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IX.

Die Verhältnisse hatten sich derart gestaltet, daß Walter den Wunsch hatte, abzureisen, Somnitz dagegen ein ziemlich lebhaftes Interesse hatte, den Fortgang der Angelegenheit zu beobachten. Der Eindruck, den Anna auf Somnitz gemacht hatte, war vollständig dadurch paralysirt worden, daß er sich gesagt, er könne der Tochter Steinert's niemals die Hand reichen, und er glaubte, daß der Gedanke an ihren Vater ihn vollständig gegen den Zauber Anna's panzern werde, daß er also ohne Gefahr in ihrer Nähe weilen könne. Ihn interessirte dabei nicht allein die Untersuchung, welche Hallborn leitete, sondern ihn beschäftigte auch der Gedanke, mit der Entwicklung derselben Aufschluß darüber zu erhalten, ob seine Phantasie ihn getäuscht habe, als er in Steinert den Mann wiedererkannt, dessen Züge ihm so oft in diesen Traumbildern der Erinnerung vor die Seele getreten waren.

Mit Walter verhielt es sich anders. Er hatte sich völlig mit dem Gedanken vertraut gemacht, Bertha dereinst die Seine zu nennen und ihrer unglücklichen Mutter eine Stütze in der Noth zu sein. Wenn er ihnen jetzt wieder begegnete, so war eine Erklärung nothwendig, die befriedigend zu geben ihn das Versprechen verhinderte, das er Hallborn geleistet; augenblicklich, so wähnte er, mußte Frau Steinert von ihm glauben, daß er entweder das Werkzeug eines Spähers gewesen oder in unverantwortlicher Weise Gerüchte ausgebeutet habe, um sie zu beängstigen und ihr Vertrauen zu gewinnen.

Das Gerathenste erschien daher, sich einer Begegnung mit Frau Steinert zu entziehen, bis entweder der von Hallborn so sicher prophezeihte Unglücksfall für die Familie eintraf, oder bis es ihm gestattet war, sein Benehmen ohne jeden Rückhalt erklären zu können.

Somnitz mußte ihm beipflichten, Walter traf seine Anstalten zur Abreise und bat Somnitz, ihm von Allem, was geschehe, sogleich Kenntniß zu geben, er werde vorläufig seinen Aufenthalt in dem vier Meilen entfernten Städtchen X. nehmen. Walter hatte dem Wirth des Hauses seine veränderte Absicht mitgetheilt und sich zum andern Morgen einen Wagen bestellt, als er im Laufe des Nachmittags ein kleines Billet zugestellt erhielt, welches zu seiner nicht geringen Ueberraschung von einer Damenhand herrührte. Er erbrach das Schreiben und sein Blut walte lebhafter, als er die Unterschrift »Marianne Steinert« las.

»Herr Doctor«, so lautete das Schreiben, dessen Züge die Spuren heftiger Erregung trugen, »ich thue nach schwerer, bitterer Ueberlegung einen Schritt, den Sie nicht mißverstehen werden, wenn, wie ich zu Gott vertraue, Ihre Theilnahme eine aufrichtige gewesen.

Sie deuteten mir an, daß Sie von Gefahren unterrichtet seien, die meinen Gatten bedrohten. Sie sind vielleicht aus einer Quelle, die Sie nicht nennen wollen oder dürfen, besser unterrichtet über das, was noch kommen kann, als er selber.

Mein Gatte hat plötzlich den Entschluß gefaßt, das Bad zu verlassen. Mich beunruhigt eine unbeschreibliche Angst, daß er dadurch vielleicht Etwas beschleunigen könnte, was Sie dunkel andeuteten und für möglich hielten.

Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, Sie um Ihren Rath zu bitten. Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie ein Geheimniß verrathen oder mir eine bestimmte Mittheilung machen, ich bitte Sie nur, mir nach Ihrem besten Wissen und nach Ihrer innersten Ueberzeugung zu sagen, ob die Möglichkeit vorliegt, daß im Falle unserer Abreise von hier sich Etwas ereignen könnte, was auf meine arglosen Kinder einen unauslöschlichen Eindruck machen müßte, einen Eindruck, vor dem ich sie als Mutter bewahren muß.

