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Als Walter die Treppe hinabkam, um der Frau Steinert seinen Besuch zu machen, sah er die Thüre zur Linken nur angelehnt und pochte dort an. Bertha öffnete und als er ihr sein Begehr mittheilte, sagte sie mit einem Lächeln, dessen Huld Walter bezauberte:
»Sie werden schon erwartet, Herr Doctor. Der Vater sagte, daß Sie die Güte haben wollen, den Zustand meiner Mutter zu untersuchen und er schickte uns auf unsere Zimmer, aber ich werde Sie sogleich anmelden lassen. Herr Doctor«, fuhr sie leiser fort und ihre Stimme verrieth eine tiefe innere Bewegung, » es macht mich sehr glücklich, daß der Vater sich endlich an einen Arzt gewandt, meine arme Mutter ist heute sehr leidend, oh, wenn Sie ihr Hilfe bringen könnten!«
»Ich werde mein Bestes thun«, antwortete er bewegt, und der Ton seiner Stimme, so wie der Blick, der dieses Versprechen begleitete, verliehen demselben ein Gewicht, das sich nur fühlen ließ.
»Und Sie sagen mir die Wahrheit, wenn Sie meine Mutter gesehen haben?« flüsterte Bertha mit so bittendem Ausdruck der Züge, daß er viel darum gegeben hätte, mit einer guten Botschaft zurückkehren zu können.
In einer Erregung, für die er sich selbst noch keine Erklärung geben mochte, betrat er den Salon und wenn etwas im Stande war, sein Interesse für die Mutter Bertha's zu erhöhen, so war es das sanfte Bild dieser leidenden Frau, die mit der Ergebung einer Heiligen zu dulden schien. Ein Blick genügte dem Arzt, um die Spuren tiefer Leiden zu erkennen, die das erzwungene Lächeln nicht weghauchen konnte und als er ihr in das Auge sah, fühlte er jene Sympathie, die uns hinreißt, einem Fremden das vollste und herzlichste Vertrauen zu schenken.
»Madame«, sagte er, »der Arzt ist immer der Freund des Kranken und ich bitte Sie, mich als solchen anzusehen und mir Ihr Vertrauen zu schenken. Ihr Herr Gemahl sagt mir, daß in Folge nervöser Reizbarkeit Ihre Phantasie erregt sei, daß Ihnen die Nachtruhe fehle und daß Sie von Beängstigungen gequält werden. Die Medikamente, welche die Apotheke liefert, sind bei solchen Leiden kaum beachtenswerth, wenn der feste Wille fehlt, dem Arzt Vertrauen zu schenken und selbst mit Anstrengung seine Rathschläge zu befolgen. Es ziemt mir nicht zu fragen, welcher Art die Beängstigungen sind, mit denen eine erregte Phantasie Sie quält, aber auch ohne sie zu kennen, weiß ich ein Mittel sie zu beseitigen oder doch wenigstens sie zu mildern.«
»Nennen Sie mir dies Mittel, Herr Doctor, und ich will Ihnen dann sagen, ob ich demselben vertrauen kann.«
»Das Mittel, welches unfehlbar hilft, ist der feste Wille, diese Beängstigungen zu bannen, die nur dadurch, daß man sich ihnen hingiebt, ihre das Mark des Lebens verzehrende Kraft erhalten. Die Medicin hat beruhigende Mittel, aber diese greifen den Körper an, wenn die Seele nicht in der gedachten Weise mit ihnen zusammen wirkt. Sie müssen den Rath befolgen, den Ihr Gatte Ihnen schon gegeben und sich gewaltsam zu zerstreuen suchen. Was Ihnen im Anfang als eine nutzlose und lästige Qual erscheint, wird, sobald Sie mit Konsequenz darin fortfahren, seine wohlthuende Wirkung nicht verfehlen. Es klingt frivol, aber es ist eine tiefe Wahrheit, daß der Mensch ohne eine gewisse Portion Leichtsinn das Dasein nicht erträgt; man darf nicht alles von seiner dunkelsten Seite betrachten, muß dem Glücke vertrauen und die Sorge verscheuchen, man darf das Leben nicht ernster nehmen als es ist.«
Marianne konnte aus diesen Worten leicht errathen, was Steinert von ihr dem Arzte gesagt und der wohlmeinende, offene Ton, den Walter angeschlagen, erweckte ihr Vertrauen.
