Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Die eine Sekunde

Die Trauergäste hatten den Friedhof verlassen, nur ein Geschwisterpaar, ein stattlicher alter Mann und eine schlanke, viel jüngere, wenn auch längst nicht mehr junge Frau waren noch an dem mit Blumen überreich geschmückten Grabe stehengeblieben.

Der Spätsommerabend begann kühl zu werden, aber der Mann ließ sein weißhaariges Haupt unbedeckt, hielt seinen Hut in den gekreuzten Händen und blickte unverwandt zur Erde nieder. Er war groß und breitschultrig, schon etwas gebeugt, die hohe Stirn von Falten durchfurcht. Auf seinem bartlosen gebräunten und energischen Gesicht lag ein Ausdruck von lächelnder Wehmut, eine Rührung, eine Weichheit, die ihm beinahe etwas Jugendliches gaben. Seine Schwester betrachtete ihn schweigend.

Ist, die da unter Blumen ruht, eine der vielen gewesen, die er einst geliebt hat, eine der vielen, vielen, von denen er geliebt wurde? Es flog ihr nur durch den Sinn, hinterließ nicht die Spur eines Zweifels. Nein, nein, die Herzensruhe dieser stillen, klaren Frau hat er nie gestört, sie ja auch im Leben eher gemieden als aufgesucht. Was bewegt ihn jetzt? und warum ist er bei der Nachricht ihrer Erkrankung so rasch hierhergeeilt?

Sie sprach diese Gedanken nicht aus, sie mahnte nur zum Aufbruch, denn es war spät geworden und Zeit, den Heimweg anzutreten.

»Gehen wir«, sagte er, blieb aber noch einen Augenblick stehen, schwenkte seinen Hut mit einer großen, feierlichen Gebärde grüßend vor dem Grabe und murmelte leise: »Dank!«

Dann gingen sie lange nebeneinander hin, über Feld- und Wiesenwege, an kleinen freundlichen Gehöften vorbei, der Straße zu, die, allmählich aufsteigend, durch eine villenreiche Ortschaft zu ihrer Behausung führte. Sie war Eigentum der Schwester, ein netter, wohnlicher Bau ohne überflüssigen Zierat, lag mitten in einem liebevoll gepflegten Garten und hatte eine traumhaft schöne Aussicht über die Stadt, den Fluß mit seinen Auen, den langen dunklen Zug der bewaldeten Berge.

Die Geschwister waren rüstig gewandert und dennoch erst bei einbrechender Nacht zu Hause angelangt. Sie hatten wenig und nur von gleichgültigen Dingen gesprochen. Nun, nach dem Abendessen, saßen sie am Tisch in der verglasten Veranda, beim sanft gedämpften Licht der elektrischen Lampe. Beide rauchten; er zurückgelehnt in seinen Lehnsessel, sie aufrecht in dem ihren. Die Zigarre zwischen den Zähnen, strickte sie mit feinen geschickten Fingern emsig an einer Kinderjacke. Ihr Bruder unterbrach das Schweigen plötzlich. Seine klaren blauen Augen sahen die Schwester fragend an: »Theo, sag mir, bin ich sentimental?«

Sie mußte lachen: »Nein, mein Lieber, wirklich nicht.«

»Nun – und doch, und doch –« wiederholte er mehrmals. »Die Frau, die wir heute begraben haben, ist nie meine Geliebte gewesen, aber das größte Glück, das ich je durch eine Frau erfahren habe, hat sie mir geschenkt.«

Er schwieg wieder, und sie fragte nicht; sie fragte nie und erfuhr doch alles von ihm, oft mehr, als sie zu erfahren wünschte. Sie rauchte und strickte weiter und sann über das Rätsel nach, das er ihr aufgegeben hatte. Das ganze Dasein der Entschlafenen war so ruhig und ereignislos verlaufen, lag klar vor aller Augen, es konnte ein Geheimnis nicht bergen. Sie hatte ihn als den großen Künstler, der er war, bewundert, für seine Arbeiten das feinste und tiefste Verständnis gehabt – persönlich nahe schienen sie einander nie getreten zu sein.

