Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Erzählungen und andere Werke
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

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Das tägliche Leben

Am Vorabend der silbernen Hochzeit eines allverehrten Ehepaares, die von einem großen Familien- und Freundeskreise festlich begangen werden sollte, erschoß sich die Frau.

Es war ein ganz unerklärliches Ereignis. Die Selbstmörderin hatte in den glücklichsten Verhältnissen gelebt und war von allen, die in Beziehung zu ihr standen, innigst geliebt und hochgeschätzt worden. Ohne Abschied stahl sie sich hinweg, hinterließ für keinen ihrer Angehörigen eine Zeile, ein aufklärendes Wort, nichts, was auch nur als Andeutung eines Abschiedsgrußes hätte gelten können. Sie mußte in den Tod gegangen sein, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Auf ihrem Schreibtisch lagen die Rechenbücher, in die sie noch die Ausgaben des letzten Tages eingetragen, das Küchengeld für den nächsten Tag eingelegt hatte. Daneben eine vor wenigen Augenblicken eingetroffene Huldigung des Vereins, dessen Präsidentin sie gewesen war, fünfundzwanzig La-France-Rosen in schöner silberner Schale, und ein Paket zum Teil schon eröffneter Telegramme, lauter warme Lobpreisungen und herzlich dargebrachte Glückwünsche.

Und die Frau, der sie galten, war tot in ihrem Sessel am Schreibtisch gefunden worden und neben ihr auf dem Boden der Revolver, mit dem sie sich ins Herz geschossen hatte. Mitten ins Herz. Ein gut berechneter Schuß, den eine ruhige Hand geführt haben mußte.

Der Revolver war ihr Eigentum, ein Geschenk, das ihr militärischer Schwiegersohn ihr im vorigen Jahr darbrachte. Der gute Papa hatte damals ein einsam stehendes Haus in ziemlich unwirtlicher Gebirgsgegend für sich und seine Frau zum Aufenthalt gewählt. Vermutlich hoffte der gelehrte und leidenschaftliche Ornithologe dort einer besonderen Vogelart auf die Spur zu kommen. Wir lachten alle, als der Rittmeister seiner Schwiegermutter vor ihrer Abreise in die Sommerfrische einen Revolver übergab und sagte: »Nimm du ihn mit, du gebrauchst ihn im Fall der Not. Der Papa vergißt loszudrücken, wenn gerade im gefährlichsten Augenblick eine aparte Nachtschwalbe vorüberfliegt.«

Der Rittmeister war der einzige in der ganzen Familie, der sich manchmal ein Scherzwort über den »guten Papa« oder die »heilige Großmutter« erlaubte und sogar seiner kochenden Ungeduld über die beiden ein wenig Luft machte.

Die anderen bewahrten in praesentia ein ironisches Schweigen; in absentia werden sie sich wohl dafür entschädigt haben. Die jungen Leutchen schienen mir danach angetan, so wenig ich sie kannte. Zwischen uns war kein Verkehr; wir tauschten eben nur ein paar Höflichkeitsphrasen, wenn wir einander zufällig da oder dort begegneten.

Ich betrat das Haus, kurz nachdem Frau Gertrud ihre entsetzliche Tat begangen hatte. Es war verabredet, daß ich sie zu einer Sitzung unseres Vereines abholen sollte. Und nun traf ich die Ihren in Schmerz und Grauen versunken über ihren Tod. Der Salon, in den ihre Eltern und ihre Töchter sich begeben hatten, stieß an das Schlafzimmer, wo die Leiche auf das Bett gelegt worden war. Durch die offene Tür drang lautes Schluchzen, Stöhnen und Jammern und manchmal plötzlich ein haarsträubendes, grelles Auflachen. Der unglückliche Gatte überließ sich willenlos seiner Verzweiflung. Er stürzte vor dem Bett in die Knie, sprang auf, rannte händeringend auf und ab, blieb stehen und rief die Tote an: »Trudel! Trudel! . . . Nicht dein Ernst . . . Ein Scherz – aber ein häßlicher . . . Nicht so scherzen . . . Aufwachen . . . Aufstehen!« . . . Und wieder das schreckliche Gelächter und wieder ein Ausbruch der Verzweiflung. Dazwischen das beschwichtigende Zureden des Arztes und der beiden Schwiegersöhne, denen es endlich gelang, den armen Mann von der Leiche fort in seine Gemächer zu führen.

