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Dreißigstes Kapitel.
Endlich die Wahrheit

Carruthers langte spät in der Nacht in München an und ging geradeswegs in den Gasthof »Zu den vier Jahreszeiten«. Da es zu allen Nachforschungen zu spät war, aß er zu Nacht und ging zu Bett. Trotz der Aufregung, in die ihn der Gedanke, in der gleichen Stadt mit Beatrice zu sein, versetzte, schlief er doch prächtig. Am Morgen erhob er sich frisch und voll Eifer, die Nachforschungen zu beginnen.

Aber wie sollte er sie beginnen? Er war nicht einmal gewiß, daß der Gegenstand derselben sich wirklich in München befinde. Daraus, daß sie den Namen eines Bildes aufgeschrieben hatte, folgte noch keineswegs, daß sie sich in der Nähe desselben aufhalte. Sie konnte ja München auch nur auf der Durchreise berührt haben und jetzt Hunderte von Meilen davon entfernt sein. Als er sich klar machte, wie schwach und unzuverlässig der Fingerzeig in Wahrheit war, dem er so ungestüm folgte, sank sein Mut beträchtlich. Trotzdem gelobte er sich, München nicht zu verlassen, ehe er nicht die feste Ueberzeugung gewonnen, daß sich die Flüchtlinge nicht in dieser Stadt befänden.

Nachdenklich verließ er seinen Gasthof und stand dann, zögernd und ungewiß, wohin er sich wenden solle, in der breiten Maximilianstraße. Er hatte keine andere Hoffnung, Beatrice zu finden, als eine zufällige Begegnung auf der Straße oder an irgend einem öffentlichen Platz; sein einziger Plan bestand darin, fortwährend in den Straßen spazieren zu gehen, bis er ihr begegne. Jedenfalls wollte er in den nächsten Tagen nichts anderes thun; blieb dies dann erfolglos, so wollte er weiter überlegen, ob er sich an Personen wenden könne, die in der Lage wären, über die in München lebenden Fremden Auskunft zu geben.

Er wandte sich rechts und wanderte über den Max-Josephs-Platz in die schöne Ludwigstraße und ging dieselbe entlang bis zum Siegesthor. Obgleich seine Gedanken nur auf einen Punkt gerichtet waren, so erregten doch die prächtigen Gebäude zu beiden Seiten der Straße sein Interesse und machten einen großen Eindruck auf ihn; er verschob aber seine Bewunderung und eine aufmerksamere Betrachtung bis auf bessere Zeiten.

Eine Art freundlicher Aberglaube veranlaßte ihn, in erster Linie das Gemälde zu sehen, das ihn hierher gelockt hatte. Er fragte nach dem Weg zur alten Pinakothek und suchte und fand die »Madonna di Tempi«.

Lange Zeit verweilte er vor dem Bilde; nicht sowohl, weil es seine Bewunderung in so hohem Grade erregte, als vielmehr, weil er im geheimen hoffte, das Schicksal werde Beatrice an seine Seite bringen.

Als sie aber gar nicht kommen wollte, verabschiedete er sich von der »Madonna« und verließ, nachdem er noch rasch durch die übrigen Säle geeilt war, das Gebäude mit dem Wunsche, er möchte das lebende Meisterwerk, das er suchte, ebenso leicht finden, wie das des toten Meisters.

Er schritt nun die bedeutendsten und, wie es schien, auch belebtesten Straßen entlang, bis er sich auf einmal wieder vor seinem Hotel befand. Dann schlug er die entgegengesetzte Richtung ein und ging die Maximilianstraße hinunter. Er sah immer mehr freie Plätze, immer mehr Statuen, aber keine Beatrice. Endlich stand er auf der steinernen Brücke, die sich über die nicht tiefe aber reißende Isar wölbt; er sah hinab auf das künstliche Bett von geglätteten Planken, in dem der Fluß dahinfließt, und dann sah er hinab in die kleinen dreieckigen Anlagen, die zwischen den beiden Flußarmen liegen. In dem Garten saß auf einer der Bänke Beatrice in ein Buch vertieft; ihr kleiner Knabe spielte an ihrer Seite. Carruthers brauchte nicht erst den Jungen anzusehen, um sich zu versichern, daß er sich nicht täusche; er hätte, wie alle Verliebten, das anmutige Haupt, die vollendete Gestalt auf hundert Stunden erkannt. Ja, das war Beatrice!

