Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Ein Original

Wenn mit Recht behauptet wird, daß es keine Originale mehr gibt, dann können alle, die Herrn Gabriel Teufenberg begegnet sind, sich rühmen, etwas gesehen zu haben, das es nicht gibt.

Seine äußere Erscheinung flößt weder Interesse noch Abneigung ein. Er ist zwei Meter hoch, entsprechend breit, hat den Teint eines rosigen, wohlgenährten Kindes und ein großes Gesicht mit kleinen Zügen, feiner, schlanker Nase, schön geschnittenem Mund, über dem ein dünner, fast weißer Schnurrbart wie Seide schimmert. Auch seine Brauen und Wimpern sind fast weiß, die Augen rund und blau und drücken gar nichts aus.

Ach, was für kalte stumme Augen hat mein Sohn, dachte seine Mutter, sooft sie ihn ansah, noch kältere als sein verstorbener Vater!

Sie selbst hatte warme, braune und war trotz ihrer sechsundvierzig Jahre noch immer eine hübsche, anmutige Frau. Sie hatte in ihrer Ehe mit einem schwerlebigen und ihr geistig nicht ebenbürtigen Mann kein Glück gefunden, war viel umworben und gefeiert worden und dennoch von jeder üblen Nachrede verschont geblieben. Die Leitung seines Gutes, die Verwaltung seines Vermögens hatte ihr indolenter Gatte ihr überlassen, und ihr Sohn folgte diesem Beispiel. Er hätte nichts Klügeres tun können; seine Mutter regierte gern und erfolgreich und übte nebenbei in der Stadt und auf dem Lande die liebenswürdigste Gastfreundschaft aus. Eine Zierde ihres Hauses bildeten ihre drei jungen verwaisten Nichten, von denen ihr jede als Schwiegertochter willkommen gewesen wäre. Aber Gabriel schenkte seinen Kusinen nicht mehr Aufmerksamkeit, als Wachspuppen ihm eingeflößt hätten, das heißt unbewegliche, denn bewegliche würden sofort sein lebhaftes Interesse erweckt haben. Er hatte eine Liebhaberei für alles Mechanische, für kleine und große Maschinen. Als Kind verfertigte er Pumpen, Mühlen und Paternosterwerke aus Zuckerpapier und Zinn, und sie rührten sich wirklich, wenn man an einem Fädchen zog oder eine Kurbel drehte. Später dann hatte er weniger Glück; die großen landwirtschaftlichen Maschinen, an denen er allerlei Verbesserungen anbrachte, rührten sich nicht.

Sein Leben floß ruhig dahin. Er ging früh schlafen und stand spät auf, brauchte zwei Stunden zu seiner Toilette, aß viel und langsam und ohne das geringste kulinarische Verständnis. Wenn man ihn gefragt hätte: Was hast du lieber, Kartoffeln oder Perigord-Trüffeln? würde er geantwortet haben: Das ist mir gleich. Im Winter in der Stadt brachte er seine Abende im Theater zu oder im Klub bei einer Partie Whist, und was sie im Theater aufführten oder ob er im Spiele gewann oder verlor, war ihm gleich. Auf dem Lande verlebte er fast den ganzen Tag in der Werkstätte, die er sich im Schlosse eingerichtet hatte. »Die Vulkanei« wurde sie von den Damen genannt. Dort mußten sie ihn abholen zu jedem Ausfluge ins Freie, den sie in seiner Gesellschaft unternehmen wollten; und auf dem schönsten Spaziergang oder Spazierritt, umgeben von drei holden, lebensfrohen Mädchen, dachte er über Maschinen nach.

»Schau, Gabriel«, sagte einmal seine Mutter zu ihm, »du solltest eine deiner Kusinen heiraten.«

»Recht gern«, antwortete er.

Da freute sie sich. »Darf ich das einer von ihnen sagen?«

»O ja.«

»Und welcher?«

»Das ist mir gleich.«

Nun war es wieder vorbei mit ihrer Freude.

Eine der hübschen Kusinen nach der andern heiratete aus dem Hause fort, und bald nachdem Teufenberg die letzte als Brautführer zum Altar geleitet hatte, verlor er seine Mutter.