Die ganze Zeit über hatte ich mir Vorwürfe gemacht. Warum verursachte der namenlose Schmerz dieses Unglücklichen mir eine fast unerträgliche Pein, aber kein echtes, warmes Mitgefühl? Woran lag das nur? War ich auf einmal hartherzig geworden oder so egoistisch, daß fremdes Leid mich ungerührt ließ, weil ich selbst tiefes Leid empfand? – Die Hingegangene war mir viel gewesen; sehr eng hatte unsere gemeinsame Tätigkeit, die nach langen Kämpfen bedeutende Erfolge aufweisen konnte, uns verbunden. Ich verlor mehr an ihr, als ich unter dem Eindruck des ersten Schreckens sogleich zu ermessen vermochte. Das jedoch begriff ich schon: Es kommt immer schlimmer, jeden Tag mehr, bei jeder neuen Gelegenheit werde ich ihren Einfluß vermissen, ihre liebevolle, ruhige, immer sichere Führung. Und doch, daß nicht mein Gram, daß nur der der Ihren jetzt zu Worte kommen durfte, verstand sich von selbst. Woher dann meine Unempfindlichkeit für die Verzweiflungsausbrüche ihres bedauernswürdigen Gatten?

Die stumme Trostlosigkeit der Eltern, die freilich ging mir nahe und auch der Schmerz der jüngeren Tochter. Sie kniete ganz gebrochen neben dem Lehnsessel, in den ihr Großvater sich hatte sinken lassen. Der alte Mann drückte den Kopf der Enkelin an seine Brust und streichelte leise ihr tränenfeuchtes Gesicht. Wenn einmal eine Träne aus seinen eigenen Augen darauf niederfiel, wischte er sie sorgsam mit seinem Taschentuche ab, als sollte dieser einzelne schwere Tropfen sich nicht vermischen mit den Kindestränen, die leicht und stromweise flossen. Kein Wort kam über seine Lippen, keine Bitte: Weine nicht. O nein! Er wußte wohl, ausweinen muß sie sich. Ausweinen – die Kunst übt die Jugend allein, mit ihren Tränen versiegt ihr Leid, sie hat es ausgeweint . . . Dann kehrt die Heiterkeit wieder, dann wird man die liebliche blonde Frau wieder lachen hören, sie wird ihrem von der Parade heimkehrenden Mann entgegenjubeln wie Klärchen ihrem Egmont, sie wird mit Entzücken die Fingerspitzen ihres Kindleins in der Wiege küssen und ihm Possen vormachen, die es freilich noch nicht zu würdigen versteht. Sie wird singen und sich ihres unbedeutenden Lebens freuen, als hätte nie ein Schatten den Glanz seiner spiegelklaren und spiegelseichten Einförmigkeit getrübt.

Anders Eleonore, die ältere Schwester. Die verwindet nicht so bald den schweren Schicksalsschlag, den sie heute erfuhr. Was sich in diesen Zügen ausspricht, ist aber nicht kindliche Trauer um die Mutter, sondern eine herbe Anklage, ein bitterer Groll. Ich las ihr die Frage von der Stirn: Wie hast du mir das antun können? Mir, der Frau des zukunftsreichen Staatsmannes, der auf dem Wege zu einer hohen Lebensstellung mich zu ihr emportragen soll! Nun hängt sich bleischwer ein Makel mir an: Du hast mich zur Tochter einer Selbstmörderin gemacht. Gewiß, das waren die Gedanken der schönen Frau mit dem stahlharten Herzen. Sie hatte nur Vorwürfe für ihre Mutter, sie fragte nicht: Was hat dich fortgetrieben von uns? Was hat dir, du Arme, dein Leben unerträglich gemacht? Einer Regung des Mitleids war sie, in diesem Augenblick wenigstens, nicht zugänglich.