Mein Gatte hat Nachrichten erhalten, die ihm sehr kränkend gewesen sind, aber doch keinen beunruhigenden Charakter haben. Sie, der Sie von dem, was bei uns zu Hause vorgegangen, früher unterrichtet waren, werden mir vielleicht eine Auskunft geben, einen Rath ertheilen können, wenn Sie nicht im Stande sein sollten, die Beunruhigungen, die Sie erweckt haben, zu zerstreuen.

Meine Töchter ahnen nichts von dem, was mich so heftig erschüttert hat und was, wenn es unvorbereitet ihnen mitgetheilt wird, sich mit doppelter Schwere auf ihre Seelen legen würde; diese Besorgniß ist es, die mich veranlaßt, ohne Vorwissen meines Gatten an Sie zu schreiben und ich habe das feste Vertrauen zu Ihnen, daß dieser Schritt mich weder gereuen noch von Ihnen mißverstanden werden kann.

Es ist genug, daß ich ein Billet an Sie richte, ohne meinen Gatten davon in Kenntniß zu setzen. Ist es Ihre Meinung, daß ich ohne Besorgniß mit meinem Gatten die Reise antreten kann, so bitte ich Sie, mir keine Antwort zu geben und meiner Dankbarkeit für Ihre Theilnahme an mir versichert zu sein; haben Sie dagegen mir einen andern Rath zu ertheilen, so schreiben Sie nicht, kommen Sie zu mir und ich werde meinem Gatten, damit er Ihnen seinen ungerechten Vorwurf abermals machen kann, die Erklärung geben, daß ich Ihren Besuch erbeten habe.«

Walter eilte zu Hallborn, aber er fand dessen Thür verschlossen und erfuhr, daß er schon seit geraumer Zeit ausgegangen sei, er flog zu Somnitz und da der Freund in alle Geheimnisse eingeweiht war, nahm er keinen Anstand, ihm den Brief zu zeigen.

Somnitz nahm das Schreiben und als er sich jetzt in die Lage der unglücklichen Frau versetzte, überwog das Gefühl des Menschen doch wieder das Interesse des Juristen.

»Ich verstehe Alles,« sagte er, »der Instinkt sagt dieser Frau, daß Steinert va banque spielt. Sie muß unbedingt eine Krankheit vorschützen und zurückbleiben, Steinert muß ihrer unsicher sein, da er ihre Begleitung wünscht, die ihm doch nur hinderlich sein kann, ob er nun seinen Anklägern in's Auge schauen oder flüchten will. Es geht ihm wie Allen, die endlich von der Gerechtigkeit ereilt werden: er verliert den Kopf. Die Haussuchung giebt ihm den Vorwand zur Abreise, will er unterwegs die Direktion ändern, weil er sich verfolgt glaubt, so sind ihm Weib und Kinder dabei nur hinderlich; aber in seiner Verblendung denkt er, die Begleitung von Damen werde ihn nirgend als einen Flüchtigen erscheinen lassen und zittert vielleicht gar, sein Weib könne ihn verrathen oder werde ihm nicht folgen. Er will bei sich haben, was er nicht lassen kann und fürchtet das Unwahrscheinlichste, anstatt natürlich zu handeln. Bei jeder Geschäftsreise läßt er die Seinen heim, heute will er sie mitschleppen. Doch da ist Hallborn, er wird uns mehr sagen.«

Der Criminalbeamte kam über die Straße, da er Somnitz am Fenster bemerkt. Er schlenderte gemächlich wie ein gelangweilter harmloser Brunnengast, der im Bade Welt und Zeit vergessen will. Wer seinen Charakter nicht kannte, hätte ihn für den gleichgültigsten harmlosesten Menschen unter der Sonne halten müssen. Als er aber in das Zimmer trat, veränderte sich wie mit einem Zauberschlage sein ganzes Wesen.

»Wir haben ihn,« sagte er. »Steinert hat einen Wagen bestellt. Ich bin neugierig, wohin er sich wenden wird, wenn er X. erreicht.«

»Sie haben also nicht weiter vor, als ihn im Auge zu behalten? Sie denken noch nicht an ein Einschreiten?« fragte Walter hastig.

