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Eilftes Kapitel.

O weh! o weh! o grausenvoller Tag,
O Jammertag! o qualenvollster Tag,
Den ich in meinem Leben je geschaut!
O Tag! o Tag! o Tag! Verhaßter Tag!
Nie gab es einen Tag so schwarz als diesen!
O Schreckenstag! o Schreckenstag!

Romeo.

 

Die Familie in den Locusten hatte geschlafen oder gewacht, ohne von den beunruhigenden Auftritten in Birch's Wohnung die mindeste Kunde zu erhalten. Die Einbrüche der Schinder wurden immer so im Geheim betrieben, daß den Beraubten nicht nur jeder Beistand abgeschnitten, sondern auch oft durch die Drohung zukünftiger Plünderungen die mitleidige Theilnahme der Nachbarn verkümmert wurde. Die Damen waren wegen der Vermehrung der häuslichen Geschäfte eine Stunde früher als gewöhnlich aufgestanden und Capitän Lawton hatte gleichfalls, trotz seines leidenden Körpers, sein Lager verlassen, da er nie von der Regel abging, nicht länger als sechs Stunden zu schlafen. Dieß war einer von den wenigen Punkten der Gesundheitspflege, in welchen die Ansichten des Reiters und des Arztes stets harmonirten. Der Doctor hatte die ganze Nacht durch, ohne ein Auge zu schließen, an Capitän Singleton's Bette gewacht. Gelegenheitlich wollte er auch dem verwundeten Engländer einen Besuch machen; da dieser aber mehr am Geiste als am Körper leidend war, so wurde diese Störung sehr ungnädig aufgenommen. Einmal wagte es auch der Doctor, sich auf einen Augenblick leise an das Bette seines widerspenstigen Kameraden zu stehlen, und es war ihm beinahe geglückt, seine Hand wegzukriegen, um den Puls zu fühlen, als der träumende Dragoner einen schrecklichen Fluch ausstieß, welcher den klugen Chirurgen zurückbeben machte und ihn an die in dem Corps verbreitete Sage erinnerte, daß Capitän Lawton immer nur mit einem Auge schlafe. Die ganze Gruppe hatte sich in einem der Gesellschaftszimmer versammelt, als die Sonne sich über die östlichen Berge erhob und die Nebelmassen, welche die Niederungen einhüllten, zu zerstreuen begann. Miß Peyton blickte aus einem Fenster nach der Hütte des Hausirers hin und drückte ihre theilnehmende Besorgniß über das Befinden des kranken Mannes aus, als plötzlich die Gestalt Katy's aus dem dichten Schleier einer an der Erde hinziehenden Wolke, deren Nebel in den heiteren Strahlen der Sonne verschwanden, auftauchte und in hastigen Schritten auf die Locusten zueilte. Es lag etwas in dem Aeußern der Haushälterin, was ein ungewöhnliches Unglück verkündete und die gutherzige Wirthschafterin in den Locusten öffnete die Thüre des Zimmers mit der wohlwollenden Absicht, den Gram, welcher so mächtig auf der Besuchenden zu lasten schien, zu besänftigen. Ein näherer Blick auf Katy's verstörte Züge befestigte Miß Peyton in ihrem Glauben, und mit der Erschütterung, welche edle Gemüther bei einer plötzlichen und ewigen Trennung selbst von dem geringsten ihrer Bekannten stets erfahren, fragte sie schnell:

»Katy, ist er dahingegangen.?«

»Nein, Madame,« antwortete die verstörte Jungfer mit großer Bitterkeit, »er ist noch nicht gegangen; aber jetzt kann er gehen, so bald es ihm beliebt, denn das Schlimmste ist schon geschehen. Ich glaube in der That, Miß Peyton, sie haben ihm nicht so viel Geld gelassen, um einen andern Anzug zu Bedeckung seiner Blöße kaufen zu können, denn ich kann Ihnen sagen, der, welchen er gegenwärtig hat, ist keiner von den besten.«

»Wie?« rief die Andere erstaunt, »konnte Jemand das Herz haben, einen Mann in solcher unglücklichen Lage zu berauben?«

»Herz?« wiederholte Katy nach Luft schnappend; »Leute wie diese haben gar keine Eingeweide. Berauben und Unglück, in der That! Ach, Madame, in dem eisernen Topf lagen offen, vor meinen Augen, vier und fünfzig Guineen in Gold, außer dem, was noch unten lag und was ich nicht zählen konnte, ohne mich der Hände zu bedienen. Auch berührte ich es nicht gerne, denn es gibt da so ein Sprüchlein; aber dem Ansehen nach konnte es nicht weniger als zweihundert Guineen gewesen seyn, das, was sich in dem hirschledernen Beutel befand, nicht mitgerechnet. Aber Harvey ist nun wenig besser, als ein Bettler, und ein Bettler, Miß Jeanette, ist das allerverächtlichste Geschöpf auf Gottes Erdboden.«

