Felix und Therese Dahn
Kaiser Karl und seine Paladine
Felix und Therese Dahn

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Neuntes Kapitel.

Karls Regierung im Innern.

Ein umfangreiches mehrbändiges Werk würde es erheischen, Karls Tätigkeit darzustellen in Leitung, Verwaltung, Umgestaltung, Besserung der inneren Zustände 133 seines weiten Reiches oder vielmehr seiner weiten Reiche: Germanien, Francien, Burgund, Aquitanien, Italien mit ihren Nebenlanden und Marken. Denn das ist das Wunderbarste an diesem wunderbaren Mann, daß er neben den Feldzügen, die er in den 46 Jahren seiner Herrschaft teils selbst leitete, teils anordnete, Zeit, Kraft und nie ermattenden Eifer fand, als Gesetzgeber, Schirmer der Kirche, Richter, Verwalter, Finanzmann, Volkswirt, als Förderer von Wissenschaft und Kunst mit ehrfurchtwürdigem Pflichtgefühl unablässig zu arbeiten: mit kaum geringerer Freude, als ihm seine Heldenarbeit im Kriege gewährte.

Groß ist die Zahl der von ihm unter Zustimmung des Reichstags erlassenen Gesetze und der von ihm allein ausgehenden Verordnungen: beide hießen »Capitularien«, weil sie in »capitula« gegliedert waren. Bei der unscheidbaren Verquickung von Religion, Moral und Recht in diesem »heiligen« Reich, das zugleich die Aufgaben der Kirche und des Staates lösen sollte, erklärt es sich, daß diese Capitularien in buntester Mischung sittliche, religiöse Rechtsvorschriften nebeneinander einschärften.

Als seine höchste Aufgabe auch als Gesetzgeber und Verwalter betrachtete Karl Schutz und Förderung der Kirche, wie er für sie kämpfte gegen Heiden jedes Glaubens. Daher leitete er in Person wiederholt Kirchenversammlungen, in welchen bald die Irrlehren spanischer Ketzer, wonach Christus (sofern er Sohn Marias) nur angenommener Sohn Gottes sein sollte, verdammt wurden, bald der Ausgang des heiligen Geistes auch vom Sohne, nicht bloß vom Vater, verteidigt, bald das Übermaß der Verehrung der heiligen Bilder verworfen ward: – hierbei setzte Karl sich und seine Reichsbischöfe eine zeitlang sogar 134 in Widerstreit nicht nur mit einem Konzil zu Nicaea-Konstantinopel, sogar zum Papst. Ebenso eiferte er für Ausrottung der Reste des germanischen Heidentums. Unermüdlich arbeitete er für Hebung der tiefgesunkenen Kirchenzucht, für sittliche Besserung der Geistlichen, Nonnen und Mönche und für deren Bildung.

Noch in seinem letzten Regierungsjahr ließ er nicht weniger als fünf Kirchenversammlungen in fünf Städten seines Reiches abhalten, deren Beschlüsse zusammengefaßt ihm zur Prüfung und Bestätigung vorgelegt wurden. Diese Sorge für das Christentum betrachtete er als seine oberste Herrscherpflicht: rührend ist, wie der Greis seinen Bischöfen gegenüber klagt, daß ihm die Gebrechen des Alters verwehren, so viel als er wünschte, mit ihnen zu verkehren.

