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Dreiunddreißigstes Kapitel.
»Ich bin wahnsinnig.«

Hätte Beatrice an dem Morgen, der auf diese schreckliche Nacht folgte, bei Tagesgrauen zum Fenster hinausgesehen, so würde ihr ein überraschender Anblick zu teil geworden sein. Sie würde Sarah Miller, die sie in London glaubte, auf der anderen Seite der Straße haben stehen sehen, von wo sie mit angstverzerrten Zügen nach den Fenstern ihrer Herrin blickte, wie jemand, der dem Teuersten, was er hat, auf ewig lebewohl sagt – auf ewig, weil selbst die tröstliche Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits fehlt. Aber Beatrice, die erst spät Ruhe gefunden hatte, schlief, bis die Sonne schon hoch am Himmel stand.

Das arme, selbstberufene Werkzeug des göttlichen Willens war, nachdem sie den Schauplatz ihrer dunklen That verlassen hatte, lange ziellos und hoffnungslos in den Vorstädten Münchens herumgeirrt. Wer ihr begegnet wäre, hätte sehen können, wie sie ab und zu in ihrer Seelenpein aufstöhnte und die Hände rang. Aber es war nicht Reue, die sie quälte, sondern der Gedanke, daß ihr Opfer noch nicht vollendet sei, daß ihr das Schwerste noch bevorstünde. Sie war wahnsinnig und war es auch nicht. Wie man aus ihren Thaten entnehmen kann, war der Zustand ihres Geistes, soweit es sich um die religiöse Seite der Frage handelt, unheilbar zerstört. Es mag wohl sein, daß dies schon seit Jahren ihr wahrer Zustand war, schon immer, seit sie sich zu der unerbittlichen Logik ihres Glaubens bekannt hatte, die sie sich teils selbst gebildet, teils aus den ihr beigebrachten Lehren entnommen hatte. Das Feuer mag schon jahrelang geglüht und geglimmt und sich nur ab und zu durch ein flüchtiges Aufzucken verraten haben, bis es gewisse Umstände zur verzehrenden Flamme angefacht hatten. Der schlimmste Ausbruch war jetzt vorüber, aber das Feuer brannte weiter und konnte nicht mehr unterdrückt werden, bis es die Lebenskraft der Unglücklichen ebenso aufgezehrt hatte, wie ihren Verstand. Sie hatte beinahe kaltblütig diesen Mann ermordet; aber abgesehen von dem Abscheu, den sie vor der Ausführung der That empfunden, fühlte sie keine Reue; ihr zerstörtes Gemüt beklagte nicht den Tod des Mannes, sondern nur die Thatsache, daß sie dazu bestimmt worden war, denselben herbeizuführen. Dies beklagte sie etwa so, wie Judas Ischariot das harte Geschick bejammert haben mag, das ihn, damit sich die Weissagung erfülle, dazu auserlesen und bestimmt hatte, seinen Herrn und Meister zu verraten. Und wenn es wahr ist, daß die Vorsehung errettet und verdirbt, wer kann dann sagen, daß die wahnsinnige Schlußfolgerung der Frau unrichtig sei? Sind nicht Glaube und Logik tödliche, unversöhnliche Feinde, die sich erst dann miteinander vertragen werden, wenn der Löwe friedlich mit dem Schafe weidet?

Andererseits aber war Sarah Miller gesund oder wenigstens beinahe gesund. Sie besaß die volle Fähigkeit der Ueberlegung; sie machte Pläne und hatte die Kraft, dieselben durchzuführen. Die Angst, die sie jetzt verzehrte, kam von der Erkenntnis, daß sie und ihre Herrin für immer getrennt sein mußten. Das war das höchste Opfer; sie sollte das geliebte Antlitz Beatrices nie wieder sehen, nie mehr für sie sorgen und sinnen und, wenn es nötig war, für sie sündigen; nie sollte sie sich an dem Anblick des Glückes erfreuen, das sie begründet. Hier lag das Opfer! Sollte ihre entsetzliche That wirklich Beatrices Glück begründen, so durfte sie nie erfahren, daß die Hand ihrer Dienerin den sonst unlöslichen Knoten gewaltsam durchschnitten hatte.

So plante und überlegte Sarah noch, als der Morgen graute und Bäume und Häuser gespenstisch aus dem Nebel hervorzutreten begannen. Alle ihre Gedanken liefen in dem einen zusammen: Sie mußte fort, weit fort, Beatrice durfte nie wieder von ihr hören, durfte nie erfahren, daß sie London wieder verlassen hatte. Wenn ihre Beziehungen zu dem toten Manne bekannt wurden, konnte die Wahrheit erraten werden und alles verloren sein.

