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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Ein Wort zu seiner Zeit

Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen fand Carruthers Frau John Rawlings endlich hinter dem Ladentisch in Great Street Nr. 142. Sie war emsig beschäftigt – vermutlich um die Versäumnisse ihres Mannes auszugleichen; sie hielt einen etwa zwei Zoll dicken rötlichen Gegenstand in der Hand, der wie ein Seil aussah und den sie mit einer gewandten, nur dem Eingeweihten vertrauten Handbewegung in ein langes Gewinde von Bratwürsten verwandelte. Als sie vernahm, daß Carruthers sie in Privatangelegenheiten zu sprechen wünsche, rieb sie die Hände an einem Tuche ab, öffnete eine Art Klappe hinter dem Ladentisch und bat ihn, sie hinaufzubegleiten.

Eine Treppe höher wurde Frank von Frau Rawlings in ein Gemach geführt, das mit einer wahrhaft blendenden Tapete, einem in allen Farben strahlenden Teppich und leuchtend blauen Polstermöbeln ausgestattet war; goldene Spiegelrahmen und blitzendes stählernes Feuergeräte vor dem Kamin trugen auch noch das ihre dazu bei, dem Zimmer einen so auffallend hellen, leuchtenden, blitzenden Charakter zu verleihen, daß sogar ein noch zerstreuterer Gast als Carruthers es hätte bemerken müssen.

»Was für ein freundliches Zimmer!« rief er aus.

»Ja, es ist ein freundliches Zimmer,« sagte Frau Rawlings in wohlgefälligem Tone, »wissen Sie, wir schlachten oft bis zu dreißig Schweine vor dem Frühstück.«

Frank begriff diese scheinbare Abschweifung nicht und begnügte sich zu sagen: »Arme Dinger,« ohne näher anzudeuten, ob er sein Mitleid den Schweinen oder deren Schlächtern zuwende.

»Anfangs, als ich Rawlings genommen hatte, wollte es mir oft recht traurig vorkommen, und da habe ich versucht, alles, was nicht mit dem Geschäft zusammenhängt, recht lustig und heiter zu gestalten.«

»Das ist Ihnen hier vollständig gelungen,« versicherte Frank und ließ sich auf den himmelblauen Sessel nieder, den sie ihm angeboten hatte.

»Das will ich hoffen! Wissen Sie,« fuhr Frau Rawlings fort, »jedes Geschäft hat seine Schattenseiten so gut wie seine Vorteile. Manche Leute mögen das Schweinegeschäft nicht, aber es staubt gar nicht und mir ist nichts so unangenehm wie Staub.«

Zu jeder anderen Zeit hätte Carruthers seinen Spaß an der Frau gehabt, heute aber lag ihm nur Beatrice im Sinn, und er begann deshalb Frau Rawlings auszufragen.

Ja, Frau Rawlings war in Blacktown gewesen und hatte in »Katze und Zirkel« gewohnt. Sie, oder vielmehr ihr Mann, hatte geglaubt, ein kleiner Knabe dort sei ihr verlorenes Kind. Eines Morgens hatte eine junge Dame Frau Rawlings besucht; dieselbe hatte keinen Namen genannt, war aber eine große, junge Dame, sehr schön, mit grauen Augen, schön gekleidet, eine ganz vornehme junge Dame. Ja, armes Ding! Eine vornehme junge Dame.

Wollte Frau Rawlings ihm vielleicht erzählen, was bei diesem Besuch gethan und gesagt worden war? O nein – niemals. Die gute Frau schloß ihre Augen, preßte die Lippen fest aufeinander und schüttelte langsam und feierlich den Kopf, durch welche Bewegung sie andeuten wollte, Beatrices Mitteilungen würden für alle Zeiten tief verschlossen im heiligen Schrein ihres Herzens ruhen.