Sie hatte Kranke gepflegt während einer Epidemie, die im Dorfe herrschte, war selbst von dem Übel ergriffen worden und ihm in wenigen Tagen erlegen. Gabriel weinte nicht, klagte nicht, niemand konnte ihm die geringste Traurigkeit anmerken, und doch suchte jeder den einsam Zurückgebliebenen zu trösten, ihm Mut zuzusprechen. Daß er jetzt heiraten müsse, darüber waren alle seine Bekannten einig, und er sah das ein, und wenn sie sagten, es handle sich nur darum, die richtige Wahl zu treffen, erwiderte er: »Freilich.« Das Ende war, daß er nicht wählte, sondern gewählt wurde von einer allerliebsten jungen Witwe, einer bildschönen Frau mit schwarzen Augen, schwarzen Haaren, so feingliederig und schlank, wie er kräftig gezimmert und wuchtig war. Sie verliebte sich nicht in ihn, aber sie war ihm gut, schätzte seine Friedfertigkeit, sein feines, würdevolles Benehmen und seine moralische Lauterkeit, sie behauptete steif und fest, daß er durchaus nicht der gleichgültige und phlegmatische Mensch sei, für den er galt. Ein warmes Gefühl schlummere in ihm, das nur noch nicht geweckt worden sei.

Ihre Freundinnen lachten sie aus: »Meinst du die Weckerin zu sein? Vorläufig merkt man noch nichts. Er scheint derselbe, der er immer war.«

Sie ließ sich nicht irremachen. »Wartet«, sagte sie, »es wird schon kommen.«

Cäcilie Teufenberg sah der Geburt ihres ersten Kindes entgegen und erhoffte sehnsüchtig einen Sohn. »Du doch auch, Gabriel, sei aufrichtig«, sprach sie zu ihrem Manne. »Einen Sohn oder eine Tochter, was wünschest du dir?«

»Es ist mir gleich«, antwortete er, und sie glaubte ihm nicht, sie erwiderte: »Du Guter, das sagst du aus Zartgefühl, damit ich mich nicht kränke, wenn ich dir nur eine Tochter bringe.«

Sie brachte ihm einen Sohn und übers Jahr einen zweiten, und diese Kinder wuchsen herrlich heran. Sie hatten das brave Herz, den hellen Verstand, die schönen Augen und Züge ihrer Mutter und die Prachtgestalt des Vaters. Der ältere war zehn, der jüngere neun Jahre alt, als in der Familie Teufenberg abermals ein freudiges Ereignis eintrat. Der Hausvater war seit einigen Wochen abwesend. Ein Geschäftsfreund in England, der Besitzer einer großen Maschinenfabrik, hatte ihn eingeladen, eine neu konstruierte Alliancemaschine an Ort und Stelle in Wirksamkeit zu sehen, und er war der Einladung mit Vergnügen gefolgt. Ein Telegramm, das die Nachricht brachte, ihm sei eine Tochter geboren, und Mutter und Kind befänden sich wohl, traf ihn vor dem Modell eines Laufkrans, das seine hohe Bewunderung erregte. Er konnte sich von dem fesselnden Anblick nicht gleich losreißen und ersuchte seinen Geschäfts- und Gastfreund, der Wöchnerin zu telegraphieren, daß ihr Gatte sie beglückwünsche.

Einen Monat blieb er noch in England und kehrte dann zurück, gefolgt von einer Wagenladung von Geschenken für die Seinen: Bicycles, Tandems, Telephons und Graphophone, Schreib- und Nähmaschinen und einem köstlichen Naphthaschiff. Die für ihn wichtigste Erwerbung aber war ein Transformator. Wohlverwahrt, mit Beobachtung jeder erdenklichen Vorsichtsmaßregel, wurde dieser neue, gefährliche Hausgenosse in der Werkstatt aufgestellt, wo er, durch das Getriebe einer unfern gelegenen Mühle gespeist, die Kraftquelle sämtlicher Maschinen werden sollte.

