Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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In letzter Stunde

»Heiraten – ein junges Mädchen . . . Konrad, du hättest den Mut?« sprach Matisen und starrte den Freund voll Besorgnis an. Auf seinem faltenreichen, verwitterten Gesichte malte sich eine so kindliche Verwunderung, daß Konrad Staufen lachen mußte. »Ich habe den Mut«, sagte er, »und ich glaube, ich darf ihn haben.«

Es war eine alte Geschichte, daß zwischen den beiden die größte Übereinstimmung herrschte. Sobald Konrad Staufen eine Meinung abgab, wußte man: Es ist die Meinung zweier Universitätsprofessoren, seine eigene und die Stephan Matisens. Heute verwandelte dieser Gefügige sich in den verkörperten Widerspruch. Eine peinigende Angst hatte ihn ergriffen und besiegte die ihm angeborene Schüchternheit. Und wenn er aus seiner durch ausbündige Rücksichten scharf umhegten Bahn brach, konnte er Dinge sagen, die ein Schonungsloser nicht leicht über die Lippen bringt.

»Du hast grundlegende Werke geschrieben, du bist ein großer Gelehrter, ein Bahnbrecher in deinem Fache«, sprach er, »und das macht dich zum Gegenstand der Hochschätzung der ganzen gebildeten Welt, aber nie und nimmer zum wünschenswerten Freier in den Augen eines jungen Mädchens. Das junge Mädchen lacht über den Fünfziger, der aus der Rolle des väterlichen Freundes plötzlich in die des Liebhabers fällt.«

»Irrtum! Ein Liebhaber bin ich nicht und will ich nicht werden.«

»Was denn also? Gatte, gleich Gatte? Statt wie bisher Wohltäter, Beschützer, Vormund auf einmal Gatte . . . Oh, daß du die Frauen so gar nicht kennst! Die Pflanzen so gut und die Frauen so schlecht!«

»Sollten wir einander viel vorzuwerfen haben in dem Punkte?« fragte Staufen.

Um Matisens großen Mund zuckte es kummervoll und schmerzlich. »Nun – ich habe einmal ein Verhältnis gehabt. Befand mich, als es angesponnen wurde – oder sich vielmehr von selbst anspann . . . man wohnt doch irgendwo, es ist doch ein Wesen da, das einem die Wäsche besorgt und das Frühstück bereitet . . . dieses Wesen ist leider meist ein weibliches . . . von selbst anspann«, wiederholte er. »Befand mich damals auch schon in vorgerückten Jahren, obwohl nicht in so weit vorgerückten, wie du dich jetzt befindest. Auf das Ende, das die Sache genommen hat, zurückzukommen, vermeide ich sonst. Nun aber möchte ich es dir ins Gedächtnis rufen – zur Warnung, als abschreckendes Beispiel . . .«

Konrad Staufen legte begütigend die Hand auf den Arm seines aufgeregten Freundes, der vor ihm stand, klein und hager, und zu ihm herabpredigte, indes er gelassen auf dem Lehnsessel an seinem Schreibtisch sitzen blieb: »Sei ruhig, Stephan; Erfahrungen, wie du in deinem ›Verhältnis‹ gemacht hast, werde ich in meiner Ehe nicht machen.«

»Die Qualität der Frau ist eine andere. Gewiß. Von einer plumpen Untreue spreche ich nicht. Ich spreche von dem unausbleiblichen Gefühl: Ich bin alt, und sie ist jung. Zwischen uns klafft ein Riß, den nichts überbrückt – da sitzt es! da sitzt das Unheil – Kommt dieses Bewußtsein über dich – und es kommt, so sicher wie der Tod –, wird es dich elend machen.« Er schwieg einen Augenblick, schien intensiv nachzudenken, strich plötzlich mit den zehn Fingern durch seine spärlichen und steifen Haare, die ein mißfarbiges Blond konserviert hatten, und rief: »Was ich alles kommen sehe . . . Ihr Götter Griechenlands! was ich alles kommen sehe! Bezwing dich, sag ich dir . . . Wenn du noch so verliebt bist – denn das wirst du trotz deines Leugnens wahrscheinlich doch sein –, bezwing dich. Heirate nicht, tu's nicht!« – »Weil ich nicht verliebt bin«, fiel der Professor ihm ins Wort, »tu ich's. Ich täte es nicht, wenn ich verliebt wäre. Den Launen, den Eifersüchteleien eines verliebten Alten würde ich meine Mathilde nicht aussetzen. Ich bin kein Verliebter, ich bin ein innig Liebender und innig Wiedergeliebter . . . Weißt du noch, wie sie einst als Kind, hier an dieser selben Stelle, zu mir trat, ihre Ärmchen um mich schlang und mit so voller Überzeugung, aus der Tiefe ihres kleinen Herzens heraus, sagte: »Ich hab dich gut lieb.« Es ist heute wie damals; wir haben einander gut lieb mit braver, dauerhafter Liebe, die uns beide glücklich machen wird; verlaß dich darauf.«