Hallborn lächelte.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor,« sagte er, »meine erste Prophezeihung ist nicht eingetroffen, ich kann mich nicht gut dem aussetzen, daß Sie mir eine zweite Täuschung vorwerfen.«

»Herr Criminalrath, ich bin zufrieden, wenn Sie mir sagen, ob für Steinert die Gefahr einer Verhaftung möglich ist.«

»Hm, das kann dem Unschuldigsten passiren.«

Somnitz, der wohl bemerkte, daß der Beamte absichtlich zurückhaltend gegen Walter war, erklärte ihm dessen Absicht.

»Ich weiß es,« versetzte Hallborn, »daß Frau Steinert an Sie geschrieben, ich weiß Alles, was im Hause meines braven Wirthes vorgeht, aber eben darum kann ich nicht plaudern. Sie haben jedenfalls gehört, daß Herr Steinert beruhigende Nachrichten erhalten hat. Warum sollte er fliehen? Das würde nur Argwohn erwecken. Er reist nach Hause, um Beschwerde zu führen, oder in ein anderes Bad, da Sie hier seiner Frau Besorgnisse in den Kopf gesetzt haben – das ist Alles.«

Walter konnte sich diesen Ton nicht erklären; war er offen oder verstellt, er wußte es nicht und doch lag ihm Alles daran, Klarheit zu erlangen. Da nahm ihn Somnitz bei Seite.

»Eile hinüber,« flüsterte er, »merkst Du nicht, daß er Dir nicht traut? Halte die Frau zurück, ich ahne, daß die Krisis da ist.«

Walter bemerkte, daß Hallborn's Auge lauernd auf Somnitz geheftet war und finster drein schaute. Er sah, daß Somnitz sich nicht getäuscht und entfernte sich rasch.

»Herr Staatsanwalt,« sagte Hallborn, als Walter das Zimmer verlassen, »wollen Sie die Verantwortung davon tragen, daß Ihr Freund von Neuem meinen Weg durchkreuzt?«

»Herr Criminalrath,« versetzte Somnitz ernst, »ich verantworte Alles, was ich thue. Aber ich glaube, Sie verlangen zu viel. Unterscheiden wir doch ja, was den Kavalier und was den Beamten angeht. Ich war Ihnen meinen Rath und meine Hilfe schuldig, mein Freund erwies Ihnen die seinige aus Gefälligkeit gegen ein Versprechen, das Sie ihm gaben; er hat nie daran gedacht, Ihr Werkzeug zu werden. Ich wiederum, ich weiß sehr wohl, was ich dem Freunde schulde, der mir sein Vertrauen geschenkt und habe ihm übrigens nur den Rath wiederholt, den ich ihm bereits gegeben, ehe Sie in's Zimmer traten.«

»Herr Staatsanwalt, ich habe durchaus weder ein Recht, noch die Absicht, Ihnen Vorwürfe zu machen, aber Sie werden mir zugeben müssen, daß dieser Weg, den der Doktor Walter jetzt auf Ihren Rath unternimmt, alle Maßregeln, die ich getroffen, vereiteln kann. Steinert wird nicht reisen, wenn die Frau sich weigert, ihn zu begleiten.«

»Das ist möglich, obwohl ich es nicht glaube. Gesetzt aber, es wäre der Fall, so tragen Sie die Schuld, nicht ich. Walter hat ein lebhaftes Interesse für die Familie, Sie benutzen dies, um sich durch ihn zu orientiren und können nun nicht fordern, daß er plötzlich das ihm geschenkte Vertrauen verräth oder sich dessen unwürdig zeigt. Frau Steinert hat ihn um seinen Rath gebeten, ob sie ihren Mann begleiten soll oder nicht, Walter wird den Rath nach bestem Wissen ertheilen. Ahnt er Ihre Schritte, so haben Sie ihm dazu den Argwohn gegeben.«

»Mag es sein,« murmelte Hallborn mißmuthig, »das ist die Folge davon, wenn man als Beamter Mitleid fühlt.«

»Herr Hallborn, ich habe Walter als Freund meinen Rath gegeben und bin bereit, jetzt als Jurist Ihnen zu helfen, wenn ich es vermag. Sie werden es später erfahren, daß ich ein besonderes Interesse an der Aufklärung der Vergangenheit Steinert's habe, daß mir viel daran liegt, ihn in Händen des Gerichts zu sehen. Was beabsichtigten Sie vorzunehmen?«

