Hans Dominik
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Im Detroit-Werk der United stand das Barometer auf schlecht Wetter, und es hatte sehr den Anschein, daß es demnächst noch weiter auf Sturm fallen könnte. Seit zehn Tagen war die neue Autoklavanlage fertig. Tag für Tag sah Direktor Clayton mit steigender Erwartung den Berichten Professor Meltons entgegen, und jeden Abend mußte er das gleiche nichtssagende Ergebnis hören: es haben sich noch keine strahlenden Substanzen gebildet . . . Mit wachsendem Verdruß nahm Clayton davon Kenntnis, und Präsident Chelmesford begann Zeichen von Ungeduld zu zeigen.

Auch noch ein dritter verfolgte den Gang der Ereignisse mit Unbehagen: das war Tom White. Während der Vormittagsstunden war er genötigt, Professor Melton und Wilkin bei den Versuchen zu helfen, von deren Aussichtslosigkeit er von vornherein überzeugt war. Am Nachmittag saß er in seinem Zimmerchen im Verwaltungsgebäude, denn Melton und Wilkin hatten ihm mit genügender Deutlichkeit zu verstehen gegeben, daß ihnen seine Gegenwart bei der Feststellung der Versuchsergebnisse unerwünscht sei.

In diesen Stunden fand er hinreichend Gelegenheit, sein Geheimtelephon zu gebrauchen. Bisher hatte ihm diese sinnreiche Einrichtung manchen Spaß bereitet. Mit stillem Vergnügen hatte er durch sie vernommen, daß die Werkleitung vorübergehend einen leichten Verdacht auf ihn geworfen hatte, ihn jetzt aber wieder als einen vollkommenen Ehrenmann und vertrauenswürdigen Beamten der United schätzte.

Was der verborgene Draht aber in den letzten Tagen aus dem Zimmer Chelmesfords an seine Ohren getragen hatte, war nicht geeignet gewesen, ihn heiter zu stimmen. Immer mehr drehten sich die Besprechungen des Präsidenten mit Clayton um die Dupont Company und die Person des deutschen Doktors.

»Es war ein Fehler, daß wir ihn gehen ließen«, meinte Clayton auf eine unwirsche Bemerkung des Präsidenten. »Jetzt sitzt er bei der Konkurrenz, und wir wissen nicht, was er treibt.«

»Darüber wollte ich auch mit Ihnen sprechen«, sagte Chelmesford mit einem Blick auf seinen Notizblock; »unsere Nachrichtenabteilung ist keinen Schuß Pulver mehr wert. Warum versagt die Berichterstattung aus Salisbury vollständig?«

»Ich habe bereits durchgegriffen«, erwiderte Direktor Clayton. »Miller, Brown und Jefferson haben Briefe bekommen, die sie sich nicht hinter den Spiegel stecken werden.«

»Miller, Brown und Jefferson«, murmelte Tom White in seinen Kleiderschrank hinein. »Die Namen will ich mir merken, den Leuten muß Spinner auf die Sprünge kommen.«

Die Unterredung im Zimmer des Präsidenten ging weiter und entwickelte sich in einer solchen Weise, daß Mr. White es für geraten hielt, nach Block und Bleistift zu greifen und sie mitzustenographieren. Wenn Chelmesford im Ernst daran dachte, eine der mannigfachen Möglichkeiten, die er jetzt mit Clayton erörterte, wirklich in die Tat umzusetzen, dann konnte die Lage für Dr. Wandel bedenklich werden. Auch für die Company war sie dann wenig erfreulich.

Während er die Worte des Präsidenten und Claytons in Eile mitschrieb, drängte sich ihm die Frage auf: Wie ließ sich die Gefahr von dem Doktor abwenden? Auf irgendeine Weise mußte man Melton scheinbar zu einem Erfolg verhelfen. Sobald der in seinem Autoklav etwas auch nur halbwegs Brauchbares zustande brachte, würde die United vorläufig Ruhe halten, und Dr. Wandel konnte bei der Company ungestört weiterarbeiten. Wenn der Deutsche doch nur schon einen Erfolg hätte! Wenn man ihm, Tom White, ein paar Proben nach Detroit schicken könnte! Mit Wonne würde er sie dem Professor in seinen Autoklav schmuggeln und ihn weiter zum besten halten. Aber neue strahlende Substanz mußte er dazu haben. – –

Es war ein langer, inhaltsreicher Bericht, den Tom White am Abend dieses Tages für Mr. Spinner verfaßte. So umfangreich wurde das Schreiben, daß er davon absehen mußte, es zu verschlüsseln, und eine andere Art der Beförderung wählte. Diesmal ging über die übliche Deckadresse eine einfache Drucksache an Onkel Joshua in Salisbury ab. Sie enthielt, wie unter dem Kreuzband deutlich ersichtlich war, die neueste Ausgabe eines illustrierten Magazins. Daß zwischen den Druckseiten der Sendung die Blätter des Berichtes steckten, war dagegen nicht zu sehen, und ohne Zwischenfall erreichten sie auf diese Weise ihren Bestimmungsort.

Mr. Spinner las sie mit größtem Interesse. Mit Befriedigung nahm er davon Kenntnis, daß der Dienst der Company gut arbeitete und die Agenten der United lahmgelegt hatte. Da er von den Maßnahmen Dr. Wandels nichts wußte, schrieb er den Erfolg natürlich seiner eigenen Abteilung zu. Aber je weiter er beim Lesen kam, desto mehr vertieften sich die Falten auf seiner Stirn. – –

Achtundvierzig Stunden bevor Tom White seinen Bericht an Mr. Spinner zur Post gab, waren jene Briefe abgegangen, von denen Tom White Clayton zu Chelmesford hatte sprechen hören, und sie verfehlten ihre Wirkung nicht.

So war die Lage, als Jefferson seinen Brief aus Detroit bekam, in dem ihm mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit mangelnde Eignung für seinen Posten zum Vorwurf gemacht wurde. Er erhielt ihn am Freitagabend und entschloß sich daraufhin, den letzten Trumpf auszuspielen, den er noch im Spiel hatte.

Der Trumpf – er hieß Mrs. Boyne – war eine mit Geistesgaben nicht besonders gesegnete Witwe in der Mitte der Vierziger und gehörte zu der Besenbrigade, der die allnächtliche Säuberung der Büros in dem Werk der Company oblag.

Bei seiner Wirtin, der gegenüber er sich als Journalist ausgab, hatte Jefferson sie zufällig kennengelernt und aus einer unbestimmten Ahnung heraus, daß sie später einmal nützlich sein könnte, die Bekanntschaft nicht einschlafen lassen. Jetzt griff er darauf zurück. Für offene Spionage wäre die biedere Mrs. Boyne wohl kaum zu haben gewesen. Aber Mr. Jefferson brauchte Stoff als Journalist, irgend etwas Interessantes aus der chemischen Industrie. Vielleicht etwas über die neuen Arbeiten Mr. Slawters bei der Dupont Company. Ob ihm Mrs. Boyne dazu nicht irgendwie behilflich sein könnte, wo sie doch jede Nacht das Zimmer Slawters in Ordnung zu bringen hätte?