Als halb religiöse Pflicht faßte er auch die Sorge für die kleinen Freien, zumal die kleinen Bauern in seinem Volk (– für die Unfreien und Freigelassenen hatte deren Herr und Freilasser zu sorgen). Jene waren im Frankenreich in erschreckender Weise in Abnahme begriffen, aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen, welche zum Teil bis in die Römerzeit zurückreichen: zum Teil aber war es die erdrückende Wehr- und Gerichtspflicht, welche diese kleinen Freien nicht mehr zu tragen vermochten. Nach altgermanischem Recht mußte jeder wehrfähige Freie, so oft der König oder dessen Graf ihn mit dem Heerbann einrief, Folge leisten und, sich selbst bewaffnend und verpflegend, den Wehrdienst leisten, ebenso an der Gerichtsstätte sich einfinden, nicht nur zu den von Zeit zu Zeit ohne besondere Ansage zusammentretenden (ungebotenen), auch zu den vom Grafen außerordentlich anberaumten (gebotenen) Dingen: wer ausblieb, hatte das den geldarmen Bauern unerschwingliche Strafgeld, den Königsbann von 135 60 Solidi = 720 Mark zu entrichten, bei Zahlungsunfähigkeit geriet er in die Schuldknechtschaft des Königs und zu einem Drittel seines Wertes in die des Grafen, der ein Drittel aller Banngelder und »Wetten« für sich innebehalten durfte. Diese Wehrpflicht war leicht zu tragen gewesen in den Zeiten des altgermanischen Gaustaates, in welchem Volkskriege nicht häufig und die Grenzen des Gaues in ein paar Märschen zu erreichen waren. Jetzt brachte fast jedes Jahr einen Feldzug, so daß die Annalen es als seltenste Ausnahme staunend hervorheben, wenn einmal »in diesem Jahr die Franken ruhten«, »dieses Jahr ohne Heereszug war«. Und im Reiche Karls, das sich von Hamburg bis Benevent, vom Ebro bis an die Theiß erstreckte, währten die Märsche und Belagerungen mondelang: ständige Besatzungen in den entlegensten Marken waren unentbehrlich. Der Acker des Kleinbauern verwahrloste, die Ernte ging zu Grunde während der langen Abwesenheit des Eigners. Dazu kam nun aber, daß die Grafen und andern Beamten ihr Bannrecht planmäßig dazu mißbrauchten, durch unaufhörliche Einberufung zu Wehr- und Gerichtspflicht diese kleinen Grundeigner wirtschaftlich zu verderben, bis dieselben, müd und mürbe geworden, unfähig, eine bereits verfallene Bannsumme zu bezahlen, die unerträglich gewordene Freiheit aufgaben, sich in die Knechtschaft des Grafen begaben oder doch in seine Schutzgewalt, indem sie zugleich das von den Vätern ererbte vollfreie Gut (Allod) dem Bedrücker in das Eigentum übertrugen, um es von demselben, mit Zinszahlung und Fronarbeit beschwert, als Leihgut zum Nießbrauch zurückzuerhalten Von da ab verwandelte sich der gesetzwidrige Peiniger in einen ebenso gesetzwidrigen Begünstiger der so gewonnenen Schützlinge, indem er nun diese von Wehr- und Dingpflicht willkürlich entband, die ganze Last 136 desto häufiger und schwerer auf die Schultern der noch ungebeugten Nachbarn wälzend. So rundeten diese mächtigen Geschlechter ganz planmäßig ihr Grundeigen und ihren beherrschenden Einfluß auf die Bauern des Gaues ab, so daß diese Gebiete, der Gewalt des Königs entrückt, kleine Staaten im Staat wurden, die in Wohl und Wehe nur von ihrem nahen Gewaltherrn, nicht von dem fernen König abhingen. Diese verderbliche Bewegung hatte z. B. schon früher im Reiche der Westgoten dazu gezwungen, gegen alle germanischen Grundsätze, Unfreie in das Heer einzustellen, weil die Zahl der Freien nicht mehr ausreichte, die erforderlichen Tausendschaften zu füllen. Und im Frankenreich war diese Entwicklung besonders deshalb bedrohlich, weil das Königtum, welches allein Bestand und Wohlfahrt der Gesamtheit vertrat, sich nur auf die Gemeinfreien stützen konnte gegenüber jenem unbändigen, pflicht- und meisterlosen Adel, welcher, lediglich seinen selbstischen Leidenschaften fröhnend, in reichsverderberischem Übermute stets dem König über die Krone zu wachsen drohte, das merowingische Königtum bereits überwältigt hatte und ebenso des großen Karl kleine Nachfolger überwältigen sollte. Die von daher drohende Gefahr erkannt und sie mit allen Mitteln der Religion, der Sittlichkeit, des Rechts, mit dem Gesetz und mit dem Richterschwert unablässig bekämpft zu haben, das ist der stärkste Beweis für die Weisheit Karls als Staatsmann. Daß – nach seinem Tod – all diese von ihm ersonnenen, höchst wohltätigen Maßregeln und Einrichtungen dem Verderben nicht zu steuern vermochten, kann seinem Verdienst nicht Eintrag tun.

Karl sorgte vor allem für gerechte strenge Rechtspflege sonder Ansehen der Person, ja mit väterlicher Beschirmung der Armen, Schwachen, Bedrückten – ein Zug, den der 137 Dank des deutschen Volkes noch heute in der schönen Sage von »Karls Recht« feiert.