Stephan Matisen stieß einen tiefen Seufzer aus: »Wie soll ich mich auf etwas verlassen, das mir erst bewiesen werden müßte? . . . Alter Mann, junge Frau – es bleibt ein Unding . . . Die Schiefheit schon von Anfang an: weil du nicht verliebt bist, heiratest du. Wer aber steht dir gut dafür, daß du dich nicht in deine junge schöne Frau verlieben wirst? Dann steckst du bis über den Kopf in der Gefahr, der du entrinnen wolltest. Die junge schöne Frau schätzt und bewundert dich über alles und schöpft daraus eine unbedingte Sicherheit, läßt sich unbefangen huldigen, am unbefangensten von deinen Schülern, unter denen es verflucht nette Leute gibt. Die schwärmen alle für die Frau Professorin, und trotz der Begeisterung für den verehrten Lehrer – die Hand auszustrecken nach dessen höchstem Gut, seiner Gattin, wagt doch jeder dieser Frechlinge . . . Und einmal erweckt einer von ihnen ein lebhafteres Interesse bei der Altersgenossin . . . Und dann – nun, mein armer Konrad . . . Sie wird dich gewiß auch dann noch gut liebhaben, den anderen aber sündhaft lieb, und das wird dem miserablen Burschen gerade recht sein. So kommt es! . . . Das ist es, was ich kommen sehe, und ich sage dir . . .«

»Sage nichts mehr, prophezeie nicht«, sprach Staufen. »Du bist bei mir mit Prophezeien nicht glücklich. Erinnere dich, was alles du vorhergesagt hast, als ich mich entschloß, die Verlassenschaft des armen Kollegen, der sich in aller Stille aus dem Leben geschlichen hatte, sein verwaistes Kind, anzunehmen. Da konntest du nicht genug warnen: Tu es nicht! es wäre keineswegs, wie du dir einbildest, eine edle Handlung, es wäre gewissenlos. Gewissenlos gegen dich selbst, denn es stört deine Kreise, gewissenlos gegen das Kind, denn du hast keine Ahnung von der Behandlung und Pflege, die es braucht, und von dem Unterricht, der ihm zuteil werden soll. Diese unerläßlichen Kenntnisse jedoch lassen sich nur erwerben durch das Studium der weiblichen Hygiene und durch das Absolvieren eines Lehrerinnen- und Erzieherinnenkurses.«

Matisen stutzte. »Habe ich das gesagt?«

»Etwas dergleichen doch, und jedenfalls sahst du und sahen die Götter Griechenlands, die du anriefst, schweres Unheil hereinbrechen, wenn ich deine Bedingungen zu erfüllen unterließe. Wo ist das Unheil geblieben, Matisen? Weißt du etwas, das du anders wünschtest an ihr, die mein Kind war und bald mein Weib sein wird? Ist ihre Erziehung mißraten?«

»Die ist geraten. Dank der Mithilfe und dem Einfluß deiner vortrefflichen Schwester.«

»Dank der Mithilfe und dem Einfluß meiner vortrefflichen Schwester«, bestätigte Staufen, »auf die ich von Anfang an gerechnet hatte.«

Die Männer schwiegen. Konrad war aufgestanden, und Matisen sah jetzt zu dem viel größeren Freund empor und gab sich einmal wieder Rechenschaft von seiner Liebe für diesen Unvergleichlichen. Staufen hatte alles, was ihm fehlte: Wohlstand, Schönheit, Ruhm, und weil Staufen diese schätzenswerten Güter besaß, fühlte Matisen sich mitversehen. Er lebte in dem Freunde und ahnte nicht, bis zu welchem Grade der Selbstentäußerung er es mit der Zeit gebracht hatte. Auch die ganze Macht seiner Zuneigung kam ihm nur, aber regelmäßig und bald, nach den seltenen Fällen zum Bewußtsein, in denen er sich zu einer verletzenden Äußerung gegen den Vielverehrten hatte hinreißen lassen und bittere Reue ihn überfiel.

Eben jetzt wand er sich in ihren Krallen. Daß er den Professor an seine vorgerückten Jahre gemahnt hatte, war grausam gewesen und wie jede Grausamkeit – töricht. Wenn jemand ein Recht hatte, sich im Alter noch für jung zu halten, dann war es Konrad Staufen. Was hatte denn das Alter ihm getan? Seine feinen reichen Haare gebleicht, sonst nichts. Es hatte seine Gesundheit, seine Arbeitskraft, die erquickende Heiterkeit und Gleichmäßigkeit seiner Laune unberührt gelassen, es hatte seine hohe und schlanke Gestalt nicht gebeugt, ihr nichts genommen von der männlichen Anmut ihrer Bewegungen. Gegeben aber hatte es ihm. Es hatte seinen schönen Zügen den Abglanz des reinsten, ein langes Leben hindurch bewahrten Seelenadels verliehen, ihnen die edlen Spuren rastloser geistiger Tätigkeit eingeprägt.

Matisen betrachtete ihn mit inniger, wenn auch charaktervoll beherrschter Rührung und dachte: Wenn du das Ungewöhnliche wagst, du Ungewöhnlicher, vielleicht geschieht es ungestraft.

 

Die Ehe des Professors wurde eine wundervolle. Die etwas scheue Ehrfurcht, die Mathilde für ihren Vormund empfunden hatte, verwandelte sich dem Gatten gegenüber in eine zärtliche, anbetende Liebe, die Staufen nicht wie etwas, das ihm gebührte, hinnahm, sondern wie ein köstliches Gnadengeschenk, wofür er zu danken hatte alle Stunden seines Lebens.