Ihr Mann kam und brachte die Versicherung, daß der arme Papa etwas ruhiger sei. Er nahm Platz an ihrer Seite und sprach leise, zärtlich beschwichtigende Worte zu ihr, die sie hinnahm wie ein verschämter Bettler eine viel zu geringe Gnadengabe.

Das Widerspiel zu dieser Enkelin bildete die Großmutter. Die alte Dame saß in einer Ecke des Kanapees, der Schlafzimmertür, die nun geschlossen worden war, gegenüber, und blickte von Zeit zu Zeit schaudernd auf sie hin. Die Greisin war wie in sich selbst versunken, wie zusammengebrochen unter der Last eines unerbittlichen Gerichtes. Ihr wachsbleiches Gesicht drückte einen Schmerz über alle Schmerzen aus. Die Mater dolorosa weinte am Kreuze des Welterlösers, durfte ihn aber im Geiste schauen, auferstanden in Herrlichkeit, zu ewiger Glorie . . . Diese arme Mutter weinte um eine, für die der Heiland umsonst gestorben ist. Sie hielt einen Rosenkranz in der Hand, den sie wohl mechanisch aus ihrer Tasche gezogen hatte, doch betete sie nicht. Ihre Tochter war eine Selbstmörderin und ewig verdammt. Für Verdammte betet man nicht.

Eine Weile stand ich dieser stummen Qual gegenüber – hielt aber den Anblick zuletzt nicht mehr aus; ich näherte mich der alten Frau, setzte mich neben sie, beugte mich und küßte ihre eiskalten Hände. Sie fuhr zusammen, erschrocken über die Berührung meiner heißen Lippen, und wollte mir ihre Hände entziehen. Ich hielt sie fest . . . Ich begann – anfangs wohl nur stammelnd, dann mit immer größerer Sicherheit und recht wie eine gelernte Lügnerin – von einem unglückseligen Zufall zu sprechen . . . Zufall! – eine andere Möglichkeit nahm ich gar nicht an. Er konnte grausamer, als es geschehen war, nicht spielen, an einem Tag, an dem er schwerer traf, nicht eintreten . . . Ich – ja, ich hatte immer gefürchtet, immer gewarnt . . . Der Revolver in der Lade bei unseren Vereinsschriften war mir von jeher unheimlich gewesen. Sie pflegte gar so sorglos mit ihm umzugehen . . . Erst neulich hatte ich ihn selbst hinweggetan, weil er dalag auf dem Schreibtisch, mit der Mündung gegen ihre Brust . . . Gott im Himmel, wie war ich erschrocken! – hatte ganz entsetzt ausgerufen: »Frau Gertrud, wenn man zufällig anstieße an das Ding, und es ginge los . . . Frau Gertrud, das Ding ist doch nicht geladen?« und sie hatte geantwortet: »Nein, ich glaube nicht.«

Die arme Mutter horchte gespannt; ihre aufeinandergepreßten Lippen lösten sich: »Nein, ich glaube nicht«, wiederholte sie leise. »Sie hat es nicht gewußt? . . . Sie hat gesagt: Nein, ich glaube nicht?«

Ich fuhr fort und log und log, erfand allerlei ziemlich wahrscheinliche Details . . . Und es gelang – ich überzeugte – ich erlöste sie . . . Ihre trockenen, peinlich starren Augen wurden feucht, ein Schluchzen hob ihre Brust, sie weinte – sie betete.

