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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Whittaker wird beleidigt

Als Horace und Herbert ihn, dem Rufe der Pflicht folgend, verlassen hatten, zog sich Carruthers mit Beatrices Brief in das Bibliothekzimmer zurück und brütete über das, was sich ereignet hatte. Die Frage, die er zu lösen hatte, war die: Welcher Beweggrund war stark genug, Beatrice zu einem solchen Schritt zu treiben?

Er hatte von Horace einst von direkten Ansprüchen gehört, die auf das Kind erhoben wurden; dies hatte ihn über Beatrices plötzliche Abreise von London, die ihn etwas beunruhigt hatte, aufgeklärt. Doch diese Angelegenheit konnte er nicht mit der jetzigen Flucht in Verbindung bringen, da der Anspruch auf das Kind fallen gelassen worden war; er wußte, daß Beatrice lieber kämpfte, als floh. Er hielt Beatrice für eine Frau von hervorragenden Fähigkeiten, die vollständig imstande war, die Folgen ihrer Handlungsweise zu berechnen. Er fühlte, daß sie nicht gehandelt hätte, wie sie gethan, wenn der Grund hierzu – mochte er nun sein, welcher er wollte – ihr nicht vollständig genügend erschienen wäre.

Sie war unglücklich; es waren ihre eigenen Worte. Drohte ihr irgend eine Gefahr, irgend ein Unheil? Welche Gefahr? Welches Unheil? Warum konnte er nicht an ihrer Seite sein und sie schützen und schirmen? Der Himmel weiß, er hätte es gern gethan, auch ohne eine Belohnung dafür zu erwarten.

Er stöhnte; er war unglücklich und niedergeschlagen. In diesem nämlichen Zimmer hatte er seinen ersten Kummer durchgekämpft! Und jetzt hatte er neuen Mut gefaßt und hatte gehofft, das Weib seiner Liebe doch noch besitzen zu können; nun war sie fortgegangen ohne ein Wort – gegangen und keiner wußte wohin – keiner wußte warum! Zu fühlen, zu ahnen, daß sie vor einem drohenden Unheil fliehe und nicht zu wissen vor welchem! Er war sehr unglücklich.

Er hatte ihr so gute Nachrichten mitgebracht, über die sie sich auch als Freundin mit ihm gefreut hätte. Er hatte sich in den letzten Jahren Geld, viel Geld erspart und hatte immer davon geträumt, sich der Schriftstellerei ganz zu widmen und das Unterrichten an den Nagel zu hängen. Jetzt endlich eröffnete sich ihm ein Weg hierzu. Seine politischen Artikel hatten Aufsehen erregt, man hatte ihm eine bedeutende Stelle als Journalist angeboten, außerdem hatte er ein Buch, von dem er sich sehr viel versprach, im Druck. Dies alles hatte er ihr mitteilen wollen, ehe er nach Oxford zurückging, um seine dortigen Angelegenheiten abzuwickeln. So oft er den Becher der Freude an die Lippen setzen wollte, wurde er ihm wieder entrissen.

Er mußte Beatrice finden. Ihn berührte ihr Wunsch, sie nicht aufzusuchen, nicht – er konnte für ihn nicht gelten. Ihm erschien ihre Flucht in viel ernsterem Lichte, als ihren Onkeln.

Er ging ins Wohnzimmer, um ihr Bild, das sich dort befand, zu betrachten; lange stand er davor und schwor ihrem Abbild, sie sei das schönste Weib auf Erden und wohl wert, daß ein Mann für sie lebe oder sterbe. Dann ging er in die Bibliothek zurück; als er durch die Vorhalle kam, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Whittaker, der würdige, tadellose Whittaker lehnte, mit einer Entrüstung, die sich in jedem Gliede seines schwarzbekleideten Körpers bemerklich machte, und mit ganzer Wucht gegen die Thür und versuchte einen Stock hinauszuschieben, der es ihm unmöglich machte, die Thür ganz zu schließen. Whittaker pustete und glühte, nicht so sehr vor Anstrengung, als vor Aerger. Nichts hätte in Carruthers lebhafter die Empfindung erwecken können, daß sich in Hazlewood House ungewöhnliche Dinge ereigneten, als der Anblick dieses ehrbaren alten Dieners in solch abnormen Schwierigkeiten.

