Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Vielleicht

Vor fünf Jahren hatte ich zum letztenmal den Besuch meines Täuflings, des jungen Doktors der Philosophie Georg Baltin. Mit seinem verstorbenen Vater war ich befreundet gewesen von der Zeit an, in der ich Medizin studierte an der Universität Czernowitz und er Lehrling war in einem Kaufhause, dem er später als Chef vorstehen sollte.

Das Schicksal fügte es, daß wir uns beide in dasselbe junge Mädchen, in die schöne Rektorstochter, verliebten. Er blieb Sieger und unsere gute Freundschaft ungetrübt. Zu guter Freundschaft kühlte sich auch allmählich meine heiße Jugendliebe ab. Ich war, um den Prozeß zu beschleunigen, verreist, hatte mir ein bißchen die Welt angesehen, große Städte besucht, große Kollegen kennengelernt. Heimgekehrt, siedelte ich mich nicht allzuweit von Czernowitz an, in der kleinen Stadt, wo ich geboren bin. Zu tun bekam ich bald mehr als genug, übte meine Praxis in der Stadt und auf dem Lande aus, war oft zu Gast bei meinem Freunde und konnte mich unbefangen an seinem Glücke freuen. –

So vergingen zwanzig Jahre. Dann starb die Frau, und der Mann folgte ihr bald nach.

Nun war der einzige Sohn meiner liebsten Menschen verwaist, und es wäre selbstverständlich gewesen, daß wir zwei uns recht herzlich aneinandergeschlossen hätten. Aber er fühlte ebensowenig einen Zug zu mir wie ich einen zu ihm. Wir hatten uns rein nichts zu sagen, wenn er mich alljährlich einmal pflichtschuldigst besuchen kam. Von Kind auf war ihm etwas Apartes eigen; nicht angenommen, nicht affektiert – davon keine Spur; er war auf das natürlichste nicht natürlich, wußte nichts von seinen Absonderlichkeiten. Ernst bis zur Lächerlichkeit für seine jungen Jahre, bekam er, ohne für andere bemerkbaren Grund, plötzlich Anfälle toller Lustigkeit, konnte über einen armseligen Witz, eine abgedroschene Anekdote lachen, daß er sich bog, daß seine überschlanke Gestalt Schlangenwindungen bildete. Studiert hatte er unheimlich gut für einen Burschen, dem seine Eltern keinen Vorwurf gemacht hätten, wenn er auch bei jeder Prüfung durchgefallen wäre.

In der Schule und auf der Universität wurde er gehänselt wegen seiner langen Figur, seines Ungeschicks bei allen körperlichen Übungen und, nicht zum mindesten, um seiner gedankenlosen Großmut willen, war aber, im ganzen genommen, beliebt. Ein Problem, das freilich blieb er, büffelte nie und wußte immer. Da hieß es wohl, halb im Scherz und halb im Ernst: »Der hat's gut. Die andern müssen studieren, er braucht sich nur zu erinnern.« Trotz seiner außerordentlichen Begabung und einer Schärfe des Verstandes, die mich bei dem Knaben beinahe erschreckte und später beim Jüngling geradezu blendete, konnte der Mensch manchmal Fragen stellen, Urteile abgeben, deren ein dummes Knäblein sich hätte schämen müssen.

In seinem Charakter kamen dieselben Unebenheiten zutage. Heute weich wie eine sentimentale Dame, morgen gleichgültig einem großen Unglück gegenüber. Auch seine Eltern hatten unter seinem wechselvollen Leben zu leiden, entschuldigten ihn jedoch, beteten ihn an. »Wie ihr ihn verzieht!« sagte ich, und: »Ach was! – die Verzogenen geraten besser als die Verprügelten«, meinte der Freund; und seine Frau setzte melancholisch hinzu: »Er ist ja unser Einziger.«

Ich aber dachte: Gott tröst euch! Was würdet ihr mit mehreren Exemplaren dieser Art anfangen?

Einmal hatte er sich besonders ungebärdig gegen seine Mutter benommen, kniete jetzt vor ihr und bat nicht um Verzeihung, sondern forderte sie stürmisch.

Sie griff mit beiden Händen in seine braunen buschigen Haare, wiegte seinen Kopf sanft hin und her und fragte: »Hab ich dir schon einmal nicht verziehen?«

Er stand auf, niemand hätte erraten können, ob er gerührt oder beleidigt sei.

Am nächsten Tage hatte er rote Augen, blieb stumm und verschlossen, sah aus wie eine Wetterwolke, die im nächsten Moment platzen kann.