 

Der Doktor war, als ich noch an meinem Lügennetze wob, ins Zimmer getreten und hatte mir zugehört. Beim Fortgehen begleitete er mich. Wir schritten eine Weile stumm nebeneinander, dann sagte er in seiner verwünschten Manier, bei den unpassendsten Gelegenheiten einen Scherz anzubringen: »Sie haben heute viel blauen Dunst ausgehen lassen, meine gnädige Frau.«

Worauf ich erwiderte: »Gepriesen sei die Barmherzigkeitslüge!«

Er schüttelte den Kopf und zitierte: »Die Wahrheit, die Wahrheit – und wenn sie uns Verderben wäre!«

»Uns! – und auch den andern? Nein, nein, ich liebe nichts, was denen Verderben bringt. Die Wahrheit im Scharlachmantel und mit dem Richtschwert des Henkers oder die sanfte, wundenheilende Barmherzigkeitslüge – welche von beiden wählen Sie, Herr Doktor?«

– »In meinem Amte freilich . . .« Er war ernst geworden, eine lange Pause trat ein, bevor er wieder begann: »Seit zwanzig Jahren verkehre ich mit dieser Familie und hätte alles eher für möglich gehalten, als daß in ihr ein Selbstmord vorkommen könne. Frau Gertrud hat ihn – darüber besteht für mich kein Zweifel –, vielleicht nach einem plötzlichen Entschluß, aber in voller Geistesgegenwart verübt . . . Warum verübt? – diese ruhige, pflichttreue, scheinbar glückliche Frau! . . . Da steckt irgendwo, es kann nicht anders sein, ein furchtbares Geheimnis.«

Ich erwiderte, daß ich an ein furchtbares Geheimnis nicht glaube; er blieb bei seiner Meinung, und ich widersprach nicht mehr. Wenn die Phantasie eines Verstandesmenschen einmal die Schwingen regt, wer hemmt ihren Flug? Übrigens – meine Lügen hatten Glauben gefunden, die Wahrheit, die ich zu wissen behaupte, wird ihn kaum finden.

 

Ich konnte nicht schlafen in dieser Nacht, ich mußte immer mit großem Leid an Gertrud denken. Bisher hatte die Verleumdung sich nicht an sie herangewagt, nun hat sie Gelegenheit bekommen, ihr Gift auszuspritzen, und wird es tun und wird das Andenken der Frau verunglimpfen, das mir in leuchtender Erinnerung steht. Tausenden zum Heil hat sie gewirkt, ein großartiges Herrschertalent mit liebenswürdiger Weisheit ausgeübt; sie war das Haupt und die Seele unseres Vereins, und wir waren stolz darauf gewesen, mitarbeiten zu dürfen an dem groß angelegten Werke der genialen und starkmütigen Frau. Besonders als solche und als unerreichbares Beispiel für mich schwache und nachgiebige Person hatte ich Gertrud bewundert. Aber als ich sie in ihrem eigenen Hause sah, verschob sich mir das Bild. Unsere klare und kräftige Führerin erschien zerstreut, unsicher, beinahe schüchtern. Man sieht soviel auf den ersten Blick mit noch unbefangenem Auge! Der meine ließ mich sogleich und deutlich erkennen: Sie ist einsam mitten unter den Ihren, erdrückt zwischen zwei Generationen. Die Mutter lastete schwer auf ihr, der Vater bot ihr wohl keine Stütze. Ich kannte ihn vom Sehen, den berühmten Juristen, den Kämpfer und Sieger. Als Professor hatte er die Altersgrenze überschritten, als Schriftsteller wirkte er kühn und rücksichtslos weiter.

Ein hochstehender Mann, für seine Familie zu hoch, um sich an ihn lehnen zu können. Dir ist das Ferne nah und das Nahe fern, sagte ich mir, als ich ihn eine Weile beobachtete und den Blick seiner großen wasserblauen Augen über die Tafelrunde hingleiten und sich plötzlich, wie von einem inneren Licht entzündet, auf einen Gegenstand ihm gegenüber heften sah. Ein Gegenstand heißt das für uns, und zwar eine Kaffeemaschine auf der Kredenz; für ihn ein Unsichtbares, ein mathematischer Punkt, und der seherhafte Glanz in seinen Augen die Reflexerscheinung eines aufsprühenden großen Gedankens.