»Armuth ist bemitleidenswerth, aber nicht verächtlich,« sagte die Dame, ohne den ganzen Umfang des Unglücks begreifen zu können, das ihren Nachbar in der letzten Nacht überfallen hatte. »Aber was macht der alte Mann? Geht ihm sein Verlust sehr zu Herzen?«

Katy's Züge verloren den natürlichen Ausdruck der Sorge und gingen in den der Trauer über, als sie antwortete:

»Er ist glücklich allen Erdenleiden entnommen; das Klingen des Geldes holte ihn noch einmal aus dem Bette heraus, und die Erschütterung war zu heftig für seine arme Seele. Er starb ungefähr zwei Stunden und zehn Minuten vor dem Hahnenruf, so weit wir das angeben können. –«

Sie wurde durch den Arzt unterbrochen, welcher herbeikam und sich mit großem Antheil nach der Natur seiner Krankheit erkundigte. Nach einem Blick auf die Gestalt des neuen Bekannten ordnete Katy instinktartig ihren Anzug und erwiederte:

»Die Drangsale der Zeit und der Verlust seines Vermögens haben ihn auf's Krankenlager geworfen. Er nahm von Tag zu Tag mehr ab, und alle meine Bemühungen und Aengsten waren umsonst; denn Harvey ist jetzt nicht mehr als ein Bettler, und wer wird mich nun für alle meine Dienstleistungen bezahlen?«

»Gott wird Euch für alles Gute, was Ihr an ihm gethan habt, belohnen;« sagte Miß Peyton mit Milde.

»Ja,« fiel die Jungfrau hastig und mit einer Miene frommer Ergebung ein, die aber schnell dem bezeichnenden Ausdruck einer mehr weltlichen Sorge Platz machte; »aber dann habe ich auch meinen Lohn von drei Jahren her in Harvey's Händen gelassen, und wie soll ich nun wieder zu dem gelangen? Meine Brüder sagten mir zwar oft, ich solle mein Geld verlangen; aber ich dachte immer, Rechnungen zwischen Verwandten seyen bald abgemacht.«

»Seyd Ihr denn mit Birch verwandt?« bemerkte Miß Peyton, als jene inne hielt.

»Ach,« erwiederte die Haushälterin nach einem kleinen Zögern, »es war nach meiner Meinung fast eben so. Es soll mich Wunder nehmen, wenn ich nicht das Haus und den Garten ansprechen kann, obgleich man jetzt sagt, es werde ohne Zweifel, da es nun Harvey gehört, mit Beschlag belegt werden.« Sie wandte sich nun an Lawton, welcher schweigend dasaß und seine durchbohrenden Blicke unter den dichten Augbrauen hervor auf ihr haften ließ. »Vielleicht weiß mir dieser Herr Auskunft zu geben – er scheint Antheil an meiner Geschichte zu nehmen.«

»Madame,« sagte der Reiter mit einer tiefen Verbeugung: »Ihr und Eure Erzählung, beides ist außerordentlich anziehend.« Katy lächelte unwillkührlich – »aber meine geringen Kenntnisse erstrecken sich auf nichts Weiteres, als eine Schwadron in's Feld zu führen und sie dort zu gebrauchen. Ich möchte Euch aber den Doctor Archibald Sitgreaves empfehlen; das ist ein Herr von umfassendem Wissen und unbegränzter Menschenliebe – die wahre Milch menschlicher Sympathieen und ein Todfeind aller nicht wissenschaftlichen Schnitte!«

Der Wundarzt gab sich eine Würde und pfiff, während er einige Arzneifläschchen auf dem Tische betrachtete, ein Liedchen vor sich hin; die Haushälterin aber verbeugte sich gegen ihn und fuhr fort:

»Ich denke, Sir, ein Weib hat von ihres Mannes Eigenthum kein Leibgeding anzusprechen, wenn sie nicht wirklich verheirathet waren?«

Sitgreaves hatte den Grundsatz, daß man keinen Zweig des Wissens verachten dürfe, und war daher in allen Dingen, wenn sie auch nichts mit seiner Kunst zu thun hatten, erfahren. Zuerst erhielt ihn der Unwille über den Spott seines Kameraden schweigend; aber plötzlich änderte er seinen Vorsatz und antwortete der Fragerin mit einem gutmüthigen Lächeln:

»Meiner Ansicht nach nicht. Wenn der Tod Eurer Hochzeit zuvorgekommen ist, so fürchte ich, gibt es kein Gegenmittel gegen den strengen Spruch des Rechts.«

Dieses klang Katy angenehm, obgleich sie von dem Ganzen nichts als die Worte »Tod« und »Hochzeit« verstand. Auf diese Theile der Rede richtete sie also ihre Antwort.