»Was gibt's hier?« fragte er und ging an die Thür.

»Es ist ein Mann, Herr Carruthers,« hustete Whittaker hervor.

»Was will er?«

»Er fragt nach Fräulein Clauson; ich sagte ihm, sie sei von Hause abwesend.«

»Nun, und dann?« Frank begann sich zu interessieren; die streitenden Parteien innerhalb und außerhalb der Thür behielten ihre Stellung bei.

»Er fragte nach ihrer Adresse; ich sagte, ich wüßte dieselbe nicht.«

»Nun, und dann?«

»Er nannte mich einen verdammten Lügner, Herr Carruthers,« sagte Whittaker in höchster Erregung und mit unterdrückter Stimme, als ob er sich schämte, die Worte auszusprechen – »einen verdammten Lügner.« Die Wiederholung klang fast weinerlich.

»Oeffnen Sie die Thür, ich will mir ihn ansehen,« sagte Frank.

»Ich würde es an Ihrer Stelle nicht thun, Herr Carruthers, ich glaube, er plant eine Gewaltthat –«

»Ohne Sorge! Oeffnen Sie die Thür. Mich soll er nicht vergewaltigen, und Sie können sich hinter mich stellen.«

Whittaker fühlte den Stich wohl – er war einen Kopf größer als Frank. Er öffnete die Thür und Frank stand einem Manne seines Alters gegenüber, einem sonderbar aussehenden, kräftigen Burschen, der nach der neuesten Mode gekleidet war.

Es war natürlich Maurice Hervey. Nachdem er Beatrice noch eine Gnadenfrist von vierundzwanzig Stunden gegeben hatte, führte er seine Drohung aus, sie hier aufzusuchen. Nicht als ob er erwartet hätte, sie zu sehen, nicht als ob er irgend einen festen Plan zu verfolgen beabsichtigt hätte, wenn sie widerspenstig geblieben wäre – aber er wußte, daß dieser Besuch sie erschrecken und ängstigen werde.

Erst als ihm Whittaker sagte, sie habe die Stadt verlassen, kam ihm der Gedanke, sie könne sich ihm durch die Flucht entzogen haben. Dies brachte ihn so aus der Fassung, daß er sich zu Grobheiten gegen den alten Diener hinreißen ließ und sich veranlaßt fühlte, seinen Stock zwischen die Thür zu schieben, als Whittaker, wie es in diesem Fall seine Pflicht war, auf seine Schimpfreden durch einfaches Schließen der Thür antworten wollte.

Hervey sah Frank an; Frank, der keine Ahnung hatte, was das Dasein dieses Mannes für Beatrice und ihn bedeutete, blickte Hervey an.

»Nun?« sagte er gelassen.

»Ich wünsche einige Fragen zu wiederholen, die ich machte, als der Diener mir so unhöflich die Thür vor der Nase zuwarf,« sagte Hervey.

»Bitte, mir die Antwort des Dieners zu wiederholen, die Sie so unhöflich aufnahmen,« erwiderte Frank.

»Sie wissen ihre Adresse nicht?«

»Wenn Sie von Fräulein Clauson sprechen – nein.«

Hervey zögerte. »Sie sind nicht Herr Talbert?« fragte er.

»Nein.«

»Ohne Zweifel kann mir Herr Talbert die gewünschte Auskunft geben?«

»Ohne Zweifel. Aber ich glaube, daß er die Gründe kennen lernen will, die Sie veranlassen, dieselbe zu fordern.«

»Ich werde auf ihn warten.«

»Das werden Sie nicht. Natürlich kann ich Sie nicht verhindern, wiederzukommen, aber Sie werden hier nicht warten.«

Hervey wurde zornig. »Wollen Sie versuchen, mich hinauszuwerfen?« sagte er herausfordernd.

»Gewiß nicht,« entgegnete Frank ganz freundlich, »ich werde nur in die Stallungen hinüberschicken und die Hunde loskoppeln lassen, oder aber kann ich auch nach dem Dorfe schicken und den Polizeidiener holen lassen. Weiter werde ich mich sicher nicht bemühen.«

Hervey stieß einen unterdrückten Fluch aus. Er wandte sich um, als ob er die Warnung beherzigen wollte. Plötzlich besann er sich eines anderen und kam zurück.