Frau Rawlings beabsichtigte in der That, Beatrices Geheimnis zu bewahren, und hätte dies jedenfalls auch getreulich gethan, wenn kein Druck auf sie ausgeübt worden wäre. Sie gehörte zu denen, die furchtbar mit sich kämpfen müssen, ein Geheimnis nicht zu verraten. Es war wie wenn man ein Federbett in einen Koffer packen will; kaum ist ein Teil hineingedrückt, so drängt der andere wieder nach oben. Schon die Worte »armes Ding«, auf Beatrice angewandt, hatten Franks Neugierde erregt.

Aber war er auch berechtigt, einem so sorgfältig gehüteten Geheimnis nachzuspüren? Er glaubte es; er liebte sie mit reiner, selbstloser Liebe; er suchte den Grund ihrer Flucht nicht zu entdecken, um ihn seinen Zwecken dienlich zu machen, sondern um ihr zu Hilfe eilen zu können. Hatte überhaupt Beatrice diese Frau verpflichtet, über ihre Unterredung zu schweigen? Vielleicht hatte sie derselben Geld gegeben, damit sie ihre Ansprüche auf das Kind nicht weiter geltend mache, und nun mochte Frau Rawlings dies nicht zugestehen.

»Hören Sie,« sagte Carruthers, »ich muß und will wissen, was zwischen Ihnen und der Dame vorgefallen ist; wenn Sie es verschweigen, können Sie ihr großen Schaden thun, während es ihr nur nützen kann, wenn Sie die Wahrheit sagen.«

Wieder schloß sie die Augen und schüttelte den Kopf.

Wieder und wieder drang Frank in sie; sie hielt ihr Geheimnis fest, aber nicht so, daß Carruthers nicht bald da bald dort ein Stückchen erwischt und die feste Ueberzeugung gewonnen hätte, daß Beatrice in großer Not und Sorge zu dieser Frau gekommen war.

»Können Sie mir sagen, wo sie zu finden ist?« fragte er. »Wenn Sie ihre Adresse vor mir geheim halten, fügen Sie ihr einen Schaden zu, der nie wieder gut zu machen wäre.«

Er sprach sehr ernst und suchte in dem Gesicht der Frau zu lesen, ob sie wisse, wo Beatrice sich aufhalte.

Ueber Frau Rawlings kam plötzlich eine Art Eingebung – auch Schweinemetzgerinnen können Eingebungen haben, nicht nur Dichter. – Gewiß war dieser feurige junge Mann die Ursache all des Unheils und der Schande – warum sollte sie ihm das Geheimnis vorenthalten? Er mochte recht haben; nicht wieder gut zu machendes Unheil konnte durch ihr Schweigen entstehen.

»Sie wollen sie suchen?« fragte sie. »Sie wissen nicht, wo sie ist?«

»Ja, ich will sie suchen, und ich werde nicht ruhen, bis ich sie gefunden habe.« Sein Benehmen bestätigte Frau Rawlings' Vermutung. Sie stand auf und sprach mit wirklicher Bewegung. »Ja, Herr,« sagte sie, »gehen Sie und suchen Sie die Arme. Gehen Sie und thun Sie, was recht ist. Wenn Sie wirklich der Mann sind, so wird Ihnen Ihr Gewissen sagen, was Sie zu thun haben. O Herr, machen Sie es gut, solange Sie können! Das Leben ist so kurz. Dinge dieser Art verfolgen einen Mann noch auf dem Sterbebett.«

Der Ausdruck der Ueberraschung, den Franks Antlitz zuerst gezeigt, verwandelte sich in wahres Entsetzen. »Weiter,« sagte er heiser.