»Sie versprechen mir Ihre Discretion als Beamter hierüber?«

»Mein Wort darauf.«

»Ich wollte ihm bis zur Grenze folgen. Weicht er nicht von der graden Straße ab, so waren alle Zollbeamten verpflichtet, mich bei der Visitation zugegen sein zu lassen; suchte er anderswo über die Grenze zu kommen, so verhaftete ich ihn.«

»Sie sind überzeugt, Gravirendes unter seinen Effecten zu finden?«

»Er hat einen Koffer mit künstlich verschlossenen Doppelwänden. Den Inhalt, den er daselbst verborgen, muß er irgendwo versteckt haben, denn als ich heute Morgen, während seiner Abwesenheit die Koffer nachsah, waren die Zwischenräume leer.«

»Wie kamen Sie unbemerkt dazu?«

»Ich zog den Wirth in mein Vertrauen, er brachte den Koffer auf mein Zimmer.«

»Er weiß es, daß Sie Beamter sind? Dann kann er sich gut verstellen. Wie stark sind die Zwischenräume?«

»Sie können einen Anzug bergen. Der Koffer ist besonders dazu angefertigt, und sehr künstlich gemacht. Es sieht aus, als wäre er von starkem Lederwerk, aber er ist nur mit dem dünnsten Ziegenleder bezogen, nach dem Boden zu wird der Flächeninhalt durch die schräg stehende Einlage unmerklich geringer, und läßt dort zwischen der inneren und äußeren Wand einen Spielraum von anderthalb Zoll nach den Seiten hin, während die Tiefe keinen verborgenen Raum abgiebt. Die Seitenwände öffnen sich durch Federspiel. Hätte mir ein ähnlicher Koffer nicht vorgelegen, als ich im vorigen Jahre einen Falschmünzer auf britischem Boden zur Haft brachte, so würde der argwöhnischste Blick mich das Geheimniß desselben nicht haben errathen lassen.«

»Sie meinen also, daß Steinert Dinge mit sich führt, die ihn kompromittiren können und die er jetzt hier irgend wo verborgen hält! Warum fordern Sie nicht einen hiesigen Beamten auf, mit Ihnen die Revision im Moment der Abreise vorzunehmen, und wollen ihm die Chance lassen, auf dem Wege zwischen hier und der Grenze Ihren Augen zu entrinnen? Er ist ein Schmuggler, wie Sie sagen, und dürfte daher Mittel finden, Sie zu täuschen, wie er Grenzjäger irre geleitet.«

»Das ist richtig und ich muß mich auf mein Glück und meine guten Augen verlassen, ich halte es dagegen nicht für rathsam, hier eine Revision vorzunehmen und eventualiter die Verhaftung zu beantragen. Gesetzt, ich finde was ich vermuthe, einen falschen Bart, falsche Perrücken, Schminkerequisiten und einen Arbeiteranzug, so ist das nur für mich ein Beweis, nicht für einen Anderen. Hier befinden wir uns aber auf österreichischem Boden, die Verhaftung würde auf eine Requisition stattfinden, aber die Auslieferung des Inkulpaten würde Schwierigkeiten machen und wenn sie überhaupt erfolgt, sich sehr in die Länge ziehen. Steinert besitzt ein Gut im Preußischen, aber er hat dasselbe auf den Namen seiner Frau eintragen lassen und ist im österreichischen Unterthanenverband geblieben. Er hat einflußreiche Freunde in Prag und Wien, er ist ein reicher Mann und bei allem Respekt vor der hiesigen Gerichtspflege, bin ich doch überzeugt, daß seine Verbindungen ihm Nutzen bringen könnten, daß man ihn gegen Bürgschaft und Kaution entläßt oder seiner Flucht nicht hinderlich ist – die Beweise für den Mord sind nicht zu schaffen und da er nicht ins Oesterreichische hinein, sondern nach Preußen hin Schmuggelhandel getrieben, so hat man kein Interesse daran, besonders streng zu verfahren.«

»Und Sie sind Ihrer Sachen so gewiß,« sagte Somnitz, »daß Sie die Verantwortung einer Verhaftung Steinert's auf deutschem Boden übernehmen wollen, sobald Sie im Koffer nur die erwähnten Objekte finden?«

»Ich will in diesem Falle sogar erklären, daß ich ihn wegen dringenden Verdachts des Mordes verhafte.«

»Gut, so werde ich ihn veranlassen, auch ohne Familie abzureisen; ich glaube ein Mittel in der Hand zu haben, dies zu erreichen, wenn er der Mann ist, für den ich ihn halte.«

Der Criminalrath schaute Somnitz fragend an, als erwarte er eine Erklärung. Dieser bemerkte den Blick.