Die beiden Töchter . . . Wie kam diese Mutter zu diesen Töchtern? Sie waren so nahe mit ihr verwandt wie ein paar Paradiesvögel mit einer Löwin. Thesi, die jüngere, das richtige Offiziersfrauchen, das aufgeht in Bewunderung des schmucken Gemahls und alles nebensächlich findet, was sich nicht auf ihn und »sein Regiment« bezieht. Die ältere eine imponierende Schönheit wie Frau Gertrud; eine ebenso ebenmäßige hohe Gestalt mit edlem Kopfe und den Zügen voll kraftvoller Feinheit, die uns an griechischen Götterbildern entzücken. Während des Mittagessens, das mir in so peinlicher Erinnerung geblieben ist, saß ich ihr gegenüber und weidete mich an ihrem Anblick und meinte, jetzt und jetzt müsse aus diesem herrlichen Gebilde die Offenbarung einer Seele kommen, die ihm entspräche. Aber es kam nichts als in jeder Miene, in jeder kleinsten Äußerung ein kalter, verletzender Hochmut, der dem schönen Gesicht etwas Ordinäres gab.

Arme Gertrud – zwischen ihr und diesen zwei jungen Frauen konnte es keinen Zusammenhang und kein Verständnis geben . . . Ungeordnet und gleichsam tropfenweise kam mir, in der bangen Nacht nach ihrem Tode, die Erinnerung an den Einblick, den ich in ihr Familienleben getan hatte. Das Benehmen ihrer Töchter gegen sie, schon in Gegenwart einer Fremden lieb- und rücksichtslos, war es wohl noch mehr in der Intimität . . .

Sie nahmen sich vor mir zusammen, es war leicht zu bemerken, konnten aber ihre Ungeduld über das Warten auf den Papa nicht verbergen. Der Staatsbeamte schürte die Glut durch spitzige Bemerkungen. Sie bekamen einen kleinen giftigen Beigeschmack, als die Großmutter Gertruds Frage, ob sie nicht servieren lassen solle, mit einem Schrecken zurückwies, als ob ihre Tochter vorgeschlagen hätte, das Haus in Brand zu setzen. Der Großvater sah und hörte nicht, er wandelte weltentrückt in seinem Gedankenreiche. Der Rittmeister und seine Frau waren in eine Fenstervertiefung getreten und verhandelten leise und eifrig miteinander. Sie schien ihn um etwas zu bitten, er schien ihr Vorstellungen zu machen. Endlich wandte er sich, eilte auf Gertrud zu, schlug die Hacken zusammen, sagte: »Verzeih, Mama, aber – des Dienstes immer gleichgestellte Uhr . . .« grüßte kurz und verließ das Zimmer.

Thesi brach in Tränen aus, die Großmutter brummte vor sich hin, die Mienen des Ministerialrates und seiner Frau wurden immer geringschätziger. Sehr gequält entschuldigte Gertrud sich bei mir, und ich wünschte über allen Bergen zu sein und dachte: Eine Einladung zum Familiendiner in diesem Hause nehme ich nie wieder an!

Die Stimmung war unrettbar verdorben, als der Urheber all dieses Unheils ins Zimmer trat oder vielmehr hereinschlüpfte. Wie die meisten Leute, die regelmäßig zu spät kommen, hatte er immer Eile. Auf der Straße sah man den großen, hagern Gelehrten in steter Hast dahinschreiten, mit vorgeneigtem Kopfe, zerstreut suchenden Augen und mit, auch bei völliger Windstille, fliegenden Rockschößen.