Die »Madonna« hatte ihn nicht irregeleitet. Wäre Carruthers Katholik gewesen, so hätte er ihr seine Dankbarkeit sicher durch das Darbringen von vielen Pfunden Wachskerzen bewiesen. Er betrachtete Beatrice einige Zeit. Nun, da er sie gefunden, zitterte er über seine eigene That; er zitterte bei dem Gedanken, was er ihr zu sagen, was sie ihm mitzuteilen habe. Doch tröstete er sich damit, daß er sie ja nur darum in ihrer Verborgenheit aufgesucht hatte, um ihr die Hilfe zu leisten oder wenigstens anzubieten, die er ihr zu gewähren imstande war.

Dann ging er langsam in den Garten hinab und stand plötzlich vor ihr. Sie sah auf und erkannte ihn; das Buch entsank ihren Händen, ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen, ein Schrei, der Carruthers gar süß erklang, denn es war unzweifelhaft ein freudiger gewesen. Bei dem unerwarteten Anblick des Mannes, den sie liebte, fühlte sie einen kurzen Augenblick nichts als Freude. Sie streckte ihm beide Hände hin und rief: »Frank, Frank! Sie hier?«

Er ergriff ihre Hände und blickte einen Augenblick, ohne sich um die in der Nähe befindlichen Leute zu kümmern, tief in die grauen Augen. Die Stimme versagte ihm; der Anblick Beatrices, die Berührung ihrer Hand trieb das Blut rascher durch seine Adern. Tage, Wochen, Monate hatte er sich diese Zusammenkunft ausgemalt, und nun endlich erlebte er sie.

Beatrice war schöner als je – schöner als je! Die reinen, klassischen Züge schienen noch vollkommener, das klare, bleiche Antlitz noch schöner, die dunkelgrauen Augen noch wunderbarer geworden zu sein. Und als sie jenen leisen Schrei ausgestoßen, da hatte in ihren Augen etwas geglänzt, das Frank nie so klar und unverhüllt bemerkt hatte. Die Ueberraschung, ihn hier zu sehen, hatte sie alle Vorsicht vergessen lassen, und zwei Sekunden lang konnte Frank das Geheimnis ihres Herzens in ihren Augen lesen.

Kein Wunder, daß er ihre Hand festhielt und schweigend in ihr Antlitz blickte. Was hatte er ihr zu sagen? – Was konnte er ihr sagen? Die Gewißheit ihrer Liebe machte ihm das Geständnis nicht leichter, daß er ihr Geheimnis kenne, oder wenigstens den größten Teil desselben – ja, sie erschwerte ihm sogar die Aufgabe, Beatrice zu bitten, sie solle ihm vertrauen und sich von ihm helfen lassen. So blieb er schweigend vor ihr stehen, bis sie ihre Hände leise zurückzog.

Die Freude erlosch in Beatrices Zügen; nach einem kurzen Augenblick des Vergessens stürmte die Erinnerung an all ihre Sorgen und Leiden mit erneuter Kraft auf sie ein. Sie schlug die Augen nieder und ihr Gesicht verdüsterte sich.

»Wie haben Sie mich aufgefunden?« fragte sie ängstlich.

»Durch einen sonderbaren Zufall. Ich will es Ihnen gelegentlich erzählen.«

»Sagen Sie es mir jetzt.«

Frank schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt,« sagte er, »begnügen Sie sich mit der Thatsache, daß ich Sie gefunden habe.«

»Aber,« erwiderte Beatrice erregt, »wissen es auch andere – können mich auch andere finden? So gut Sie es erfahren haben, kann es auch ein anderer ermitteln.«

Er sah ihre Angst und beeilte sich, sie zu beruhigen. »Niemand außer mir kann es auf dem gleichen Wege herausbringen. Ihr Versteck ist sicher.«

Erleichtert seufzte sie auf. Es trat eine verlegene Pause ein; Frank brach das Schweigen zuerst.