Jefferson war sich klar darüber, daß das Ganze ein Versuch mit ziemlich untauglichen Mitteln war, aber der Brief aus Detroit brannte ihm auf den Nägeln, und Mrs. Boyne fühlte sich durch das Vertrauen, das Mr. Jefferson in ihre Fähigkeiten setzte, ungemein geschmeichelt und versprach ihm, ihr Bestes zu tun. Am Sonnabendnachmittag wurde dieses Abkommen getroffen, und Jefferson harrte der Dinge, die da kommen sollten, ohne seine Erwartungen besonders hoch zu spannen.

Am Sonntagmorgen saß er in seinem Zimmer beim Frühstück, als es klingelte. Es war Mrs. Boyne, und sie hatte es sehr wichtig, ihm zu erzählen, was sie heute nacht in Mr. Slawters Laboratorium gesehen hatte. Eine große Wanne . . . so groß wie eine Badewanne, versicherte die gute Frau verschiedene Male . . . mit Wasser gefüllt . . . und das Wasser war kochend heiß. Sie hätte sich fast daran verbrannt.

»Aber, meine liebe Mrs. Boyne, das ist doch nichts Besonderes«, meinte Jefferson enttäuscht. »Da hat eben irgend jemand vergessen, die Heizung abzustellen.«

»Doch, Mr. Jefferson!« verteidigte Mrs. Boyne ihre Entdeckung, »darüber habe ich mich ja gerade gewundert. Es ist gar keine Heizung da, bloß ein Hahn für kaltes Wasser ist über der Wanne. Ich nehme meinen Eimer, stecke ihn in die Wanne, um ihn zu füllen, und hätte mir doch um ein Haar eklig die Finger verbrüht.«

»Hm, hm! Mrs. Boyne«, Jefferson rieb sich nachdenklich das Kinn, »vielleicht hat Mr. Slawter für irgendeinen Versuch kochendes Wasser gebraucht und es nachher in die Wanne geschüttet.«

Mrs. Boyne schüttelte energisch den Kopf.

»Ausgeschlossen, Mr. Jefferson! Denken Sie doch mal nach! Mittags um ein Uhr macht das Werk am Sonnabend Schluß, und ich bin erst zwischen zwei und drei Uhr nachts in Mr. Slawters Zimmer gewesen. Da hätte das Wasser nicht mehr so heiß sein können, es war noch beinahe kochend.«

Jefferson dachte hin und her. Viel ließ sich aus der Mitteilung nicht machen, und wenn er als Quelle für seinen Bericht eine schlichte Reinmachefrau nannte, würde er von Detroit vermutlich ein neues Donnerwetter auf den Hals bekommen. Günstiger stand die Sache, wenn er sich eine Probe von diesem merkwürdigen Wasser verschaffen konnte.

»Hören Sie, liebe Frau«, meinte er nach einigem Überlegen, »was Sie mir erzählen, ist gewiß sehr interessant, aber als Zeitungsmann muß ich mich selber davon überzeugen; das bin ich meinen Lesern schuldig.«

Mrs. Boyne wehrte mit beiden Händen ab.

»Unmöglich, Mr. Jefferson, daß Sie mit mir ins Werk und etwa gar ins Zimmer von Mr. Slawter gehen! Die Kontrolle ist sehr scharf. Ich würde meine Stellung verlieren . . .«

»Davon ist keine Rede«, unterbrach sie Jefferson, »es würde genügen, wenn Sie mir eine Probe von dem heißen Wasser verschafften.« Er sah sich im Zimmer um und griff nach einer Thermosflasche. »Sehen Sie, das müßte sich doch machen lassen. Das sieht kein Mensch, wenn Sie die Flasche in Ihrem Mantel mitnehmen und mir etwas von dem Wasser darin bringen.«

Mrs. Boyne trug einen Mantel aus flauschigem Wollstoff. Versuchsweise steckte sie die Flasche in eine der weiten Taschen und sah, daß sie sich unauffällig unterbringen ließ.

»Ich will Ihnen den Gefallen tun, Mr. Jefferson«, meinte sie nach kurzem Zögern, »übermorgen will ich Ihnen etwas davon mitbringen.«

»Erst übermorgen, Mrs. Boyne? Ach so, heute ist ja Sonntag, heut nacht haben Sie keinen Dienst. Das ist aber dumm; wer weiß, ob das Wasser übermorgen noch da ist. Könnten Sie nicht jetzt gleich noch einmal ins Werk gehen?«

Mrs. Boyne hatte zuerst wenig Lust dazu, aber es gelang der Überredungskunst Jeffersons, ihre Bedenken zu zerstreuen, und sie machte sich auf, um das Gewünschte zu holen.

Bis zum Werk war es nur ein Weg von etwa zehn Minuten, und zunächst ging alles glatt vonstatten. Auf die Mitteilung hin, daß sie die Wohnungsschlüssel in der Tasche ihrer Arbeitsschürze vergessen habe, ließ der Pförtner sie ohne Schwierigkeiten hinein. Sie eilte in das Laboratorium Slawters und entdeckte unter den Glasgefäßen in einem Regal eine Henkelkanne, mit der sie die Thermosflasche füllen konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Das Wasser war noch ebenso heiß wie in der verflossenen Nacht. Sie stellte es mit Genugtuung fest, während sie es in die Flasche schüttete. Schleunigst versenkte sie die gefüllte Flasche wieder in ihre Manteltasche und verließ den Raum.

»Na, haben Sie es glücklich gefunden, Missis?« fragte der Pförtner, als sie, vergnügt mit ihrem Schlüsselbund klappernd, an ihm vorbeiging.

»All right, Sir, ist wieder da«, nickte sie ihm zu und machte sich auf den Weg zu Jeffersons Wohnung. Während sie die Straße entlangging, malte sie sich in Gedanken den Empfang bei ihm aus. Der würde sich wohl nicht schlecht wundern, wenn sie ihm die Flasche mit dem sonderbar heißen Wasser auf den Tisch stellte. Würde sich sicher auch erst eine Weile den Kopf zerbrechen und nachher über die merkwürdige Geschichte einen feinen Aufsatz für seine Zeitung schreiben . . . Halt! Das mußte sie ihm aber auf die Seele binden: unter keinen Umständen durfte er ihren Namen dabei nennen. Sonst könnte sie Unannehmlichkeiten haben . . .