Er erleichterte sodann die Wehrlast für die kleinen Freien, indem nicht mehr jeder Wehrmann in jedem Feldzug selbst ausrücken mußte, sondern nur die größeren, reicheren Grundbesitzer, welche zahlreiche Unfreie und andre Hintersassen behufs Bestellung des Ackers usw. zu Hause lassen konnten: von den kleineren wurden stets mehrere – 3 bis 6 – zusammengelegt, welche nur je einen aus ihrer Mitte ausrüsten und verpflegen mußten, der für sie alle zu Felde zog, während die andern, welche zu Hause bleiben durften, Beiträge in Geld oder Naturalien (adjutorium, conjectus) zu entrichten hatten sei es an den Ausrückenden, sei es an den Staat. Ferner verfügte er, daß nicht mehr bei jedem Krieg die Angehörigen aller Provinzen aufgeboten werden sollten, sondern nur die der nächstgelegenen: und auch für diese wurden die Zeiten und die Strecken festgestellt, für welche und auf welchen sie sich selbst zu verpflegen hatten. Es ist ein sehr lehrsames, aber auch sehr trauriges Zeichen der noch unter Karls Regierung selbst rasch zunehmenden Verarmung dieser kleinen Grundeigner, daß Karl sich genötigt sieht, das Mindestmaß, das zu persönlichem Wehrdienst verpflichten sollte, wiederholt zu erhöhen: d. h. während er anfangs meinte, der Eigner von drei Hufen (mansi) sei bereits dieser Leistung fähig, konnte er sie später nur noch von dem verlangen, der vier, noch später, der fünf Hufen eignete.

Die kaum minder schwer lastende Gerichtspflicht der Kleinfreien erleichterte er in folgender Weise. Hatte es auch schon vor Karl unter mancherlei Namen, z. B. Schöffen, Rachinburgen, Urteilsfinder gegeben, welche, 12 oder 7 an der Zahl, im Einzelfall die gesamte 138 Volksgemeinde vertraten, so war doch die Regel, daß alle Freien sich einfinden und das Urteil finden sollten: der Schöffendienst war nicht näher geregelt. Jetzt bestimmte Karl, daß höchstens dreimal im Jahr alle Freien zu den großen Gerichtstagen kommen mußten (tria magna placita), zu den übrigen von den Grafen anberaumten Dingen aber nur die allerreichsten Grundeigner, aus welchen von der Gesamtheit die Schöffen gekoren wurden.

Mit tiefem Schmerz erfüllte es nun aber des Königs Herz, daß er erleben mußte, wie seine weisesten, gütevollsten Anordnungen nichts fruchteten, ja in schädliche Wirkung verkehrt werden konnten, wenn die Beamten draußen in den Provinzen diese Anordnungen unausgeführt ließen oder gar mißbrauchten zu neuen Bedrückungen der Untertanen. Allgegenwärtig hätte Karl sein müssen in seinem weiten Reich, um die Beamten zu überwachen: er hat denn auch gar oft – das ist art-zeichnend für ihn – in Person sich um die Ausführung seiner Gebote bis in die geringsten Einzelheiten bekümmert. Um nun sozusagen jene Allgegenwärtigkeit zu ersetzen, schuf Karl die Einrichtung der königlichen Sendboten, Kaiserboten, Königsboten (missi dominici, missi regii, missi regis, imperatoris) oder vielmehr er übertrug diese in dem Recht der Kirche von ihm vorgefundene Einrichtung auf das Gebiet des Staates, aber mit wahrhaft genial gedachten, großartig durchführten Anpassungen und Besserungen.