»Herr Hallborn,« sagte er, »fragen Sie mich jetzt um weiter nichts. Ich habe einen gewissen Verdacht, wirkt mein Mittel, so ist er Gewißheit, und ich trete mit einer Anklage auf, die Ihnen die Verantwortung seiner Verhaftung sehr erleichtern soll – habe ich mich jedoch getäuscht, so ist dadurch für Sie nichts verdorben.«

»Ich verlasse mich ganz auf Ihre Vorsicht,« versetzte Hallborn, seinen Hut ergreifend, »und bin gespannt darauf, mehr von Ihnen zu hören.«

Damit entfernte er sich und Somnitz rüstete sich gleichfalls zu dem Gange, den er angedeutet.

Er hatte einen Entschluß gefaßt, dessen Gedanke ihn in große innere Erregung versetzte, und dessen Ausführung ihm noch nicht ganz klar war in der Art, wie er sie glücklich zu Wege bringen sollte, aber eine innere Stimme sagte ihm, daß er damit eine Pflicht erfülle, die höher stehe, als daß selbst die Rücksicht auf ein geliebtes Wesen ihn davon hätte abhalten dürfen.

Und doch, der Gedanke an Anna und Bertha machten ihm sein Vorhaben schwer. Er war im Begriff eine furchtbarere Anklage als die jenes Mordes am Grenzjäger auf den Vater des Mädchens zu wälzen, dem Walter sein Herz geschenkt, auf den Vater auch jenes Kindes, dessen reizende Anmuth ihn bezaubert und das ihm mit so herzlichem, kindlichem Vertrauen genaht war.

Was sollte sie von ihm denken, wenn er plötzlich als erbarmungsloser Feind ihres Vaters auftrat, nachdem er wie ein Freund sich der Familie genähert? Mußte sie ihn nicht hassen und verachten, wenn sie auch seine Verpflichtung als gerecht erkannte, mußte sie ihm nicht den bitteren und beschämenden Vorwurf machen, daß er die Maske eines Heuchlers getragen, als er heute ihrem Vater die Hand gereicht, und ihr ins Auge geschaut, als suche er ihr Herz?

Wenn er sie nur sprechen, wenn er ihr nur sagen könnte, wie er mit den Zweifeln gekämpft, und wie schwer ihm die Pflicht sei, diesem schrecklichen Zweifel ein Ende zu machen!

Er schaute durch das Hinterfenster nach dem Garten, und es war ihm, als sende das gütige Geschick ihm einen Wink. Helle Gewänder glänzten durch das grüne Laub, die jungen Mädchen promenirten.

Er eilte hinab, trat durch die Hecken in den Garten des Nachbarhauses und indem er einen Seitenweg einschlug, richtete er es so ein, daß er ihnen begegnen mußte. Sein Herz pochte stürmischer, die Gestalt Anna's war von einem Liebreiz umflossen, der ihn berauschte. Innig an den Arm der Schwester sich schmiegend, trug sie den leichten Hut in der Hand und der Wind spielte mit ihren Locken. Ihr Antlitz hatte nicht den rosigen Hauch, in dem heute Morgen ihre Wange erglühte, es war ein trüber Schatten darüber gezogen, als sie aber ihn bemerkte, bedeckte eine Purpurröthe Stirn und Wange. Sie beugte das Haupt herab, ihr Erröthen zu verbergen, und zog ihre Schwester in hastiger Bewegung seitwärts, als wolle sie die Begegnung vermeiden.

Bertha schaute sich um und erwiderte den Gruß Karl's mit kalter, nichts weniger als ermuthigender Verneigung des Kopfes. Anna schaute fort und die beiden jungen Damen bogen so plötzlich vom Wege ab, daß Somnitz den Wink verstehen mußte, daß ihm kein Zweifel darüber bleiben konnte, man weiche ihm absichtlich aus.