Eine schwere Trübung ihres Glückes erfuhren die beiden durch den Tod des Söhnchens, das Mathilde ihrem Manne geboren und das drei Jahre lang den Stolz des Hauses ausgemacht hatte. Mit entsetzlicher Raschheit wurde das blühende Kind hinweggerafft. Seine Eltern hatten es verloren, bevor sie noch den Gedanken an eine drohende Gefahr zu fassen vermochten. Es war der größte Schmerz, den Staufen je erfahren hatte, und maßlos heftig wurde er von ihm ergriffen und völlig niedergerungen. Und in dieser Leidenszeit erwies die Frau sich als die Stärkere. Den Mann, zu dem sie wie zu einem Unüberwindlichen emporgeschaut hatte, in hilflose Trauer versunken zu sehen erweckte in ihr ein heroisches Mitgefühl, das ihr eigenes Leid tief zurückdrängte in ihre Seele und es sorgsam verborgen hielt. Ihr war, als sei sie verantwortlich für den dunklen Schatten, der in sein bis jetzt immer sonniges Leben gefallen war. Als hätte sie ihm etwas abzubitten, er ihr etwas zu verzeihen, umgab sie ihn mit einer noch zärtlicheren Sorgsamkeit als bisher, mit allen Aufmerksamkeiten einer Zuneigung, die sich nie aufdrängt und immer da ist, nichts erbittet, als geben zu dürfen, und so demütig darbringt, als ob annehmen Großmut wäre.

Nichts von allem, was sie für ihn tat, ging verloren, nicht das kleinste, stillste Zeichen ihrer grenzenlosen Hingebung. Zu seiner Liebe für seine junge Lebensgefährtin kam eine große Dankbarkeit und erhöhte und verklärte ihm ihren Wert. Als die Wunde, die ihnen geschlagen worden war, allmählich verharschte, fanden die Gatten sich noch inniger verbunden als vor dem Tode ihres Kindes.

Zum siebenten Male jährte sich ihr Hochzeitstag; da erschien Matisen als Gratulant mit einem Blumenstrauß. Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, sagte er, in dem ein Glückwunsch zur Vermählungsfeier wohl angebracht und nicht nur ins Blaue gesprochen sei. Er klagte sich auch eines Irrtums an, den er vor sieben Jahren begangen hätte und von dem sein Freund wisse, die Frau Professor aber nie – wenn sie noch so sehr darauf brenne – etwas erfahren solle.

Die Professorin brannte aber gar nicht darauf. »Habt eure Geheimnisse«, erklärte sie. »Wir tun am besten, uns mit der Portion Vertrauen zu begnügen, die unsere Männer uns schenken wollen. Erpressungen in dem Punkte fallen immer schlecht aus. Siehe Delila, Kriemhilde und gewiß viele andere vorher, nachher und dazwischen, von denen eure Gelehrsamkeit erzählen könnte.«

»Du hast leicht reden«, meinte der Professor, »du, die ihren Mann durch und durch schaut. Aber nicht besser als er dich«, setzte er hinzu und glitt sanft mit seiner Rechten über ihren blonden Scheitel: »Matisen, wenn einer der Götter Griechenlands in diesem Haupte einen Gedanken entdeckt, den ich nicht kenne, will ich dem Olympier einen Altar errichten.«

Mathilde sah ihm liebreich in die Augen: »Das ist aber auch eine Kunst für einen Mann wie du, meine armen Gedanken zu kennen.«

Seelenvergnügt ging Matisen heim. Das Verhältnis dieser zwei Menschen zueinander entsprach ganz und gar seinem Ideal der Ehe. Es war so schön zu sehen, wie Mathilde sich im Glanz ihres Gatten sonnte. Wie helle Freudigkeit sie durchströmte, wenn man sie in Gesellschaft vorstellte: »Frau Professor Staufen«, und wenn beim Klang dieses Namens die Steifsten geschmeidig und die Hochfahrendsten liebenswürdig wurden. Und wenn im Vorübergehen die Studenten sie grüßten bis zur Erde, fiel es ihr nicht ein, daß die Huldigung nicht bloß der Frau des angebeteten Lehrers, sondern auch ihr persönlich, ihrer Jugend und Schönheit gelten könne.

Ja, sie hatte ihn »gut« lieb, und am Ende ist diese Liebe auch wirklich die mächtigste, wie sie die schönste ist.

Wieder verfloß ein Jahr.

An der Universität lehrte seit kurzem als Dozent ein ehemaliger Schüler und besonderer Liebling Staufens, Doktor Johannes Philippi. Aus einer niedrigen Lebenssphäre war er heraufgestiegen und hatte den Kampf ums Dasein und um die Macht des Wissens mit Feuer und Kraft und eiserner Ausdauer geführt. Jetzt ging er mit vollen Segeln. Eine erste Veröffentlichung hatte zu großen Erwartungen berechtigt, die zweite sie zum Teil schon erfüllt. Es wurde als ausgemachte Sache angesehen, daß der junge Dozent bestimmt war, Staufens Nachfolger zu werden. Der Glanz, der diese noch so kurze Laufbahn umgab, erweckte Mißgunst und Erbitterung in mancher kleinen Seele. Dem Günstling des Glückes wuchsen Feinde und Neider aus dem Boden, und er hielt ihren oft gar schnöden Angriffen mit wonniger Streitbarkeit und unerschütterlicher Siegeszuversicht stand.

