefeiert, so verwöhnt – und hat seine große Kunst . . . Was braucht er noch? Was braucht er noch! . . . Mir soll er nichts nehmen, ich gebe nichts her von dem Lichte deiner Liebe, nicht einen Schein!«

Mit großen Schritten begann er im Zimmer auf und ab zu gehen. Er hätte gern sein übervolles Herz vor ihr ausgeschüttet bis auf den letzten Tropfen; aber in ihm kämpfte und stürmte es, und dem allzu heftigen Empfinden versagte sich das Wort.

»Komm«, sprach seine Mutter, »setze dich zu mir, wir wollen vernünftig miteinander reden.«

»Das kann ich nicht – vernünftig!« Er schüttelte sich, trat auf sie zu, preßte mit beiden Händen ihren Kopf an seine Brust und küßte ihre Haare und streichelte sie und sagte: »Jedes einzelne ist mein. Du gehörst mir – weißt du?«

»Ich weiß.«

»Gut also.«

Er verließ das Zimmer, und sie – atmete auf.

Voll Unwillen gegen sich selbst, voll Zweifel an sich selbst fragte sie: Bin ich's denn noch? Sie hatte aufgeatmet, als die Tür hinter ihrem einzig geliebten Kinde ins Schloß fiel. Aber – es war Zeit gewesen. Sollte er Zeuge ihrer Schwäche sein? Ihre Selbstbeherrschung würde kaum länger vorgehalten haben, der Tränenstrom, in den sie nun ausbrach, hätte sich nicht länger zurückdämmen lassen.

Der Rest des Tages spann sich ab, langsam, einförmig, unter dem Druck einer schweren, heißen Luft. Sie blieb auch des Nachts schwül und unbewegt. Wie in einem Brennspiegel hatte die Sonne vom frühen Morgen an ins Tal hereingeglüht; nun atmete die Erde Feuerströme, mit denen sie sich vollgesogen, aus. Harald glaubte in der Stube ersticken zu müssen und rettete sich ins Freie. Aber er fand keine Erquickung. Er wanderte über die Straßen, durch die Gartenwege, er kam immer wieder am Deutschen Haus vorbei. Als er müde zur Villa zurückkehrte, schlug eine Kirchturmuhr die erste Stunde nach Mitternacht. Wachend erwartete er den Morgen, an dem das liebliche Reichenhall für ihn verödet werden sollte, leer und verödet die schöne Welt.

Sein Diener war gewöhnt, von ihm geweckt zu werden, und liebte nicht, daß es sehr früh geschah. Solange als möglich überwand Harald die Unruhe, die ihn quälte, warf sich sogar aufs Bett und blieb, damit es nicht unberührt aussähe, eine Weile liegen. Dann verlangte er sein Bad und kleidete sich sorgfältig an und wußte nicht, warum er das tat . . . Er wollte sie ja nicht mehr sehen, er fürchtete ihr zu begegnen, was leicht hätte geschehen können; ihr Zug ging erst in einigen Stunden ab. Um keinen Preis würde er sich eingestanden haben, daß tief, tief in dem dunkelsten Grund der Seele, wo unsre unausgesprochenen Wünsche lauern, sich etwas verbarg, das mehr einem leisen Hoffen als der Furcht glich.

 

Er hatte seine Mutter bitten lassen, ihn nicht zum Frühstück zu erwarten, und war durch die noch ziemlich menschenleeren Straßen ins Freie geeilt. Den waldigen Auen ging's entgegen; er befand sich bald auf dem Wege, auf dem er Kolberg getroffen hatte. Alles still um ihn her; nun aber glaubte er das Geräusch nahender Schritte zu hören, sprang ins Dickicht und verbarg sich dort. Nur jetzt niemand sehen müssen, niemand sprechen, niemand grüßen! – Unter einem Baume streckte er sich aus. Der weiche Boden, von Moosen und würzigen Kräutern überwuchert, hauchte kräftig belebenden Duft aus. Als hießen sie den Tag willkommen, neigten und wiegten sich die schlanken Wipfel der Baumkronen, und durchsichtige Schatten glitten spielend über den Grund. Unzählige kleine Fliegen summten, Vogelstimmen erhoben sich, zwitscherten schüchtern oder keck, fragten, antworteten, führten Gespräche in melodischer Sprache. Die gefiederten Waldbewohner fühlten sich recht als Herren in ihrem grünen Reich.