»Herr Doctor«, erwiderte sie mit trübem Lächeln, »was Sie da sagen, klingt sehr gut, aber es gilt wohl nicht für alle Fälle. Gesetzt, die Ursache meines Leidens beruhte nicht auf körperlichen Mängeln, sondern auf einem tiefen Schmerz, einer bitteren Erfahrung, einem großen Verlust, so dürfte Ihre Theorie wohl scheitern.«
»Nein, Madame, grade dann bewährt sie sich gewiß und ich spreche dies aus eigener Erfahrung.«
»Wie?« rief sie aufhorchend und sympathisch angezogen durch den tiefen, ernsten und doch so weichen Klang seiner Stimme, »Sie hätten schon den bittern Ernst des Lebens, der die Jugend im Herzen ersterben läßt, erfahren?«
»Madame, ich war glücklich verheirathet, sehr glücklich verheirathet und nach einem kurzen Jahre des Glückes erfuhr ich, als eine ernste Berufspflicht mich fern von ihr an die Krankenbetten eines Lazareths fesselten, daß der Tod mir meine Frau durch die Cholera entrissen. Ich will nicht davon reden, daß ich durch eine heilige Pflicht gezwungen war, meinen Schmerz in die Brust zu verschließen, die angestrengte Thätigkeit war mir damals ein Segen; als ich aber heimkehrte in das leere, öde Haus und nicht von ihr empfangen wurde, sondern zum Friedhof schlich, während Andere jubelnd in die Arme ihrer Lieben sanken, da, Madame, focht ich eine schwere Prüfung durch und es ward mir nicht leicht, mich wieder zu ermannen und mich zu finden in das Loos, das mir beschieden.«
Walter sprach dies mit bewegter Stimme, der Schmerz mischte sich in den Klang. Marianne aber war so ergriffen von dieser einfachen, schmucklosen und doch so beredten Schilderung, daß Thränen in ihren Augen glänzten.
»Verzeihen Sie«, hauchte sie, »daß ich eine schmerzliche Erinnerung erweckt, aber haben Sie auch Dank dafür, daß Sie mir das Vertrauen geschenkt, eine Erinnerung kennen zu lernen, die Ihnen heilig ist.«
Walter schaute die kranke Frau an, als sei das Buch ihres Lebens jetzt vor ihm aufgeschlagen. Ein Herz, das also seine Theilnahme ausdrückte, mußte Schwereres erduldet haben, um zu verzweifeln. Nein, es konnten keine eingebildeten Sorgen, es konnte keine ängstliche Uebertreibung kleinlicher Leiden und Sorgen sein, die diese Seele gebeugt und ihr das Vertrauen auf Gottes Fügung genommen. Hatte Steinert ihn absichtlich getäuscht oder kannte er sein Weib so wenig, daß er meinte, diese Seele könne sich um erbärmliche Geldverluste bekümmern und vor eingebildeter Verarmung erschrecken? Nein, was sie niederdrücken und beängstigen konnte, mußte das Herz getroffen haben!
Walter hatte ihre Hand ergriffen und als sie die Dankesworte gesprochen, seine Lippen darauf gedrückt; als jetzt ihre Blicke einander begegneten, sprachen sie aus, daß sie ihn und er sie verstanden.
»Ich werde schon um meines Gatten willen das Mittel versuchen, welches Sie mir angerathen,« sagte sie mit einer ungeduldigen Hast, als fürchte sie eine Frage, »das Schwerste dabei ist der erste Entschluß, und den habe ich gefaßt.«
»Nein«, flüsterte Walter und schüttelte den Kopf, »das Mittel paßt doch nicht für Sie, denn wenn es Ihre Kräfte nicht überstiege, so hätten Sie es schon versucht.«
Sie schaute ihn befremdet an, Unruhe, Schrecken und Angst malten sich in ihren Zügen, es war ihr, als lese sie in seinen Blicken, daß er sie durchschaut.