Gabriel hatte daheim alles in bester Ordnung gefunden, seine Frau und seine Söhne in blühender Gesundheit. Nach dem neuen Ankömmling, der Tochter, fragte er nicht, und Frau Cäcilie führte ihren Vorsatz aus, keine Erwähnung von der Kleinen zu tun, solange ihr Vater sie ignorierte. Die zwei Jünglinge hielten aber das Schweigen über ihre Schwester nicht aus. Nach Tische nahm jeder einen Arm des Papa, und sie geleiteten ihn ins Kinderzimmer. Frau Teufenberg folgte. Sie traten in das geräumige, hohe, helle Gemach, an dessen Tür eine stattliche Wartefrau und eine noch stattlichere Amme sie empfingen. Im Halbdunkel des tiefen Alkoven erblickte man eine rosige Wolke, die auf einem vergoldeten Gestelle zu schweben schien. Bei näherer Betrachtung erwies sich die Wolke als eine geschmackvolle Zusammenstellung von Schleiern, Schleifen, duftigen Stoffen. Mittendrin lag etwas Winziges, ein Miniaturmenschengebilde mit kugelrundem Gesichtchen, großen blauen Augen, die einen ansahen so merkwürdig fest und ruhig, und mit einem feinen Näschen und einem halb geöffneten Mund, dem Munde eines Cherubs, der eben anfangen will zu singen. Und ein Paar zarte Hände erhoben sich und fochten ganz unvernünftig und sinnlos in der Luft herum.

Teufenberg betrachtete das kleine Ding so aufmerksam, daß er die komplizierteste Maschine nicht aufmerksamer hätte betrachten können, und legte langsam und vorsichtig den Zeigefinger in eines der kleinen Händchen, das sich sogleich an ihn anklammerte. Und in diesem Moment ging eine Veränderung mit Gabriel Teufenberg vor. Seine Stimme klang weich, wie sie nie geklungen hatte, als er jetzt plötzlich sagte: »Ein Mädchen, sieh da, ein Mädchen.«

»Deine Tochter Gabriele«, sprach seine Frau, ganz erstaunt über den Eindruck, den der Anblick des Kindes auf ihn machte.

Von dem Händchen, das sich noch immer an den Finger des Vaters klammerte, ging ein Fluidum aus, eine Kraft, etwas Belebendes, Erweckendes, und durchströmte den ganzen großen, breiten Menschen vom Wirbel bis zur Sohle. Wie wenn eine Flamme sich in seinem Innern entzündet hätte und allmählich eine milde Wärme durch seine Adern triebe, so war es. Er beugte sich, küßte die Hände und das Gesicht des Kindleins und wendete sich dann zu seiner Frau.

»Ich danke dir, daß du mir eine so liebe Tochter geschenkt hast«, sagte er. Sein Blick fiel auf seine Söhne und blieb lange mit freudigem Stolz auf ihnen haften: »Und zwei so liebe Jungen«, setzte er hinzu. Er richtete auch freundliche Worte an die Wartefrau und an die Amme, kehrte wieder um und vertiefte sich von neuem in die Betrachtung seiner Tochter, die jetzt eingeschlafen war.

Nun kamen Tage, an denen er seine Werkstätte nicht betrat. Die Freude an der Entwicklung des kleinen Lebens, das neben ihm emporsproßte, erfüllte ihn, schmolz alles Starre aus seinem Wesen hinweg und machte seine stumpfen Augen sehend für den Reichtum an Glück, den er längst besaß, ohne von ihm zu wissen.

Ein guter und bequemer Mann war er immer, jetzt wird er gar noch aufmerksam und zärtlich, dachte seine Frau und begann wirklich zu fürchten, daß sie sich in ihn noch verlieben könnte nach zwölfjähriger Ehe. Außer dieser Sorge hatte sie eine zweite und schlimmere. Es schien, daß die günstige Wandlung im Hause Teufenberg durch ihre Urheberin selbst in Frage gestellt werden sollte. Dieses Persönchen offenbarte zu einer Zeit, in der andere Kinder gegen alles, was lernen und ernstlich nachdenken heißt, einen großen Abscheu verspüren, einen erstaunlichen Wissensdrang und einen entschiedenen Forschergeist. Vor allem auf dem Gebiete der Mechanik. Früh schon gab sie Proben einer seltenen Geschicklichkeit, verfertigte wie einst ihr Vater kleine Pumpen, Mühlen und Paternosterwerke. Aber viel feiner und zierlicher waren sie ausgeführt und funktionierten viel präziser. Sie höhlte die hölzernen Tiere ihrer Arche aus und die Familie des Noah und brachte in dem leeren Raume Rädchen an und primitive Uhrwerke, und sie mußten sich selbständig bewegen.

Die Werkstätte, das war ihr der schönste und liebste Aufenthalt. Aus dem Walde, aus dem Garten verlangte sie in die Werkstatt zu den Maschinen und spielte statt mit Puppen mit Modellen von Lokomobilen, Pumpwerken und Göpeln und erlangte eine bewunderungswürdige Fertigkeit, mit ihnen umzugehen. Versagte einmal das eine oder das andere den Dienst, und bemühte Teufenberg sich die längste Zeit vergeblich, den Fehler zu finden, sie entdeckte ihn gleich und ruhte nicht, bevor ihm abgeholfen war. Eine Fülle von Ideen drängte sich in ihrem erfindungsreichen Kopfe, und einige wurden von Fachleuten genial gefunden und sogar ausgeführt.