»Vielleicht thue ich Ihnen unrecht,« fuhr die Frau fort, »vielleicht wußten Sie nicht alles. Sie sagte, sie habe das Kind im geheimen geboren. Aber gehen Sie jetzt zu ihr und machen Sie gut, was noch gut zu machen ist. Es ist ja nicht an mir, so mit Ihnen zu reden, aber wen könnte ein vornehmer Herr mehr zum Weib begehren, als eine so schöne, stolz aussehende junge Dame, wie diese. Lieber Gott, lieber Gott! Was muß das arme Ding gelitten haben!«

Carruthers war geisterbleich; er mußte sich auf den Tisch stützen. Frau Rawlings sah ihn an und war überzeugt, daß ihre improvisierte Predigt Eindruck gemacht hatte.

»Nun,« sagte sie freundlich, »Sie müssen es auch nicht zu schwer nehmen; Sie mögen manche Entschuldigung für sich haben. Alte Leute sollten die Jugend nicht zu strenge beurteilen.«

»Sagen Sie mir alles wieder, jedes Wort, das sie sprach,« stieß Carruthers hervor. Er hatte die Frau gezwungen, ihm den bitteren Kelch zu reichen, nun wollte er ihn auch bis zur Hefe leeren.

»Ach, das arme Ding! Sie hat mir alles gesagt! Sie hat mir gesagt, wie sie durch meines Mannes Ansprüche auf das Kind gezwungen werde, ihr Geheimnis zu enthüllen. Mein Herz blutete für sie. Sie hat auch gesagt, niemand wisse etwas von dem Kinde, aber sie müsse alles bekennen, wenn ich ihr nicht helfe. Sie hat mir erzählt, wie sie sich lange nach dem Kinde gesehnt hätte, und es nun – ich weiß nicht wie – ermöglicht habe, es bei sich zu haben. Ach, es ist so ein hübscher Junge, so ein hübscher Junge!«

»Wo kann ich sie finden?« fragte Carruthers, doch ohne Hoffnung, dies zu erfahren.

»Wo? Vermutlich in der Nähe des Kindes, irgendwo bei Blacktown. Sie kennen den Namen der Dame – ich nicht. Aber Sie werden thun, was recht ist, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Frank, »ich will thun, was recht ist. Danke schön. Guten Morgen.«

Er verließ das Zimmer und ging auf dem nämlichen Wege fort, auf dem er hergekommen war. Frau Rawlings kehrte zu ihrer interessanten Beschäftigung zurück; sie kannte weder den Namen der jungen Dame noch den des Herrn, doch wenn sie an das Gesicht des letzteren zurückdenkt und an die Reue, die sie auf demselben zu lesen geglaubt, so ist sie noch heute beglückt bei dem Gedanken, daß ihre schlichten Worte vielleicht zu dem Glück einer anderen Frau beigetragen hatten. Eine würdige Frau, die Frau Rawlings. Trotzdem wollen wir uns hier mit der Hoffnung, daß das Geschäft in Great Street weiterblühe und gedeihe, von ihr verabschieden.

Und Frank Carruthers? Armer Frank, den seine Nachforschungen so in die Klemme gebracht und der doch nur die halbe Wahrheit erfahren hatte, welche manchmal schlimmer ist, als die ganze. Er ging weiter und weiter, ohne auf den Weg zu achten. Der Kummer, den er heute fühlte, ließ sich mit keinem früheren vergleichen und war eine neue Erfahrung in seinem Leben. Als Beatrice vor drei Monaten seine Liebe zurückgewiesen hatte, war er tief erschüttert gewesen, aber Beatrice war doch Beatrice geblieben, er hatte doch noch Hoffnung gehabt – man hofft ja immer noch in solchen Fällen. Aber nun war diese Hoffnung entwichen bis auf den letzten Schimmer! Nun war alles aus!

Er lachte bitter, als er an die Bemühungen dachte, die er gemacht hatte, um Beatrices vermeintlicher Schwermut auf den Grund zu kommen. Heute hatte er den Keim und den Sitz der Krankheit gefunden! Kein Wunder, daß sie kalt und zurückhaltend war mit einem solchen Geheimnis auf dem Herzen, mit einer solchen Angst auf der Seele! Armes Mädchen! Armes Mädchen!