»Herr Doctor,« stotterte sie, »jetzt verstehe ich Sie nicht. –«
»Madame«, antwortete er, und die Theilnahme gab seiner Stimme einen überaus weichen Klang, »Sie werden mich verstehen, wenn Sie sich erinnern, daß ich sagte, der Arzt müsse der Freund der Kranken sein, und ein Freund errathet, was man ihm nicht sagt. Aber warum erschrecken Sie? Haben meine Worte Sie gekränkt? Hört Ihr gütiges Vertrauen auf, wenn ich errathe oder zu errathen glaube, daß Ihr Gatte sich über die Ursache Ihres Leidens täuscht? Ich forsche nicht nach derselben, sie geht mich nichts an, aber seit ich die Ueberzeugung gewonnen, daß es nicht kleinliche Sorgen sein können, die eine reizbare Phantasie übertreibt und zu quälenden Beunruhigungen macht, muß ich meinen Rath ändern. Es würde Ihre Kräfte aufreiben, wenn Sie sich zu Zerstreuungen zwingen und eine lästige Maske anlegen, es giebt aber nichtsdestoweniger Etwas, das Ihre Sorge verscheuchen, Ihre Beängstigungen mildern, was Ihnen Ruhe geben kann, und das ist gerade das, was mich einen großen Schmerz überwinden ließ – die Arbeit! Sie haben einen Beruf, heiliger und edler als jeder andere – der, Ihren Kindern sich zu erhalten und es zu verhüten, daß die Sorge um eine theure Mutter, die ihnen ihre Leiden verbirgt, nicht endlich das entdeckt, was an Ihrem Herzen nagt.«
Marianne erhob sich plötzlich und trat, das Taschentuch vor ihre Augen drückend, ans Fenster. Er sah, daß alle ihre Glieder zuckten, er hörte ein leises krampfhaftes Schluchzen und plötzlich war es ihm, als ob sie wanke. Er sprang hinzu und er täuschte sich nicht – sie bedurfte seiner Stütze, um nicht umzusinken. –
Mehrere Minuten lang lag sie wie ohnmächtig in seinen Armen, bis sie endlich ihre Kräfte wiedergewann.
»Verlassen Sie mich,« sagte sie mit matter Stimme, aber in ihren Augen leuchtete es wie verklärt, »Sie haben mir einen guten Rath gegeben, Sie sind ein guter Arzt, ein trefflicher Freund. Aber ich bitte, schonen Sie mich. Forschen Sie nicht, versuchen Sie nicht noch mehr zu errathen, und vor Allem« – dies sagte sie mit bebender Stimme – »schweigen Sie über unser Gespräch zu Steinert, sagen Sie ihm, daß Ihre Behandlung mich heilen werde –«
Er verneigte sich mit einer an Ehrfurcht grenzenden Bewunderung dieser Seele, die im furchtbarsten Weh daran dachte, Anderen ihr Leiden zu verbergen, und verließ das Gemach.
Im Vorzimmer traf er Steinert und seine Töchter, die sich vom Vater diesmal nicht entfernen ließen. Walter bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um seine Erregung zu verbergen, und als er den Blick Steinert's unruhig auf sich geheftet sah, als er in dies unheimlich funkelnde Auge und den Kampf in diesen sonst so festen Zügen sah, da verstand er Alles, – das Weh der armen Frau war von diesem verschuldet, es war unheilbar, weil sie an ihn gekettet, das Brandmal eines Fluches flammte von seiner Stirn!
»Ihre Frau Gemahlin«, sagte er zu Steinert, ohne einen Blick auf die jungen Mädchen zu richten, denn ihm graute es die Opfer zu schauen, die noch nicht ahnten, welcher Fluch sich auf sie vererben könne, »bedarf durchaus der Ruhe und liebender Pflege. Ihre Kräfte sind erschöpft, die Nerven sind überreizt, da hilft keine Arznei, sondern nur vollkommene Ruhe. Man muß dafür sorgen, daß sie nur Angenehmes hört und sorgfältig Alles verbergen, was sie erregen könnte; ich werde eine Kleinigkeit verschreiben, aber wie gesagt, zärtliche und liebende Pflege ist das nothwendigste und diese kann ja nicht fehlen, da sie im Kreise ihrer Familie ist.«
Die Blicke Steinerts fixirten den Arzt, er schien einen milderen Ausspruch erwartet zu haben.
»Sie haben also Ihre Ansicht geändert«, sagte er, »Sie rathen nicht zu Zerstreuungen, Theater, Concerten –?«
»Durchaus nicht, Herr Steinert. Ich habe übrigens meine Ansicht nur deshalb geändert, weil die Untersuchung herausstellte, daß Ihre Vermuthungen nicht ganz das Richtige getroffen, der Fall ist ernster als er scheint.«
Walter bemerkte, daß Steinert den forschenden Blick kaum ertragen konnte, den er auf ihn heftete, und als er jetzt dessen gewiß war, daß seine Ahnung ihn nicht täusche, lenkte er ein, um Marianne Vorwürfe von ihrem Gatten zu ersparen. Die beste Gelegenheit hiezu gab ihm der Ausdruck schmerzlicher Bestürzung, mit dem die jungen Mädchen ihn anschauten.