Jetzt begann er wieder: »Ich hätte sie so gern noch gesehen vor ihrem Tode, ich hab ihr was sagen wollen . . . Du warst zu klein, du hast nichts davon gewußt, und später, wie du groß geworden bist, war's lang vergessen, daß ich als sechzehnjähriger Bub verliebt gewesen bin in die schöne ältere Kusine.«

»Nein, davon habe ich nicht die geringste Ahnung gehabt.«

»Verliebt«, fuhr er fort, »und dabei so unschuldig mit meinen sechzehn Jahren, wie's heutzutag kein Zwölfjähriger mehr ist. Und diese Liebe und diese Unschuld, die haben miteinander eine inbrünstige Anbetung zuweg gebracht. Ich hätte mich für ein gutes Wort von ihr schinden, brennen, steinigen lassen. Ich war ein übermütiger Bub, dem die Haut alle Augenblick zu eng geworden ist, sie war ruhig, majestätisch und lieblich, und sie hat so schön gesungen! Und wenn sie gesungen hat, was ich am liebsten gehabt hab und heut noch hab: Lieder von Schubert, da war manchmal in ihrer Stimme etwas voller Sehnsucht, und da hab ich Wonnequalen ausgestanden und – genossen. Gesagt – nie ein Wort. Aber mein dummes Gesicht hat verraten, was in mir vorgegangen ist, und die Vettern und Basen haben mich mit großer Roheit und Grausamkeit ausgespottet. Manchmal hab ich mir's gefallen lassen, manchmal nicht, und wenn nicht, dann hab ich ihnen mit Antworten aufgewartet, die ihnen die Lust genommen haben, ihre Schnäbel an mir zu wetzen. Dazu hat dann sie gelächelt, und das war bitter für diese Gimpel, die weniger oder mehr alle in sie verliebt gewesen sind.«

Er unterbrach sich und fing nach einer Weile wieder lebhaft an: »Erinnerst du dich noch der großen Familienversammlungen, die's alle Sommer beim Großonkel in Ungarn gegeben hat?«

»Freilich, 's ist lange her, es war immer sehr schön und festlich.«

»Also, noch viel länger her, als wie du dich erinnerst, sind einmal die Eltern der Johanna mit ihr zu uns gekommen, damit wir die Fahrt nach Ungarn zusammen unternehmen. Eisenbahnen hat's da hinunter noch nicht gegeben, so sind drei Wägen eingespannt worden; ein offener für die zwei Väter und zwei Gläserwägen, einer für die Mütter, einer für die Johanna, für die Zofe und – für mich. Es war Hochsommer und sehr heiß, und die Tante hat – noch im Grab soll sie dafür gesegnet sein – die Hitze nicht vertragen. So ist bestimmt worden, daß wir in der Nacht fahren, bei Mondenschein und Sternenglanz. Alles war prächtig, nur hat mich gewurmt, daß der alte Johann, bevor er zum Kutscher auf den Bock gestiegen ist, eine Pistole zu sich gesteckt hat. Teufel auch! Das hätte mir einfallen sollen, eine Pistole in meiner Brusttasche hätte sich gut gemacht. Indessen – ich hab's halt versäumt gehabt, und nachdem der Wagenschlag ins Schloß gefallen war, da hat's in meinem Herzen nur noch Platz für eine große Glückseligkeit gegeben. O Wonne ohnegleichen! Jetzt werd ich mit ihr sein, eine ganze Nacht, weit fort von der Welt, von allen andern Menschen. Eine ungeheure Lustigkeit hat mich gepackt, das tollste Zeug ist mir eingefallen, ich hab drauflos erzählt und geplauscht, und wenn sie über meine Witze gelacht hat, war ich betrunken vor Stolz.