Doch ehe sie für immer ging, mußte sie das Haus noch einmal sehen, in dem ihr Liebling lebte; sie mußte die Schwelle küssen, über welche die geliebten Füße getreten waren; sie mußte noch einen leidenschaftlichen, unbemerkten Abschied nehmen und dann verschwinden wie eine Tote. Sie versuchte gegen dieses Verlangen anzukämpfen, aber es war stärker als sie. Beim ersten Schimmer des Tageslichts betrat sie die schlafende Stadt und stand, gänzlich erschöpft, vor dem Fenster ihrer Herrin, das sie eine Zeitlang betrachtete, wie man etwa den letzten Strahl einer sinkenden Sonne betrachten würde, die untergeht, um niemals wieder aufzugehen und niemals wieder die ewige Nacht zu erleuchten.

In dieser frühen Morgenstunde waren die Straßen still und einsam. Niemand war da, der die sonderbar aussehende Frau beachtet hätte, die hier wie angewurzelt stand und mit wilder Verzweiflung im Blick immer auf den einen Punkt starrte.

Sie sah in jenem Augenblicke so aus, daß auch der Gleichgültigste nicht an ihr vorübergegangen wäre, ohne sich neugierig zu fragen, warum sie wohl hier stehe und was wohl ihrer Erscheinung ein solches Gepräge von hoffnungsloser Verzweiflung aufdrücke. Nach einiger Zeit ging sie über die Straße und kniete auf der Schwelle des Hauses ihrer Herrin nieder. Hier brach die Unglückliche fast ohnmächtig zusammen; es schwindelte ihr, aber noch hatte sie die Kraft, zu wissen, daß sie hier nicht unterliegen dürfe. Mit äußerster Anstrengung erhob sie sich und schleppte sich weiter in eine entfernte Straße, wo sie sich auf die Staffeln vor einem Hause setzte und ausruhte, bis das Leben in der Stadt zu erwachen begann und sie sich etwas Nahrung verschaffen konnte. Nicht um ihretwillen, einer anderen wegen mußte sie essen und trinken. Sie trat in den ersten geöffneten Bäckerladen, kaufte etwas Brot und bat um ein Glas Wasser – seit ihrer Abreise von London hatte sie nicht das Geringste zu sich genommen.

Sie aß ihr Brot und machte sich dann einigermaßen gestärkt auf den Weg nach dem Bahnhof. Hier unterrichtete sie sich über die Abfahrtszeit des nächsten Zuges in westlicher Richtung. Sie mußte lange warten; sie suchte eine versteckte Ecke des Wartesaales auf und saß dort unbeweglich, wie eine Bildsäule. Aber ihr Kopf brannte wie Feuer und ihre Pulse pochten wild. Ein sonderbares Geräusch brauste in ihren Ohren; große Räder schienen sich in ihrem Kopfe um und um zu drehen; wenn sie ihre heißen, müden Augen schloß, so sah sie durch die Dunkelheit ein grelles, blutrotes Licht immer näher auf sich zukommen.

Doch trotz alledem vermochte sie dank ihrer eisernen Willenskraft in den Zug zu steigen und sich zu freuen, daß sie so weit gekommen war, und zu beten, daß ihre Kraft ausreiche bis nach London. Dann war das Werk vollendet und gesichert – was lag dann an der Zukunft des Werkzeuges?

Als der Zug München verließ und aus der prächtigen Halle hinausdampfte, verhüllte Sarah ihr Gesicht mit ihrem dicken schwarzen Tuch, das sie erst lange nachher wieder abnahm. Trotz ihrer festen Ueberzeugung, daß sie nur eine ihr vorherbestimmte That ausgeführt habe, vermochte sie doch den Schauplatz derselben nicht anzublicken. Je schneller der Zug dahineilte, je rascher drehten sich die Räder in ihrem Kopfe, je röter und greller und näher funkelte auch das blutrote Licht.

Außer den Fragen, die sie in betreff ihrer Reise zu stellen hatte, und den Worten, die nötig waren, ihr die Nahrung zu verschaffen, welche die Natur gebieterisch forderte, sprach sie auf der ganzen langen Reise keine Silbe. Ab und zu preßte sie die Hände an die Stirn in dem vergeblichen Versuch, die Räder anzuhalten, die sich in ihrem Kopfe drehten; sonst hielt sie die Hände gefaltet unter ihrem schwarzen Tuch. Sie saß da und starrte ins Leere. Sobald sie einmal die Augen schließen wollte, kam sofort das rote Licht auf sie zu. Die Reise hätte, soviel sie davon begriff, Monate oder Jahre währen können. Stunden und Tage und jede Zeitbestimmung hatten keine Bedeutung mehr für sie. Vor ihr lag keine Zeit, sondern die Ewigkeit.

