Hans Dominik
Atomgewicht 500
Hans Dominik

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Dr. Wandel legte den Hörer auf die Gabel zurück und ging unschlüssig in seinem Wohnzimmer hin und her. Ein Mr. Slawter hatte telephonisch gebeten, ihn in einer privaten Angelegenheit zu empfangen. Mr. Slawter? Der Name sagte dem Doktor nichts. Vermutlich wieder irgendein verkannter Erfinder oder Projektemacher, wie sie zu Tausenden in den Staaten umherliefen.

Der Doktor bedauerte es jetzt, daß er den Mann nicht gleich am Telephon abgewiesen hatte. Mit Unbehagen sah er dem Besuch entgegen. Wenigstens eine halbe Stunde seiner Zeit würde der Mensch in Anspruch nehmen, bevor es gelang, ihn auf gute Manier wieder loszuwerden. Nun war nichts mehr daran zu ändern. Er hatte zugestimmt und mußte die Sache über sich ergehen lassen. Mißmutig schob er seine Papiere zusammen, als es klingelte.

Während Dr. Wandel seinem Besuch einen Platz anbot, betrachtete er ihn prüfend. Ein paar klare, klug blickende Augen unter einer hohen Stirn; regelmäßige Gesichtszüge; ein Mund und ein Kinn, die von verhaltener Willenskraft zeugten.

Der Eindruck war so, daß Dr. Wandel die Unterhaltung mit mehr Entgegenkommen begann, als er ursprünglich beabsichtigte, aber er wurde in seiner Meinung wieder schwankend, als der Fremde damit herauskam, daß er auf demselben Gebiete wie der Doktor tätig sei.

»Ich glaube nicht, Mr. Slawter, daß über die Art meiner Arbeiten bisher irgend etwas in die Öffentlichkeit gedrungen ist«, sagte er mit deutlicher Zurückhaltung.

»Vielleicht doch, Herr Doktor Wandel. Ich weiß, daß Sie mir um acht Punkte voraus sind.«

»Wie soll ich das verstehen, Mr. Slawter?« fragte der Doktor überrascht.

»Sehr einfach. Es gelang mir, ein Gas zu erzeugen, das mit einem Atomgewicht von zweihundertzweiundvierzig das Uran um vier Einheiten übertrifft. Sie, Herr Doktor, haben bereits einen Stoff mit dem Atomgewicht zweihundertfünfzig hergestellt. Das ist Ihr Vorsprung, von dem ich eben sprach.«

Der Doktor blickte seinen Besuch entgeistert an. Wie konnte dieser fremde Mensch um Dinge wissen, die bisher sein ureigenstes Geheimnis waren? Möglichkeiten und Namen wirbelten in einer Sekunde durch sein Gehirn. Atomgewicht zweihundertfünfzig . . . außer ihm kannte nur MacGan diese Zahl . . . Sollte der etwa . . .

Der Fremde schien ein guter Gedankenleser zu sein.

»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Doktor, die Quelle zu suchen, aus der ich meine Kenntnisse habe. Es wäre ein vergebliches Unterfangen. Lassen Sie sich an der Tatsache genügen, daß meine Informationen zutreffend sind.«

Dr. Wandel gab das fruchtlose Grübeln auf.

»Gut, Mr. Slawter«, erwiderte er kurz, »ich habe einen solchen Stoff hergestellt. Was nun weiter?«

»Das hängt von Ihnen ab. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Herr Doktor Wandel, doch vorher möchte ich noch etwas vorausschicken.«

»Meinetwegen, Mr. Slawter. Schießen Sie in Gottes Namen los!«

Der Doktor legte sich weit in seinen Sessel zurück und ließ die Lider halb über die Augen sinken. Er bemühte sich, äußerlich gelassen zu erscheinen, doch es wurde ihm immer schwerer, seine innere Erregung zu verbergen, als Mr. Slawter nun weitersprach.

»Sie sind in Detroit nicht am richtigen Platz, Herr Doktor. Sie haben es hier mit unwissenden und böswilligen Vorgesetzten zu tun, die Ihre Arbeiten systematisch sabotieren . . .«

Der Doktor öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne zu sprechen.