»Ich glaubte, er warte nur auf den Tod des alten Herrn, um zu heirathen,« sagte die Haushälterin mit niedergeschlagenen Augen; »aber jetzt ist er nichts als ein verächtlicher Bursche, oder was dasselbe ist, ein Krämer ohne Haus, Waaren und Geld. Es möchte einem Manne in solchen Verhältnissen wohl schwer fallen, ein Weib zu kriegen. – Meinen Sie das nicht auch, Miß Benton?«

»Ich kümmere mich wenig um solche Dinge,« sagte die Dame mit einiger Würde.

Während dieses Zwiegesprächs hatte Capitän Lawton das Gesicht und das Benehmen der Haushälterin mit einem höchst komischen Ernste betrachtet, und besorgend, die Unterhaltung möchte in's Stocken gerathen, fragte er scheinbar mit großer Theilnahme:

»Ihr glaubt also, daß es Alter und Gebrechlichkeit war, was den alten Herrn zuletzt hingerafft hat?«

»Und die unruhigen Seiten. Unruhe lastet schwer auf einem Krankenbette; aber ich denke, seine Zeit war um, und wenn das der Fall ist, so liegt wenig daran, von welchem Doctor man Arznei einnimmt.«

»In dieser Hinsicht muß ich Euch zurecht weisen,« unterbrach sie der Wundarzt. »Es ist zwar wahr, wir müssen alle sterben, aber wir dürfen uns des Lichts der Wissenschaft bedienen, um den Gefahren, welche uns zustoßen, zu begegnen, bis –«

»Wir secundum artum sterben können,« rief der Dragoner.

Der Arzt würdigte diese Bemerkung keiner Antwort; da er es aber für der Würde seiner Zunft angemessen erachtete, die Unterhaltung fortzuführen, so fügte er bei:

»Vielleicht hätte in dem gegenwärtigen Falle eine umsichtige Behandlung das Leben des Patienten verlängern können. Was hatte er für einen Beistand?«

»Keinen,« entgegnete die Haushälterin schnell. »Ich hoffe, er hat seinen letzten Willen in dem Testament niedergelegt.«

Der Wundarzt achtete nicht auf das Lächeln der Damen und fuhr in seinen Fragen fort:

»Ohne Zweifel ist es weise, sich auf den Fall des Todes vorzusehen. Aber unter wessen Pflege stand der Hingeschiedene während seiner Krankheit?«

»Unter der meinigen,« antwortete Katy, indem sie sich ein etwas wichtiges Ansehen gab. »Aber ich kann wohl sagen, daß es weggeworfene Mühe war, denn Harvey ist ein zu erbärmlicher Bursche, um mich gegenwärtig in irgend einer Weise schadlos halten zu können.«

Die wechselseitigen Mißverständnisse störten die Unterhaltung nur wenig, denn beide glaubten sich wenigstens großentheils zu verstehen, und Sitgreaves verfolgte den Gegenstand weiter.

»Und wie habt Ihr ihn behandelt?«

»Mit Liebe und Freundlichkeit, Sie können sich darauf verlassen,« sagte Katy etwas empfindlich.

»Der Doctor meint die medicinische Behandlung, Madame,« bemerkte Capitän Lawton mit einem Gesichte, welches dem Leichenbegängnisse des Hingeschiedenen Ehre gemacht haben würde.

»Ich docterte ihn meistens mit Kräutern,« sagte die Haushälterin mit einem Lächeln über ihren Irrthum.

»Mit simplicibus also,« erwiederte der Wundarzt; »sie sind in den Händen der Laien besser, als die eingreifenderen Mittel. Aber warum brauchtet Ihr keinen regulären Beistand?«

»Ach, du mein Gott, Harvey hat schon genug wegen seines häufigen Verkehrs mit den Reglern gelitten,« versetzte die Haushälterin; »er hat sein Alles verloren und muß nun als ein Vagabund durch's Land ziehen; und ich habe allen Grund, den Tag zu bereuen, an dem ich je die Schwelle seines Hauses betrat.«

»Doctor Sitgreaves meint nicht einen regulären Soldaten, sondern einen regulären Arzt, Madame,« sagte der Reiter.