»Beatrice,« sagte er, »ich bin weit hergekommen, um Sie zu sehen. Ich habe Ihnen viel zu sagen – vielleicht auch Sie mir. Können wir nicht irgendwo hingehen, wo wir ungestört miteinander reden können?«

»Doch, wir können in meine Wohnung gehen.« Beatrice rief ihren Knaben herbei und Frank half ihr und sich dadurch über die augenblickliche Verlegenheit weg, daß er das Kind begrüßte und schnell Freundschaft mit ihm schloß, so daß es ihm nicht mehr von der Seite ging.

»Wie schade ist es, daß Sie ihm das glänzende Haar abgeschnitten haben.«

»Es war mehr als schade – es war grausam, aber grausame Notwendigkeit.«

Beatrice zeigte den Weg nach dem Hause, in dem sie lebte. Sie ging gesenkten Hauptes, wie in tiefen Gedanken dahin und wußte nicht recht, ob sie sich über Franks Kommen freuen sollte oder nicht. Sie wußte, daß seine Ankunft ihrem gegenwärtigen Leben wohl ein Ende mache, aber sie wußte auch, daß es Enthüllung der Wahrheit, Rückkehr nach England zu ihren Freunden – wenn ihr dann noch welche blieben – für sie bedeute; es war ihr klar, daß sein Kommen ihr wohl Kummer und Schande, aber auch Sicherheit und Schutz vor Verfolgung bringe. Sie begann zu bereuen, daß sie Sarahs Wunsch, nach England zu reisen und Hervey aufzusuchen, nachgegeben hatte; doch hatte dies schließlich nicht viel auf sich. Sie wußte gewiß, daß, sobald Carruthers ihre Geschichte vernommen hatte, ihre Angelegenheiten in Hände übergehen würden, die sie besser zu führen verstanden, als zwei schwache Frauen. Alles in allem empfand sie ein Gefühl der Erleichterung. Und doch war Frank der letzte Mensch, den sie zum Vertrauten ihres Geheimnisses gewählt hätte. Sie bebte davor zurück, dem Manne, den sie liebte, zu gestehen, daß sie die letzten Jahre ihres Lebens ihre ganze Umgebung getäuscht und betrogen hatte. Jetzt, da sie ihm den Betrug gestehen sollte, schien er plötzlich all die Harmlosigkeit zu verlieren, mit der sie ihn bisher vor sich selbst so gerne umhüllt hatte. Kurzum, es war Beatrice zu Mute – falls man sich etwas derartiges überhaupt vorstellen kann – wie einem Götzenbild, das im nächsten Augenblick erwarten muß, von seiner Säule herabgestürzt zu werden.

Carruthers, der auch seine eigenen beunruhigenden Gedanken hatte, ehrte ihr Schweigen, so daß außer dem leisen Geplauder des Knaben nichts gesprochen wurde, bis Beatrice mit Carruthers in ihrem Zimmer saß. Es kam ihr so wunderbar vor, daß gerade er, er vor allen anderen, hier sei, daß sie sich selbst jetzt noch fragte, ob sie nicht träume. Sie wich seinen Blicken aus, weil sie fürchtete, einen Vorwurf in denselben zu lesen.

»Wie geht es zu Hause,« fragte sie, »was machen meine Onkel und das liebe alte Hazlewood?« Ihre Augen füllten sich mit Thränen und ihre Bewegung entging Carruthers nicht.

»Es geht ihnen allen gut,« antwortete er, »ich hörte noch vor ein paar Tagen von Herbert, als er mir Ihren Brief schickte.«

»Werden sie mir je vergeben, je wieder mit mir sprechen wollen?« fragte Beatrice.

»Ich hoffe,« sagte Frank ernst. »Sie waren natürlich sehr ärgerlich und bestürzt.«

Beatrice blickte ihn angstvoll an. Sogar er zeigte ihr nur die Hoffnung auf Vergebung – und er liebte sie. Sie wünschte, er möchte nicht nach München gekommen sein.