Mehr als die Hälfte des Weges hatte sie so zurückgelegt, als ihr zum Bewußtsein kam, daß sie ihren Schlüsselbund immer noch in der Hand trug. Mit einer kurzen Bewegung ließ sie ihn in die Manteltasche gleiten, in der sie die Thermosflasche hatte. Jäh zog sie die Hand zurück. An kochend heißem Dampf hatte sie sich die Finger verbrüht, und als sie jetzt hinsah, bemerkte sie zu ihrem Schrecken, daß aus dem Mantelstoff Dampfwolken nach außen drangen.

Was sollte sie tun? Noch einmal in die Tasche greifen und die Flasche herausnehmen? Sie hatte vom ersten Mal genug. Mochte sich Mr. Jefferson daran die Finger verbrennen, der sie zu diesem Abenteuer veranlaßt hatte! Fast laufend legte sie den letzten Rest des Weges zurück und achtete nicht darauf, daß Straßenpassanten stehenblieben und ihr etwas nachriefen. Sie atmete erst wieder auf, als sie ihr Ziel erreicht hatte und zu Jefferson ins Zimmer stürzte.

»Glücklich zurück, Mrs. Boyne?« begrüßte sie Jefferson und hielt dann jäh inne. In dichten Wolken strömte der Dampf jetzt aus dem lockeren Mantelstoff, wie ihn etwa ein Kochkessel aussendet, der über einem starken Feuer steht. Mit einem Sprung war Jefferson neben ihr. »Was ist das? Sie brennen! Sind Sie verletzt?« Überstürzt kamen die Fragen aus seinem Munde, während er ihr den Mantel abriß. Mrs. Boyne strich mit den Händen über ihr Kleid hin und rang nach Fassung.

»Ich glaube nicht, Mr. Jefferson . . . es ist noch glücklich abgegangen. Die Hand habe ich mir etwas verbrannt, als ich in die Tasche greifen wollte. Aber was ist denn das überhaupt? Wie ist denn so etwas nur möglich?«

Die Frage der guten Mrs. Boyne war nicht unberechtigt, denn immer stärkere Dampfwolken entströmten dem Mantel, den Jefferson jetzt in der Hand hielt.

Wie ist so etwas möglich? – Den Gedanken hatte auch Mr. Jefferson. Aber im Gegensatz zu Mrs. Boyne wußte er auch eine Antwort darauf. Wie dumm von mir, ihr eine Thermosflasche mitzugeben! ging es ihm durch den Kopf, während er den Mantel an einen Haken hängte. Vorsichtig umwickelte er sich seine Rechte mit einem Tuch, zog die Flasche aus dem Mantel und stellte sie auf den Tisch.

Da stand sie nun, wie Mrs. Boyne es sich auf dem Nachhauseweg ausgemalt hatte, und doch wieder ganz anders. Denn das Wasser in ihr war nicht nur heiß, sondern in vollstem Kochen begriffen. Summend und sausend entwich der Dampf unter dem Deckel, der glücklicherweise nur locker auf der Flasche aufsaß.

Jefferson nahm ihn ganz ab und holte sich eine leere Karaffe, in die er das Wasser umgoß. Da hörte das Brodeln und Brausen schnell auf. Nur ein paar leichte Wölkchen noch, dann stand die Flüssigkeit zwar immer noch sehr heiß, aber doch ruhig in dem Gefäß.

Verwundert beobachtete Mrs. Boyne den Vorgang. »Wie ist so etwas nur möglich?« wiederholte sie ihre Frage. Jefferson zuckte die Achseln. Er hielt es im Augenblick nicht für zweckmäßig, sie darüber aufzuklären, und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung. Ob der Mantel von Mrs. Boyne bei dieser Sache, die sie doch auf seine Veranlassung und für ihn unternommen hatte, nicht zu Schaden gekommen sei, wollte er wissen, untersuchte das Kleidungsstück mit gut gespielter Sorgfalt und ruhte nicht eher, als bis er ihr fünfzig Dollar für die Wiederinstandsetzung aufgedrängt hatte. Da der Kaufpreis dieses Mantels nur dreißig Dollar betragen hatte, entfernte sich Mrs. Boyne unter lebhaften Dankesworten, und Mr. Jefferson hatte nun endlich Gelegenheit, sich eingehender mit diesem sonderbaren Wasser zu befassen.

In der Wanne in Slawters Laboratorium war es wohl heiß gewesen, hatte aber nicht gekocht. Das hatte ihm Mrs. Boyne klipp und klar gesagt. In der Thermosflasche war es auf dem kurzen Wege vom Werk bis zu ihm in lebhaftes Kochen geraten. Warum? Die Antwort war leicht zu geben. Die Thermosflasche ließ keine Wärme nach außen entweichen. Wärmemengen, die sich aus irgendwelchen Gründen – Jefferson dachte sich sein Teil darüber – in der Flüssigkeit entwickelten, mußten sich in ihr aufstauen und sie zum Kochen bringen. In der Karaffe konnte die Wärme durch die einfache Glaswand nach außen entweichen, und das Kochen hörte natürlich auf.

Waren diese Schlußfolgerungen richtig? Ein einfacher Versuch mußte die Bestätigung geben. Er goß das Wasser aus der Karaffe in die Thermosflasche zurück, blickte auf die Uhr und wartete. Er brauchte nicht allzu lange zu harren. Nach zehn Minuten kräuselte sich bereits ein leichtes Wölkchen über dem Flaschenhals, nach einer Viertelstunde stieß der Dampf in kräftigem Strahl aus dem Gefäßhals.

Während Mr. Jefferson das Wasser wieder in die Karaffe zurückfüllte, erinnerte er sich daran, daß in vierzig Minuten ein Schnellzug nach Detroit ging. Als der Zug den Bahnhof verließ, saß Jefferson in einem Abteil. Viel Gepäck nahm er auf die Reise nicht mit. Er hatte nur ein Handköfferchen bei sich, das außer einigen Wäschestücken eine leere Thermosflasche enthielt, und außerdem eine nur leicht in Papier eingehüllte Karaffe, die er sehr behutsam in dem Netz über seinem Platz unterbrachte.

*

Während Dr. Wandel in Salisbury mit Slawter zusammen jene Generalprobe veranstaltete, die in Wirklichkeit schon ein erfolgreicher Versuch war, saß bei der United Tom White an seinem Geheimtelephon und hörte eine Besprechung zwischen Chelmesford und Clayton mit an.

»Auch in dieser Woche hat Melton nichts zustande gebracht«, sagte Direktor Clayton, »ich fürchte, wir werden auf den Deutschen zurückgreifen müssen, so wenig erfreulich das auch ist.«

»Bevor ich mich dazu entschließe«, unterbrach ihn Chelmesford, »möchte ich alle andern Möglichkeiten versuchen. Hier ist ein neuer Bericht von Smith. Danach steht es außer Zweifel, daß Doktor Wandel im verflossenen Monat in der Nacht vom vierten auf den fünften zusammen mit zwei anderen Personen heimlich einen Versuch in unserm Werk gemacht und dabei strahlenden Stoff hergestellt hat. Der eine seiner Helfer war, wie wir schon wissen, Joe Schillinger. Wir besitzen genügend Handhaben, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, doch ich glaube, es würde nicht viel Nützliches für uns dabei herauskommen. Der Mensch ist ein besserer Autoschlosser, aber kein Fachmann und Physiker. Anders steht es mit dem zweiten Helfer, dessen Namen Smith leider immer noch nicht herausbekommen hat. Hier müssen wir einhaken. Diesen dritten Mann muß unsere Nachrichtenabteilung unter allen Umständen ermitteln.«

»Erwarten Sie von diesem Unbekannten denn wirklich mehr als von dem Mr. Schillinger?« fragte Clayton.