»Erschrecken Sie nicht«, sagte er, sich zu diesen wendend; »wenn ich den Zustand Ihrer Frau Mutter sehr ernst nenne, so sage ich damit nicht, daß augenblicklich eine Gefahr vorhanden ist, sondern weil ich es nöthig finde, ihn ernst zu behandeln, damit er nicht bedenklich werde. Es ist bei nervösen Kranken nicht selten, daß sie in Extreme fallen und entweder ihre Leiden mit Uebertreibung schildern und ihrer Umgebung eine unerträgliche Last werden, oder aber, wie dies bei Ihrer Frau Mutter der Fall, mit großer Selbstbeherrschung ihren leidenden Zustand verbergen, um ihre Angehörigen nicht zu ängstigen. Es ist naturgemäß, daß eine solche Anstrengung die Kräfte erschöpft, besonders wenn der Leidende dabei auf die ihm nöthige Pflege verzichtet; ich unterrichte Sie hiervon, damit Sie Ihrer Frau Mutter mit sorgsamer Pflege zuvorkommen können und ihr dieselbe aufdringen, wenn sie auch sagt, daß sie nicht leidet.«
Die jungen Mädchen schauten einander an und warfen verstohlen einen Blick auf ihren Vater, während sie wie beschämt, daß eine solche Ermahnung nöthig geworden, dem Blicke des Arztes auswichen. Walter errieth, was sie in diesem Augenblick bewegte, der Wirth hatte ja erzählt, daß der Wille des Vaters die Zimmer der Töchter von dem der Mutter getrennt und er ahnte, wie schwer es ihnen sein müßte, sich jetzt nicht rechtfertigen zu können.
Steinert entging dies Mienenspiel nicht, die Worte des Arztes hatten ihn beruhigt, Walter schien ja nicht zu ahnen, daß kein Arzt Mariannen die Ruhe wiedergeben könne.
»Herr Doctor,« sagte er, »wenn es bisher an dieser Pflege gefehlt, so trage ich die Schuld, indem ich die Melancholie meiner Frau durch Zerstreuungen beseitigen wollte und in der Besorgniß, meine Kinder unnöthig zu ängstigen, dieselben verhinderte den ganzen Umfang der Leiden ihrer Mutter zu erkennen. Da sie jetzt jedoch alles erfahren, halte ich es für das Beste, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen und meine Frau ganz der Pflege ihrer Kinder zu übergeben. Wir wechseln die Zimmer,« wandte er sich zu den Mädchen, »seid Ihr's zufrieden?«
Die Mädchen warfen sich an seine Brust und umschlangen ihn mit ihren Armen, Anna küßte des Vaters Lippen, Bertha aber warf dem Arzte einen strahlenden, innigen Blick zu, als wolle sie ihm sagen, daß sie ihm diese Freude danke.
Walters Brust hob sich, der Blick aus diesen Augen goß ein wonniges Gefühl durch seine Adern und es war ihm, als ob der Sonnenblick eines neuen Lebens, einer süßen Hoffnung ihn durchbebe. Er mußte sich Gewalt anthun, um nicht zu verrathen, was seine Seele jauchzen ließ, denn Steinert's Blick fixirte ihn scharf und erinnerte ihn daran, welch einen Vater dieses Mädchen hatte. Der Blick Steinert's war forschend, aber auch wohlwollend und schien ihn zu ermuthigen, schien über den Eindruck zu triumphiren, den seine Tochter machte, doch grade diese Beobachtung dämpfte die schon emporlodernde Flamme.
»Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung,« sagte Walter mit erzwungen ruhigem Tone, »ich halte es nicht für gut, wenn Sie einen Zimmerwechsel in der angedeuteten Art eintreten lassen; besser wäre es, das Bett Ihrer Frau Gemahlin in das Schlafzimmer Ihrer Fräulein Töchter setzen zu lassen, denn der Gartensalon ist feucht.«
»Wie?« fragte Steinert und es funkelte argwöhnisch in seinem Auge, »so gut sind Sie schon orientirt? Haben Sie denn meine Schlafzimmer schon gesehen?«
»Nein,« erwiderte Walter und er konnte seine Verwirrung nicht ganz verbergen, denn er hatte verrathen, was er vom Wirthe erlauscht, »als ich eben herunter kam, pochte ich an der Thüre Ihrer Fräulein Töchter an und combinire nun aus Ihren Worten, daß Sie den Gartensalon als Schlafzimmer benutzen, denn ich sehe weder hier noch im Nebenzimmer Betten.«
Steinert schien befriedigt, obwohl noch immer Argwohn in dem beobachtenden Ausdruck seiner Blicke lag.