Es ging viel in ihm vor, das ist gewiß, aber vorauszusehen, welchen Eindruck die geringste Veranlassung, ein einziges Wort auf ihn machen konnten, war unmöglich. Seine Eltern verstanden ihn gar nicht, doch erhöhte das nur ihre Bewunderung. Er war ihnen eben »zu hoch«.

Mir wird es ewig unbegreiflich bleiben, wie diese zwei geradlinigen Leute zu dem verschnörkelten Sohne kamen.

Wie mir erzählt wurde, bereitete er allen, die ihn kannten – oder zu kennen glaubten, denn wer kannte ihn? –, die größte Überraschung durch den Eifer, den er als Einjährig-Freiwilliger an den Tag legte. Ließ sich ruhig auslachen und andonnern wegen seiner Unbeholfenheit, erfüllte gern und gewissenhaft die Anforderungen des Tages. Sein Vater glaubte ihn einmal loben zu müssen, er lehnte ab: »Warum denn? Es interessiert mich ja.«

Man wollte von ihm sogar das denkwürdige Wort gehört haben: »Nicht Freiheit braucht der Mensch, der Mensch braucht Zucht.«

Eine Nachwirkung hatte seine Militärzeit nicht auf ihn geübt, er blieb der alte, ewig neue, ewig andre. Im Anfang des Mannesalters soll er eine große Liebe gehabt haben, deren einzige Vertraute seine Mutter war. Sie hat nie mit mir darüber gesprochen.

Das alles war nun lang vorbei und bisher noch nichts aus den glänzenden Hoffnungen geworden, die seine Eltern auf die Zukunft des Sohnes gesetzt hatten.

Seit ihrem Tode verbrachte er, plan- und zwecklos, wie mir schien, seine Zeit auf Reisen, und das ging so fort durch vier Jahre, bis er mich, wie gesagt, vor fünf Jahren zum letztenmal besuchte. Sein Aufenthalt bei mir hatte immer nur ein paar Tage gedauert; dieser wollte nach mehreren Wochen noch kein Ende nehmen. Und ich wäre meinen Gast schon gern losgeworden. Er war mir nie so versonnen vorgekommen, ich wurde nicht leicht Herr meiner Entrüstung über ihn, gab mir freilich nicht allzuviel Mühe, sie zu verbergen. Er wußte, daß sein Bummelleben mir ein Ärgernis war. Was lag ihm daran! Wenn ich fragte: »Georg, wann wirst du dich entschließen, einen Beruf zu ergreifen?« konnte ich ihm keine andere Antwort erpressen als: »Das weiß ich noch nicht. Das muß sich erst machen.«

Was sich machen müsse, blieb im Dunkel.

Ich hatte gerade damals viel zu tun. Scharlachepidemie in der Gegend, viel Kranke, wenig Ärzte. Kam ich am Abend müde heim, verdroß es mich, den Müßiggänger dasitzen zu sehen in meinem Zimmer, auf meinem Schreibtischsessel in seiner Lieblingspositur. Die Füße auf einen hohen Schemel gestemmt, den Kopf zwischen die Hände gepreßt und bis zu den Knien herabgebeugt . . .

»Weißt du, wie du aussiehst?« sagte ich einmal. »Wie eine Heuschrecke, wahrhaftig. Ja, ja, mein Lieber, du bist eine hoffmannische Figur.«

Er nahm das gar nicht übel, richtete sich langsam auf, und über sein blasses slawisches Gesicht glitt ein Lächeln.

Dieses Lächeln habe ich mir gemerkt. Es war ein gar zu beredtes Lächeln, das Bewußtsein einer großen Überlegenheit sprach sich darin aus und eine so merkwürdige gütevolle Nachsicht! Wie ein großmütig Verzeihender streckte er mir die Hand entgegen. Und ich – statt ihm zu sagen: Was fällt dir ein? – ergriff und drückte sie. Weiß heute noch nicht warum.

Wie er seine Tage verlebte, war mir bekannt. Er machte stundenlange Spaziergänge und wußte bei der Rückkehr nie, was für ein Wetter gewesen war. Er saß, in Gedanken vertieft, als Heuschrecke auf meinem Schreibtischsessel oder las in einem der wenigen philosophischen Bücher, die er mitgebracht hatte. Fechners Zend-Avesta befand sich darunter.

Ob er seine Nächte ruhig verschlief, war mir zu fragen nicht eingefallen. Um so mehr fand meine Wirtschafterin, ein böses altes Klatschweib, es nötig, mir darüber einen Floh ins Ohr zu setzen.