»Oh!« rief die Jungfrau sich selbst verbessernd; »aus dem triftigsten aller Gründe – weil keiner zu haben war, und so übernahm ich denn selber seine Pflege. Wenn ein Doctor zur Hand gewesen wäre, so hätten wir ihn gewiß gerne gebraucht. Was mich anbelangt, so bin ich wegen des Docterns bekannt, obgleich Harvey sagt, ich bringe mich mit Arzeneien unter den Boden; aber ich wette, er kümmert sich wenig darum, ob ich lebe oder sterbe.«

»Ihr zeigt darin Euern Verstand,« sagte der Wundarzt, indem er sich der Jungfrau näherte, welche ihre Handflächen und Fußsohlen der belebenden Hitze eines tüchtigen Feuers entgegen hielt, um in ihren Herzensnöthen wenigstens einigen Trost zu haben. »Ihr scheint mir eine kluge verständige Frau zu seyn, und manche, welche Gelegenheit haben, sich richtigere Ansichten zu verschaffen, würden wohl gut thun, Euch um Euere Kenntnisse und die Achtung, welche Ihr gegen das Licht der Wissenschaft habt, zu beneiden.«

Obgleich ihn die Haushälterin nicht ganz verstand, so sah sie doch ein, daß er ihr eine Artigkeit gesagt habe; sie war daher sehr erfreut über seine Worte, und durch dieselben aufgemuntert fuhr sie lebhafter fort:

»Man hat mir immer nachgesagt, es fehle mir nichts, als die Gelegenheit, um einen ganzen Arzt aus mir zu machen. Ehe ich in das Haus von Harvey's Vater kam, nannte man mich nur den Schürzendoctor!«

»Mehr wahr, als höflich, möchte ich behaupten,« entgegnete der Wundarzt, welcher den Charakter des Weibes aus lauter Bewunderung vor dem Respect, welchen sie gegen die Heilkunst an den Tag legte, ganz aus dem Gesichte verlor. »In Ermangelung erleuchteterer Rathgeber ist die Erfahrung verständiger Matronen bei Bekämpfung der Fortschritte einer Krankheit hoch anzuschlagen; unter solchen Umständen, liebe Frau, ist es schrecklich, gegen Unwissenheit und Starrsinn ankämpfen zu müssen.«

»Schlimm genug, wie ich aus eigener Erfahrung weiß,« rief Katy triumphirend; »Harvey ist in solchen Dingen so starrköpfig, wie ein unvernünftiges Thier. Man sollte denken, die Pflege, welche ich auf seinen bettlägerigen Vater verwendete, hätte ihn belehren können, daß man eine gute Abwartung nicht verachten dürfe. Aber er wird es schon noch erfahren, was es ist, wenn in einem Hause eine sorgsame Frau fehlt, obgleich ich weiß, daß er zu erbärmlich ist, um je wieder ein Haus zu besitzen.«

»In der That, ich kann mir leicht vorstellen, wie wehe es Euch thun muß, es mit einem so eigensinnigen Menschen zu thun zu haben,« erwiederte der Wundarzt mit einem vorwurfsvollen Blick auf seinen Kameraden; »aber Ihr solltet Euch über solche Meinungen erheben, und die Unwissenheit, deren Kinder sie sind, nur bemitleiden.«

Die Haushälterin zögerte einen Augenblick, da ihr die Bedeutung der Worte des Chirurgen nicht ganz klar war. Sie fühlte jedoch, daß er ihr etwas Höfliches und Freundliches gesagt hatte, und erwiederte, indem sie den natürlichen Fluß ihrer Zunge ein wenig anhielt:

»Ich sagte Harvey oft, sein Benehmen sey verwerflich, und erst in der letzten Nacht erwahrte sich meine Behauptung vollständig. Zwar sind die Meinungen solcher Ungläubigen nicht von besonderer Bedeutung; aber doch ist es schrecklich, wie er sich zuweilen beträgt. Wenn ich nur daran denke, wie er mir die Nadel wegwarf –«

»Was?« unterbrach sie der Wundarzt, »gibt er sich das Ansehen, als ob er den Gebrauch der Nadel verachte? Aber es ist ja täglich mein Geschick, auf Leute zu treffen, welche eben so verkehrt sind und eine noch strafwürdigere Verachtung gegen die Kenntnisse an den Tag legen, die aus dem Lichte der Wissenschaft fließen.«

Während der Doctor so sprach, wandte er das Gesicht gegen Lawton; da er aber auf denselben hinunter blicken mußte, so blieben seine Augen nicht lange auf den abgemessenen ernsten Zügen des Reiters haften. Katy hörte mit bewundernder Aufmerksamkeit zu, und fügte, als der Andere seine Standrede geschlossen hatte, bei:

»Dann glaubt Harvey auch nicht an Ebbe und Fluth.«

»Wie? Nicht an Ebbe und Fluth?« wiederholte der Aesculap verwundert. »Traut er denn seinen Sinnen nicht? Aber vielleicht bezweifelt er nur den Einfluß des Mondes auf dieselben.«

»Ja, so ist's,« rief Katy, vor Vergnügen zitternd, daß sie einen Gelehrten getroffen hatte, welcher ihre Lieblingsmeinungen unterstützen konnte. »Wenn Sie ihn hören würden, Sie müßten denken, er glaube nicht einmal, daß es so ein Ding, wie der Mond ist, gibt!«

»Es ist der Fluch des Unglaubens und der Unwissenheit, liebe Frau, daß sie aus sich selbst Nahrung ziehen. Wenn der Geist einmal heilsame Belehrung verwirft, so verfällt er unwillkührlich auf Aberglauben und naturwidrige Folgerungen, welche die Sache der Wahrheit eben so sehr beeinträchtigen, als sie von den Hauptgrundsätzen menschlicher Erziehung abweichen.«

Die Jungfrau war zu sehr von Bewunderung ergriffen, um es zu wagen, diesen Worten mit einer unverdauten Antwort zu begegnen, und der Wundarzt fuhr nach einer kurzen Pause philosophischer Geringschätzung fort:

»Daß ein Mann mit gesunden Sinnen an dem Fluß der Gezeit Ebbe und Fluth. zweifeln kann, ist mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Der Starrsinn ist jedoch ein gefährlicher Gast und kann uns leicht in die größten Irrthümer führen.«

»Sie glauben also, Ebbe und Fluth üben eine Wirkung auf den Zeitfluß?« fragte die Haushälterin.

Miß Peyton erhob sich und winkte ihren Nichten, ihr in der nahen Speisekammer an die Hand zu gehen, während das dunkle Gesicht des aufmerksamen Lawton einen Augenblick von geheimer Lachlust strahlte, die er aber so kräftig unterdrückte, daß sie eben so schnell wieder verschwand, als sie aufgetaucht war.

Nach einem kurzen Nachdenken, ob er auch die Sprecherin richtig verstanden habe, glaubte der Wundarzt, dem Drang nach Belehrung, wenn er gegen eine mangelhafte Erziehung anstrebt, etwas zugestehen zu dürfen und erwiederte:

»Ihr meint wohl den Mond; viele Philosophen haben gezweifelt, in wie weit er auf Ebbe und Fluth einwirke; aber ich glaube, daß man willkührlich das Licht der Wissenschaft verwirft, wenn man nicht annimmt, er erzeuge beides, den Ab- und den Zufluß.«

Da der Zufluß eine Krankheit war, welche Katy nicht kannte, so dachte sie, es sey das Beste, zu schweigen. Aber die Neugierde, zu erfahren, was der Doctor unter gewissen wichtigen Lichtern, auf welche er so oft anspielte, verstehe, ließ sie nicht lange ruhen, und sie wagte es endlich, mit der Frage herauszurücken:

»Sind die Lichter, von denen Sie reden, vielleicht das, was man in unsern Gegenden Nordlichter nennt?«

Aus Mitleid mit ihrer Unwissenheit wäre der Wundarzt vielleicht in eine weitläufige Erörterung des fraglichen Gegenstandes eingegangen, wenn er nicht durch Lawton, der sich nicht mehr zu halten vermochte, unterbrochen worden wäre. Der Capitän hatte bisher mit großer Selbstbeherrschung zugehört; aber jetzt brach er in das heftigste Lachen aus, bis ihn der Schmerz seiner Glieder an seinen Sturz erinnerte und ihm die Thränen in dickeren Tropfen über die Wangen rollten, als man es je früher an ihm bemerkt hatte. Endlich aber ergriff der gekränkte Wundarzt die Gelegenheit einer Pause und sagte:

»Für Sie, Capitän Lawton, mag es wohl eine Quelle des Triumphes seyn, wenn ein ununterrichtetes Weib etwas mißversteht, worüber sogar Männer der Wissenschaft lange verschiedener Meinung waren. Sie bemerken aber doch, daß diese achtbare Matrone die Lichter nicht zurückweist – sie verwirft nicht die Anwendung geeigneter Instrumente, um Beschädigungen des menschlichen Körpers wieder auszugleichen. Sie erinnern sich vielleicht noch, mein Herr, ihrer Anspielung auf den Nutzen der Nadel.«

»Allerdings,« rief der belustigte Reiter, »um des Hausirers Hosen auszubessern!«

Katy erhob sich in augenscheinlichem Verdruß und stellte sich in Bereitschaft, ihre Eigenschaften nun in einem desto höheren Glanze hervorleuchten zu lassen.