Harald schloß die Augen und lag eine Weile in leisem Schlafe, aus dem er nur erwachte, um sich dem Zustand halber Bewußtlosigkeit zu überlassen, den ein Weiser den seligsten nennt, den es gibt. Dem Traumbefangenen war, als ob er eine schwere Verwundung erlitten hätte, den Schmerz aber sehr gedämpft und mit Wollust fühle. Eine unsichtbare wohltätige Hand breitete feine weiche Schleier über ihn, ihn zu schützen vor dem Eindringen des grellen Lichtes der Wirklichkeit.

Nicht Heilung, aber Erquickung bot die kurze Rast nach einer schweren Seelenpein; mit frischeren, teilnehmenderen Augen sah Harald sich um in dem kleinen Waldwinkel, der ihm eine sanfte Lagerstätte geboten hatte. In seiner nächsten Nähe regte sich's, piepste, wippte mit kleinen, ungeschickten Flügeln.

Drei Rotkehlchen, offenbar Geschwister, hüpften im Gras herum, waren kugelrund, dickgefüttert von einer sorgsamen Mutter. Arglos umhüpften sie das große Ding, das da vor ihnen lag wie ein Berg, und Harald hielt den Atem an, wagte nicht mit einer Wimper zu zucken, um sie nicht zu erschrecken und zu verjagen. Aber die Mutter wachte. Unruhig bewegte sie sich auf einem langen Zweige, drehte den Kopf, spähte nach allen Seiten aus und ließ plötzlich einen Warnungsruf ertönen. Die Kleinen horchten auf – der Warnungsruf wiederholte sich laut und gebieterisch und an Gehorsam mahnend. Nun schwangen die Kleinen sich empor, mehr oder weniger ungeschickt, kamen aber glücklich ans Ziel. Harald hatte kein Glied gerührt; die Besorgnis der treuen Hüterin wurde durch andere erregt. Auf dem Wege nebenan kamen zwei Menschen einher. Welcher Vogel kann wissen, ob es nicht Feinde sind?

Aber die zwei, die sich da näherten, waren keinem Lebendigen feind; es waren ein Mann und eine Frau, Kurgäste, die vielleicht zu dem Aussichtspunkt gingen, auf dem Hans Kolberg neulich stehenblieb und den Untersberg bewunderte. Die zwei plauderten miteinander, und Harald hätte die Stimme der Frau erkannt, wenn sie von noch so weither zu ihm gedrungen wäre. Er richtete sich auf, bog vorsichtig einige Zweige zur Seite und gewann einen Ausblick auf den Weg.

Sie war's, in ihrer Lieblichkeit, mit dem Kinderblick in ihren dunkeln Augen, der so zutraulich war und plötzlich so hell aufblitzen konnte, als flöge ein heiterer Einfall ihr durch den Kopf. Ihr Begleiter war ein ungewöhnlich großer Mann von vornehmem und sympathischem Äußern. Eine angenehm auffallende Erscheinung, an der man nicht vorbeiging, ohne zu fragen: Wer magst du sein? Die Gesichtszüge waren kräftig ausgeprägt, und aus ihnen sprach die sichere Ruhe einer starken, zur vollkommenen Einigkeit mit sich selbst gelangten Seele. Es bedurfte nicht eines durch leidenschaftlich gespannte Aufmerksamkeit geschärften Blickes, um zu erkennen, daß Offenheit, Wahrheitsliebe, Wohlwollen das Wesen dieses Mannes bildeten.