Vom ersten Tage hatte ihn Staufen zu Gast geladen für jede freie Abendstunde, die er erübrigen könne, und »mein Vaterhaus« – er hatte nie ein anderes gekannt – nannte Johannes sehr bald das Haus des Professors. Freudestrahlend kam er, wenn er über neu ausgebrochene Zwistigkeiten zwischen ihm und seinen Gegnern zu berichten hatte, und rief mit ehrlicher Begeisterung: »Gesegnet meine Feinde! Sie zu lieben kostet mich keine Selbstüberwindung, ist mir Vergnügen und Wonne.«

»Deshalb tust du auch alles, um sie dir zu erhalten«, sagte der Professor.

»Mit Bewußtsein nicht. Ich weiß selbst nicht, wie es kommt, aber ich habe sie und nenne sie freudig mein. Wieviel verdanke ich ihnen. Es lebe ihr Haß! Sein Scharfsinn entdeckt jede Lücke in meinem Wissen, bringt jede meiner Schwächen und Untugenden ans Licht, und nun offenbaren sie sich auch mir, und ich erkläre ihnen einen frischen, fröhlichen Krieg, einen Ausrottungskrieg! Ist das nicht herrlich?«

Da seine Feder- und Wortgefechte fast immer mit einer Niederlage seiner Widersacher endeten, war es ihm leicht, ein großmütiger Sieger zu sein. Aber für seine Großmut wußte man ihm keinen Dank, fühlte nur die Beschämung, sie erfahren zu müssen. So hatte er wenig Freunde, besonders unter den Kollegen, und auch unter seinen Hörern nur einen kleinen Anhang, der freilich aus der Blüte der akademischen Jugend bestand. Seine eigene Fähigkeit, zu bewundern und zu verehren, übte er in allerreichstem Maße an Konrad Staufen aus. Für den begeisterte er sich, den liebte er mit der Liebe eines guten und dankbaren Sohnes.

»Ist es nicht«, sagte der Professor einmal zu Matisen, »als ob mein kleiner Junge mir in seiner frühen Kindheit nur weggenommen worden wäre, um mir plötzlich als Mann – und wahrhaftig als ein ganzer! – zurückgegeben zu werden?«

Mathilde hatte anfangs allerlei an Philippi auszusetzen. Sie fand ihn gar zu geradeaus, sein Äußeres, »ein urgermanisches Knochengerüst mit einer Zigeunerhaut überzogen«, gar zu disharmonisch. Sie lachte über seine breiten Schultern, von denen eine immer Mittel fand, beim Eintreten entweder rechts oder links an den Türpfosten anzurempeln. Einmal entschuldigte sie sich im Namen des Türpfostens, und der reckenhafte Philippi, der dem Überfall einer Hünenschar kaltblütig Trotz geboten hätte, geriet in Bestürzung, und die Schlagfertigkeit, mit der er sonst jeden unerwarteten Angriff abwehrte, versagte völlig.

Von Stunde an unterließ er es nie, scharf zu zielen, bevor er ins Zimmer trat, um jeden Kontakt mit den hölzernen Feinden zur Rechten und zur Linken zu vermeiden.

Die Professorin machte ihm kein Hehl daraus, daß sie geglaubt hätte, so riesige Hände wie die seinen kämen nur in den Fabeln, bei Waldmenschen und Ogern vor. Nachdem er aber eines Abends eine ungemein zarte Pflanze in ihre Bestandteile zerlegt hatte, um ihren Bau, ihre Eigentümlichkeiten und intimsten Eigenschaften zu erklären, versprach Mathilde, ihn nie mehr mit der räumlichen Ausdehnung seiner Hände zu necken; soviel Geschicklichkeit, wie in ihnen stecke, lasse sich auf ein kleines Gebiet nicht beschränken.

Sehr mißfallen hatte ihr, als sie ihn kennenlernte, auch seine Breitspurigkeit, sein nachlässiges und ungeschicktes Sichgehenlassen. Sie verlor nie ein Wort darüber, er aber fühlte, er erriet das Unbehagen, das er ihr verursachte, und bemühte sich, die Umgangsformen der Menschen anzunehmen, mit denen sie verkehrte. Es wurde ihm freilich unglaublich schwer, aber schon die Bemühung war dankenswert, und völlig erfolglos blieb sie nicht. Viele bemerkten das, und es schmeichelte der Frau Professor, daß man ihr die günstige Veränderung zuschrieb, die mit Philippi vorging. Es hieß: »Ja – der Einfluß einer feinen, schönen Frau auf solch einen Bärenhäuter, der ganz gewiß zum erstenmal einem Wesen ihrer Art begegnet!«

Sie nahm arglos Glückwünsche zu ihren Erziehungsresultaten entgegen; ihr fiel nicht auf, daß sich in Bekanntenkreisen das Gespräch, wenn sie erschien, sehr bald auf Philippi lenkte oder, wenn eben von ihm die Rede gewesen war, plötzlich abbrach.