Die Kammerjungfer hat im Anfang bescheiden mitgekichert, dann ist sie eingeschlafen, die gute Person, und jetzt waren wir sozusagen allein. Da aber hat es mich überkommen: Herr Gott im Himmel, wenn ich doch ein Mann wär, der von gescheiten Sachen mit ihr spricht, nicht nur ein Junge, ein Bub, der sie lachen macht mit seinen Spaßen . . . Auf einmal war es aus mit meiner Fröhlichkeit; ich nehm mich zusammen, sie soll sehen, daß mir auch ernste Dinge im Kopf herumgehen, und ich frag sie, ob sie sich denken kann, daß ich ein Geheimnis hab, das ich mit mir herumtrage, schon lang, ich weiß gar nicht wie lang, und daß ich es ihr anvertrauen will. Im Anfang hat sie nicht recht gewußt, was sie aus meinen Reden machen soll, war aber bald gewonnen und hat sich gar nicht sehr gewundert, wie ich geschworen hab, daß ich – die Eltern sollen tun und sagen, was ihnen beliebt – nichts andres werd in der Welt als ein Bildhauer. Zwei Jahre, in Gottes Namen, büffel ich noch, dann, wenn's nicht anders is – geh ich durch, zum großen Meister in Paris, und dort werd ich ein Lehrling, ein Schüler – ein Könner. Was ich alles zusammenbramarbasiert hab, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich, daß sie gesagt hat: ›Daß du Talent hast, sehen ja alle.‹ – ›Nur ausbilden soll ich es nicht‹, hab ich aufgeschrien, ›nur als Spielerei soll ich's betreiben . . . Sie bilden sich ein, mich schon herumgekriegt zu haben, sie irren sich. Wie sie sich irren, is mein Geheimnis, und das hab ich dir jetzt anvertraut.‹

Sie hat gemeint, es wird zum Durchgehen nicht kommen, zu einem so verzweifelten Schritt werden mich die Eltern nicht treiben. Für meine verschwiegenen Qualen war sie voll Teilnahme, hat wissen wollen, wann ich zum erstenmal gefühlt hab: Das ist mein Beruf; und wie mir war, als die Flamme zum erstenmal geknistert hat . . . Ja, wenn ich's gewußt hätte – und ob das je einer gewußt hat? Was war mir auch an der Vergangenheit gelegen? All und alles nur an der Zukunft. Von der hab ich gesprochen, von meinen großen Plänen, von allem, was ich tun und leisten will. Voll Aufmerksamkeit hat sie zugehört, manchmal nur meinem Eifer kleine Dämpfer aufgesetzt, ist immer stiller worden und sagt endlich: ›Es muß sehr spät sein, ich möchte nicht ganz unausgeschlafen ankommen. Laß mich jetzt schlafen, und schlaf auch du!‹ Und hat sich in die Ecke gelehnt. ›Gute Nacht.‹

Das hat mich furchtbar gekränkt. Ich sag ihr alles, was ich von mir nur weiß. Meine ganze Seele is Feuer und Flamme, jeder Nerv, jeder Blutstropfen hellwach, und sie sagt: Schlaf! Na – wenn sie's sagen kann . . . Also schluck ich meinen Zorn hinunter und meinen Schmerz und würg heraus: ›Gute Nacht.‹ Sie muß gemerkt haben, daß sie mir weh getan hat, und sagt noch einmal sehr lieb und herzlich: ›Gute Nacht.‹

Ich hab mich in meinen Winkel gedruckt und mich geschämt, weil das Weinen mir nahe war, und hab sie immerfort angeschaut. Sie konnt es nicht bemerken, auf meiner Seite war's ganz finster, auf die ihre ist das volle Mondlicht gefallen. Herrgott, wie schön war sie in diesem weißen Glanz! . . . Der heilige Ernst auf ihrer Stirn und um den Mund mit den vollen, weichen, sanften Lippen, die sich manchmal ganz leise bewegt haben. – Ich schau und schau und rühr mich nicht, aber in mir tobt ein Aufruhr. Ja, ich werd es erreichen, ich werde schöne Schöpfungen Gottes nachschaffen . . . Verworren und nebelhaft waren meine Gedanken, aber etwas hat werden wollen, und in dieser Nacht is ein Keimlein entstanden . . . dasselbe, aus dem zwanzig Jahre später die Vittoria Colonna herausgewachsen is, die mir soviel Ehr eingetragen hat.