Ja – ja! so mußte der sein, zu dem diese Frau emporsah, wie sie es tat, jetzt – und gewiß immer . . . mit einem Blick, der ihn umhüllte mit dem Purpurmantel der Liebe. Stolz und dankbar empfand er das! Ja, ja, ja! die zwei, die da langsam des Weges kamen, paßten zueinander. Sie sprachen, und sogar ihre Stimmen bildeten einen harmonischen Zusammenklang.

Harald verstand nun völlig die Wehmut, die sie ergriffen hatte beim Anblick des verwaisten Knäbleins auf dem Friedhofe. Er verstand noch mehr: der unerklärliche Schmerz, den ihre wehmütige Teilnahme ihm bereitet hatte, war Eifersucht gewesen; ein Vorbote der Eifersucht, die ihm jetzt ihre Krallen ins Herz drückte. Er liebte und hatte sich über seine Empfindung nur getäuscht, weil sie keine Ähnlichkeit besaß mit dem von einem großen Dichter entworfenen Bilde einer Jugendliebe. In Flammenzügen blieb es ihm eingeprägt, und so, glaubte er, im Sturme, berückend, berauschend, müsse die Liebe kommen. Ihm aber war sie in reinem Glanz, in milder Erhabenheit erschienen; er hatte sie für Verehrung, für Anbetung gehalten, sie mit den schönsten Namen genannt, nur mit dem, der ihr gebührte – nicht.

Und nun war es ihm klargeworden: er liebte leidenschaftlich, grenzenlos, liebte wie je – mehr als je ein Menschenkind geliebt.

Mit wonniger Scheu überlief es ihn. Andacht, Ehrfurcht vor dem Wunder erfüllten ihn. In ihm war ein Quell himmlischen Reichtums emporgeschäumt, er fühlte sich gereift, geweiht – wenn auch zum Martyrium.

Vom Waldesschatten geborgen, blickte er mit brennenden, weit geöffneten Augen auf den sonnigen Weg, auf dem die zwei langsam einherschritten. Sie kamen näher – ganz nahe schon, sie gingen vorbei.

Er hatte den Anblick der geliebten Frau in sich aufgenommen wie eine Vision, die sich nie wiederholen, ihm nie entschwinden, die ihm voranleuchten sollte durchs ganze Leben in ewiger Schönheit, ewiger Qual.

 

Sechs Wochen nach ihrer Ankunft in Reichenhall traten die Baronin und Harald die Rückreise an.

Sie fanden in Salzburg wieder ein reserviertes Kupee, in dem sie wieder einander gegenüber Platz nahmen. Sie obenan in der linken Ecke, er untenan in der Ecke rechts. Er war blaß und abgemagert und blickte unverwandt aus dem Fenster nach den Bergen, die sich immer dichter in Dunst hüllten, die ihm entschwanden . . .

Seine Mutter sah von Zeit zu Zeit zu ihn hinüber. Sie hatte den Rat ihres alten Arztes befolgt; sie war nicht tyrannisch und nicht anspruchsvoll gewesen; sie hatte dem Kinde, das sich in einen Sohn verwandelt, nicht gezeigt, wie ihr dabei zumute gewesen. Wozu auch? Was kommen mußte, war früher gekommen, als sie erwartet hatte; das ist kein Grund zur Klage. Nein, nein, keine Klage, nicht über ihn, nicht um ihn.

Er hat die Zukunft, dachte sie, er wird geliebt werden und glücklich lieben, aber auch im höchsten Glück sich seiner jungen Leiden mit dem Gefühl entsinnen: Ich möchte nicht leben, ohne sie gekannt zu haben. Darin hat er recht, der große russische Erzähler. Sie blätterte in dem Buche, das auf ihrem Schoße lag und in dem sie Turgenjews Novelle Die erste Liebe aufgeschlagen hatte.

 


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