»Sie haben Recht,« sagte er, »der Gartensalon ist feucht, das sagte schon der Wirth und ich werde jetzt Ihren Rath befolgen.«
Damit machte er eine Verbeugung als ob er das Gespräch als beendet ansehe und diese kühle Art abzubrechen hätte befremden müssen, wenn nicht schon sein ganzes Wesen den Verdacht, daß er ein gewichtiges Geheimniß verberge, erweckt hätte. Walter empfahl sich und – war es Vergeßlichkeit oder Absicht – Steinert unterließ es, ihn um Wiederholung seines Besuches zu bitten.
Alle diese Eindrücke, die Theilnahme für die kranke Frau, der Zauber Bertha's und die Ueberzeugung, daß durch Steinert auf dieser Familie ein Fluch laste und der Himmel ihrer nächsten Zukunft schon mit drohendem Gewölk bezogen sei, versetzten Walter in unbeschreibliche Erregung, als er die Schwelle verließ. Tausend Gefühle bestürmten ihn. Sollte er Steinert's Vertrauen suchen, ihm einen warnenden Wink ertheilen oder war dies schon zu spät und that er recht, wenn er die arglosen Gemüther der Töchter auf einen Sturm vorbereitete, der, wenn er unerwartet kam, sie zermalmen konnte? Aber konnte er retten, helfen oder nur trösten und lindern, ehe er etwas Gewisses erfahren?
Sein Gefühl sagte ihm, daß Steinert ihn betrogen, als er im Vertrauen geäußert, er sei in gewagten Spekulationen und Mariannens erregte Phantasie male sich Bilder des Schreckens aus und fürchte Verarmung, Bankerott und Elend – aber war dies so unmöglich, wenn er daran dachte, daß sie die Zukunft ihrer Kinder bedroht sehe?
Wollte Gott, murmelte er, daß nichts Schlimmeres ihnen begegnen könnte als Verlust irdischer Güter, dann sollten sie bald einen Freund und Helfer finden!
Ja – das sollten sie! wiederholte er im Selbstgespräch und der Gedanke erfüllte ihn mit süßem Hochgefühl. Kostete es Ueberwindung, der Tochter des reichen Steinert zu nahen, der einen Brunnenarzt bezahlte um seinen Tribut dem Bade zu entrichten, so mußte es wonnig sein, Bertha zu sagen, daß sie doppelt so hold erscheine, wenn kein Gold ihres Vaters an ihren Händen klebe!
Walter erbebte. Er dachte der Verstorbenen – kaum ein Jahr und sie war vergessen, der Schmerz der noch vor Kurzem unheilbar erschienen, war überwunden und da wo ein kaltes Grab die Oede in der Brust erfüllt, ließ schon eine neue Hoffnung Blumen keimen! Aber sollte er sich deshalb zürnen? Hatte er die neue Liebe gesucht, oder war sie ihm wie ein Sonnenstrahl ins Herz gedrungen?
Und dann – hatte er nicht ein Pfand seiner ersten Liebe in die Hände einer bezahlten Wärterin legen müssen, handelte er nicht im Geiste der Verblichenen, wenn er diesem armen Kinde eine Mutter suchte? Und wenn er sich Bertha dachte, sein Kind auf ihrem Schooß, von ihren sanften Augen gehütet, was kümmerte ihn dann Alles, was außer seinem Paradiese lag, was kümmerte ihn dieser Vater, der wohl kein anderes Verdienst um die Tochter hatte, als daß er ihr das Leben gegeben und es noch nicht vergiftet mit dem Fluche, der auf ihm lastete!
Als Walter das Zimmer des Freundes betrat, strahlte von seiner Stirne der Entschluß, den sein Herz gefaßt.
»Karl,« sagte er, »ich war als Arzt bei Steinerts und wenn ich wieder hingehe, werde ich versuchen, ein Herz zu erobern. Schelte mich nicht leichtfertig, ich glaube, daß der Bedenkliche sein Glück nur allzuleicht verpaßt und daß in der Liebe der erste Augenblick entscheidet. Wundere Dich also nicht, wenn Du bemerkst, daß ich Bertha Steinert mich zu nähern suchen werde, ich glaube, daß ich meinem Kinde keine bessere Mutter, mir keine holdere Gefährtin geben könnte!«
Somnitz war es nicht entgangen, daß Bertha einen lebhaften Eindruck auf Walter gemacht hatte, aber dieser rasche Entschluß überraschte und befremdete ihn doch.