Ihr Vater ging einher im Purpur des Stolzes auf sein Wunderkind, ihre Mutter kränkte sich über die Erfolge eines Talents, das für ein Mädchen doch gänzlich ungehörig war.

»Meine Tochter – der Maschinist«, sagte sie ganz betrübt, wenn Gabriele aus der Werkstatt kam mit schauderhaft zugerichteten Händen, Rußstreifen im lieblichen, vor Eifer glühenden Gesicht, das Kleid von oben bis unten mit Öl betropft.

»Wart! Du bekommst kein neues Kleid mehr, nur noch ein Schurzfell!« drohte sie. »Wart du . . . und wenn du mir den Papa zurückführst in die Krallen des Maschinenteufels, dann sollst du was erleben!« und sie putzte an ihr und kleidete sie um und herzte und küßte sie und dachte: Daß du nur da bist, daß ich dich nur habe, Glückspenderin, Kind, das seinem Vater das Leben gebracht hat.

Es hatte auch keinen Anschein, daß er es wieder verlieren sollte. Er war nun einmal ein warmer, lieber Mensch und guter Hausvater geworden und geheilt von seiner eigenen hoffnungslosen Leidenschaft fürs Maschinenwesen durch die Freude an den Erfolgen seines Töchterleins. Sie herrschte wie eine Königin in dem Reiche, in dem er es nie auf eine höhere Stufe bringen konnte. Sein ganzer Ehrgeiz war darauf gestellt, ihr als Handlanger zu dienen bei der Ausführung ihrer kunstvollen Werke, von denen jedes neue sich immer erstaunlicher, immer glänzender bewährte.

Der Ruf der jungen Erfinderin fing an die Grenzen ihres Vaterlandes zu überschreiten. Sie wurde eingeladen, das Modell eines elektromagnetischen Motors, das in England Aufmerksamkeit erregt hatte, zu einer Gewerbeausstellung nach London zu schicken. Am nächsten Tage sollte es verpackt werden. Gabriele schmeichelte ihren Eltern das Versprechen ab, noch in diesem Frühling mit ihr nach dem Gelobten Lande der Maschinen zu reisen. Vor dem Schlafengehen lachte, scherzte und tollte sie dann wie ein Kind, das sie trotz ihrer Klugheit und ihrer fünfzehn Jahre geblieben war.

Beim Morgengrauen erwachte sie plötzlich mit klopfendem Herzen, in Schweiß gebadet. Ein böser Traum hatte ihr ihren Motor gezeigt, unbeweglich, jedem Versuch, ihn in Tätigkeit zu bringen, trotzend. Er schien mit eigenem Willen begabt, spottete ihres angstvoll beklommenen Bemühens, stierte sie an wie mit Augen . . .

Schauder durchrieselten sie, eine Bangigkeit, die nicht weichen wollte, hielt sie in ihrem Banne. Unwiderstehlich ergriff sie der Wunsch, sich zu überzeugen, daß ihre Arbeit, ihr Gedanke lebte!

Sie stand auf, schlüpfte in ihre weichen Pantoffeln, hüllte sich in ihren Bademantel und schlich sachte, um ihre Eltern nicht zu wecken, aus dem Zimmer. Unhörbar glitt sie über den teppichbelegten Gang, lief die Treppe hinunter, zur dritten Tür links, und trat in die Werkstätte ein.

Die Fenster waren verhangen, unheimliches Halbdunkel herrschte. Das junge Mädchen, sonst die Gelassenheit und Vorsicht selbst, wurde vom Fieber hastiger Aufregung geschüttelt. Sie möchte nicht entdeckt werden bei ihrem Tun, sich nicht den Vorwurf der Eltern zuziehen. Rasch nur noch den Strom einschalten, ihr Werk sich regen sehen, den Atem seiner Kraft vernehmen und das sammetweiche Gleiten seiner eisernen Räder.

Mit ausgestrecktem Arm kommt sie heran zu dem Spender der Kraft . . . und sie, deren Finger Augen zu haben schienen, die kaum je eine geringe Übereilung begangen hat, vergreift sich, berührt die falsche, tötende Leitung . . .