In seinem Telephon hörte Tom White Papier rascheln und dann wieder die Stimme Chelmesfords.

»Allerdings, Clayton, das tue ich. Hier sind ein paar Bemerkungen in dem Bericht von Smith, aus denen unzweideutig hervorgeht, daß der dritte Mann doch etwas von der Sache verstanden haben muß. Ganz im Gegensatz zu Schillinger, der bei dem nächtlichen Experiment nach den Anweisungen des Doktors nur einige Maschinen bedient hat. Wir wären ein gutes Stück weiter, wenn wir den dritten Mann hätten.«

Schade, mein lieber MacGan, daß du nicht selber hören kannst, was für eine großartige Meinung der oberste Chef von dir hat, dachte Tom White, während er die Telephonmuschel fester ans Ohr preßte, um sich nichts von den folgenden Worten entgehen zu lassen.

»Wenn wir den dritten hätten«, fuhr der Präsident fort, »könnten wir vorläufig auf den Doktor verzichten. Nach den Angaben dieses Mannes müßte Melton den damaligen Versuch wiederholen, und dann sollte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht etwas Brauchbares dabei zustande käme.«

»Der Gedanke hat in der Tat manches für sich, Mr. Chelmesford«, stimmte ihm Clayton bei. »Aber ich sehe kaum eine Möglichkeit, wie wir diesen dritten ausfindig machen sollen.«

»Unser Sicherheitsdienst muß es noch einmal versuchen«, erklärte Chelmesford schroff. »Wenn es nicht anders geht, soll er sich einfach an Schillinger halten.«

Vergeblich wartete Tom White am Sonnabend auf Post aus Salisbury, und auch der Sonntagmorgen brachte ihm keine Antwort von Dr. Spinner auf sein letztes Schreiben. Er fand nur eine Erklärung dafür; man war eben bei der Company noch nicht soweit, um ihm den erbetenen Stoff schicken zu können. Dabei aber ging ihm die Unterredung zwischen Chelmesford und Clayton nicht aus dem Kopf. Immer klarer wurde es ihm, daß etwas geschehen mußte, um das gefährliche Interesse der United an der Person Dr. Wandels von diesem abzulenken, und am Nachmittag hatte er seinen Entschluß gefaßt.

Für die Ausführung brauchte er nicht viel. Nur einen weißen Bogen, ein paar alte Zeitungen, eine Schere und einen Kleistertopf. Einzelne Worte und Buchstaben schnitt er mit der Schere aus den Zeitungen heraus und klebte sie auf dem Briefbogen zu neuen Sätzen zusammen. Den Bogen steckte er in einen Umschlag, und auf dem Umschlag entstand auf die gleiche Weise aus Zeitungsbuchstaben die Adresse. Sie lautete:

»An Mr. Clayton, United Chemical, Detroit.«

Tom White trug sein Machwerk noch am Sonntagabend zum Postkasten und kehrte danach befriedigt in sein Heim zurück. Der Pfeil war von der Sehne. Schon der nächste Tag mußte zeigen, ob der Schuß ins Schwarze getroffen hatte. –

Am Montag früh kam Clayton zur gewohnten Zeit ins Werk und begab sich in sein Arbeitszimmer. Sein erster Griff galt der Postmappe, die auf dem Schreibtisch lag. Sie enthielt Briefe technischen und wissenschaftlichen Inhalts, die bereits in der Postzentrale des Konzerns geöffnet und ihm zur Bearbeitung zugeschrieben waren. Erst zum Schluß kamen einige an ihn persönlich adressierte Sendungen, die uneröffnet in der Mappe lagen. In der Hauptsache waren es Reklameschreiben, in denen Patentmedizinen, Rasierseifen, schottischer Whisky und anderes mehr angepriesen wurden. Nach flüchtiger Durchsicht versenkte Clayton sie umgehend in den Papierkorb.

Bei dem letzten Brief stutzte er. Die Adresse schien gedruckt zu sein. Erst bei schärferem Hinsehen, erkannte er, daß sie sehr sauber aus einzelnen Buchstaben zusammengesetzt und aufgeklebt war.

Wieder einmal irgendein Anonymus! ging es ihm durch den Kopf, während er den Umschlag aufschnitt, und ein Blick auf das darin befindliche Schriftstück bestätigte ihm die Richtigkeit seiner Vermutung. »Ein Freund der Wahrheit« lautete die Unterschrift, die wie der übrige Inhalt auch aus Druckbuchstaben zusammengesetzt war. Einen Augenblick hatte er Lust, den Brief ungelesen in den Papierkorb zu werfen, doch da hatten seine Augen schon den Sinn der wenigen Zeilen erfaßt. Was hatte dieser Freund der Wahrheit, der sogar seine Handschrift geheimzuhalten wünschte, hier mit Fleiß und Mühe zusammengeklebt? Clayton fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wolle er eine Täuschung fortwischen, aber die Lettern blieben unverändert auf dem Papier stehen, und kopfschüttelnd überlas er sie ein zweites und drittes Mal.

»Dr. Wandel hat sich vor seinem Weggang aus Detroit eine Nacht in der Abteilung Melton zu schaffen gemacht. Dabei war ihm der Laboratoriumsdiener MacGan behilflich. Ein Freund der Wahrheit.«

Clayton wußte nicht, ob er laut auflachen oder sich den Kopf halten sollte. Da vermutete der Präsident Chelmesford in dem unbekannten Helfer einen geschickten Physiker, und hier verdächtigte ein Anonymus den simplen Laboratoriumsdiener MacGan der Beihilfe.

Er stützte den Kopf in beide Hände und starrte minutenlang auf das eigenartige Schriftstück. Und je länger er darüber nachdachte, um so mehr wurde er geneigt, den Inhalt wenigstens als nicht ganz unwahrscheinlich anzusehen. Gewiß, der Laboratoriumsdiener war ohne besondere Vorkenntnisse zur United gekommen, aber er hatte sich gut eingearbeitet. Clayton erinnerte sich, daß Melton den Mann öfter wegen seiner Geschicklichkeit und Umsicht gelobt hatte, was aus dem Munde des ewig griesgrämigen Professors schon etwas bedeuten wollte. So völlig undenkbar war es demnach nicht, daß Dr. Wandel sich den Iren bei seinem nächtlichen Experiment zu Hilfe genommen hatte.