»Ja, der Herr Doktor, man möcht's nicht glauben, aber er ist doch auch so einer . . .« Keinem Menschen möchte sie's verraten – oh, dafür stand die Ehre des Hauses ihr zu hoch; aber ich müsse doch wissen, daß der Herr Doktor die Nächte auswärts zubringe und nie vor Morgengrauen . . .

Ich fiel ihr ins Wort, verbat mir weitere Mitteilungen, aber ganz ohne Einfluß auf mich blieb ihr Geschwätz nicht. Völlig Erfundenes hatte die Plaudertasche mir doch wohl kaum erzählen wollen. Was sollte ich denken? – Genügten meinem Gaste seine endlosen Spaziergänge bei Tage nicht? Setzte er sie auch des Nachts fort? Hatte er im Städtchen oder irgendwo in der Umgegend eine Geliebte? – Daß er auf gemeine Abenteuer ausging, daran dachte ich keinen Augenblick. Ich kannte an ihm von jeher einen instinktiven Abscheu gegen alles Gemeine, er war ein im Innersten lauterer Mensch.

So blieb die Sache geheimnisvoll, und zu dem Unbehagen, das seine Anwesenheit mir schuf, kam etwas lästig Rätselhaftes, worüber ich mich nicht entschließen konnte eine Aufklärung von ihm zu verlangen.

Wir befanden uns in der ersten Hälfte des Juli. Auf der Rückkehr von einer meiner Rundfahrten gab es noch ein paar Krankenbesuche im benachbarten Dorfe zu machen. Von dort schickte ich meine arg mitgenommene Equipage nach Hause. Mich verlangte nach einem tüchtigen Marsch in der reinen, kühlen Nachtluft, nachdem ich so viele Stunden im Wagen und am Bette der Patienten sitzen und soviel verbrauchte Luft hatte schnappen müssen.

Die Nacht war traumhaft schön. Dem Mondgesicht fehlte zur vollen Rundung noch ein Stückchen Wange, aber es behauptete sich dennoch glorreich im Sternengefunkel und ergoß schneeig hellen Glanz über die Erde. Ich alter prosaischer Doktor habe den Mondschein so gern, mir ist immer, als bade man in seinem weißen Lichte und wüsche Schmutz und Schuld von Leib und Seele ab.

Mein Weg führte außerhalb des Dorfes am Friedhof vorbei. Er wird sehr gut gehalten. Die Leute widmen ihm große Sorgfalt und streuen meistens ihren Angehörigen mehr Blumen aufs Grab, als sie ihnen auf den Lebensweg gestreut haben.

Zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die sonst immer gewissenhaft verschlossene Gitterpforte des kleinen Gottesackers nur angelehnt war. Was hatte das zu bedeuten? Eine Nachlässigkeit des Totengräbers oder den Besuch irgendeines Liebhabers von armem Gräberschmuck?

Wart du, dachte ich, dir wollen wir auf die Finger schauen, stieß das Tor weiter zurück und trat ein. Sah mich um, sah nichts, das einem menschlichen Wesen geglichen hätte. Der Friedhof lag ganz eben vor mir da in der Umgrenzung seiner Mauer. Wie eine müde hingelagerte Lämmerherde nahmen die schmalen Grabhügel sich im kalten, weißen Lichte aus. Nichts war zu hören als das Gezirpe einiger Grillen, keine Bewegung war zu bemerken außer dem Gleiten schleierhaft durchsichtiger Schatten über den Erdboden, wenn ein eiliges Wölkchen am schimmernden Monde vorüberflog.

Trotzdem machte ich die Runde und sah lange Zeit nichts Auffallendes, bis es mir plötzlich erschien in der denkbar seltsamsten Gestalt. So seltsam, daß ich zuerst an eine Sinnestäuschung glaubte.

Im Grase, dicht an ein Grab angeschmiegt, lag ein Mensch, lag – ich hatte ihn nicht gleich erkannt – Georg, mein Gastfreund.

Er hatte die Mütze in den Nacken geschoben, das Ohr dicht an den Hügel gepreßt und schien in unbeschreiblicher Spannung zu lauschen. Der Mondschein fiel hell auf sein totenblasses bartloses Gesicht und verlieh ihm einen unnatürlich weißen Schimmer. Die Augen waren weit geöffnet, und aus ihnen starrte ein Ausdruck des Grauens und Entsetzens, die schmerzvoll verzogenen Lippen zitterten und zuckten, den langen, hingestreckten Körper durchrieselten leise Schauer vom Wirbel bis zur Sohle.

Ich war im ersten Moment sprachlos, dann rief ich ihn an. Aber erst nachdem ich meinen Ruf mehrmals und immer lauter wiederholt hatte, vernahm er ihn und hob den Kopf. Seiner Brust entstieg ein rasselndes Stöhnen; langsam und noch völlig umwoben setzte er sich auf, stemmte die geballten Fäuste ins Gras und sah zu mir empor mit einem gänzlich leeren Blick.