»Wissen sie, warum ich England verlassen habe?«

»Nein. Sie rieten an allerlei herum, aber auf die Wahrheit kamen sie nicht.«

Sie fuhr auf bei dieser Antwort. Die Wahrheit? Wußte denn er die Wahrheit? Woher konnte er sie erfahren haben?

»Wissen Sie, warum ich abgereist bin?« –

Carruthers' Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an.

»Ja,« sagte er sanft, »ich habe durch Zufall Ihre Geschichte erfahren – aber nur ich – nur ich allein.«

»So wissen Sie alles – alles, was ich gethan, was ich gelitten habe?«

Er stand auf. Tiefe Bewegung sprach aus seinem Wesen und aus seiner Stimme. »Alles,« rief er aus, »Beatrice! Beatrice! wie soll ich Worte finden, Ihnen zu sagen, was ich weiß? Beatrice, habe ich nicht eben gehört, daß dies Kind Sie Mutter nennt?«

»Ja, er ist mein Sohn,« sagte sie ruhig.

»Alles!« fuhr Carruthers leidenschaftlich fort, »brauche ich denn alles zu wissen? Soll ich gefoltert werden und mir von der einen, die ich liebe, alles sagen lassen? Soll ich Sie quälen dadurch, daß ich Sie nötige, mich anzuhören? Habe ich nicht genug gehört? Warum sollte ich suchen noch mehr zu erfahren?«

»Lassen Sie mich Ihnen meine Geschichte erzählen, Frank,« bat Beatrice flehentlich.

»Nein,« sagte er in dem gebieterischen Tone, den sie schon früher einmal, nur in geringerem Maße, an ihm bemerkt hatte, »Nein, hören Sie mir zu! Beatrice, glauben Sie mir, ich habe mich danach gesehnt, Sie zu finden. Wenn ich Ihr Geheimnis erforscht habe, so that ich dies nicht um meinetwillen. Beatrice, als ich durch Zufall Ihren Aufenthaltsort erfuhr, bin ich nur in einer Absicht zu Ihnen geeilt. Noch als ich Sie diesen Morgen sah, habe ich nur einen Gedanken gehabt. Ich habe Sie aufgesucht, weil Sie im Unglück sind, weil Sie der Hilfe bedürfen. Ich habe Ihnen sagen wollen, daß, was ich Ihnen helfen kann, mit tausend Freuden geschehen soll, und daß ich keine Frage an Sie stellen, oder auf Belohnung hoffen will.«

Wieder suchte sie ihn zu unterbrechen.

»Hören Sie weiter! Ich habe noch mehr, noch viel mehr zu sagen! Ich habe Sie wieder gesehen« – seine Stimme wurde weich und zärtlich bei diesen Worten – »ich habe Ihre Hand in der meinen gehalten, ich habe in Ihr Antlitz geblickt – in das süße Antlitz, von dem ich so oft geträumt. Beatrice, alles ist anders geworden mit mir,« er kniete neben ihr nieder und ergriff ihre Hand. »Wenn ich einst gewünscht habe, alles zu wissen, so sage ich jetzt, sagen Sie mir nichts. Was kümmert mich die Vergangenheit, Beatrice? Verbirg sie, vergiß sie, verlache sie! Unser Leben beginnt erst mit dem heutigen Tage; Beatrice, ich liebe dich! Neige dich zu mir herab und sage, daß du mein Weib werden willst!«

Sie zog ihre Hände gewaltsam zurück und verhüllte schluchzend ihr Gesicht.

»Du liebst mich, Beatrice,« fuhr er leidenschaftlich fort. »Willst du um meinetwillen nicht ›ja‹ sagen? Sieh mich an, Geliebte, lies in meinen Augen den glühenden Wunsch meines Herzens, wisse, daß dein die Macht ist, eines Mannes Leben zu beglücken oder zu zerstören. Beatrice, mein Lieb, mein einziges Lieb, antworte mir!«

Wieder versuchte er ihre Hände zu ergreifen. Sie zog sie mit einem Angstschrei zurück und richtete ihre thränenvollen Augen fest auf seine erregten Züge.