»Es war kein gewöhnlicher Gebrauch,« sagte sie, »zu welchem ich die Nadel bestimmte. Ich wollte sie zu einem besseren Zwecke verwenden.«

»Erklärt Euch weiter, Madame,« sagte der Wundarzt ungeduldig, »damit dieser Herr sehen möge, wie wenig Grund er zu seinem Frohlocken hat.«

Aus diese Aufforderung hielt Katy einen Augenblick inne, um die nöthige Beredsamkeit zu Ausschmückung ihrer Erzählung zu sammeln. Das Wesentliche ihrer Mitteilung bestand darin, daß ein Kind, welches von den Armenpflegern Harvey anvertraut worden war, in der Abwesenheit des Hausherrn sich eine große Nadel in den Fuß getreten hatte. Das beschädigende Instrument wurde nun sorgfältig mit Fett beschmiert, in Wolle gewickelt und unter gewissen Besprechungen in einen Kaminwinkel gelegt, während der Fuß, aus Furcht, die sympathetische Einwirkung zu stören, sich selbst überlassen wurde. Die Ankunft des Krämers brachte eine gänzliche Veränderung in dieser bewunderungswürdigen Behandlung hervor, und die Folgen davon drückte Katy an dem Schlusse der Erzählung mit den Worten aus:

»Man durfte sich daher nicht wundern, daß das Kind nachher am Hundskrampf starb.«

Doctor Sitgreaves ging nach dem Fenster, um den schönen Morgen zu bewundern, und gab sich alle Mühe, die Basiliskenblicke seines Kameraden zu vermeiden. Aber ein Gefühl, das er nicht bezwingen konnte, nöthigte ihn endlich doch, dem Capitän Lawton in's Gesicht zu sehen. Die Züge desselben zeigten nichts als den Ausdruck der Theilnahme an dem Schicksale des armen Knaben; aber die siegstrahlenden Augen schnitten dem betäubten Manne der Wissenschaft in die Seele. Er murmelte etwas von dem Zustande seiner Patienten und entfernte sich in aller Eile.

Miß Peyton erkundigte sich nun mit der ganzen Theilnahme ihrer schönen Seele nach dem Stand der Dinge in der Wohnung des Hausirers und horchte geduldig auf die weitschweifigen Mittheilungen Katy's über die Ereignisse der letzten Nacht. Die Haushälterin vergaß nicht, insbesondere bei der Größe des Verlusts an Geld, welchen Harvey erlitten hatte, zu verweilen, und sparte keineswegs ihre Vorwürfe darüber, daß er ein Geheimniß verrathen habe, welches so leicht zu bewahren gewesen wäre.

»Denn, Miß Peyton,« fuhr sie fort, nachdem sie eine Weile Athem geschöpft hatte, »ich hätte mir das Geheimniß nicht einmal mit meinem Leben entreißen lassen. Sie konnten ihn im äußersten Falle doch nur umbringen, jetzt kann man aber sagen, daß sie ihn an Leib und Seele todtgeschlagen haben, oder was dasselbe ist, sie haben ihn zu einem verächtlichen Landstreicher gemacht. Es soll mich Wunder nehmen, wen er jetzt zu heirathen gedenkt, oder wer ihm Haus halten wird. Was mich anbelangt, so ist mir mein guter Name zu kostbar, um bei einem ledigen Manne zu bleiben, obgleich er, im Grunde genommen, nie daheim ist. Ich bin entschlossen, ihm heute noch zu sagen, daß ich nach dem Leichenbegängniß keine Stunde mehr als ledige Person in seinem Hause bleiben will. Und ihn heirathen? – daran mag ich gar nicht denken, wenn er sein Wanderleben nicht aufgibt und mehr in der Heimath bleibt.«

Die gütige Wirthin in den Locusten ließ Katy ihre überströmenden Gefühle ausgießen und brachte durch einige umsichtige Fragen, welche eine tiefere Kenntniß von den Winkelzügen des menschlichen Herzens auf dem Felde der Liebe verriethen, als sich von einer Jungfrau wohl erwarten ließ, aus der Haushälterin genug heraus, um sich von der Unwahrscheinlichkeit zu überzeugen, daß Harvey je seine Person und die kümmerlichen Ueberreste seiner Glücksgüter Katy Haynes anbieten werde. Sie äußerte daher, daß sie bei dem gegenwärtigen größeren Umfange ihres Hauswesens eines Beistandes benöthigt sey, und drückte den Wunsch aus, Katy möchte ihren Aufenthalt nach den Locusten verlegen, im Falle der Hausirer ihrer Dienste nicht weiter bedürfte. Nach einigen vorläufigen Bedingungen von Seite der vorsichtigen Haushälterin wurde der Vertrag abgeschlossen; dann jammerte Katy noch eine Weile über die Größe ihres eigenen Verlusts und Harvey's Unempfindlichkeit, drückte ihre Neugierde aus, was wohl noch aus dem Krämer werden möchte und entfernte sich endlich, um die nöthigen Vorbereitungen zu dem Leichenbegängniß zu treffen, welches noch an demselbigen Tage stattfinden sollte.