Die lange Reise zu Lande und die kürzere zur See zog wie ein langer, aber unzusammenhängender Traum an ihr vorbei; sie wußte nichts mehr, als daß sie nach London eile. Endlich vernahm sie englische Laute, sah englische Gesichter und wußte, daß sie sich ihrem Ziele nahe; dann raffte sie sich auf und traf ihre letzten Vorbereitungen.

Sie durchsuchte ihre Taschen und zerriß das kleinste Stückchen Papier, so daß kein geschriebenes Wort bei ihr zu finden war, das Auskunft über ihre Persönlichkeit hätte geben können. Zu allerletzt zog sie eine Photographie von Beatrice hervor; diese sah sie lange, lange liebevoll an, zerriß sie dann seufzend und gab die kleinen Stückchen dem Winde preis. Sie wagte nicht einmal dieses letzte Andenken an ihren Liebling zu behalten.

Endlich in London! Sarah Miller stieg aus und stand nun wieder auf dem Bahnhof, von dem sie erst vor drei Tagen hoffnungsvoll abgereist war.

Sie hatte noch etwas thun wollen – was war es doch gleich? Ach, diese Räder, diese Räder! Sie drückte die Hände gegen die Schläfe und versuchte, sich zu besinnen.

Ach ja, das war's. Sie mußte ihr Geld loswerden, das englische und deutsche Geld, das sie noch in der Tasche hatte; sie suchte es zusammen, sie brauchte ja jetzt kein Geld mehr, sie hatte ja ihr letztes Ziel erreicht. Langsam schleppte sie sich zu einer auf dem Bahnhof angebrachten Armenbüchse und warf es hinein. Nachdem auch dies gethan war, glaubte sie alle Anzeichen verwischt zu haben, aus denen man hätte entdecken können, wer sie war und von wo sie kam. Und nun schritt die einsame, schwarzgekleidete Gestalt mit kummervoll gesenktem Haupte aus dem Bereich des geisterhaft weißen Scheines des elektrischen Lichtes hinaus an den fast ganz verödeten »Strand«. Sie ging einige Zeit den »Strand« entlang, wandte sich dann, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben, nach rechts und gelangte so allmählich an das Themse-Embankment. Sie wanderte weiter, immer weiter, bis sie die Waterloobrücke erreicht hatte. Auf der Mitte derselben blieb sie stehen und blickte, über das Geländer gebeugt, ins Wasser hinab, doch kam ihr nicht der entfernteste Gedanke an einen Selbstmord. Nein, der Strom hatte keine andere Anziehungskraft für sie, als diejenige, die jedes sanft und ruhig dahinfließende Wasser auf Menschen ausübt, die in tiefem Unglück sind. Sie blickte lange, lange hinab, bog sich über die Brustwehr, reckte den Hals und sah unverwandt in die dunkle, friedliche Tiefe.

Da legte sich plötzlich eine Hand fest auf ihre Schulter und die scharfe Stimme eines Polizisten sagte: »Die feuchte Nachtluft hier am Flusse ist ungesund für Leute wie Sie.« Dann setzte er freundlicher hinzu: »Gehen Sie nur schnell nach Hause, ich will Sie sicher bis ans Ende der Brücke bringen. Sie können gehen, wohin Sie wollen, aber wenn Sie hier bleiben, muß ich Sie einstecken.«

Sie faltete die Hände und rief in mitleiderregendem, flehendem Ton; »Ich bin wahnsinnig! Sehen Sie denn nicht, daß ich wahnsinnig bin? Nehmen Sie mich mit und bringen Sie mich dahin, wo die Wahnsinnigen sind!«

Dem verwunderten Polizeimann blieb, so sonderbar auch diese Erklärung schien, nichts anderes übrig, da die wunderliche Frau gar keine Auskunft über sich oder ihren Wohnort geben konnte oder wollte. So wurde sie fortgeführt und verbrachte den Rest der Nacht, oder vielmehr den Morgen, geduldig im Gewahrsam.

Wahnsinnig oder nicht, sie glaubte, ihr Werk sei vollbracht, glaubte, daß sie an einen Ort gebracht werde, wo ihre Herrin sie nimmermehr finden, nimmermehr von ihr hören konnte. Wahnsinnig oder nicht, ihr einziger Wunsch war, zu verheimlichen, auf welche Weise Maurice Hervey ums Leben gekommen war. Wenn sie wahnsinnig war, so hatte ihre Schlauheit die Stelle des Verstandes ganz gut vertreten. Nur eines, das Wichtigste, hatte sie vergessen. Wenn Beatrice von ihres Gatten Tod nicht benachrichtigt wurde oder dieser Tod nicht ganz zweifellos festgestellt wurde, war Sarah Millers Verbrechen umsonst begangen und ihr Opfer vergeblich gebracht worden.


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