Aber handelte es sich denn überhaupt um dies Experiment? Davon stand nichts in dem Brief. Er enthielt auch keine Datumsangabe, und Joe Schillinger, um dessen Anwesenheit bei jenem Versuch man in der United bereits wußte, war überhaupt nicht erwähnt. Das gab wieder neue Rätsel auf und entsprach damit durchaus den Absichten, die der Urheber der anonymen Mitteilung verfolgte.

Lange hatte Tom White hin und her probiert, Entwürfe gemacht und wieder zerrissen, bis er zu der auf den ersten Blick ziemlich läppisch erscheinenden Fassung kam, die Clayton jetzt Kopfzerbrechen verursachte. Peinlich hatte er sich dabei gehütet, seine Mitteilung etwa so zu formulieren, daß sie als eine unmittelbare Antwort auf die von Chelmesford und Clayton in ihren Besprechungen aufgeworfenen Fragen gelten konnte, denn deutlich sah er die Gefahr, die darin für ihn lag.

Ein leiser Verdacht nur, daß irgendein Unbefugter die Gespräche im Zimmer des Präsidenten belauschte, und der Sicherheitsdienst der United wäre sofort in Tätigkeit getreten und hätte wohl recht schnell die geheime Telephonanlage entdeckt. Das durfte aber nicht sein, und deshalb stand nichts von einem nächtlichen Experiment, von Schillinger und von dem dritten Mann in dem Brief. Wie das Machwerk eines mißgünstigen Angestellten las es sich, der dem Laboratoriumsdiener eins auswischen wollte, aber dennoch verfehlte es seinen eigentlichen Zweck nicht, denn Clayton gewann die Überzeugung, daß hier ein brauchbarer Hinweis vorlag, dem man nachgehen mußte.

Noch überlegte er, welche Stelle des Werkes er mit der weiteren Verfolgung der Angelegenheit beauftragen solle, als der Fernsprecher sich meldete. Der Anruf kam aus der Anmeldung. Mr. Jefferson war eben aus Salisbury angekommen und bat um eine Rücksprache.

»Er soll kommen«, rief Clayton in den Apparat und legte den Brief Tom Whites in seinen Schreibtischkasten. Die Unterbrechung war ihm im Augenblick nicht unwillkommen, denn der Fall MacGan mußte noch gründlich überlegt werden.

Wenn die Sache nicht von Anfang an richtig angefaßt wurde, konnte viel dabei verdorben werden. Mit Erwartung sah er dem Besuch Jeffersons entgegen. Vielleicht hatte der gepfefferte Brief, den er ihm hatte schreiben lassen, den Agenten doch zu energischem Tun aufgerüttelt, und er konnte endlich wieder Erfolge melden. Aber war es nötig, daß er deshalb die lange Reise von Salisbury nach Detroit unternahm? Es mußte doch wohl etwas Besonderes sein, das ihn dazu veranlaßte . . .

Ein Klopfen an der Tür. »Come in!« rief Clayton, und Jefferson trat ins Zimmer. In der Linken trug er einen kleinen Handkoffer, mit der Rechten drückte er einen runden, in Papier gehüllten Gegenstand an die Brust.

»Hallo, Jefferson!« fragte Clayton verwundert. »Sie kommen ja an wie ein Handlungsreisender. Wollen Sie mir was verkaufen oder Bericht erstatten?«

»Bericht erstatten, Herr Direktor«, erwiderte Jefferson, während er den Koffer auf den Fußboden setzte, das in Papier gehüllte runde Etwas auf den Tisch stellte und nun auch endlich Gelegenheit fand, den Hut abzunehmen.

»Ich habe Ihnen etwas aus Salisbury mitgebracht, Mr. Clayton«, fuhr er fort, »ich glaube, es wird Sie interessieren.«

Während er es sagte, entfernte er das Papier, und eine Flasche kam zum Vorschein, die er dem Direktor hinschob.

»Was soll das?« frage Clayton befremdet.

»Wasser aus dem Laboratorium des Doktor Wandel, Mr. Clayton. Ein recht merkwürdiges Wasser.«

Als Jefferson den Namen des Doktors nannte, horchte Clayton auf.

»Von Doktor Wandel? Ah, das ist interessant!« Er griff nach der Flasche, um sie näher zu sich heranzuziehen, zog aber die Hand schnell zurück.

»Pfui Teufel, Jefferson! Das Zeug ist heiß. Beinahe hätte ich mich verbrannt.«

»Das ist ja das Merkwürdige daran, Mr. Clayton, weswegen ich es Ihnen mitgebracht habe. Es entwickelt unablässig ganz hübsche Wärmemengen. In dem Gefäß läßt sich's zur Not noch halten, aber aus Doktor Wandels Laboratorium habe ich es in einer Thermosflasche geholt, das hätte ums Haar ein Malheur und eine Entdeckung gegeben.«

Jefferson hielt es für überflüssig, die Mitwirkung von Mrs. Boyne bei der Beschaffung dieser Probe zu erwähnen, und schilderte Clayton die Dinge, die sich dabei zugetragen hatten, so, als ob sie ihm selber zugestoßen wären, wobei er nicht mit Worten sparte, um sie kräftig auszumalen.

»Das hier ist die Flasche, in die ich es zuerst füllte«, sagte er und holte die Thermosflasche aus seinem Koffer. »Sie werden gleich sehen, Mr. Clayton, wie der Stoff sich darin benimmt.«

Noch während er das sagte, goß er das Wasser in das Thermosgefäß über, und in Kürze wiederholte sich das gleiche, das er bereits in Salisbury erlebt hatte. Dampfwolken stießen aus dem Flaschenhals und zogen in Schwaden durch das Zimmer. Immer stärker kochte und brodelte es in dem Gefäß, immer kräftiger wurde der Dampfausbruch.

Mit zusammengepreßten Lippen saß Clayton da und beobachtete das Schauspiel, bis Jefferson zugriff und das Wasser wieder in das erste Gefäß zurückfüllte. Da hörte das Sieden und Dampfen auf, und Clayton fand die Sprache wieder.

»Großartig, Jefferson! Ein Teufelskerl ist der deutsche Doktor doch. Das muß ihm der Neid lassen. Schade, daß . . .« er brach plötzlich ab, denn was er sagen wollte, blieb in der Gegenwart des Agenten besser ungesagt. Dafür hatte er nun eine Reihe von Fragen zu stellen. Er wünschte Näheres darüber zu wissen, auf welche Weise der Doktor den Stoff hergestellt hatte, und darauf mußte ihm Jefferson die Antwort leider schuldig bleiben. Nach seiner Darstellung, die nur bedingt der Wahrheit entsprach, hatte der Agent neue Bekanntschaften mit Werkangehörigen der Company gemacht und durch diese erfahren, daß Dr. Wandel die Herstellung einer größeren Menge starkstrahlender Flüssigkeit gelungen sei. Sofort hätte er darauf alle Hebel in Bewegung gesetzt, um in das Laboratorium des Doktors einzudringen und sich eine Probe davon zu verschaffen, und unverzüglich sei er mit der wertvollen Beute nach Detroit geeilt, und hier . . . ja, hier müßten die Herren nun eben selber sehen, hinter das Geheimnis des Stoffes zu kommen.