Also: ich druck mich in meinen Winkel und schau . . . und rühr mich immer nicht. Und jetzt seh ich, daß sie die Hände hebt und ganz langsam ihren dünnen Schleier zum Hutrand hinaufschiebt, sich zu mir beugt immer näher . . . Ich fühl ihr Gesicht nah an meinem, und – mir vergeht der Atem – ihre Lippen liegen auf meinen Lippen, einen wunderbaren, kleinen, kurzen Augenblick. Dann richtet sie sich wieder leise auf, lehnt sich zurück und macht die Augen zu . . .

Ich war tot – gestorben vor Glück, hoch weggeflogen über die Welt. Ich war wie einer, an dem ein himmlisches Wunder geschehen ist. Was soll der noch auf Erden? was kann ich noch erleben, was will ich noch erleben? Ja, ja, liebe Theo, es gibt in der Welt der Vergänglichkeit Dinge, die nicht vergehen. Der Augenblick is in meinem Leben das, was nicht vergeht. An Glück in der Liebe hat es mir nicht gefehlt. Edle, stolze Frauen, so manche, die heute noch für unnahbar gelten, haben mir schöne Stunden und Tage geschenkt. Ich bleib ihnen dankbar, aber manchmal, wenn ich nachdenk, geschieht mir's doch, daß ich mich frag: War's die oder die? War's früher oder später, da oder dort? . . . Der Augenblick, die einzige Sekunde, steht immer da in meiner Erinnerung, immer gleich groß und einzig, und funkelt wie ein Stern, in den alle andern Sterne ihr Licht ergossen haben . . .

Die Kammerjungfer is aufgewacht, hat sich entschuldigt, daß sie geschlafen hat: ›Nur weiter, ich leiste Ihnen Gesellschaft‹, sagt die Herrin, und bald merk ich an ihren leisen, regelmäßigen Atemzügen: Sie schlaft sanft und tief. Ich hab sie nicht mehr deutlich sehen können, denn der Mond war schon blaß geworden, und der Morgen hat gegraut, aber ihren Kuß hab ich immer noch auf meinem Mund gefühlt und die Wonne ihrer Nähe still und lautlos genossen.

Wir sind im Schritt und langsam einen Berg hinaufgefahren. Der Weg war gut, der Berg war nicht steil, der Wagen wie eine Wiege. Manchmal hat ein Rad geknarrt, manchmal hat ein Pferd geschnaubt . . . Nach allen den ausgestandenen Gemütsbewegungen haben meine gesunden sechzehn Jahr ihr Recht gefordert – ich hab nicht mehr viel von mir gewußt, bis mir zuletzt nur noch geträumt hat, daß ich wach bin.

Wirklich bin ich's worden über viel Lärm und Geschrei, das sich um unsre Wägen herum erhoben hat. Wir waren angekommen, und so früh am Tag es noch gewesen is, alle Hausleute, alle Gäste waren auf und haben uns willkommen geheißen. Man kennt die ungrische Gastfreundschaft. Was das Haus vermocht hat – und es hat viel vermocht –, is zur Unterhaltung der Gesellschaft geschehen. Alle waren hoch zufrieden, lustig und vergnügt, nur ich der unglücklichste Mensch, denn ich hab zusehen müssen, wie die Johanna umringt und gefeiert worden is, wie alle Herren, die jungen und die alten, ihr gehuldigt haben, indessen ich zu den Adoleszenten gesteckt worden bin. Ich war in dem Gewühl ganz getrennt von ihr, hab mich auch ferngehalten, war wütend über sie, weil sie den Leuten so gut gefallen hat, bin ihr ausgewichen in meiner Eifersucht, ich dummer Bub, während mein ganzer Mensch mit Leib und Seel nur eine Sehnsucht nach ihr war.

Einigemal hat sie mich gefragt: ›Was ist dir denn?‹ und ich hab trotzig geantwortet: ›Nichts.‹ Sie hat mich verwundert angesehen, nicht traurig, nicht vorwurfsvoll, nur – verwundert.