»Mensch«, sagte ich, »Georg, was tust du da?«

Jetzt erst schien er zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurückgekehrt. Es war für ihn kein erfreulicher Übergang. Langsam erhob er sich und trat finster und grollend an mich heran.

»Was Sie hier wollen? das frage ich«, sprach er in drohendem Tone. »Gott verzeihe Ihnen, Sie wissen nicht, was Sie mir getan haben.«

»So sag es mir, erkläre! Mir muß es ja verrückt vorkommen, daß du da umherliegst im wachen Traum auf dem Friedhof.«

»Verrückt? Ja, ja, so scheint es denen, so muß es denen scheinen, die nicht ahnen, was hier vorgehen kann«, murmelte er kaum hörbar, fuhr in seine Haare mit beiden Händen, die er dann gewaltsam an die Schläfen preßte. »Das Unerhörte, Ungeheuerste.«

Und nun, aufgerichtet zu seiner ganzen Größe, beschrieb er einen Halbkreis mit dem ausgestreckten Arm wie ein Herrscher über ein ihm untertäniges Gebiet. »Jeder, der da liegt, hat ein Geheimnis mit sich in sein Grab genommen. Ein furchtbares, ein harmloses, ein göttlich schönes . . . ein Geheimnis jeder . . . Und mir« – er wiederholte das Wort mit stolzem Selbstgefühl –, »mir ist die Macht gegeben, es ihm abzulauschen.«

Ich hatte ihm betroffen und bestürzt zugehört, konnte nicht anders als glauben, daß er irrsinnig geworden sei. Natürlich verriet ich davon nichts, tat nicht erstaunt, sondern erwiderte, wie wenn ich mit einem vernünftigen Menschen spräche: »Aber Georg, das Geheimnis hat ja doch in den Seelen der Verstorbenen geruht, das haben sie mitgenommen ins andere Leben; das ist nicht hier zurückgeblieben in ihren Gräbern, bei ihrem Staube.«

»O nein, nicht für immer«, versetzte er ruhig und überlegen. »Die Seele vermag jedoch sich einzufinden bei ihrem verfallenen Hause. – Was zieht uns denn so unwiderstehlich zu den Gräbern derer, die wir geliebt haben? Doch nicht ihr Staub, ihr Moder. Einzig nur die Seele, die ihr Grab umschwebt . . . Unsre Sehnsucht hat sie gerufen, die ihre ruft uns . . . Die Sehnsucht meines Geistes nach den Offenbarungen andrer Geister lockt sie zu mir und entreißt den Gräbern ihre verborgensten Geheimnisse. Der Tod hat sein Schweigen gebrochen, alle Pforten der Erkenntnis springen auf.«

Während er so redete und verzückt, bleich und schwärmerisch in die Ferne blickte, glich er den Bildern, die man sich von Druiden und Sehern macht, und war fast schön von innerlich glühender Überzeugungskraft.

Ich atmete nun doch erleichtert auf. Wahnsinnig schien er mir nicht mehr, sondern nur einigermaßen verschroben.

»Sage mir«, fragte ich, »waltest du deines Amtes als Beichtvater der Toten hier zum erstenmal?«

»Zum erstenmal auf einem Dorfe«, antwortete er. – »Oh, ich weiß mehr, als je ein Mensch von Menschen gewußt hat.«

»Komm jetzt mit mir!« war alles, was ich ihm darauf sagte, und er folgte ohne Widerspruch.

Wir verließen den Friedhof, ich schloß die Tür hinter uns, blieb stehen. Mir war ein Gedanke durch den Kopf geflogen, ein schlechter Gedanke, dessen ich mich gleich darauf schämte. »Dein Weg hierher führte über Czernowitz? Du warst zu Hause?«

Er verstand mich sogleich. »Ja, ich habe an den Gräbern meiner Eltern gebetet.« Der Ausdruck seines Gesichtes, sein Blick wurde weich und warm.

Wir legten unsre Wanderung im silberhellen Mondschein schweigend zurück.

Am nächsten Morgen nahm er kurzen Abschied und reiste ab. Ich habe kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Doch denke ich oft an ihn, und es gibt Augenblicke, in denen ich alter, leidlich gescheiter Mann mir einbilde, daß er nicht immer schweigen wird.

Vielleicht bekommen wir heute oder morgen von einem Dichter zu hören, der uns Tiefen der Menschenseele erschließt, in die bisher noch keiner gedrungen ist.

Vielleicht.

 


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