Lawton hatte sich aus Zartgefühl während der Unterredung der beiden Frauen zurückgezogen. Besorgniß führte ihn in das Zimmer des Capitän Singleton, welchen, wie wir bereits mitgetheilt, alle Officire des Corps um seines Charakters willen sehr lieb gewonnen hatten. Der junge Dragoner hatte bei so manchen Gelegenheiten gezeigt, daß sein eigenthümliches sanftes Wesen nicht Folge eines Mangels an Entschlossenheit war, und die fast weibliche Zartheit seines Benehmens und seines Aeußern konnte ihm daher auch den Augen dieser Parteigängertruppen nicht zum Nachtheile gereichen.

Dem Major war er so theuer, wie ein Bruder, und die Hingebung, mit welcher er den Anordnungen seines Arztes Folge leistete, hatten ihn zu Doctor Sitgreaves Liebling gemacht. Das Ungestüm, mit welchem das Corps in seinen kühnen Angriffen zu Werke ging, hatte nach einander alle Officiere in den jeweiligen Gewahrsam des Wundarzts gebracht. Bei solchen Anlässen wurde dem Capitän Singleton von dem Manne der Wissenschaft die Palme der Lenksamkeit zuerkannt, indeß Capitän Lawton auf dem schwarzen Register stand. Sitgreaves erklärte oft in seiner einfachen trockenen Weise, die sich durch nichts außer Fassung bringen ließ, daß es ihm weit mehr Vergnügen mache, den erstern verwundet eingebracht zu sehen, als jeden andern Officier der Schwadron, und daß Lawton ihm am allerwenigsten zusage – ein Compliment und eine Verurtheilung, welche Singleton gewöhnlich mit ruhigem gutmüthigem Lächeln hinnahm und die von dem letzteren mit einer gravitätischen Verbeugung des Dankes erwiedert wurde. Bei der gegenwärtigen Gelegenheit trafen der gekränkte Wundarzt und der höhnische Dragoner in Singleton's Zimmer als auf einem Grunde zusammen, wo beide in dem gleichen Interesse handeln konnten. Sie vereinigten eine Weile ihre Bemühungen, dem verwundeten Officier Erleichterung zu verschaffen, woraus sich der Arzt nach dem für seine eigene Bequemlichkeit eingerichteten Zimmer zurückzog. Hier wurde er jedoch nach einigen Minuten durch den Eintritt Lawton's überrascht. Der Sieg des Dragoners war so vollständig gewesen, daß er fühlte, er könne jetzt der Großmuth Raum geben; er rief daher, indem er seinen Rock freiwillig auszuziehen begann, dem Doctor unbefangen zu:

»Sitgreaves, thun Sie mir den Gefallen und kommen Sie meinem armen Leichnam ein wenig mit dem Lichte der Wissenschaft zu Hülfe.«

Der Wundarzt begann bereits, den Spott unerträglich zu finden. Als er aber einen Blick auf seinen Kameraden wagte, bemerkte er mit Ueberraschung seine Vorbereitungen und in Lawton's ganzem Benehmen einen Ausdruck von Aufrichtigkeit, welcher bei ähnlichen Gesuchen nicht in seiner Weise lag. Er milderte daher den beabsichtigten Ausbruch seiner Empfindlichkeit zu der höflichen Frage:

»Bedarf Capitän Lawton irgendwie meiner Handreichung?«

»Sehen Sie selbst zu, mein lieber Doctor,« sagte der Reiter gelassen. »Es kömmt mir vor, als ob auf meiner Schulter ein Regenbogen in allen Farben spiele.«

»Sie haben ganz recht; es ist so,« sagte der andere, indem er den Theil mit vieler Zartheit und Umsicht untersuchte. »Zum Glück ist aber nichts zerbrochen. Es ist ein wahres Wunder, daß Sie noch so gut davon gekommen sind.«

»O, ich bin von Jugend auf ein rüstiger Springer gewesen und es fällt mir bei, daß ich schon etliche Male vom Pferde gestürzt bin; aber, Sitgreaves –« fuhr er mit Nachdruck fort, indem er auf eine Narbe seines Körpers deutete – »erinnern Sie sich noch dieses Stückchens Arbeit?«

»Vollkommen, Jack; sie wurde brav gefaßt und prächtig herausgezogen. Aber glauben Sie nicht, es wäre besser, etwas Oel auf diese Quetschungen anzuwenden?«

»Ohne Zweifel,« entgegnete Lawton mit unerwarteter Nachgiebigkeit.