Er wurde von seiner Frau und von ihren Eltern ohne ein Wort des Vorwurfs empfangen, grüßte warm und freundlich, tippte einer seiner Töchter nach der anderen auf den Kopf, beschädigte die Frisur Eleonorens, blieb mit dem Manschettenknopf in Thesis Haaren hängen, bemerkte nicht, daß er ihr einige davon ausriß, bemerkte auch nicht, daß ein Schwiegersohn am Tische fehlte und daß seine Jüngste schmollte. Aber als sie ihrem Grame Worte gab, war er voll Reue. – Fortgegangen der Kari, hungrig, ungespeist? Ei! Ei! O wirklich, das tat ihm leid! . . . Nein – so etwas! Ei! Ei! es sollte nicht wieder vorkommen . . . kam auch sonst nicht vor, nur heute einmal zufällig, weil sich auf der Bibliothek ein Buch vorgefunden . . . längst gesucht – ein merkwürdiges Buch . . . in dieses hatte er sich vertieft . . .

Und nun sprach er mit dem Professor über das merkwürdige Buch, und ums Leben gern hätte ich den beiden Männern, die Weisheit redeten, zugehört. Das Gebaren der übrigen Gesellschaft jedoch verdarb mir die Freude daran.

Die alte Frau hatte ein Stoßseufzer- und Räusperkonzert eröffnet. Sie witterte Irreligiöses in dem Gegenstand, den die Herren behandelten, und warf mit bittend wehmütigem Lächeln kleine Wetterberichte, die eine Unterbrechung bilden sollten, über den Tisch. Arme, liebe, gütige alte Frau! Man hätte ihr himmlische Ehren erweisen und – sie aus dem Zimmer führen mögen. Dasselbe hätte ich gern mit den jungen Leuten vornehmen lassen, aber – ohne Ehren.

Thesi schmollte, jetzt wieder stumm, weiter, die Eheleute übten sich in der optischen Telegraphie, die zwischen ihnen gang und gäbe war. Eleonore markierte ein verhaltenes Gähnen, ihr Gatte schlug die Augen empor und zog sein hübsches Gesicht – es machte den Eindruck eines Ziergärtleins für verschiedenste Bärte – in die Länge.

Gertrud mischte sich manchmal in die Verhandlungen der Herren mit einer Frage oder mit einem klugen und richtigen Einwand. Der Vater erwog ihn, nickte ihr freundlich zu, sagte mit sichtlicher Befriedigung: »Kann nicht leugnen, sie hat ganz recht!« Der Gatte winkte ungeduldig ab und wiederholte mehrmals in fast weinerlichem Tone: »Trudel – nicht! Nicht – Trudel!«

Er gehörte offenbar zu den Gelehrten, die ihr Gebiet selbst von der geliebtesten Frau nicht betreten lassen wollen. Gertrud fuhr fort, aufmerksam zuzuhören, behielt aber fortan ihre Gedanken für sich. Vereinzelte schüchterne Versuche, die sie unternahm, das Gespräch auf Gegenstände von allgemeinem Interesse zu lenken, mißlangen. Sie geriet in Verlegenheit, errötete und schwieg ganz beschämt.

Verlegen, beschämt – diese Frau! Vor wem? Vor ein paar Puppen, die zufällig ihre Töchter waren, vor einem geckenhaften Schwiegersohn.

Nach dem Speisen, als wir uns zum Kaffee in das Rauchzimmer begeben hatten, kam der Ministerialrat auf mich zu und sagte mir Verbindliches über meine »schriftstellerische Tätigkeit«. Dabei neigte er sich leicht und ließ seine Hände so behaglich übereinandergleiten, als ob er sie mit wohlriechender Seife in lauem Wasser wüsche. »Besonders hoch schätze ich Ihre neuesten Werke . . .« Nun kamen die Titel einiger Bücher, die sehr hübsch, nur leider nicht von mir sind. Ich wollte ihn eben schonend darauf aufmerksam machen, als ein Laut sich hören ließ, ähnlich dem Schnalzen mit einer kleinen Peitsche. Wir sahen uns um. Was war geschehen? Der Hausherr hatte der Hausfrau einen Kuß gegeben.