Er verkürzte seinen Schritt, er war unentschlossen, was er beginnen sollte, dieses Ausweichen verletzte ihn, und er hätte es doch erwarten können nach der Scene, die Walter heute von der Schwelle ihres Vaters vertrieben.

»Du hättest doch seinen Gruß erwidern sollen!« flüsterte Bertha der Schwester zu, als sie sich nicht verfolgt sahen. »Er muß Dich für sehr unhöflich halten.«

»Mag er das, und es soll mich freuen, wenn er gefühlt, daß ich absichtlich weggesehen.«

»Anna, wir haben keine Ursachen, die Stolzen zu spielen.«

»Ich sehe den Grund davon nicht ein. Wenn die Herren es für ein so großes Verbrechen halten, daß der Vater einige Waaren nicht verzollt hat, warum suchten sie dann den Umgang mit uns?«

»Liebe Anna, es ist mir, als ob der Vater uns nicht Alles gesagt hat, denn die Mutter, die gewiß mehr weiß, ist ungeheuer erregt. Ich finde es freilich nicht hübsch, daß Herr von Somnitz unsere Bekanntschaft gesucht, während er mit einem Spion der Zollbehörden befreundet ist und der Vater thut Recht den Umgang abzubrechen, aber wer weiß, ob Somnitz die Sache nicht erst heute Mittag erfahren, als sein Benehmen, wie Du sagst, sich ganz verändert zeigte.«

»Das mache ich ihm eben zum Vorwurf. Legt er ein so schweres Gewicht auf die Sache, so hätte er nicht kommen sollen. Es ist unedel, die Kinder fühlen zu lassen, daß er den Vater geringschätzt und diesen dadurch zu zwingen, denselben ein Geständniß zu machen, welches ihn vor seinen Kindern erröthen läßt.«

»Anna, ich würde Dir Recht geben, wenn nicht eine Ahnung mich zittern ließe, daß der Vater uns nicht Alles gesagt. Er ist jetzt schon drei Stunden fort – die Mutter hat sich eingeschlossen und vor Kurzem ist Walter bei ihr eingelassen worden, obwohl der Vater ihm heute beleidigend die Thüre gewiesen.«

»Wenn er nur fort ist, ehe der Vater zurückkehrt!« sagte Anna. »Ich verstehe die Mutter nicht und ihn noch weniger.«

»Ich habe ihn beobachtet, wie er heute dem Vater gegenüber stand und die unverdiente Beleidigung hinnahm und in dem Augenblick die Ueberzeugung gewonnen, daß er ein edler Mensch ist – doch pst! – da ist Somnitz wieder, er sucht uns.«

Die Mädchen waren einen Pfad gegangen, der sich im Bogen durch die Gebüsche zog und abermals kam ihnen Somnitz entgegen, ohne daß sie diesmal ausweichen konnten.

Bertha schaute frei vor sich hin, Anna hatte den Blick zu Boden geheftet und wollte so vorübergehen, als Somnitz sie anredete.

»Meine Damen,« sagte er, »Sie verzeihen, wenn ich frage, wo ich Ihren Herrn Vater treffe. Er ist nicht zu Hause und ich suche ihn vergeblich im Garten.«

»Er ist ausgegangen,« antwortete Bertha, überrascht aufschauend, da sie diese Frage am wenigsten erwartet hatte. »Auch wir wissen nicht wohin.«

»Das bedaure ich sehr, ich hätte ihn gern noch vor seiner Abreise gesprochen.«

Jetzt schaute auch Anna befremdet auf.

»Wie?« fragte Somnitz, »Sie wüßten das nicht? Mir sagte Ihr Hauswirth – oder war es Hallborn, daß Ihr Herr Vater heute die Wohnung gekündigt hat und abreisen will.«

»Herr Hallborn scheint sich sehr für andere Leute zu interessiren,« entgegnete Anna spitz.