»Nun, mein lieber Junge,« rief der Doctor freudig, indem er das anempfohlene Linderungsmittel gleich selber in die beschädigten Stellen einrieb, »glauben Sie nicht, es wäre besser gewesen, wenn man es schon gestern Nacht gethan hätte?«

»Ganz wahrscheinlich.«

»Ja, Jack, wenn Sie mich aber einen Aderlaß hätten vornehmen lassen, als ich Sie zuerst sah, so würde das Ihnen einen unendlich wesentlicheren Dienst geleistet haben.«

»Nichts vom Aderlassen,« sagte der Andere entschieden.

»Es ist nun zu spät; aber eine Dosis Ricinus-Oel würde die bösen Säfte ganz prächtig abführen.«

Der Rittmeister erwiederte hierauf nichts, biß aber die Zähne in einer Weise zusammen, welche wohl erkennen ließ, daß die Feste seines Mundes nicht ohne entschlossenen Widerstand angegriffen werden könne, und der erfahrene Arzt wechselte daher den Gegenstand der Unterhaltung.

»Es ist doch Schade, John,« sagte er, »daß Sie den Schuft nicht fingen, nachdem Sie sich um seinetwillen so vieler Mühe und Gefahr unterzogen hatten.«

Der Dragoner-Rittmeister gab keine Antwort und der Wundarzt fuhr, während er den Verband an die verwundete Schulter legte, fort:

»Wenn ich überhaupt einmal wünschen könnte, ein Menschenleben zerstört zu sehen, so wäre es nur, um diesen Verräther hängen zu sehen.«

»Ich glaubte, Ihr Geschäft sey das Curiren und nicht das Umbringen,« sagte der Reiter trocken.

»Ja, aber wir haben seinen geheimen Mittheilungen so schwere Verluste zu danken, daß mich bisweilen eine sehr unphilosophische Aufwallung gegen diesen Spion beschleicht.«

»Sie sollten solcher feindseligen Gesinnung gegen irgend einen Nebenmenschen keine Nahrung geben,« versetzte Lawton in einem Tone, daß dem Wundarzt die zur Befestigung des Verbandes bestimmte Stecknadel aus der Hand fiel. Er blickte dem Patienten in's Gesicht, um alle Zweifel an der Identität desselben zu beseitigen; als er jedoch sah, daß er wirklich die Worte seines alten Kameraden, des Capitäns John Lawton, vernommen hatte, nahm er seine verblüfften Fähigkeiten wieder zusammen und fuhr fort:

»Ihre Lehre ist richtig, und ich kann ihr im Allgemeinen nur beipflichten. – Aber John, mein guter Junge, sitzt der Verband gut?«

»Vollkommen.«

»Ich bin im Ganzen derselben Meinung; aber jede Sache läßt eine gar vielseitige Betrachtung zu; daher auch kein Fall ohne Ausnahme. – Lawton, befinden Sie sich wohl?«

»Ganz.«

»Es ist nicht nur grausam gegen den Leidenden, sondern auch bisweilen ungerecht gegen Andere, wenn man ein Menschenleben zerstört, wo durch eine gelindere Züchtigung derselbe Zweck erreicht würde. – Nun, Jack, wenn Sie nur – bewegen Sie Ihren Arm ein wenig – wenn Sie nur – ich hoffe, Sie fühlen sich jetzt leichter, mein lieber Freund?«

»Um Vieles.«

»Wenn Sie, mein lieber John, nur Ihre Leute lehren würden, mit mehr Umsicht zuzuhauen; es würde ja zu demselben Zwecke führen – und mir ein großes Vergnügen machen.«

Der Doctor seufzte tief auf, nachdem es ihm gelungen war, sich von dem, was ihm so nahe am Herzen lag, zu befreien; der Dragoner aber zog kaltblütig seinen Rock wieder an und sagte bedächtlich, als er sich entfernte:

»Ich kenne keinen Zug, welcher verständiger zuhaut; sie spalten gewöhnlich den Schädel vom Wirbel bis auf die Zähne.«

Der getäuschte Wundarzt sammelte seine Instrumente und ging mit schwerem Herzen, um den Obristen Wellmere auf seinem Zimmer zu besuchen.

 


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