Einmal verteidigte sie ihn eifrig gegen einen Ankläger. Der Wortwechsel zwischen diesem und ihr war ziemlich lebhaft geworden. Die Herrin des Hauses, die eine Weile schweigend zugehört hatte, wünschte ein Ende zu machen und wendete sich in täppischer Gutmütigkeit an Mathilde: »Sie haben gewiß recht, liebe Freundin! Sie kennen Doktor Philippi besser als wir alle. Bei uns läßt er sich kaum sehen, bei Ihnen verkehrt er, wie man behauptet, täglich.«

Tiefe Stille folgte diesen Worten. Die Hausfrau wurde über und über rot und senkte, wie plötzlich zum Bewußtsein einer begangenen Ungeschicklichkeit gekommen, ganz bestürzt die Augen. Ein anwesendes Ehepaar, bekannt durch seine gegenseitige Liebe und seine Bosheit gegen die Mitmenschen, wechselte über den Tisch einen verständnisvollen, vor Schadenfreude glänzenden Blick.

Mathilde hatte einen unangenehmen Eindruck empfangen, von dem sie sich aber keine Rechenschaft gab, der sie wie im Fluge berührte und den sie bald vergaß.

 

Professor Matisen befand sich seit einiger Zeit in einem beklagenswerten Zustand. Ungewöhnlich oft kam er daher im Sonnenbrand oder noch vor sinkender Nacht aus seiner fernen Vorstadt, trat in das Zimmer des Freundes, sah durch die Brille ängstlich mit irrenden Augen umher, als ob er sich erst zurechtfinden müsse, und fragte regelmäßig statt anderer Begrüßung: »Wie geht's deiner Frau? Wo ist deine Frau?«

Dann wartete er eine Weile, und wenn sie kam und in ihrer gewohnten lieben und freundlichen Weise mit ihm sprach, wich die quälende Unruhe von ihm. Er war bald wieder der Alte und konnte wahre Schätze tiefen Wissens und verborgener Weisheit auskramen und war stolz, wenn Mathilde ausrief: »Sie sind ein reicher Born, Matisen, wie schade, daß Sie so selten sprudeln!«

Ließ sie sich nicht sehen, beharrte Matisen in seiner träumerischen Zerstreutheit, wollte etwas sagen, fand den rechten Ausdruck nicht und unterbrach sich mitten im Satze. Eine Weile blieb er dann noch stumm auf seinem gewohnten Platze, dem Diwan zwischen den zwei mächtigen Bücherschränken, Staufens Schreibtisch gegenüber, in Gedanken versunken. Endlich zog er die Uhr, erschrak – und empfahl sich.

Dem Professor wurde bang um ihn, und als er eines Tages wieder so gar verloren dasaß, den Blick unverwandt auf die Tür des kleinen Salons Frau Mathildens gerichtet, erhob sich Staufen, ging auf den Freund zu, legte ihm die Hände auf die Schultern und sprach sanft und traurig: »Sag es heraus, Matisen, ich sehe deinen Kampf. Alter Freund – müssen wir unseren Verkehr einschränken oder vielleicht gar – abbrechen, Stephan?«

Matisen verstand ihn nicht. »Wieso? Warum? . . .«

»Nun – ich meine nur . . . Wenn dieser Verkehr – er bringt dich öfter in die Nähe einer jungen hübschen Frau, als möglicherweise gut ist für deinen Herzensfrieden . . .«

Jetzt hatte Matisen begriffen und war sehr betroffen, aber doch noch mehr geschmeichelt. »Du meinst, daß ich in deine Frau verliebt bin? Ihr Götter – ich! . . . nein, nein, meine das nicht. Ich verliebe mich nicht mehr, mit dieser menschlichen Torheit habe ich abgeschlossen.«

Bald darauf traf er Staufen eines Abends allein zu Hause und stellte die gewohnte Frage: »Wo ist deine Frau?«

»Im Theater, in der Loge meiner Schwester.«

»Wer hat sie hingeführt?«

»Philippi.«

»Philippi – Johannes Philippi . . . Das also – das . . .« Und jetzt kam es heraus in überstürzter Rede: »Das gehört sich nicht. Es fällt auf. Die Leute finden, daß es auffällt, und ich finde es auch. Er ist jung, und sie ist jung – und es fällt auf.«

»Was fällt auf? was findet man? – Ich verstehe kein Wort«, sagte Staufen.

Matisen machte eine abwehrende Bewegung, als ob er nicht unterbrochen werden wollte. »Er ist täglich bei euch, man sieht euch nur noch in seiner Gesellschaft. Es heißt, daß er euch auf die Ferienreise begleiten wird, man fragt: Wie kommt dieser Fremde zu der Auszeichnung? Hat der Professor eine so große Vorliebe für ihn, oder ist die Vorliebe mehr auf Seite der Frau Professorin?«

Bei diesen Worten zuckte Staufen leicht zusammen. »O Matisen«, sprach er, »wie bedaure ich dich! Wie bald wirst du es blutig bereuen, dich zum Sprachrohr einer so niederen Denkweise gemacht zu haben.«

Matisen war betroffen und blieb eine Weile sprachlos, bevor er sich zu der Erwiderung ermannte: »Du hast davon erfahren müssen, ich habe es dir nicht ersparen können. Lang genug verfolgen sie mich mit Andeutungen, daß es meine Pflicht sei, dich aufmerksam zu machen . . .« Er stockte, und Staufen fragte gelassen: »Worauf?«

»Auf das Gerede, das am Ende doch dem guten Ruf deiner Frau schaden könnte.«

»Ihrem guten Ruf? Und das meinst auch du?«

»Verzeih, Konrad, verzeih! Die Frage ist die eines Kindes. Götter Griechenlands! um was handelt es sich denn als um den Ruf deiner Frau?«

»Keine Sorge um den!« rief der Professor voll schöner Zuversicht. »Es ist eine große Sache, der Ruf eines edlen Menschen. Das Geschwätz einzelner Toren und Verleumder hat nicht die Macht, seinen reinen Schimmer zu trüben.«

Nun aber schrie Matisen auf: »Ihr Götter! Ihr Götter! . . . Ja, das bist du! Das ist deine stupende Unerfahrenheit. Das ist die Folge des vom Leben abgewendeten Lebens, das du führst, und auch des Glückes, das du immer gehabt hast.«

»Den Göttern sei Dank!« flocht Staufen lächelnd ein.