Clayton konnte nach diesem Bericht nicht umhin, Jefferson für seinen Eifer zu loben. Er entließ ihn mit der Bitte, den bewußten unangenehmen Brief jetzt als ungeschrieben zu betrachten und im übrigen mit allen Kräften hinter der neuen Spur her zu sein. Ein Scheck, der die Reisekosten Jeffersons sehr reichlich deckte, begleitete diese Erklärung, und in gehobener Stimmung verließ der Agent das Werk, um nach Salisbury zurückzukehren.

Nun war Clayton allein in seinem Zimmer.

Was sollte jetzt geschehen? Der strahlende Stoff, der in der Flasche vor ihm geheimnisvoll glänzte, mußte natürlich analysiert werden. Wer sollte das machen? Auch dabei war er wieder auf den Professor angewiesen, denn nur die Abteilung Melton verfügte über die Spezialeinrichtungen, die für die Untersuchungen strahlender Substanzen erforderlich waren.

Sollte er diesem Mann die kostbare Beute anvertrauen, um vielleicht wieder eine Enttäuschung zu erleben? Wenigstens nicht ganz! Einigermaßen sicher wollte er doch gehen. Die Flasche, die Jefferson ihm mitgebracht hatte, enthielt ein gutes halbes Liter der strahlenden Flüssigkeit. Er kramte in seinen Fächern, bis er eine leere Flasche fand, füllte die Hälfte des Stoffes in diese ab und stellte sie in den Schrank zurück. Dann erst griff er zum Telephon und bat Melton zu sich.

Als der Professor nach der Besprechung mit Direktor Clayton in seine Abteilung zurückkehrte, war ihm die schlechte Laune schon von weitem anzusehen.

»Da, Wilkin, da haben wir den Salat! Das verdanken wir dem deutschen Querkopf«, rief er ärgerlich und setzte mit kräftigem Ruck eine Flasche auf den Tisch.

Wilkin ließ seine Blicke unsicher zwischen der Flasche und Melton hin und her gehen. Der Assistent hatte in der letzten Zeit viel von seinem früheren Selbstbewußtsein eingebüßt und befand sich in einer ziemlich gedrückten Stimmung. Immer stärkere Zweifel waren ihm gekommen, ob der Professor bei seiner Art zu arbeiten Erfolg haben würde. Wenn aber Melton nichts zustande brachte, dann stand es auch um die Zukunft seines Ersten Assistenten schlecht. Schon begann er mit dem Gedanken zu spielen, wie er sein Schicksal von dem seines Chefs trennen könnte.

»Das hat uns der verdammte Doktor wieder eingebrockt«, polterte Melton weiter, »bei der Konkurrenz in Salisbury hat er das Zeug hergestellt. Direktor Clayton hat sich durch Agenten eine Probe davon verschafft. Wir sollen feststellen, was für ein Stoff es ist, und versuchen, hinter das Geheimnis der Herstellung zu kommen. Lächerliche Zumutung! Als ob wir mit unsern eigenen Arbeiten nicht gerade genug zu tun hätten.«

Während Professor Melton seiner verdrießlichen Stimmung weiter freien Lauf ließ, betastete Wilkin vorsichtig die Flasche. Er überzeugte sich von der starken Wärmeentwicklung, und seine Gedanken begannen zu arbeiten . . . Mit einem Gefühl des Neides mußte er die außerordentliche Leistung anerkennen . . . Wieviel klüger hätte er gehandelt, wenn er von Anfang an mit dem Deutschen zusammengegangen wäre, anstatt sich mit dem Professor auf Gedeih und Verderb zu verbinden . . .

Die Worte Meltons fielen zwischen seine Überlegungen.

»Herauskommen wird natürlich gar nichts dabei, aber wir müssen nun mal den Wünschen Direktor Claytons nachkommen, Mr. Wilkin. Machen Sie sich über das Zeug her und analysieren Sie es. Ich gebe Ihnen acht . . . meinetwegen auch vierzehn Tage Zeit dafür . . .«

»Aber unsere eigenen Versuche, Herr Professor? Wir werden dadurch in Rückstand kommen . . .«

»Ach was!« unterbrach ihn Melton unwirsch. »Das muß für die Zeit auch ohne Sie gehen. Ich werde Mr. White und MacGan dafür zu Hilfe nehmen.«

»Den Laboratoriumsdiener? Ich weiß nicht, Mr. Melton, ob der Mann die nötigen Fähigkeiten dafür besitzt . . .«

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Mr. Wilkin«, schnitt ihm der Professor gereizt das Wort ab. »Was haben Sie an MacGan auszusetzen? Der Mensch ist ganz verständig und anstellig . . . übrigens – das hätte ich fast vergessen – Direktor Clayton wollte ihn sprechen. Sagen Sie ihm doch, daß er gleich hingeht.«

»Eigentlich recht sonderbar! Möchte wohl wissen, was der Direktor mit unserm Laboratoriumsdiener zu verhandeln hat!« knurrte Melton vor sich hin, während Wilkin den Raum verließ, um die Bestellung auszurichten.

Etwas Ähnliches dachte sich auch der Assistent. Er fand MacGan in der großen Halle, wo er zusammen mit Tom White beschäftigt war, den Autoklav für einen neuen Versuch vorzubereiten, und setzte ihn von dem Wunsche Claytons in Kenntnis.

»Was, Mr. Wilkin? Ich soll zum Direktor kommen?« fragte der Ire verwundert.

»Jawohl, und zwar sofort. Ziehen Sie sich den Kittel aus. Die Hände können Sie sich auch noch waschen, und dann marsch, los! Lassen Sie sich gleich bei Mr. Clayton melden.«

Tom White dachte sich im stillen sein Teil, während er äußerlich seiner Verwunderung Ausdruck gab.

»Na, na! Was bedeutet denn das? MacGan wird zur Direktion befohlen . . . Sollte der gute Mann irgendwas versiebt haben? . . . Hoffentlich haben wir nicht die Nackenschläge davon . . .«

»Mag der Teufel wissen, was dahintersteckt! Mich soll es wenig kümmern«, meinte Wilkin kurz. Er hatte im Augenblick wenig Lust, sich mit White in eine Erörterung über MacGan einzulassen, und kehrte in das Laboratorium Meltons zurück. Tom White kam das sehr gelegen, denn er brannte darauf, die Unterhaltung zwischen Clayton und MacGan mit anzuhören. Kaum hatte Wilkin die Halle verlassen, als White sich auf den Weg zu seinem Zimmer im Verwaltungsgebäude machte. Er hatte den Telephonhörer schon am Ohr, bevor noch MacGan bei Clayton erschien.