»Frank,« sagte sie, »Sie töten mich. Schonen Sie meiner und lassen Sie mich reden!«

Er wartete in bangem Schweigen, bis ihr Schluchzen verstummte und sie die Sprache wieder fand.

»Frank, Frank,« sagte sie, »Sie haben sich irre leiten lassen. Sie haben nur die halbe Wahrheit gehört. Sie lieben mich und haben doch gewagt zu glauben, daß ich Ihr Weib werden würde, auch wenn das wahr wäre, was Sie gehört haben. Ich kann Ihnen keinen Vorwurf darüber machen, daß Sie es geglaubt haben; ich habe kein Recht dazu. Meine Handlungsweise hat Sie in dem Glauben bestärkt. Und doch, Frank, haben Sie mir durch diesen Glauben einen größeren Schmerz bereitet, als alles, was ich sonst erdulden mußte.«

Carruthers bat sie demütig, sie möchte ihm verzeihen.

»Ich habe nichts zu verzeihen. – Vor wem glauben Sie denn, daß ich geflohen sei – vor welcher Gefahr? Frank, ich habe mich vor dem Manne geflüchtet, der mein Gatte ist, vor dem Manne, der sich vor fünf Jahren die Thorheit eines jungen Mädchens zu nutze machte, sie heiratete und in grenzenloses Elend stürzte.«

Carruthers sprang auf; er war geisterbleich, ein Bild der Verzweiflung. Ihr Gatte! Das Zimmer drehte sich mit ihm im Kreise.

Als er sich einigermaßen gefaßt hatte, sah er Thränen über Beatrices Wangen strömen. Dieser Anblick erweckte Selbstvorwürfe in ihm. Er war gekommen, ihr zu helfen, sie zu trösten, und nun bereitete er ihr neuen Schmerz. Wie grenzenlos egoistisch mußte er geworden sein, daß sein erstes Gefühl Kummer und Verzweiflung war, als er die Wahrheit vernahm. Er errötete über sich selbst und suchte seine Aufregung niederzukämpfen. Als er sich wieder zu Beatrice wandte, lag ein Ausdruck seltsamer Ruhe über seinen Zügen.

»Sagen Sie mir alles,« bat er mit ruhiger Stimme. »Fürchten Sie nichts für mich. Sagen Sie mir alles, ich kann alles hören.«

Sie erzählte ihm alles ohne Selbstverteidigung, ohne die Vergehen ihres Mannes gegen sie und gegen die Gesellschaft auch nur im mindesten zu übertreiben. Sie verlangte kein Mitleid für das, was sie gelitten hatte, aber in ihrer Stimme lag eine Verzweiflung, in ihrem ganzen Wesen eine solche Hoffnungslosigkeit, daß sie ihrem Zuhörer mehr sagte, als irgend welche Worte hätten ausdrücken können. Sein Herz brach fast bei dem Gedanken an ihre Leiden, sein Blut kochte bei dem Gedanken an den Schurken, der all dies Elend verschuldet hatte.

Er hörte sie schweigend zu Ende. Beatrice hatte während der ganzen Erzählung den Namen ihres Gatten nicht genannt, aber vom ersten Augenblick an erriet Carruthers, wer es war. Als sie zu sprechen aufhörte, wandte er ihr sein bleiches Antlitz zu und sagte: »Der Mann heißt Hervey.«

»Ja. Kennen Sie ihn?«

»Ich habe ihn zweimal gesehen.«

Unwillkürlich ballte sich seine Faust bei der Erinnerung an die Art und Weise der zweiten Begegnung. Er wollte, er hätte kräftiger zugeschlagen. Bei diesem Gedanken nahm sein Mund einen harten, finsteren Ausdruck an. Beatrice bemerkte diese Veränderung in dem Ausdruck seines Gesichtes.

»Tadeln Sie mich so sehr, daß Sie mir nicht vergeben können, Frank?« fragte sie angstvoll. Er sah sie mit sanften, zärtlichen Augen an.