Nun wußte er, wie das Kind nach Hazlewood House gekommen war – Frau Miller hatte natürlich geholfen. Und nun wurde ihm auch ein anderer Widerspruch klar, den er vergeblich zu lösen gesucht hatte. Horace hatte ihm gesagt, daß Frau Miller allen unbekannt gewesen sei, bis sie in das Haus kam, und doch hatte diese selbst ihm in jener Nacht mitgeteilt, Beatrice habe sie vom Hungertode gerettet. Und diese rätselhafte Frau hatte ihm auch das Versprechen abgenommen, zu warten. Warten auf was? Es gab nichts mehr, auf das er warten konnte. Sogar wenn er, wie er verächtlich selbst zu sich sagte, seine Mannesehre vergessen und sie auch jetzt noch zum Weibe nehmen wollte, so wäre doch eine unübersteigliche Schranke zwischen ihnen aufgerichtet worden durch Beatrice selbst. Er that ihr nicht unrecht. Er wußte, daß sie um das Geschehene innerlich in Sack und Asche Buße gethan hatte. Er konnte sie nicht tadeln, er konnte keinen Stein auf sie werfen. Sie hatte nicht versucht, seine Neigung zu gewinnen, sie hatte dieselbe im Gegenteil zurückgewiesen. Nur allzu gut wußte er jetzt, warum. Er wußte auch, daß sie ihn liebte – daß sie ihn liebte, aber nie und nimmer sein werden würde. Dieser Gedanke brachte ihn dem Wahnsinn nahe.

Aber warum die Flucht? Keine neue Gefahr, keine neue Drohung hatte sie erschreckt. Wäre sie am Ende doch geflohen, weil er nach Hazlewood House hatte kommen wollen? Nein. Ein Wort von ihr hätte ihn ja ferngehalten. Sie hatte ihn beinahe aufgefordert, zu kommen. Nein, vor ihm war sie nicht geflohen.

Und nun dachte er auf einmal wieder an jenen Mann, der sie auch gesucht hatte. Er zuckte zusammen und biß die Zähne übereinander, ohne selbst zu wissen, warum. Sein erster Gedanke war, die Spur dieses Unbekannten zu verfolgen und herauszubringen, warum er nach Beatrice gefragt hatte.

Doch bald gab er diese Absicht auf. Nein, er wollte ihn nicht suchen. Er hatte nichts mehr zu erfahren. Er konnte höchstens noch unglücklicher, noch elender werden. Ihm blieb nichts mehr als Arbeit, ernste, anstrengende Arbeit. Arbeit, Arbeit, Arbeit, der größte Segen für die Menschheit!

So ging er weiter und weiter, fast weinend vor Jammer, fast rasend über seine Ohnmacht. Aber immer dachte er, trotz seiner Versuche, sein Heiligenbild zu zertrümmern, an Beatrice, als an das ruhige, schöne Mädchen, das er gekannt und geliebt hatte. Noch ehe sein zielloser Spaziergang zu Ende ging, war aller Zorn aus seinem Herzen geschwunden und sanftem Mitleid gewichen. Er konnte nun an Beatrice und ihre Not denken und wünschte nichts, als sie zu sehen und ihr zu sagen, daß er ihr stets wie ein Bruder zur Seite stehen wolle. Er wollte sie suchen; er wollte zu ihr gehen, ihre Hand ergreifen und ihr sagen, daß er ihr Geheimnis kenne, er wollte ihr raten und helfen und ihr, wenn möglich, erleichtern, was sie zu tragen hatte.

Aber er wußte nun auch, oder glaubte zu wissen, was ihm das Leben im günstigsten Falle noch zu bieten hatte, und das war ein dürftiger Ersatz für das, was er noch vor wenigen Tagen gehofft hatte.

Sie tadeln! Wie hätte er sie tadeln können? Welches Unrecht hatte sie denn gegen ihn begangen?


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