Merkwürdig – nicht der Kuß, aber die Schallwirkung; und sehr zu bedauern ihre Folgeerscheinungen. Der Ministerialrat, Eleonore und ihre Schwester kicherten fast unverhohlen, und wieder errötete Gertrud vor ihren Kindern, und wieder bemerkte der gute Gelehrte nichts. Er setzte sich zu seiner Frau, löffelte mit seiner Rechten eine Tasse Kaffee aus und hörte nicht auf, mit der Linken – ungepflegt waren beide – ihre Hand zu streicheln. Sie kam mir vor wie von leisen Schauern durchrieselt, hatte den Blick gesenkt, drückte die Lippen zusammen; die Farbe auf ihren Wangen wechselte, aber sie zog ihre Hand nicht hinweg.

Ich halte das für ein Heldenstück.

Indessen gab es noch manches Größere, das sie wohl täglich ausführte. Von dem vielleicht Schwersten erhielt ich auch eine Probe an jenem unglücklichen Familiendinertage.

Wir waren fast zugleich gekommen, ihre Eltern und ich, und bald nach den gegenseitigen Vorstellungen hatte der Professor gewünscht, einige ornithologische Kuriositäten zu sehen, die eben in einem Nebenraume aufgestellt wurden. Gertrud begleitete ihn; die alte Dame und ich blieben allein.

Sie war unsicher und beklommen, sie hatte offenbar etwas auf dem Herzen, das sie gern ausgesprochen hätte und nicht recht einzuleiten verstand. Endlich half sie sich mit der Versicherung, daß sie wisse, wieviel Gertrud von mir hielte. Ich deprezierte gar nicht, nahm's dankbar, aber als eine ausgemachte Sache hin. Nun war das Eis gebrochen. Oh, wenn ich meinen Einfluß in dem einzig wahren und guten Sinne ausüben wollte! Sie konnte nicht glauben, daß ich den Weg, den ihre Tochter ging, für den rechten hielte. Ich verstand nicht sogleich – sie sprach undeutlich und leise –, daß in ihren Augen nur ein Weg »der rechte« war – der Weg der Kirche . . . Warum stellte sich ihre Tochter an die Spitze eines antikirchlichen Vereins? . . . Meine Beteuerungen, daß unser Verein mit kirchlichen und religiösen Dingen gar nichts zu tun habe, daß er weder für noch wider eine Konfession Partei nehme, hatten die schlimmste Wirkung . . . Das war es ja, das Traurige, das Furchtbare! . . . Nicht für – also wider! Sie wiederholte den unerbittlichen Ausspruch, der so viele reine und edle Bestrebungen verdammt. Doch geschah's nicht mit Fanatismus, vielmehr sanft entschuldigend. In ihr war keine Härte, sie sprach im Ton rührender Bitte, mit Tränen in den Augen. Jedes Wort kam aus der Tiefe einer angsterfüllten Seele, und wenn die Ursache ihrer Qual mir auch kindisch erschien, die Qual war da und raubte den Nächten der Greisin den Schlaf und ihren Tagen den Frieden.

Mir, der Fremden, tat es weh, sie von ihrer Pein nicht befreien zu können; als ihre Tochter hätte ich vielleicht nachgegeben, meiner Überzeugung zum Trotze. Gertrud widerstand. Sie hatte die Kraft! Sie hielt fest an der Tätigkeit, die ihrem Leben einen reichen Inhalt gab und einen edlen Zweck. Aber was mußte der Sieg, den sie täglich so tapfer errang, sie kosten!

Täglich – darin besteht's. Das ihr vom Schicksal täglich gereichte Leidensbrot wurde ihr endlich ungenießbar, ihre jahrelang geübte Seelenstärke versagte plötzlich, und sie erlag.