Auf dem Wege dorthin überlegte der Ire sich den Fall nach allen Seiten. Sollte er gelobt oder getadelt werden? Nur um eins von beiden konnte es sich handeln. Einer Pflichtwidrigkeit war er sich nicht bewußt, aber eine Leistung, die ein besonderes Lob verdiente, konnte er auf seinem Konto beim besten Willen auch nicht entdecken. Also würde es am Ende wohl auf einen Tadel hinauslaufen. Mit frischem Gleichmut beschloß er, die Dinge an sich herankommen zu lassen und sich nötigenfalls seiner Haut zu wehren. Um so angenehmer war er überrascht, als Clayton ihn höflich bat, Platz zu nehmen, und die Unterredung in einer freundlichen, ja fast freundschaftlichen Tonart begann.

»Mein lieber MacGan«, sagte der Direktor, »Sie können unserm Konzern einen guten Dienst erweisen, wenn Sie alle meine Fragen rückhaltlos und mit größter Offenheit beantworten. Auch wenn dabei Vorgänge zur Sprache kommen sollten, die vielleicht nicht ganz den Paragraphen der Werkdienstordnung entsprechen, brauchen Sie für sich nichts zu fürchten. Im Gegenteil, wir würden Ihnen Ihre Unterstützung bei der Aufklärung dieser Dinge hoch anrechnen.«

Heiliger Patrick, was will denn der Alte von mir? dachte MacGan bei sich. »Ich stehe voll und ganz zu Ihren Diensten, Herr Direktor«, sagte er laut und machte dabei den etwas schwächlichen Versuch einer Verbeugung.

»Soviel mir bekannt ist«, fuhr Clayton fort, »waren Sie mit Doktor Wandel genauer bekannt und haben ihm häufig bei seinen Arbeiten assistiert.«

MacGan vermochte nur zu nicken. Es verschlug ihm die Sprache, denn bei der Nennung des Namens von Dr. Wandel kam ihm das nächtliche Experiment mit allem Drum und Dran, an das er gar nicht mehr gedacht hatte, wieder in die Erinnerung. Wenn der Direktor davon etwas wußte, konnte die Sache ja heiter werden.

Clayton sprach weiter. »Der Doktor hat leider die Protokollbücher über seine Versuche mitgenommen, als er die United verließ. Es ist wichtig für uns, die Bedingungen, unter denen er seine Versuche anstellte, und die Werte, mit denen er dabei arbeitete, zu erfahren . . . Sie verstehen mich wohl, die genauen Drücke und Temperaturen, mit denen er operierte. Ich frage Sie danach, mein lieber MacGan, weil Professor Melton mir gelegentlich sagte, daß Sie davon mehr verstehen, als es sonst bei Leuten Ihres Standes . . .«

Clayton verwickelte sich und brachte den Satz nicht richtig zu Ende, aber der Ire hatte auch so schon begriffen, um was es sich handelte.

»So ziemlich, Herr Direktor«, sagte er, »habe ich die Arbeiten, bei denen ich Doktor Wandel behilflich war, noch im Gedächtnis. Es handelte sich um die Analysen eines neuen Stoffes mit dem Atomgewicht zweihundertfünfzig.«

Ein tüchtiger Laboratoriumsdiener, der so mit Atomgewichten um sich wirft; hoffentlich weiß er über die andern Sachen ebensogut Bescheid! dachte Clayton und fuhr fort:

»Das interessiert uns weniger. Diesen Stoff hat Professor Melton auch analysiert. Viel wichtiger sind uns die Bedingungen, unter denen Herr Doktor Wandel ihn hergestellt hat.« Clayton bemerkte die Veränderung, die bei seinen letzten Worten in den Zügen MacGans vorging, und beschloß, alles auf eine Karte zu setzen.

»Ich meine jenen Versuch, mein lieber MacGan, den der Doktor noch in jener Nacht anstellte, bevor er den Autoklav an Professor Melton abgeben mußte. Sie haben ihm doch dabei assistiert . . .«

Die Hände des Iren umklammerten die Sessellehnen, mit halb geöffnetem Munde starrte er Clayton fassungslos an.

Nun war's also heraus! Mr. Clayton wußte um die ganze Geschichte, auch um die Rolle, die er dabei gespielt hatte. Sollte er's zugeben, sollte er's leugnen? Ach, es war ja doch alles zwecklos. Im Geiste sah er sich bereits im Bogen aus dem Werk hinaus auf die Straße fliegen. So wollte er wenigstens die Haltung bewahren und mit Anstand abgehen . . . und, wenn es sich machen ließ, dem Direktor Clayton und der ganzen Abteilung Melton noch ein paar ordentliche Nüsse zum Knacken zurücklassen.

So schnell, wie der Entschluß ihm kam, setzte er ihn auch in die Tat um.

»Jawohl, Mr. Clayton«, sagte er, »ich habe dem deutschen Doktor einmal des Nachts bei einem Versuch assistiert, bei dem wir zweihundertdreiundzwanzig Gramm eines strahlenden Stoffes herstellten. Ich weiß noch ganz genau, mit welchen Drücken und Temperaturen wir damals gearbeitet haben. Ich könnte den Versuch jederzeit wiederholen.«

Er schwieg, sah den Direktor an und dachte: Jetzt wird der gleich den Mund auftun und sagen, daß ich mich zum Teufel scheren soll. In der Tat öffnete Clayton auch den Mund, aber der Ausdruck einer angenehmen Überraschung lag dabei auf seinem Gesicht, und er sagte etwas ganz anderes.

»Ah, mein lieber MacGan! Ist das wirklich wahr? Trauen Sie sich zu, den Versuch mit den gleichen Werten zu wiederholen? Ich würde Ihnen gern die Möglichkeit dazu geben. Wenn es glückt, soll es Ihr Schade nicht sein.«

Der Ire wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er hatte sich auf einen sofortigen Hinauswurf gefaßt gemacht, und statt dessen wollte ihm Direktor Clayton Gelegenheit geben, selbständig einen großen Versuch mit dem Autoklav und der ganzen dazugehörigen Maschinerie zu machen . . . Wie war so etwas möglich?

Blitzartig erkannte er, daß sich ihm hier die große Chance seines Lebens bot, aber gleichzeitig befiel ihn auch Sorge.

Würde er wirklich imstande sein, das auszuführen, dessen er sich soeben nur gerühmt hatte, um Clayton zu bluffen? Nur dann hatte er einige Aussicht auf Erfolg, wenn er sich peinlich genau an die Bedingungen und Werte des Doktors hielt. Fieberhaft versuchte er, sich alle Einzelheiten jenes nächtlichen Experiments wieder zu vergegenwärtigen, bis die Stimme Claytons ihn in die Gegenwart zurückrief.