»Die Sache muß auf einem Irrthum beruhen,« bemerkte Bertha, »der Vater hat uns nichts von einer Abreise gesagt.«

»Fräulein Anna,« entgegnete Somnitz in leisem Tone, »Sie haben ganz Recht, wenn Ihnen im Allgemeinen Leute zuwider sind, die mit zudringlicher Neugierde Andere belästigen, und ich kann es Ihnen nicht verargen, wenn Sie auf Herrn Hallborn diesen Verdacht werfen.«

»Herr von Somnitz, ich mache Niemand einen Vorwurf, der mir höchst gleichgiltig ist.«

»Und Sie lassen dies auch sehr deutlich Diejenigen fühlen, die Ihnen nicht gleichgültig sein möchten.«

Anna erröthete leicht, als ob diese Bemerkung sie verletzte.

»Sie kennen mich erst so kurze Zeit,« erwiderte sie, »daß es etwas kühn von Ihnen ist, mich beurtheilen zu wollen.«

»Ich kenne Sie erst sehr kurze Zeit und habe doch schon erfahren, daß Sie Unmuth dem Sonnenschein folgen lassen können.«

»Dann werbe ich gewiß meine Ursache dazu haben.«

»Gewiß, aber ist dieselbe auch gerecht?«

»Herr von Somnitz,« mischte sich Bertha ins Gespräch, »Damen sind keine Juristen, sie handeln nach ihrem Gefühl, oft nach der Laune, und haben das Vorrecht, die Erklärungen schuldig zu bleiben.«

»Sie haben dies Vorrecht, Fräulein Bertha, aber es ist grausam dasselbe anzuwenden und eine Appellation an die Gnade ist wohl gestattet.«

»Vielleicht!« erwiederte Anna aufschauend und in ihrem Blicke glänzte Etwas von Muthwillen. »Aber um zu prüfen, ob die Gnade angewandt ist, bedarf ein Fürst Bedenkzeit und einer Dame, die noch viel mehr zu thun hat als ein regierender Herr, die doppelte Muße.«

Man hatte das Haus erreicht und die jungen Mädchen machten Miene sich verabschieden zu wollen, als Steinert durch das Hausthor kam und in den Garten schaute. Der Gedanke, daß Walter noch bei ihrer Mutter sei und sie den Vater verhindern möchten, ihn dort zu treffen, schien beide Mädchen zu erfüllen.

»Da ist der Vater,« sagte Bertha, »wenn Sie ihn also sprechen wollen, Herr von Somnitz –«

Steinert trat hinzu. Eine Wolke des Mißmuths war über sein Antlitz gezogen, als er seine Töchter in Gesellschaft des Staatsanwaltes sah und er hatte sich argwöhnisch umgeschaut, ob etwa der Freund desselben in der Nähe, als er aber diesen nicht bemerkte, heiterten sich seine Züge auf.

»Ihr Diener, Herr von Somnitz,« sagte er, »ich hoffte zwar nicht, daß Sie mich noch mit Ihrem Besuche beehren würden, aber er ist mir um so willkommener. Sie haben jedenfalls von der unangenehmen Sache gehört, die mich zur plötzlichen Abreise zwingt?«

»Von dieser wollte ich bitten mit Ihnen reden zu dürfen, da sie auch mich gewissermaßen angehen dürfte.«

»Wie? Das ist mir ein Räthsel« sagte Steinert befremdet und gab seinen Töchtern, die bei der Erwähnung der Abreise einander betroffen angesehen, einen Wink, sich zu entfernen.

»Ich bitte, Herr Steinert,« sagte Somnitz, der den Wink bemerkt, rasch, »was ich von mir zu erzählen habe und worüber ich mir ihren Rath erbitten wollte, das wird vielleicht auch die Damen interessiren, ich hoffe wenigstens, daß Fräulein Anna mich milder beurtheilen wird, wenn sie hört, was mich heute in betäubender Weise erregte.«

»Sie machen mich sehr neugierig, Herr von Somnitz,« erwiderte Steinert, der jeden Argwohn fallen ließ, als Somnitz die Gegenwart der Damen erbat und sich angenehm davon berührt fühlte, daß der Staatsanwalt, nach dem was er von Hallborn gehört haben mußte, noch veranlaßt war, Anna's gute Meinung zu erstreben.

Die jungen Mädchen schienen nicht minder neugierig und Anna's Auge sagte Somnitz, daß sie Luft habe, ihm zu verzeihen, wenn er ihr dies möglich mache. –



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