»Kennt Herr Talbert die Adresse seiner Nichte?« fragte er.

Einen Augenblick lang war es Frank übel zu Mute; der Fremde hatte versucht, die Frage zu stellen, als ob sie keine tiefere Bedeutung hätte, aber Frank merkte sofort, daß dieser unbekannte Mensch wußte, daß Beatrices Abreise eine Flucht sei. »Nein,« sagte er und blickte ihm fest ins Gesicht, »Herr Talbert kennt sie nicht.«

Ohne ein Wort weiter entfernte sich Hervey. Frank rannte mit glühendem Kopfe im Zimmer auf und ab. Er ahnte etwas – nicht die Wahrheit, aber etwas, das mit seinem unbestimmten Schrecken schlimmer war, als die Wahrheit. Infolge dieser unklaren Ahnung wurde er sofort zum Verräter, schlug sich auf ihre Seite und beschloß, ihre Onkel im Dunklen zu lassen, öffnete die Thür und rief Whittaker herbei, dem er ein Goldstück in die Hand drückte und sagte: »An Ihrer Stelle würde ich meinen Herren von diesem Vorfall nichts erzählen.«

»Nein,« sagte Whittaker bewegt, »ich würde mich schämen, es zu thun. Herr Talbert und Herr Herbert würden sich zu sehr betrüben, daß einer ihrer Diener mit einem so unpassenden Ausdruck bezeichnet worden ist.«

»Ich würde es auch den Mädchen nicht sagen.«

»Herr Carruthers!« rief Whittaker überrascht und gekränkt.

»Ach ja, ich vergaß, mit wem ich spreche. Bitte um Vergebung, Whittaker.«

Von Whittaker also erfuhr niemand etwas.

Wer aber war dieser Mann, der so angelegentlich nach Beatrice forschte? Carruthers hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, daß er nicht dem Stande angehörte, in dem Beatrice ihre Freunde wählte. Plötzlich fuhr er aus seinen Gedanken auf. Warum hatte er den Mann gehen lassen? Weshalb hatte er ihn nicht gezwungen, zu sagen, warum und zu welchem Zweck er den Aufenthalt Beatrices zu erfahren wünsche. Er nahm seinen Hut und lief die Straße bis zum Dorfe hinab, in der Hoffnung, den Mann noch einzuholen. Hervey hatte einen vorüberfahrenden Wagen angerufen und kehrte mit der angenehmen Ueberzeugung nach Blacktown zurück, daß es besser gewesen wäre, er hätte das Geld genommen und auf die Rache verzichtet. Beatrices Art und Weise, sich aus der Verlegenheit zu ziehen, bereitete ihm große Schwierigkeiten. Im neunzehnten Jahrhundert mißglückt ein Racheversuch in neunundneunzig Fällen von hundert.

Obgleich Carruthers den Mann, den er suchte, nicht fand, so traf er doch Sylvanus Mordle inmitten eines Teiles seiner Herde, der ihm neugierig zusah, wie er vergeblich versuchte, sein Tricycle, an dem etwas zerbrochen war, wieder in Ordnung zu bringen. Die Zuschauer ließen ihm die verschiedensten Ratschläge, die teilweise von gesundem Bauernwitz zeugten, zu gute kommen. »Hat den Koller bekommen,« »braucht Futter, das arme Ding«, »zünden Sie ein Feuer unter ihm an, Herr Vikar« etc. Sylvanus nahm diese Scherze seiner Herde gut auf, als er aber plötzlich Carruthers sah, schickte er seine hilflose Maschine durch einen der Umstehenden in seine Wohnung, faßte Frank nach herzlicher Begrüßung unter dem Arm und zog ihn mit nach seiner Wohnung.

»Kommen Sie zu einer Tasse Thee und einer Cigarre. Kann Ihnen leider nur Thee anbieten. Ist die schlimmste Seite des geistlichen Standes, kann vor nachts zehn Uhr keinem Freund Whiskey anbieten. Könnte unerwartet ein Feind vorbeigehen.«

Er plauderte so lustig weiter, weil er überzeugt war, Carruthers sei nur mit der Gewißheit nach Hazlewood House zurückgekommen, daß eine erneuerte Bewerbung gut aufgenommen würde.