Vielleicht wäre es zum Äußersten nicht gekommen, wenn sie weniger Selbstbeherrschung geübt hätte; vielleicht würde ein zeitweises Versagen ihrer Standhaftigkeit sie gerettet haben. – Aber ihr Schweigen, ihr heroisches Schweigen, ihr Stolz, den sie hätte brechen müssen, um mir oder einem andern treuen Menschen zu sagen: Sieh her, es sind nur Nadelstiche, doch treffen sie immer dieselben Wunden. Ich halte es nicht mehr aus! Wenn man die Hände ringt und schluchzt und schreit: Ich halte es nicht mehr aus! – dann hält man's aus.

Aber stumm bleiben, der Ungeduld, dem Zorn, dem Schmerz nicht ein Ventil öffnen, heißt sündigen auf seine Kraft. Es ist, wie wenn einer den Staub, der während des Tages gefallen, still fortschöbe, Abend für Abend, gegen eine Wand – soweit sein Arm reichen kann . . . Und an der Mauer häuft sich die Masse und steigt und steigt und wird zum Walle, der einzusinken droht, wenn neue, immer neue Anstöße ihn erschüttern, lange nur droht, am Ende jedoch das Gleichgewicht verliert und über seinem Erbauer zusammenstürzt.

Der Doktor hatte gewiß recht, als er sagte: »Es war ein plötzlicher Entschluß.« Ich bin überzeugt, daß sie früher nie an Selbstmord gedacht hat. Aber es kam der Tag, an dem ihr häusliches Glück gefeiert werden sollte und an dem sie es preisen und Gott und den Ihren dafür danken sollte . . . und davor schrak sie zurück. Selbstüberwindung bis an die äußerste Grenze des Möglichen . . . Heuchelei – nein!

So erkläre ich mir die Tat. Mir! Wenige werden diese Erklärung gelten lassen. Ich höre alle Einwendungen, die man dagegen erhebt, so deutlich, als ob sie mit lauten Stimmen an mein Ohr schlügen.

»Lächerlich!« sagen die Töchter, »wenn wir uns erschießen sollten, weil die Mamas unsere Tätigkeit bejammern und anfeinden, wären wir längst tot!«

»Gott im Himmel«, sagen viele Ehefrauen, »wenn wir unseren Männern nichts vorzuwerfen hätten, als daß sie zu spät zu Tisch kommen und zur Unzeit zärtlich sind, für bevorzugt vor Tausenden würden wir uns halten.«

Und die tapfer resignierten Mütter sagen: »Zusammenhang? O meine Gute, lassen wir doch die Jugend ihre eigenen Wege gehen und ihre eigenen Interessen verfolgen! Es ist ihr Recht und war auch das unsere unseren Eltern gegenüber. Daß wir es nicht geltend machten, nennen Sie's weder Tugend noch Schuld, nennen Sie's: Geist der Zeit. Und – Verständnis? Wenn wir dieses hohe Geschenk verlangen, müssen wir es auch erwidern können, und wenn uns die Fähigkeit dazu fehlt, dann heißt es sich ins Unabänderliche fügen – mit je besserem Humor, je besser!«

Und die mildesten unter den Frommen werden den Kopf schütteln und traurig sagen: »Was Sie da vorgebracht haben zur Verteidigung eines Selbstmordes, denn gestehen Sie, darum handelt sich's, entschuldigt ihn nicht!«

Verurteilt sie denn! Ich werde ihrer immer gedenken wie einer lieben Führerin, die mir eine Weile voranschritt auf breitem, sonnigem Wege. Freudig und vertrauensvoll folgte ich ihr, hoffte, ihr immer folgen zu können nach immer helleren, höheren Zielen.

Und einmal, als ich wieder, ihre sichere Leitung suchend, nach ihr ausblickte, war sie verschwunden, und der Weg, auf dem sie eben noch ruhig und stolz hingewandelt, war leer.

 


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