»Dafür nicht! Durchaus nicht immer Dank. Das Glück ist blind und macht blind. Du ahnst nichts von dem Unheil, das die Gemeinheit dem Höchsten und Heiligsten zufügen kann. Du hast keinen Begriff . . .«

Staufen fiel ihm ins Wort: »Da irrst du sehr. Was ich selbst nicht erfuhr, sah ich andere erfahren, oft so heiß mitfühlend, daß es wie eigenes Erlebnis war. Der Meinung aber bin ich geblieben: keine Konzession dem Gewürm, das sich an Makellose heranschleicht, um sie zu begeifern . . . Nein, nein, sprich jetzt nicht! . . . Höre! Wenn ich mich dazu herbeiließe, was wäre damit erreicht? – Daß es hieße: Früher trieben sie es offen, jetzt treiben sie's geheim . . . Sprich nicht!« kam er wieder dem Einwand zuvor, den Matisen machen wollte. »Um den Preis soll ich einem Menschen, den ich liebe wie einen Sohn, der mich ehrt wie einen Vater, die Tür weisen? Welchen Grund dafür gebe ich meiner Frau an? Soll ich Ausflüchte machen? Wie lange reicht das und wie unwürdig ihrer und meiner scheint es mir . . . Soll ich ihr sagen: Du wirst beschuldigt . . . Unmöglich, Matisen!« brach er aus, und wider seinen Willen verriet sich im Ton seiner Stimme die tiefe Erregung, die ihn erfaßt hatte. »Unmöglich! . . . Ich raube ihr ihre goldige Unbefangenheit nicht. Ich zerre sie nicht zum Abgrund menschlicher Niedertracht und sage ihr: Blicke da hinein!«

Matisen staunte ihn an. So gesteigerte Ausdrücke zu gebrauchen war sonst nicht des Freundes Sache.

»Wachen wir über sie«, sagte Staufen nach einer Weile ruhiger. »Verhüten wir, daß ein Hauch des giftigen Atems sie berühre. Die Ferienzeit ist nahe. Es handelt sich nur noch um Tage. Dann reisen wir und – wer weiß? Vielleicht stürzt sich die Verleumdung inzwischen auf andere Opfer, und wir finden bei unserer Rückkehr die läppischen Gerüchte verstummt.«

»Wenn Philippi euch begleitet, dann nicht. Soll er euch wirklich begleiten? Bleibt es dabei?«

»Es ist längst ausgemacht und bleibt dabei«, erwiderte Staufen.

 

Seit Jahren verließ Stephan Matisen, ein geschworener Feind des Reisens, die Stadt nicht mehr. Die Botschaften der fernen Freunde trafen ihn in seiner kahlen Junggesellenstube und – das mußte er zugeben – erfüllten sie mit köstlichen Landschaftsbildern, Duft und Sonnenschein und strömten die Geister eines erhöhten Lebens aus. Tag für Tag, vom Rhein und vom Bodensee, von jedem schönen Aussichtspunkt der Schweiz, den sie besucht, nach jeder kühnen Bergtour, die sie unternommen hatten, ließen die Wanderer dem einsam Zurückgebliebenen Briefe und Karten zufliegen. In Prosa und in Versen wurde er angeredet und angesungen, und eine Heiterkeit, ein kindlicher Frohsinn herrschten in dieser Literatur, die ihm die Seele erhellten und nach und nach seine Skrupel verscheuchten. Am Ende behielt Staufen wieder recht. Die braven Männer und die liebliche Frau konnten vielleicht nichts Klügeres tun, als ihren edlen und beglückenden Bund bestehen lassen, wie er bestand, nicht klein beigeben, nicht zurückweichen vor der Niedertracht, die ihn verunglimpft – sie verachten. Es ist ja wahr: Wenn wir vermögen, uns so hoch zu erheben, daß die Verleumdung nicht bis zu uns hinaufreicht, hat sie ihr Gift umsonst ausgespritzt.

Die Sendschreiben, die Matisen erhielt, atmeten eine noch höhere Wonne, nachdem die Reisenden italienischen Boden betreten hatten. Einem langen Brief Mathildens, einem Hymnus auf Florenz, hatte Staufen die Worte hinzugefügt: »Schade, daß du ihre Begeisterung nicht sehen kannst. Es ist ein schöner Anblick. Es verjüngt mich und versetzt unseren Johannes, den Porphyrmenschen, in ein weichmütiges Entzücken, das ihm gar drollig steht.«

Eine Weile noch ging es in dem frohlockenden Tone fort, dann stellte eine kleine Reaktion sich ein. Mathilde hatte einen Fieberanfall gehabt. Sie behauptete zwar, wiederhergestellt zu sein, und wünschte die Reise fortzusetzen. Staufen fand es aber geraten, mit ihr heimzukehren. Philippi blieb zurück und gedachte den Rest der Ferienzeit zum Besuch einiger Städte Oberitaliens zu benutzen.