»Haben mir eine Menge zu erzählen,« stieß Sylvanus hervor, als sie in seine Wohnung traten. »Fanshaws schreibt mir, daß Sie die Einpaukerei aufgeben wollen. Muß alles darüber hören, will aber warten, bis der Thee fertig ist. Haben mich noch nie Thee machen sehen, was? Etwas Wundervolles um den Thee,« fuhr er fort. »Billiger Thee hilft dem Christentum ungeheuer viel. Großer Segen!« Er schob den schon dampfenden Kessel vollends ganz auf das Feuer und öffnete eine Theebüchse. »Ich – ich, Sylvanus Mordle, habe den Irrtum in der modernen Bereitung des Thees herausgefunden. Die Leute machen ihn heute gerade noch wie damals, als das Pfund noch sechs und sieben Schilling kostete – einen Löffel voll auf die Person, einen für den Topf. Mein Maßstab verändert sich je nach dem Preis.« Dabei schaufelte er den Thee buchstäblich in die Kanne und goß dann das kochende Wasser darüber. »So, jetzt zwei Minuten ziehen lassen und dann eingießen. Das Aroma, die Seele des Thees, ist erwischt. Kosten Sie!«

Frank dachte, sogar ein Aroma müßte sehr flüchtig und fein sein, wenn es diesem geschäftigen, thatkräftigen Geistlichen entwischen wollte. Der Thee war auch ausgezeichnet.

»So,« sagte Mordle und streckte seine langen Beine aus, »jetzt erzählen Sie mir Ihre Neuigkeiten.«

Während sein Wirt den Thee bereitete, hatte sich Frank überlegt, daß es am besten sei, Mordle, der ja zuverlässig und treu wie Gold war, alles zu sagen. Er sah ein, daß er Hilfe brauche, kräftigere als er bei Horace und Herbert finden konnte, deren einziges Streben dahin ging, Beatrices Flucht vor der klatschenden Nachbarschaft zu verbergen. Er hoffte auch, von Mordle einige nützliche Einzelheiten über Beatrices tägliches Leben in den letzten paar Monaten zu erfahren.

So sagte er ihm alles, alles. Und als er ausgesprochen hatte, saß Sylvanus Mordle, den noch nie jemand anders als lachend gesehen hatte, da als das leibhaftige Bild der größten Gewissensbisse und des schrecklichsten Jammers. Die Veränderung, die mit ihm vorgegangen, war so groß, daß Frank erschrak.

»Es lag mir seither stets schwer auf dem Herzen,« sagte Mordle trostlos.

»Was hat schwer auf Ihrem Herzen gelegen? Reden Sie, um Gottes willen, wenn Sie irgend einen Fingerzeig geben können!«

»Es war sehr unrecht von mir. Ich hätte niemals nachgeben dürfen, aber ich habe es gethan; ich konnte es ihr nicht abschlagen.«

»Was thaten Sie? Raffen Sie sich auf und sprechen Sie deutlich!«

Mordle gehorchte und so erfuhr Frank nun auch den Ausflug nach Blacktown. Er hatte erst vor einigen Stunden von den Rawlings und ihrer Forderung gehört und suchte Mordle zu beruhigen, was ihm auch teilweise gelang. Der Vikar hielt aber an der Ueberzeugung fest, daß der Besuch in »Katze und Zirkel« in irgend einer Weise mit der Flucht des Mädchens zusammenhing. Frank hatte Mühe, ihm das Versprechen, den Talberts nichts davon zu sagen, abzuringen.

Er beschloß, die Frau, bei der Beatrice gewesen war, aufzusuchen, um zu erfahren, was sich bei der Zusammenkunft ereignet hatte. Frank fühlte sich geneigt, auf die ersten Vermutungen, daß Beatrice sich ihren kleinen Schützling habe retten wollen, zurückzukommen. Vielleicht war der Mann, der mit Whittaker gestritten hatte, von irgend einem Advokaten geschickt worden. Er gab sich Mühe, diese Ansicht festzuhalten, aber vergeblich. Er fühlte es, es war viel, viel mehr dahinter, und er fühlte auch, daß der Mann, den er gesehen, den Schlüssel des Geheimnisses besaß. Er verwünschte die Gedankenlosigkeit, mit der er ihn hatte fortgehen lassen.


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