»Antworten Sie mir ganz offen: Trauen Sie es sich zu?«

»Ich glaube ja, Mr. Clayton«, antwortete er entschlossen, »aber einen Erfolg kann ich nur versprechen, wenn alle Bedingungen Doktor Wandels genau eingehalten werden.«

»Dafür zu sorgen ist Ihre Sache, Mr. MacGan.«

»Ich werde Hilfe dabei brauchen, Herr Direktor. Damals waren wir zu dritt, und es ging hart auf hart bei dem Versuch . . .«

Über Claytons Züge glitt ein Lächeln, während er antwortete:

»Mr. Schillinger kann ich Ihnen diesmal nicht zur Verfügung stellen, aber wir haben ja auch ganz tüchtige Kräfte im Werk . . .«

MacGan bewegte den Mund, als ob er etwas verschlucken müßte. Um die Gegenwart Schillingers bei der Geschichte wußte Clayton also auch. Der schien unheimlich gut unterrichtet zu sein.

». . . Sagen Sie mir, was Sie brauchen. Sie sollen alles bekommen«, schloß Clayton seine Rede.

»Ja, Herr Direktor . . . vor allen Dingen ein anderes Verschlußstück für den Autoklav . . . so wie es Doktor Wandel benutzte. Die Zeichnung dazu hat Herr Professor Melton noch. Wenn ich das bekomme und dann noch zwei bis drei Leute zur Hilfe, dann müßte es schon gelingen.«

Clayton griff nach einem Block und machte sich ein paar Notizen. Dann ließ er den Bleistift sinken und sah MacGan voll ins Gesicht. Der hielt seinen Blick aus und erwiderte ihn.

»Es ist gut, Mr. MacGan. Wir wollen es zusammen versuchen. Zunächst verlange ich unbedingte Verschwiegenheit von Ihnen. Vorläufig darf kein Wort von dem, was wir hier besprochen haben, bekanntwerden. Ihre Hand darauf!« Er streckte dem Iren seine Rechte hin. Der ergriff sie und drückte sie kräftig. Clayton fuhr fort: »Ich werde das neue Verschlußstück selber in Auftrag geben. Bei größter Beschleunigung wird es doch wenigstens eine Woche dauern, bis wir es hier haben können. Wenn es hier ist, werden wir weiterreden . . . Bis dahin noch einmal, mein lieber MacGan, unbedingte Verschwiegenheit zu jedermann.«

MacGan wollte gehen, als Clayton ihn noch einmal zurückrief. »Man wird Sie wahrscheinlich fragen, was wir zusammen zu verhandeln hatten. Erzählen Sie den Neugierigen irgendwas von einer Erbschaft. Sagen Sie ihnen, daß ich eine Anfrage unseres Konsuls in Dublin wegen eines Namensvetters von Ihnen bekommen habe, der in Limerick oder in Tipperary verstorben ist, und daß ich Sie deswegen rufen ließ.«

»Sagen wir lieber in Kildare«, verbesserte MacGan den Direktor, »von da her bin ich in die Staaten gekommen.«

»Also gut, meinethalben auch in Kildare«, lachte Clayton, und MacGan empfahl sich.

Auch das Gesicht Tom Whites verzog sich zu einem Lachen. »Alle Wetter!« brummte er vor sich hin. »Man lernt nie aus; wer hätte gedacht, daß Mr. Clayton sich so gut aufs Lügen versteht . . . Na, neugierig bin ich, was für ein Gesicht der Professor zu der Geschichte machen wird. Ich glaube, den trifft der Schlag, wenn sein Laboratoriumsdiener selbständig an den Autoklav gelassen wird.«

Er wollte schon nach dem Schalter greifen und den Strom zu dem Lauschmikrophon in Claytons Zimmer unterbrechen, als er hörte, wie der Direktor durch sein Tischtelephon mit Melton sprach. Er bat ihn zu sich. Alle Zeichnungen Dr. Wandels solle er mitbringen.

»Bin neugierig, wie er die Sache mit Melton fingern wird«, fuhr Tom White in seinem Selbstgespräch fort und behielt den Hörer am Ohr. Er brauchte nicht lange zu warten; nach wenigen Minuten vernahm er Meltons Stimme. In verdrossenem Ton gab der Professor auf einige Fragen Antwort.

»Die strahlende Flüssigkeit? . . . Jawohl, Mr. Clayton, wir haben sie uns vorgenommen. Die Untersuchung ist sehr schwierig, sie wird wenigstens acht Tage beanspruchen . . . Die Zeichnungen von Doktor Wandel? . . . Ich habe sie hier . . . Darf ich fragen, Herr Direktor, wofür Sie sie brauchen?«

»Ich möchte sie mir selber noch einmal in Ruhe ansehen«, erwiderte Clayton in gleichgültigem Ton. »Lassen Sie sie mir auf ein paar Tage hier.«

»Aha!« schmunzelte Tom White vor sich hin, »der Direktor geht noch um den heißen Brei herum. Na, einmal wird er ja doch mit der Wahrheit 'rausrücken müssen. Auf die Unterredung bin ich neugierig.«

Gespannt horchte er auf die nächsten Worte Claytons und hörte sie mit wachsendem Unbehagen.

»Wir brauchen unsere Zimmer hier im Verwaltungsgebäude selber. Wann können Sie die Räume in dem Neubau Ihrer Abteilung beziehen?« wünschte der Direktor zu wissen.

»Morgen, spätestens übermorgen, Mr. Clayton«, erwiderte der Professor, und Tom White fluchte allerhand in seinen Kleiderschrank hinein. Spätestens übermorgen hier ausziehen, das bedeutete für ihn ja, von der niedlichen Geheimanlage Abschied nehmen. Er hörte, wie Melton sich von dem Direktor verabschiedete, und hatte eben noch Zeit, den Hörer fortzulegen und die Schranktür zu schließen, als der Professor schon in sein Zimmerchen kam.

Und nun bekam auch Tom White noch etwas von dessen schlechter Laune zu spüren. In deutlicher Weise gab Melton seinem Mißfallen Ausdruck, daß Mr. White hier müßig im Verwaltungsgebäude herumsitze, statt sich drüben in der Halle an dem Autoklav nützlich zu machen.

»Von morgen ab wird das anders werden, Mr. White«, schloß der Professor seine Ausführungen. »Morgen werden Sie in den Neubau einziehen. Bereiten Sie heute schon alles dafür vor.«

Einen Augenblick betrachtete Tom White den Löscher auf seinem Schreibtisch. Brennend gern hätte er ihn dem Professor an den Kopf geworfen, aber er bezwang sich.

»Sehr wohl, Herr Professor, ich werde schon heute alles vorbereiten«, sagte er mit einer leichten Verbeugung, und etwas Unverständliches vor sich hinbrummend zog Melton ab.

*


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