Fast wörtlich brachte der Fremde das gleiche vor, das er selbst vor kurzem Direktor Clayton gegenüber geäußert hatte. Slawter sah seine Bewegung und fuhr fort:

»Versuchen Sie nicht, zu widersprechen, es wäre zwecklos, denn ich bin genau unterrichtet. Die Dinge sind bereits so weit gediehen, daß Sie Ihre Arbeiten heimlich zur Nachtzeit ausführen mußten . . .«

Der Doktor richtete sich jäh auf. »Sind Sie des Teufels, Herr!« brach es von seinen Lippen. »Wie können Sie das wissen?«

»Ich weiß noch mehr, Herr Doktor. Ihr famoser Professor Melton« – während Slawter den Namen aussprach, spielte ein ironisches Lächeln um seine Lippen – »dürfte den neuen Autoklav, der auf Ihre Veranlassung beschafft wurde, in den nächsten Tagen in Grund und Boden verderben.«

Wieder wollte der Doktor etwas sagen, und wiederum verschlug es ihm die Stimme. Slawter fuhr unbewegt fort:

»Sie haben das vorausgesehen, Herr Doktor Wandel, aber Sie waren außerstande, diese Torheit zu verhindern. Deshalb haben Sie noch schnell in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch einen Versuch gemacht, der Ihnen einen großen Erfolg brachte . . .«

Dr. Wandel fand die Sprache wieder.

»Gestatten Sie, Mr. Slawter«, sagte er, »daß ich mich etwas wundere.« Er sprach mit gekünstelter Ruhe, aber je weiter er kam, um so mehr brach seine Erregung durch. Es hielt ihn nicht länger an seinem Platz, er sprang auf und lief im Raum hin und her, während er weitersprach.

»Was soll das alles? Wozu erzählen Sie mir diese Dinge, die Sie – der Himmel mag wissen, wie – erfahren haben?«

»Ich mußte sie Ihnen mitteilen, Herr Doktor, um Sie auf meinen Vorschlag vorzubereiten. Werfen Sie der United den ganzen Krempel vor die Füße und kommen Sie zu uns. Man wird Sie mit offenen Armen empfangen.«

Der Doktor blieb stehen und sah Slawter groß an.

»Zu uns? Sie reden plötzlich in der Mehrzahl . . . für wen sprechen Sie?«

»Oh, Verzeihung, Doktor Wandel! Gestatten Sie, daß ich das Versäumnis nachhole. Ich gehöre zum Stab der Dupont Company und spreche im Auftrage der Company zu Ihnen.«

Der Doktor pfiff durch die Zähne.

»Ach, so ist das, Mr. Slawter! Daher stammen Ihre fast unheimlichen Kenntnisse über Geheimvorgänge bei der United. Alle Achtung vor dem Nachrichtendienst der Company! Nach den Proben, die Sie mir gaben, muß er bewundernswert sein.«

»Besser jedenfalls als der der United, Herr Doktor. Auch sonst werden Sie bei der Company alles besser antreffen. Wie denken Sie über meinen Vorschlag?«

»Ich bedauere, ihn ablehnen zu müssen, Mr. Slawter. Ich habe mich der United für die Durchführung bestimmter Arbeiten verpflichtet und nicht die Absicht, vertragsbrüchig zu werden.«

Slawter wiegte den Kopf leicht hin und her.

»Das brauchen Sie auch nicht, Doktor Wandel. Die United wird Ihnen gegenüber vertragsbrüchig werden. Sie ist es, genau genommen, schon geworden.«

»Darüber müssen Sie mir die Entscheidung überlassen«, wehrte der Doktor ab. Slawter nickte.

»Deutsche Gewissenhaftigkeit. Ich konnte es mir fast denken. Aber trotz aller Gewissenhaftigkeit werden Sie doch sehr bald gezwungen sein, Ihre Entscheidung zu treffen. Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, wie die Dinge weitergehen werden. Professor Melton – um diese Akquisition ist die United wirklich nicht zu beneiden – wird den Autoklav verderben, und Monate werden vergehen, bevor ein anderer beschafft wird – falls er überhaupt noch beschafft wird. Legen Sie inzwischen das, was Sie erreicht haben, der Leitung der United vor, so werden Sie auch wenig Freude davon haben. Auf jede mögliche Weise wird dieser von allen guten Geistern verlassene Professor dann versuchen, den verdorbenen Autoklav auf Ihr Konto zu bringen, und über Ihren Erfolg mit einem Achselzucken hinweggehen.«

Der Doktor ließ den Kopf sinken. Sosehr er sich auch zu sträuben versuchte, jeden Satz, den der andere sprach, mußte er als richtig anerkennen. Slawter beobachtete die Wirkung seiner Worte und stand auf.

»Ich will Sie heute zu keiner Entscheidung drängen, Herr Doktor«, beendete er die Unterredung; »was ich Ihnen sagen wollte, habe ich Ihnen gesagt. Wir sind bereit, jeden Tag mit Ihnen abzuschließen. Hier ist der Vertrag, den die Company Ihnen bietet.«

Er nahm ein Schriftstück aus seiner Aktentasche und legte es auf den Tisch. Dr. Wandel schob es beiseite.