Auf dem Bahnhofe wurde das Ehepaar von Matisen erwartet. Er erschrak über das Aussehen der Frau Professor, war sehr gerührt und sehr widerwärtig und erging sich in Ausfällen gegen die moderne Reisewut.

Mathilde gab ihm gute Worte; sie versicherte ihn, daß sie sich jetzt schon wohler fühle, und versprach ihm, in drei Tagen ganz gesund zu sein.

Es war das einzige Versprechen ihres Lebens, das sie gegeben hatte und nicht hielt.

Statt einer Besserung trat bald eine beängstigende Verschlimmerung ein. Fast jede Stunde, die verging, bedeutete einen Fortschritt des unerbittlichen Leidens. Hoffnung auf Hoffnung, an die man sich noch geklammert hatte, schwand. Der furchtbare Morgen brach an, dem für die Kranke kein Abend mehr folgen sollte. – Gestern noch hatte sie nach ihrem geistlichen Ratgeber verlangt, und als der alte Mann aus dem Sterbezimmer getreten, war er auf Staufen zugegangen, Tränen in den Augen, und hatte zu ihm gesagt: »Eine engelreine Seele geht hinüber. Sie verlieren viel.«

Und die beiden Männer, der Gläubige und der Freidenker, so verschieden in ihren Anschauungen, Überzeugungen, in ihrem Bildungsgrade, hatten einander die Hände gedrückt in einem brüderlich einigenden Gefühl.

Seit vierundzwanzig Stunden lag die Kranke in Bewußtlosigkeit. Staufen hatte die Wärterinnen fortgeschickt und auch Matisen, der sich in die Studierstube zurückzog, um den Freund dort zu erwarten, wenn er kommen werde vom Totenbette seiner Frau . . .

Ein Wort des Trostes hatte er gefunden, und Staufen hatte zustimmend dazu genickt: »Du besaßest doch einmal, was so köstlich ist.«

Wohl! er hatte es besessen und war sich seines Reichtums immer bewußt gewesen. – Ein Dankgefühl vermochte ihm noch jetzt in seinem unnennbaren Schmerze die Seele zu durchlichten. Nun blieb er allein, wollte allein die letzten Atemzüge seines Weibes bewachen, allein Zeuge der letzten Regungen dieses Lebens sein, das so völlig in dem seinen aufgegangen war. Er wollte auch vor aller Augen die Ausbrüche seines Schmerzes verbergen. Er schämte sich, daß er, sonst nicht gewöhnt, Rechenschaft zu fordern von den Mächten, die Glück oder Unglück über uns verhängen, die törichte Frage nicht unterdrücken konnte: Warum? . . . Warum wurde sie mir geschenkt, da sie mir doch genommen werden soll? Mir geschenkt, klein und hilflos, als ein Kind, das ich hegte, pflegte und erzog ohne Ahnung, daß es für mich geschah? Warum mußte das holde Wunder sich vollziehen und sie sich mir zuneigen und mein werden und mir angehören mit jedem Pulsschlag, jedem Gedanken, um nun zu scheiden ohne Gruß und Wort, fremder als fremd?

Sie atmete beklommen, ihre Hände glitten unruhig über die Decke. Er wischte ihr den Schweiß von der Stirn und sprach leise und beschwörend ihren geliebten Namen. Vergeblich, sie hörte ihn nicht. Noch war sie da, lebte noch, und es gab für ihn keine Brücke mehr zu ihrem Verständnis. Noch war sie da, die Seine – und nicht mehr sein, und er, der sie durch das Leben geführt hatte, konnte ihr mit all seiner Liebe nicht die geringste Labe bieten auf ihrem letzten Weg.

Die Tür ins Nebenzimmer stand offen. Langsame, ungleiche Schritte wie die eines Wankenden wurden hörbar. Staufen erhob sich, wendete sich. Johannes Philippi erschien auf der Schwelle – verstört, die Züge schmerzdurchwühlt.

»Jetzt – in diesem Augenblick erfahre ich es«, stammelte er. Der starke Mensch zitterte. Völlig verloren und fassungslos ging er an dem Professor vorbei zum Sterbelager hin. Ein furchtbares Stöhnen entrang sich ihm, und er fiel auf den Sessel am Bette nieder. Staufen war ans Fußende getreten und sah die Schultern seines Jüngers zucken und beben; er schluchzte, schluchzte! beugte sich und berührte zagend eine der feinen, suchenden Hände auf der Decke. Ungewollt, unbewußt schmiegte sie sich in seine große Rechte. Mathilde öffnete die Augen nicht, aber ihre Lippen flüsterten: »Johannes – Lieber.«

Und er, überwältigt, vergaß alles, was nicht er war und was nicht sie war, und aus seiner Brust brach es hervor, unbezwinglich, unwiderstehlich: »Vielgeliebte!«

Es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß ein unartikulierter Laut des Entsetzens dicht neben ihm ausgestoßen wurde, daß das Bett plötzlich wie unter einem heftigen Anprall schütterte. Ein tiefes Schweigen, eine lastende Stille – dann sprach die Kranke mit einer armen Stimme, aus der der Klang schon weggestorben war: »Ich habe mich gesehnt, und mir war bang.«

»Wovor, Mathilde? . . . Wovor, teuerste Frau?«

»Vor den Träumen – ich träume – und träumen ist so schwer.«

»Nicht träumen also, wach sein.«

Sie seufzte tief auf: »Ich geh ins andere Leben, wo es schön ist, Johannes . . .« und in der Versicherung verbarg sich ein Zweifel, der innigst nach Erlösung rang.