»Ich freue mich herzlich darüber,« sagte er, »daß Du Dich entschlossen hast, Dir eine Gefährtin zu suchen und entnehme aus der Raschheit Deines Entschlusses die beruhigende Gewißheit, daß Du den Argwohn, den wir gegen Steinert hegten, grundlos befunden!«
»Nein, Somnitz,« entgegnete Walter, »Dir als meinem besten Freunde, kann ich auch jetzt noch anvertrauen, daß ich gerade vom Gegentheil überzeugt bin und daß dieser Umstand mich zu einem raschen Entschluß getrieben. Droht dieser Familie ein Sturm, so will ich vor Allem Bertha vor demselben in Sicherheit bringen und berechtigt sein, den Ihrigen als Stütze dienen zu können.«
»Das ist ein kühnes, gewagtes Unternehmen! Hast Du die Folgen bedacht?«
»Ich habe sie erwogen und je düsterer ich mir dieselben ausmale, um so mehr zittere ich, daß Bertha meine drängende Eile ungünstig beurtheilen könnte. Gewinne ich ihr Herz nicht, ehe der Sturm losbricht, so dürfte ihre edle Natur sich sträuben, einen Dritten mit ihrem Schicksal zu verketten.«
»Du sprichst mit einer entsetzlichen Gewißheit von dem nahenden Sturm. Was hast Du erfahren?«
»Nichts Gewisses, Somnitz, aber darum halte ich das Schlimmste für möglich.«
»Und dennoch willst Du …?«
Somnitz vollendete die Frage nicht, denn er fühlte den ernsten Vorwurf im Blicke des Freundes.
»Karl,« sagte Walter, »sprich es nicht aus, was die Vorurtheile der Welt auf Deine Zunge legen, während das Herz doch anders denkt. Deine Stellung mag es Dir bedenklich erscheinen lassen, bei der Wahl des Herzens die äußeren Bande der Erwählten ganz unbeachtet zu lassen, ich bin als Bürgerlicher und als Arzt nicht durch solche Schranken beengt und danke Gott dafür, daß ich eine Seele suchen kann, wo ich sie finde. Du wirst mir zugeben, daß sie ihren Werth nicht durch die Schlacke verliert, aus der ich sie hebe, wenn sie selber rein geblieben und daß es kein süßeres Gefühl für einen Liebenden geben kann, als der Gedanke, sie vor Elend bewahrt zu haben und ihr zur Seite stehen zu können, wenn sie des Trostes bedarf.«
»Du hast Recht, Walter, und ich beneide Dich darum, daß Du Dich von Vorurtheilen lossagen kannst, die mir, so sehr ich sie verachte, doch die Hände binden. In den Kreisen, in denen ich mich bewegen muß, hat man keine Nachsicht und ich könnte es nicht ertragen, daß man diejenige über die Achsel ansieht, die ich liebe.«
»Das würde ich auch nicht ertragen, aber könnte ich mir die Achtung meiner Genossen nicht für das Weib meiner Wahl erzwingen, so würde ich eine Stellung aufgeben, die von mir das Opfer meines Glückes fordert und mich abhängig von Vorurtheilen macht.«
»Und würdest Du auch die Bande der Verwandtschaft zerreißen können, Walter?«
»Wenn sie zerreißen können, so haben sie keinen Werth. Die Schuld kann sie zerschneiden, aber ein bloßes Vorurtheil müssen sie überwinden. Wer ein Weib, das sich entehrt hat, in seine Familie bringen will, der berechtigt diese, die Bande zu zerschneiden, wer aber dem schuldlosen Unglück mit erbarmungsloser Härte begegnet, der ist keiner Rücksicht werth. Die Schuld eines Vaters kann, meiner Ansicht nach, so wenig auf einem Kinde lasten, als der Vater, der das Möglichste in der Erziehung seiner Kinder gethan, entehrt wird, wenn sie mißrathen; Beide, dort das Kind, hier der Vater, können doch nur die innigste Theilnahme verdienen.«
Somnitz antwortete nicht, er schien in Gedanken verloren, die ihn so lebhaft beschäftigten, daß er ein Pochen an der Thür überhörte.
Walter rief herein und Hallborn erschien auf der Schwelle.