Wie schon seit Jahrhunderten die Bischöfe Untersuchungsreisen (visitationes) in alle Teile ihrer Sprengel selbst vornahmen, oder durch außerordentliche, von ihrer Seite entsendete Bevollmächtigte vornehmen ließen, welche sich durch Augenschein von den kirchlichen, religiösen, sittlichen Zuständen der einzelnen Pfarreien überzeugen, neue Kirchengesetze verkünden, ganz besonders aber Klagen, 139 Rügen, Beschwerden der Gemeindeglieder gegen die ordentlichen, an Ort und Stelle seßhaften Geistlichen entgegennehmen, selbst entscheiden oder zur Entscheidung ihres Vollmächtigers bringen sollten, – so tat jetzt Karl auf dem weltlichen, staatlichen Gebiet. Diese Übertragung lag um so näher, als ja, wie wir sahen, in diesem aus Kirchlich-Religiös-Sittlichem und Staatlich-Rechtlichem gemischten Gemeinwesen, als dessen Haupt sich Karl fühlte, nicht nur weltliche, auch kirchlich-religiös-sittliche Gebote und Verbote von König und Reichstag als weltliche Gesetze und Verordnungen ergingen: waren doch die Bischöfe nach geistlichem wie weltlichem Recht zur Überwachung gar vieler dieser »gemischten« Vorschriften berufen. Karl gliederte nun sein ganzes Reich nach Provinzen räumlich in »Sendbotengebiete« (missatica), deren jedes mehrere benachbarte Grafschaften einer Provinz oder auch eine ganze Provinz umfaßte: in jedes solche missaticum entsandte er meist jährlich zwei miteinander reisende Königsboten, gewöhnlich je einen Bischof (Abt) und einen Herzog (Grafen), schon deshalb, damit sich die beiden auch gegenseitig überwachten, ferner damit beide Gesichtspunkte, der kirchliche und der weltliche, nebeneinander gewahrt wurden. Die Sendboten beriefen nun sofort eine Versammlung, bei der alle Freien des Gaues usw. erscheinen durften, ja sollten und mußten, besonders aber alle Beamten. Sie verkündeten die neuen, noch nicht hierher gedrungenen Gesetze oder Verordnungen des Reichstags oder des Königs, nahmen dann die Stelle des ordentlichen Richters in außerordentlicher Weise, in Vertretung des Kaisers, selbst ein, entschieden Streitfälle, welche vor sie gebracht wurden, oder berichteten darüber behufs der Entscheidung an Karl: insbesondere aber prüften sie nicht nur selbst die Archive, Urkunden, die ganze 140 Geschäftsführung der Grafen und andrer ordentlichen Beamten: – sie forderten zumal alle Erschienenen sowie die Abwesenden in Person ihrer Vertreter auf, Klage zu führen über die Amtstätigkeit aller ordentlichen Lokalbehörden, also über ihre Untätigkeit oder über den Mißbrauch ihrer Amtsgewalt, Parteilichkeit, Erpressung, Bestechlichkeit, Nichtausführung königlicher Gebote, etwa gar geplanten Hochverrat, Einverständnis mit feindlichen Nachbarn usw.: ja, es wurden unter den Schöffen durch Volk und König besondere Rügeschöffen gewählt, welche von amtswegen den Sendboten Bericht zu erstatten hatten über alle Zustände in der Grafschaft und Rüge, Anklage zu erheben wider die ordentlichen Beamten, falls etwa die von diesen Verunrechteten aus Furcht ihre Stimme nicht zu erheben wagten. Solang Karls Geist die von ihm großartig gedachte Einrichtung beseelte, hat sie höchst ersprießlich gewirkt: nach Karls Tod verlor sie Leben und Bedeutung, obzwar sie äußerlich noch lange fortbestand.

Von Karls Eifer und Tätigkeit für Wissenschaft und Kunst sprechen wir im nächsten Abschnitt: hier mag nur noch bemerkt werden, daß der große Schlachtendenker und Kriegsheld zugleich ein musterhafter Wirtschafter war. Ein sehr großer Teil der Einnahmen des Staates bestand in den Naturalerträgnissen der königlichen »villae«, d. h. Landgüter jeder Art, aus welchen alle der Zeit bekannten Betriebe der Landwirtschaft, Viehzucht und andrer Urerzeugung sowie Gewerke gepflegt wurden. Karl wandte diesen Dingen bis in das einzelnste die liebreichste, verständigste Sorgfalt zu; ein großes von ihm erlassenes Capitular (812?) über diese Königshöfe und ihren Wirtschaftsbetrieb ist daher eine wahre Fundgrube für unsre Kenntnis der Wirtschaft, der Kultur, des täglichen Lebens jener Zeit in allen möglichen praktischen Dingen: in 70 Abschnitten 141 werden darin fast alle Gegenstände der damaligen Wirtschaft berührt: Getreide, bester Same, Bierbrauereien, Weinwirtschaft, Weinpressen, Rosse, Schweine, Schweineschmalz, Eichelmast, Geflügel, Gänse, Hühner, Eier, Fische, Bienen, Rinder, Mastochsen, Schafe (Hammelfett), Wolle, Ziegen, Waldwirtschaft, Tierparke, Gartenbau: Aufzählung der zu pflegenden Arten von Blumen, Kräutern, Obst, Gemüse: Jagd, Habichte, Sperber, Aufzucht der jungen, dem Kaiser gesandten Hunde; Leinen, Wachs, Seife, Gerät und Werkzeuge jeder Art für die Kriegsfahrt, auch Lederschläuche, Fässer, Sorge für die Gebäude, gute Handwerker, Frauenhäuser, genaueste Buchführung und jährliche Rechnungsstellung zu Weihnachten an den Kaiser, Vertilgung der Wölfe, Einsendung der Felle, Ausrottung der jungen Welpe im Mai.


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