»Wo es schön ist«, wiederholte Johannes dumpf.

»Und wo mein Kind auf mich wartet, mein vorangegangenes . . . und wohin mir folgen wird, der mich am meisten geliebt hat . . .« Ihre Rede wurde kaum vernehmbar, schwach und hastig flossen die Laute ineinander, dann kamen verständliche Worte: »Er glaubt nicht daran, er hat es mir nie gesagt, aber das errät man . . . Glauben Sie daran? . . . Oh, Johannes!« setzte sie mit ergreifendem Flehen hinzu, »ich bitte Sie: Glauben Sie daran!«

»Ich glaube daran . . .«

»Sie glauben daran . . . und wie wird es sein in dem anderen Leben? . . . das sagen Sie mir . . . Wie, glauben Sie, wird es sein? . . . Sagen Sie mir, sagen Sie mir, Johannes . . .«

Nun raffte er alle Seelenstärke zusammen und redete zu der Sterbenden, wie es ihr wohltat. Wie zu einem scheuen Kinde redete er zu ihr, ermutigend und verheißend: »Himmlisch wird es sein. Es wird das Böse nicht geben und nicht das Häßliche . . .«

»Nicht das Häßliche«, sagte sie ihm nach.

»Aus allen Augen wird Güte leuchten und ein stiller seliger Frieden.«

»Seliger Frieden.« Der Schatten eines Lächelns glitt um ihren Mund, es war, als ob ein verdüsternder Schleier ihr vom Angesicht gezogen würde. »Wie gut ist der Frieden! . . . Sprechen Sie, Johannes.«

»Von der Welt voll Schönheit und Frieden«, sagte er, mühsam nach Worten suchend. »Wir Armen haben keinen Ausdruck, ihre Herrlichkeit zu schildern. Wir können diese Welt nicht beschreiben und nicht den Duft und Schimmer ihrer Täler und die Farbenpracht ihrer Gärten und . . .«

»Nicht beschreiben.«

»Nur mit Entzücken fühlen: du bist schön. Mir schwillt das Herz bei deinem Anblick. Ich trinke das Licht, das über dir leuchtet, die ätherreine Luft, die dich durchweht . . .«

»Ja, ja. Erzählen Sie, Johannes.«

»Von dem Wunderlande. – An seinem schimmernden Horizont gleiten in sanften Linien die Berge wie hinschmelzende Melodien. Hehre Pinien wiegen ihre lebendigen Kuppeln wohlig und leise. In holder Majestät breitet sich der gesegnete Boden, wellen ewig grünende Hügel. Und Türme – steingewordene Künstlerträume – ragen und dunkle Burgen und weiße Paläste, von Unsterblichen für Unsterbliche gebaut.«

»Fiesole«, sprach sie mit einer müden Freudigkeit, die ihn außer Fassung brachte.

»Fiesole – wissen Sie noch? Welke Blätter raschelten zu unseren Füßen, und drüben lag San Miniato im Frühlingssonnenschein . . .«

»Ja –« Es war wie gehaucht und ihr Ton nur ein Lispeln. »Der Himmel glühte . . . da legte Ihnen die Sonne einen roten Kuß auf die Stirn . . . da habe ich Ihre Gedanken gesehen . . .«

»Auch gesehen«, brach er aus, »daß Sie der Inbegriff aller meiner Gedanken waren? . . . Ja, Mathilde? Auch das gesehen? geahnt?«

Sie öffnete die Augen. Ihr Blick war erloschen, aber er antwortete ihm noch. Ohne Todeskampf ging sie hinüber.

Er schrie auf. Er wollte sich über die Leiche stürzen. Da schlug ein Zuruf an sein Ohr, der ihn erschütterte in allen Pfeilern seiner Kraft. Eben war ihm gewesen, als könne es für ihn nichts Furchtbares mehr geben – nun überkam es ihn: das Furchtbarste erlebst du jetzt. Er trat zurück, er stand vor dem, der fragen durfte: Welches Recht hast du auf diesen Schmerz?

Johannes stürzte auf seine Knie, er rang die Hände. »Herr Professor«, keuchte er, »da bin ich . . . treten Sie auf mich!«

Staufen war bleich und starr. Ein greisenhafter Zug furchte sein Angesicht, aber auf diesem Angesicht leuchtete etwas über alles menschliche Leiden, über alle menschliche Leidenschaft Erhabenes. »Steh auf«, sprach er zu dem Jünger zu seinen Füßen, ohne den Blick von der Lieblichen zu wenden, die so sanft entschlafen war. »Steh auf! Ich beneide dich, du hast der Vielgeliebten das Sterben süß gemacht.«

Johannes stöhnte. Er schleppte sich näher und umfing seines Meisters Knie. Und zitternd legte Staufens kalte Hand sich auf seinen Scheitel.

 


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