»Sie tadeln? Wie könnte ich Sie tadeln! Was hätte ich Ihnen zu vergeben? Ich habe nur innige Teilnahme, tiefes Mitleid für Sie. Noch einmal biete ich Ihnen jede Hilfe an, die ich bieten kann, solche Hilfe, wie ein Bruder sie seiner Schwester bieten kann. Wollen Sie diese von mir annehmen, Beatrice?«

Sie legte ihre Hand in die seine. »Ja, ich nehme sie an; es ist mehr, als ich verdiene. Ach, warum mußte ich mein Unglück auch noch in Ihr Leben hineintragen!«

Seine Finger umfaßten ihre Hand fester; seine Augen suchten die ihren. »Beatrice,« sagte er, »ich habe nicht gelebt, ehe ich Sie kannte. Sie haben ein Recht, alles zu fordern, was ich geben kann. Und doch habe ich noch etwas zu fragen, doch muß ich noch etwas wissen. Sie haben mir viel gesagt – wollen Sie mir alles sagen?«

»Ich habe Ihnen alles gesagt.«

»Nein, nicht alles. Beatrice, das Leben liegt einsam und traurig vor mir; gönnen Sie mir den kalten Trost, den es mir noch geben kann. Beatrice, lassen Sie mich von Ihren eigenen Lippen hören, daß Sie unter anderen Umständen mich geliebt hätten, daß Sie mein Weib geworden wären.«

Sie blickte ihm mutig in die Augen. »Ja, Frank,« sagte sie sanft. »Ich will dies sagen, ich will auch noch mehr sagen: Ich liebe Sie. Ach, Frank, tadeln Sie mich, schelten Sie mich, wenn ich Ihnen gestehe, daß es ein süßer Augenblick für mich war, obgleich ich wußte, daß es für Sie Unglück bedeute, als Sie mir zum erstenmal sagten, daß Sie mich lieben.«

Tiefe Stille herrschte einige Zeit nach diesem Geständnis. Dann beugte sich Frank vor und sagte mit vor Erregung heiserer Stimme: »Beatrice, meine Geliebte, küsse mich einmal. Ich bitte dich nur dies eine Mal darum.«

Sie errötete bis in die Haarwurzeln, aber widerstrebte nicht, als er sie an sich zog und sich ihre Lippen, wie er glaubte, zum ersten- und letztenmal, berührten. Er nahm, sie gab den einen Kuß. Dann gab er sie wieder frei.

Herr Carruthers wird damit wohl in der allgemeinen Achtung sinken, er benahm sich auch durchaus nicht, wie ein Romanheld sich zu benehmen hatte. Jeder, der die Natur der wahren Liebe bei den modernen leidenschaftlichen Schriftstellern, die das menschliche Herz so meisterhaft zu analysieren verstehen, kennen gelernt hat, wird einsehen, daß Carruthers in jenem Augenblick Beatrice hätte stürmisch in seine Arme schließen und für ewig festhalten und ihr schwören müssen, daß die Liebe alles besiege. Auf jenen einen bescheidenen Kuß hätte er tausend andere folgen lassen müssen. Er hätte sagen sollen: »Was liegt an der ehelichen Verbindung, wenn sich zwei Seelen so gefunden haben, wie die unseren?« Er hätte sagen sollen: »Es gibt noch andere Länder auf der Welt! Länder, in denen uns niemand kennt, wo uns das ganze Leben wie ein ununterbrochener Liebestraum dahinfließen würde. Laß uns dorthin fliehen und selig sein!«

Die Bedenken, die sie anstandshalber hätte vorbringen müssen, wären von dem Strom seiner Leidenschaft weggespült worden, und, verheiratet oder unverheiratet, wäre sie für immer und ewig sein geworden! Und eine solche Gelegenheit ließ sich Carruthers entgehen! Es ist kaum zu rechtfertigen!

Er that und sprach von all dem nichts, weil er das Weib, das er liebte, zu seiner rechtmäßigen Gattin machen wollte. Es ist wahr, daß ihn seine Liebe willig gemacht hatte, die eingebildeten Flecken der Vergangenheit zu verwischen; seine Liebe war groß genug, die geliebte Frau zu sich emporzuheben, aber nicht groß genug oder, besser gesagt, viel zu groß, um auch nur daran zu denken, sie zu erniedrigen.


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