 

Frau Teufenberg war eine Frühaufsteherin und ging zeitlich Tag für Tag ins anstoßende Zimmer zu ihrer Tochter, setzte sich an ihr Bett, sah sie an und wartete auf ihr Erwachen. Wenn Gabriele die Augen aufschlug, begegnete ihr erster Blick dem der Mutter, und das erste Wort, das sie an jedem Morgen sprach und hörte, war ein Wort der Liebe.

Als Cäcilie heute eintrat, fand sie das Bett leer und rief ins Schlafzimmer zurück: »Jesus, schon fort; denk nur, Gabriel, sie ist schon aufgestanden!«

»Sie ist gewiß schon in der Werkstatt. Ich will gleich nach«, erwiderte er, kleidete sich an und eilte fort.

Es war ein trüber Märzmorgen. Als Teufenberg auf den Treppenabsatz trat, sah er unten auf dem Gange die Hausleute wie Schatten hin und her huschen mit allen Zeichen des Entsetzens, schluchzend und händeringend durch die offene Tür der Werkstätte ein und aus gehen. »Der Herr! Der Herr!« flüsterten sie, als sie ihn erblickten.

Ein Schauder ergriff ihn, eine tödliche Angst. – Was ist denen? Was sehen sie dort Gräßliches? Eines Blitzes Dauer steht er, stürmt dann über die Stufen herunter dem Eingange der Werkstatt zu.

»Nicht hinein, um Gottes willen!« rufen sie und stellen sich ihm entgegen.

Er schiebt sie fort, tritt ein, die Leute folgen in schüchterner Entfernung.

In dem großen Raume mit den rauchgeschwärzten Wänden ist alles regungslos und still, was sonst pustet und wirbelt und sich dreht und schwingt auf Geheiß der kleinen Meisterin. Sie selbst ist auch regungslos und still, sie liegt tot zu Füßen ihres Werkes.

Teufenberg starrt in ratlosem Entsetzen zu der weißen leblosen Gestalt nieder. Plötzlich, mit einem Schrei der Verzweiflung gellt es von seinen Lippen: »Gabriele! . . . Kind! . . .«

Aber das Kind antwortet ihm nicht.

Niemand durfte sie berühren. Er trug sie hinauf, er bettete sie auf ihr Lager und zwei Tage später in den Sarg und wich nicht von ihm, bis er gehoben wurde, und verwandte keinen Blick von ihm beim feierlichen Begräbnis. Er führte seine Frau am Arme und hatte kein Bewußtsein ihrer Nähe und keines von der seiner Söhne, die ihr Beruf dem Hause längst fernehielt und die herbeigeeilt waren auf den Wunsch ihrer Mutter.

Der Segen des Priesters war gesprochen, die Trauerchöre verhallten; von Weihrauchwolken umwallt, senkte der Sarg sich in die Tiefe. Teufenberg sah ihm nach, immer wie gebannt. Man reichte ihm die Schaufel mit den ersten Schollen, die dem Erdenkind in die Grube folgen sollten, und sachte ließ er sie hinuntergleiten, und seine Frau dachte: Du Armer, da rollt dein Leben mit.

Sie hatte sich tapfer gehalten die ganze Zeit hindurch; bei der Rückkehr ins Haus, dessen Seele entwichen war, überwältigte sie der Schmerz, und sie sprach, einen Schatten von Vorwurf im Tone: »Gabriel, ich habe auch mein Kind verloren«, und ging auf ihn zu und wollte ihm die Hand reichen. Er wich aus. Ihre Söhne nahmen sie in ihre Arme, und der ältere der beiden fragte: »Darf ich bei dir bleiben? Ich bleibe gern. Soll ich gehen oder bleiben, Vater?«

Teufenberg zuckte die Achseln. Seine Augen hatten wieder ihren alten kalten Glanz.

»Was soll ich tun, Vater«, fragte der Sohn noch einmal, »gehen oder bleiben?«

»Das ist mir gleich.«

Er blüht in Gesundheit, er ißt und trinkt und kleidet sich sorgfältig, er liest Zeitungen und manchmal auch ein Buch, er geht mit seiner Frau spazieren oder ins Theater oder in ein Konzert, aber einen Eindruck empfängt er nicht. Teilnahme flößt ihm nichts ein. Die Flamme, die sein Inneres erwärmte und erhellte, ist erloschen.

Ihm ist wieder alles gleich.

 


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