Die Eltern haben's in dem Getreib nicht lang ausgehalten, wir sind nach Haus gefahren, die andern sind geblieben, auch nach den Festlichkeiten, weil die Tante krank geworden is. Im Herbst hat man sie dann nach dem Süden geschickt. Sie hat sich nicht mehr erholt; das weißt du ja.«

»Gewiß«, sagte die Schwester. »Es war so traurig, ihr langes Siechtum, und daß sie in der Fremde hat sterben müssen und daß sie die Verheiratung Johannas nicht mehr erlebt hat. Du warst damals in Paris, zwei Jahre schon.«

»Ja, ja. Die ersten Lehrjahre in der Schule bei meinem großen Meister waren schon durchgemacht, und auch, was man so das Leben nennt, hatte ich kennengelernt. Und mir eingebildet: Das is das wahre, das reiche, das unerschöpfliche Leben. Damals aber, wie ich den Brief bekommen hab, in dem du mir geschrieben hast, daß die Johanna Braut is, hat's mir doch einen starken Ruck gegeben, und an dem Abend hab ich mich gelangweilt in der heitersten und der hübschesten Gesellschaft. Die Nacht im Reisewagen is vor mir aufgestiegen in ihrer Glorie und hat das Geflimmer und Geflimmsel um mich her jämmerlich verdunkelt . . . Nicht für lang, es ist wieder Feuer worden . . . Feuer – in jener Nacht war's eine Flamme, die ihr himmlisches Licht in meine Seele ergossen hat. Und ich hab gewußt, und ich hab mir gemerkt: Vergleiche nie . . . Das wirst du nie wieder empfinden, ebensowenig wie du je wieder sechzehn Jahre jung werden kannst, ebensowenig wie eine zweite Johanna geboren werden kann.«

»Sie war sehr, sehr lieb«, sagte die Schwester, »aber du verklärst sie. Ich habe nicht gewußt, daß mein Bruder ein Dichter ist.«

»Ach was! das is jeder echte bildende Künstler. Die Alhambra, der Moses, die Sixtinische Madonna sind gedichtet gewesen, bevor sie erbaut, gemeißelt, gemalt worden sind. Doch das gehört auf ein andres Blatt. Ich hab sagen wollen: Eins hab ich mir vorgenommen. Wenn ich sie wiederseh, frag ich sie: Warum hast du mich damals geküßt? Aus Mitleid? Aus Reue, weil du gemerkt hast, daß ich gekränkt bin? . . . Aus Liebe? Aus einem plötzlichen, vorübergehenden Gefühl der Liebe? Sag mir warum! Ja, ja, fest und oft hab ich mir's vorgenommen. Aber wie ich sie zum erstenmal wiedergesehen hab, da war sie eine junge Frau und eine junge Mutter und so voll Hoheit in dieser doppelten Würde, daß ich meine Frag nicht herausgebracht hab, wie heiß sie mir auch auf den Lippen gebrannt hat. Auch später is es mir so gegangen. Eine Art Rechenschaft verlangen von ihr – von dieser Frau – das geht nicht. Auch hab ich gewußt: Nach der Frag kämen andre, die ich nicht stellen darf. Also: schweigen – meiden. Meiden, das besonders wichtig. Hab mich denn ferngehalten, mich nur unbändig gefreut, wenn ich gehört hab, daß sie in Begeisterung geraten is über eine oder die andre meiner Arbeiten. Oder wenn sie mir's geschrieben hat. So gewußt wie sie, was ich in meiner Kunst gewollt hab, hat niemand, niemand, niemand! Dabei bin ich durchs Leben spaziert mit meiner unbeantworteten Frag. Hab zuletzt auch gar nicht mehr fragen wollen. Nur wie sie schwer krank geworden is, da war's bald bei mir ausgemacht: Sie soll nicht sterben, bevor ich, der Greis, ihr, der Greisin, gesagt hab: Du hast mich einmal, vor langer Zeit, über alle Begriffe glücklich gemacht. Na – ich bin zu spät gekommen.«

Er biß sich auf die Lippen, eine Röte überflog sein energisches Gesicht, seine Stimme ward rauh. »Daß mir's so leid tut, is sentimental. Hol's der Kuckuck, ja, ich bin ein alter Narr, ich bin sentimental.«

Die Augen der Schwester ruhten nachdenklich auf seinen bewegten Zügen. Sie legte die Zigarre weg und reichte ihm über den Tisch ihre Hand: »So sei in Gottes Namen sentimental.«

 


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