»Ich kann nicht, Mr. Slawter. Ich bin der United verpflichtet.«

»Vielleicht noch heute und morgen, Herr Doktor. In einer Woche wohl kaum noch. Dann geben Sie mir Nachricht nach Salisbury.«

Robert Slawter verabschiedete sich, Dr. Wandel blieb allein mit seinen Gedanken, die immer quälender wurden. Jedem Wort, das der Abgesandte der Dupont Company gesprochen hatte, mußte er innerlich beipflichten. Bis in die letzten Einzelheiten war alles richtig, was Slawter gesagt hatte. Warum sollte er die Chance nicht ausnutzen, die das Schicksal ihm bot? Er griff nach dem Vertrag, blätterte darin und begann ihn zu lesen.

Die Bedingungen waren verlockend . . . Volle Selbständigkeit und Unabhängigkeit bei seiner Tätigkeit garantiert . . . Zusicherung eines hohen Anteils an den wirtschaftlichen Erträgnissen seiner Arbeiten . . . Bereitstellung fast unbeschränkter Mittel für die erforderlichen Versuche . . .

Mit Unmut erinnerte er sich daran, wie er bei der United hatte kämpfen müssen, um den neuen Autoklav bewilligt zu bekommen . . . Wenn die Company wirklich hielt, was sie ihm anbot, durfte er sich die Möglichkeit nicht verscherzen . . . Aber würde sie es auch halten? Wie war es denn bei der United gewesen? Erst die bergehohen Versprechungen Claytons und dann eine Enttäuschung nach der anderen. Würde es bei der Company ebenso gehen, wenn er wirklich zugriff? . . .

Zergrübelt, von Zweifeln zermürbt, erhob er sich und verschloß den Vertrag in seinem Schreibtisch.

»In einer Woche wird die Sache spruchreif sein«, hatte Slawter beim Abschied gesagt. Warten wir ab, was die kommende Woche bringen wird, dachte Dr. Wandel, während er das Schloß zuschnappen ließ. – –

Die nächsten Tage brachten dem Doktor noch keine Entscheidung, aber Tom White brachten sie in gewisser Hinsicht eine Enttäuschung. Der findige Agent Mr. Spinners hatte den Unternehmungsgeist Meltons beträchtlich überschätzt. Auch nachdem der neue Autoklav sicher in die Dammgrube eingebaut war, ging der Professor nur ganz allmählich Schritt für Schritt mit den Versuchen weiter, und Wilkin bestärkte ihn in seiner Vorsicht.

Da gab es erst ein paar Heizversuche, aber Melton hütete sich wohlweislich, die Erwärmung so weit zu treiben, daß die stählerne Kugel in der Grube dadurch gefährdet werden konnte. Die Hoffnung Whites, daß der Autoklav schnell zum Teufel sein würde, erfüllte sich nicht. Dann kamen andere Versuche unter gleichzeitiger Anwendung von Hitze und Druck, aber auch dabei gingen Melton und sein Assistent so behutsam vor, daß Tom White als stiller Zuschauer nicht recht wußte, ob er sich ärgern oder ob er lachen sollte.

Aus einem stillen Winkel beobachtete er das Spiel der Pumpen, die das Heliumgas in den Autoklav preßten, und sah, wie Melton die Maschinen sofort wieder stillsetzen ließ, als der Druck in der Kugel dreitausend Atmosphären erreichte. Und mit dem Strom gingen die beiden so sparsam um, als ob sie die Rechnung dafür aus eigener Tasche bezahlen sollten.

Unwillkürlich mußte White jenes andere, nächtliche Experiment in Gedanken damit vergleichen. Was war der deutsche Doktor doch für ein anderer Kerl! Der hatte Druck und elektrische Energie bis an die Grenze der errechneten Möglichkeit in die Stahlkugel gejagt. Der hätte es unbekümmert gewagt, daß der Autoklav in die Luft flog und ihn bei seiner Himmelfahrt mitnahm. Aber der hatte auch einen Erfolg gehabt, der die Leute in Salisbury nicht mehr schlafen ließ. Dagegen die beiden hier . . .

Die konnten noch monatelang so weitermachen und würden doch nichts Brauchbares herausbekommen . . . Richtig! Da waren sie schon wieder mit ihrer Kunst zu Ende. Der Strom wurde abgestellt und das heiße Gas aus dem Autoklav abgeblasen. Und dann hörte White, wie Professor Melton zu Phil Wilkin sagte:

»Bis morgen früh wollen wir die Sache verkühlen lassen. Dann werden wir mal nachsehen, was der Versuch erbracht hat.«

Oh, was seid ihr beide für Idioten! dachte White bei sich und beschloß, noch am gleichen Abend über diese Komödie an Mr. Spinner zu berichten.

*


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